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An Johann Heinrich Meyer

Jena den 15. September 1809.

Auch durch Ihre letzte Sendung, mein theurer Freund, haben Sie mir viel Vergnügen gemacht. Zur wahren Erkenntniß braucht man eigentlich blos Trümmern und ich suche mich auch von Seiten des Kupferstichwesens, das mich angenehmer und unterrichtender Stunden mit Ihnen erfreuen.

Diese guten vortrefflichen aber höchst beschädigten, diese schwachen ausgedruckten, diese ungeschickt aufgestochenen, copirten und in so manchen Sinne verzerrten und zerfetzten Blätter haben gerade meine kritische Fähigkeit aufgeregt und mir in einsamen Stunden sehr große Freude gemacht. Wie sehr Recht [65] haben Sie, daß es zur wahren Kenntniß nur wenig bedürfe; wie sehr Recht hätten Sie nicht, wenn es nicht eines großen Umwegs bedürfte zu diesen Wenigen zu gelangen.

Weil sich in jedem Jahrhundert immer eins dem andern die Hände bietet; so freut mich unter andern gar sehr der Johann Jakob Caraglio, als Jacobus Veronensis bezeichnet, theils weil er der Medailleur von Siegismund dem Ersten war. Zwey Medaillen von Fürsten, die sich in unsrer Sammlung befinden, sind höchst bedeutend und eine ist gewiß von diesem Künstler. Auch ist eine Nicolaus Bratrizet merkwürdig geworden. Bey allem diesem ist mir wunderlich vorgekommen, daß Cellini auch nicht die mindeste Wendung nach der Kupferstecherkunst genommen. Ich wollte wir hätten nur ein paar Blätter nach ihm. Aber sein Drang ging ganz nach dem Plastischen, um nur endlich noch den Perseus zu erreichen.

Hunderterley innere und äußere Kennzeichen, die sowohl innerlich und künstlerisch als äußerlich und verlegerisch sind, behalte ich mir vor mitzutheilen. Solche Bemerkungen würden sich leicht machen lassen, wenn man große bedeutende Sammlung vor sich hätte. Lustiger aber sind sie, wenn wir sie aus unsern Spetteln hervorlocken.

Ich freue mich, bey diesen Anlässen und Intentionen, auf das was ich zu Hause verlassen habe, [66] weil ich es gewissermaßen zum erstenmal mit einer gewissen Freude zusammendenke. Wenn man sich einmal fest entschließt, nur könnte einem bey seinem Leibes-Leben die sämmtliche Lebensoberfläche unbekannt bleiben.

Unschätzbar war mir die Betrachtung von Rafael Morbetto. Einen bessern Abdruck zu besitzen ist ein recht herzlicher Wunsch und ich will den Tag segnen, der mir ihn bringt. Das bewußte und bekannte Motiv steht darin auf dem höchsten Grade der realen Naivetät. Poussin hat es fratzenhaft verzerrt, vernichtet, verabsurdet, den ich aber dagegen in seinem Testament des Eudamidas so hoch man nur verehren kann, verehre. Da war er zu Hause und von Hause. Es ist eine von den ernstesten Betrachtungen zu sehen, ob ein Künstler ein Motiv vor dem Brennpuncte gefunden und in den Brennpunct gezogen hat, wie Raphael des Massaccio Vertreibung aus dem Paradies, oder ob er das im Brennpunct verzerrt, wie Poussin das Raphaelische einzige unübertreffbare.

Ich könnte immer noch so weiter fortfahren, wenn das Blatt nicht zu Ende ginge. Leben Sie recht wohl, denken Sie mein und schreiben mir den Boten wenn es auch nur ein weniges Wort ist: denn unter 14 Tagen sehen Sie mich noch nicht wieder.

G. [67]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1809. An Johann Heinrich Meyer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6B59-9