1830, Frühjahr(?).


In Goethes Garten

[Friedrich Förster erzählt, wie er und Eckermann einem Kuckuck im Park zu Weimar nachgeprüft hatten und Eckermann infolgedessen sich über das Leben der Vögel verbreitet habe. Er fährt fort:]

Insbesondere bot ihm der Kuckuck reichen Stoff zu Mittheilungen, sodaß er damit noch nicht zu Ende war, als wir durch das schmale Pförtchen in das Gartenhaus eintraten. Goethe, welcher hinter der lebendigen spanischen Wand von Malven, durch welche er sich den Blicken neugieriger Vorübergehender entzog, auf und ab ging, trat freundlich, uns willkommen heißend, auf uns zu und sagte: »Sie haben, wie ich merke, unsern Freund Eckermann auf sein Lieblingsthema gebracht; ich hörte wiederholentlich seinen Kuckucksruf, von dem weiß er ein Liedchen zu singen, obschon es kein Singvogel ist.« Der Enkel Wolfgang kam, den Großpapa zum Theetisch einzuladen, an welchem wir unter einer Linde Frau Ottilie, ihre Schwester und andern Besuch fanden. Bald hieß es auch hier wieder: Ei, der Kuckuck und kein Ende! Ich hatte Eckermann bemerkt, daß ihm [283] doch, wie gründlich auch seine Beobachtungen gewesen; eine seltsame Begabung, womit die Natur diesen verzogenen Liebling schon im Ei ausgestattet habe, unbekannt geblieben sei. Aufgefordert, hierüber Mittheilung zu machen, erzählte ich, daß mir der Director der Akademie in Tharand [Cotta] einmal ein noch nicht flügges Kuckuckchen gezeigt, welches er aus dem Neste einer Blaumeise in dem Astloche eines Apfelbaumes aufgefunden und ausgenommen hatte. Er machte uns auf die schaufelartige Bildung der Flügelschulterknochen aufmerksam und fügte erläuternd hinzu: wenn der aus dem Ei gekrochene Kuckuck sich nach Verkauf einiger Zeit von kleineren Stiefgeschwistern umgeben sieht, welche ihre Schnäbelchen mit gleichem Verlangen aufsperren, sobald die Eltern Fütterung bringen, duckt er sich unter die Kleinen und macht es ihnen bequem, sich auf seine Schulterschaufeln zu setzen. Kaum aber, daß eins darauf Platz genommen, rutscht er damit an die Öffnung und wirft es mit geschicktem Schub zum Loche hinaus, wo dann das arme Stiefbrüderchen, wenn es nicht sofort den Hals gebrochen, doch bald von den Raubvögeln und Katzen aufgefressen wird.

Bestätigung erhielt diese Aussage durch einen der anwesenden Jäger. »Ja, ja!« bemerkte Goethe, »die Natur ist viel listiger und erfindsamer im Guten wie im Bösen, als wir armen Menschenkinder, und wenn Salomo der Weise spricht: ›Neues unter der Sonne giebt es nicht‹, so beweist das, daß der weise König[284] kein Naturforscher war.« – Von einem der Anwesenden wurde die Bemerkung gemacht, daß der Mensch ein noch ungelöstes Räthsel sei, jedenfalls sei die Aufgabe, welche die Sphynx Ödipus gegeben, doch zu sehr nur für den Scharfsinn eines Kindes berechnet gewesen. Hierauf wurde von Goethe bemerkt, daß wie der Mensch, so auch das Thier ein Räthsel und ein vielleicht noch schwerer zu lösendes sei; denn nicht nur, daß durch die Sprache der Menschenbruder uns sein geheimes Wesen offenbare, der Mensch sei doch trotz aller Racenunterschiede immer einer von derselben Gattung wogegen die Thierwelt in unendlich viele specifisch von einander verschiedene Gattungen und Arten getrennt sei. Bei der Psychologie des Menschen haben wir es immer nur mit einer und derselben Seele zu thun, bei der Thier-Psychologie verlangen die Seelen der Vierfüßer, der Vögel, der Fische, der Insecten, bis zu den Infusorien herab, eine jede eine besondere Wissenschaft. Mit der herkömmlichen Bezeichnung ›Instinct‹ kommen wir nicht mehr aus.

[Hiernächst theilt Förster weitere Erzählungen über Klugheit von Thieren mit, darunter auch von Hunden, die zu allerhand Verrichtungen herangezogen werden, wobei Goethe einschaltete:]

»Haben wir doch« – fügte Goethe mit heiterer Miene hinzu – »hier am Orte erlebt, daß der Hund für die Theatercasse ein einträglicher Gastrollenspieler ist.« 1

[285] [Ferner erzählte Förster von einem, in Berlin ihm zugeflogenen Taubenpaare, welches sich in seinem Zimmer ein Nest gebaut, von welchem aber der Zauber nach einiger Zeit – wahrscheinlich abgefangen – ausgeblieben und dadurch das brütende Weibchen in große Unruhe versetzt worden sei. Letzteres sei später gleichfalls verschwunden während bald darnach der Tauber sich wieder eingefunden und zunächst das Nest mit den Eiern untersucht habe. Die weiteren Vorgänge berichtete Förster wie folgt:]

Er fand hier alles in bester Ordnung, und in der Hoffnung, das erkaltete Leben durch die Wärme seines Blutes und seiner Federn wiedererwecken zu können, übernahm er mit heroischer Resignation auf jeden Genuß der Freiheit und des Lebens die mütterlichen Pflichten des Brütens und verließ während mindestens achtundvierzig Stunden auch nicht eine Minute das Nest. Als er aber am dritten Tage die Überzeugung gewonnen hatte, daß seine Bemühung, das erstorbene Leben wieder zu erwecken, vergeblich sei, gerieth er in einen Zustand, der an Verzweiflung gränzte. Er schleuderte die beiden Eier aus dem Neste, daß sie am Boden zerschellten, dann richtete sich seine Wuth gegen das Nest, welches er mit den Krallen der Füße und mit der Schärfe des Schnabels so zerstörte, daß nicht ein Reischen, nicht ein Hälmchen auf dem andern blieb und die mühsam zusammengetragenen Federn rings umherflogen. Der häusliche Heerd war zerstört – ohne häusliches Glück hatte er keinen Werth. In sich gekehrt und nachdenklich saß nun mein Herr Tauber an [286] dem Fensterbret, ähnlicher dem trübseligen Kauz der Minerva, als einem heitern Zugvogel vom Gespann der Venus. Mit einem Male, wie aus Träumen erwacht, streckte er den Hals lang aus, die Augen blitzten, und wie ein Stoßvogel schoß er auf das Dach des gegenüberstehenden Hauses. Dort hatte er seine verloren geglaubte Gattin erblickt, wie ich sie auch gleich erkannte, umringt von einer Schaar zudringlicher Bewerber um ihre Gunst. Des Odysseus Pfeile können nicht größeren Schrecken und mehr Verderben unter der Schaar der Freier, welche Penelope bedrängten, angerichtet haben, als mein tapfrer Taubenheld unter den Courmachern seiner Gemahlin; sie stoben theils schwer verwundet, theils arg zerzaust und zerschlagen auseinander; die Federn flogen wie Schneeflocken umher ..... Das Ehepaar verständigte sich sehr bald und kehrte in die verlassenen Räume des Cabinets auf das Bücherregal zurück. Nach eingenommenem Frühstück nahmen sie in dem auf dem Fußboden aufgestellten Gefäß ein Bad, striegelten und putzten sich und machten dann einen Spazierausflug. Unterdessen nahm ich die umherliegenden Trümmer ihres zerstörten Nestes wieder auf und legte sie auf den Tisch, um ihnen den Wiederaufbau bequem zu machen. Hierin war ich im Irrthum: bei der Rückkehr erweckten die aufgelesenen Bauhölzer so schmerzliche Erinnerungen bei dem Gemahl, daß er sie in sichtbarer Aufregung an den Boden schleuderte, dann mit der Gattin täglich ausflog und [287] mit Mühe und Sorgfalt ein neues Nest baute, zu welchen nicht das kleinste Federchen oder Hälmchen des alten verwendet wurden. Bald lagen wieder zwei Eier in dem Neste und nach Verlauf von vierzehn Tagen vernahm ich zu meiner großen Freude die piependen Stimmen der ausgekrochenen Jungen.

.....Meine Taubengeschichte erfreute sich allgemeiner Theilnahme und gab zu lebhafter Unterhaltung Veranlassung ..... »Lassen Sie uns« – nahm zuletzt Goethe das Wort – »diese Geschichte mit einigem Ernst bedenken; sie liefert einen sehr bedeutenden Beitrag zur Psychologie der Thiere. Hierbei haben wir nicht nur Bewußtsein mit Absicht und Überlegung vor uns, wir finden die Thiere auf einem sittlichen Boden stehen, was im ›Reineke Fuchs‹ nicht der Fall ist, wo man nur Schelmenstreichen begegnet. Hier erhebt sich die Liebe zur Leidenschaft, für welche das Leben eingesetzt wird: eheliches Verhältniß, Monogamie, Familienleben – und wollt Ihr es eine Dichtung nennen, so nennt es einen Roman, eine Novelle, in welcher Wahlverwandtschaft das Hauptwort sein würde, und zwar nicht die chemisch-mechanische, durch welche die Salze und Säuren sich vereinigen, sondern die höhere auf dem Gebiete des Lebens, wo außer den Seelen auch Fleisch und Blut ihrer gegenseitigen Anziehungskraft unwiderstehlich zu folgen gezwungen werden.«

Goethe zog sich, da er sich der Abendkühle nicht[288] gern aussetzte, in sein Zimmer zurück und bestieg dann mit den Damen den Wagen, der ihn nach der Stadt brachte.


Note:

1 Anspielung auf die, Goethes Rücktritt von der Theaterdirection veranlassende Aufführung von Castelli's nach dem Französischen bearbeiteten Schauspiel »Der Hund des Aubry de Mont-Didier«.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1830. 1830, Frühjahr(?). In Goethes Garten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A5A3-F