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An Marianne von Eybenberg

Weimar den 4. December 1808.

Nun sollten wir, theure Freundin, unsern Brief eigentlich mit Scheltungen anfangen. Denn wie ist es möglich, daß eine im diplomatischen Wesen gewandte Dame sechs Wochen in Dresden bettlägerig seyn kann, ohne durch einen Arzt, einen Freund, ja etwa durch einen gewandten Kellner selbst die ihr so sehr Verbundenen zu benachrichtigen, daß es ihr nicht zum Besten gehe, daß ein theilnehmendes Wort, (oder) es muß heißen und irgend sonst eine interessante Mittheilung ihr Vergnügen machen würde. Was für wunderliche Künste brauchen die Gefangenen, sich nach außen mitzutheilen, und Ihnen ist keine davon in der Freyheit eingefallen. Haben wir doch immer [231] allerley Curiosa, die von einer oder der andern Seite reizend seyn möchten.

An dieser Stelle könnten Sie nun gleich sagen: was ihr nicht nach Dresden geleistet habt, das schafft mir nun nach Prag her, wo ich auch gelegentlich wieder auf dem Kanape oder auf dem Bette residire und doch immer gefällig und freundlich bin, um einem Etwas mit offenem Sinn und Gemüth oder einem Nichts und Halbnichts mit angeborner Anmuth zu begegnen.

Hiedurch setzen Sie uns nun gleich in die vollkommenste Verlegenheit; denn ob wir gleich mit mancherley Bedeutendem und Erfreulichem umgeben sind, wie es denn auch an Verdrüßlichem und Unlustigem keineswegs mangelt, so ist es doch schwer, im Augenblick den Rahm, die Sahne, den Schmant, den Schmetten, das Obers und wie man nur die Blüthe der Milch (fior di latte) nennen mag, seiner entfernten Freundin, in Ermanglung silberner Schalen, in einem hübsch geschliffenen Glasschälchen vorzulegen, damit sie das eben so nehme und schlürfe, wie sie sonst gewohnt ist.

Vor allen dingen haben wir Nachricht zu geben, daß wir wirklich, nachdem die Fluth der Kaiser und Könige sich von unsren Bergeshöhen zurückgezogen hat, wieder einigermaßen bey Sinnen sind und daß gegenwärtig der Gescheuteste sich blos dadurch von dem Albern unterscheidet, daß er weiß, nach so [232] capitalseltsamen Begebenheiten sey er etwas weniger verrückt als die übrigen. Untersucht man die Grade der Verrücktheit, so findet man die für die tollsten, die sich einbilden, sie hätten wirklich eine Art von Urtheil über das, was sie gesehen haben.

Wer jedoch Alles gesehen hätte, was auch nur öffentlich in diesen Zeiträumen bey uns sich ereignet, der könnte schon sagen, daß ihm das Bunteste und Wunderlichste vor den Augen vorüber gegangen wäre. Ich selbst war nicht so glücklich; denn da ich mich körperlich und geistig zu menagiren Ursache habe, so konnte ich in diesen Tagen eigentlich nur gegenwärtig seyn, wo ich gefordert war und wo ich was zu leisten hatte.

Unsern Versäumnissen, wir mögen nun nah oder ferne gewesen seyn, kommt aber die Weimarische Industrie zu hülfe; wobey es denn hauptsächlich darauf ankommt, daß sie ein Komptoir hat. Es liegt im selbigen Couvert der Prospectus eines Prachtwerkes, von welchem ich Sie bitte, ein Exemplar in Ihren Cirkel auf irgend eine Weise gelangen zu lassen. Denn wenn Sie das Alles gelesen und gesehen haben, so wissen Sie mehr von der Sache als ich, der ich nur zwey Hände breit davon entfernt war und selbst mitgewirkt und mitgespielt habe.

Die französischen Schauspieler sind mit ihrer wundersamen, obgleich in der Verirrung tüchtig begriffenen Kunst bis nach Weimar gelangt und haben [233] in dem Hause gespielt, durch dessen Dach zwey Jahre vorher eine französische Kugel durchflog. Es ist nun darüber eine gewaltige Bewegung, die mich nichts angeht. Ich wollte nur, ich könnte durch ein ungeheures Wunder aus diesem französischen Tragödienspiel das Falsche durch einen Blitzstrahl herausbrennen; so hätte die Welt noch immer Ursache zu erstaunen über das Rechte, was übrig bliebe.

Talma ist ein köstlicher Mensch, der aber auch, wie wir Alle, von dem Elemente leidet, in dem er schwimmt, der, indem er mit Wind und Wetter kämpft, gar wunderliche Richtungen nehmen muß, wissend oder unwissend – was geht mich das an! – die ihn von dem Ziele, nach dem er ernstlich strebt, zu entfernen scheinen. Das Blatt geht zu Ende und ich könnte nun erst anfangen zu erzählen, was von jener Epoche an sich bey uns ereignet. Humboldt von Rom ist angekommen und hat sein Hauptquartier in Erfurt aufgeschlagen. Mathematiker, Baumeister und anmuthige Künstler sind unsre Nachbarn und Tischgesellen geworden. Wir erwarten Wernern, Dehlenschlägern, Baggesen, Arnim, Brentano, Gerning, Kügelgen, und wenn das Glück will, so muß uns von den zwölf großen und den zwölf kleinen Göttern diesen Winter keiner fehlen. Nun da es an den Schluß geht, merke ich erst, daß ich in's Großthun und Aufschneiden gekommen bin. So fatal das in der Politik ist, so lustig ist es in der Societät.

[234] Nehmen Sie also, daß an alle dem, was ich bisher gesagt, kein wahres Wort sey, und lachen Sie darüber. Dafür soll das letzte desto wahrer seyn, daß ich Ihnen herzlich ergeben bin, und daß ich mich Ihrer schönen Wirthin und Freundin recht ernstlich empfohlen wünsche.

Goethe.


Können Sie einwirken, daß man mir in Löbichau geneigt sey und bleibe, ob ich mich gleich ein bischen ungeschickt betragen habe, so sollen Sie noch außer allem Übrigen auch hierfür den besten Dank erwarten.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1808. An Marianne von Eybenberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-940C-E