1830, 11. Januar.


Mit Friedrich von Müller

Ich traf Goethen gegen Abend ziemlich abgespannt und einsilbig, es gelang mir jedoch, nach vielen vergeblichen Versuchen, ihn endlich munter, gesprächig und heiter zu machen.

Darüber war ich sehr froh; denn nichts ist peinlicher als das Zusammensein mit ihm, wenn er jeden Gesprächsfaden sogleich fallen läßt, oder abreißt, auf jede Frage mit: »Gute Menschen! es ist ihnen aber nicht zu helfen;« oder »da mögt ihr jungen Leute zusehen, [179] ich bin zu alt dazu,« antwortet und manche lange Pause mit nichts als hm! hm! ausfüllt, auch wohl den Kopf wie aus Schläfrigkeit sinken läßt.

Als ich ihn an den Brief an den König von Bayern mahnte, fing er zuerst Feuer. »Wenn ich nur jemanden hätte, der meine Briefe, wenn sie fertig dictirt sind, gleich expedirte.

Aber gar oft, wenn die Reinschrift mir vorliegt, gefallen sie mir nicht mehr, weil sich indeß meine Stimmung verändert hat. Während ich dictire, denke ich mir die Person, an die ich schreibe, als gegenwärtig, überlasse mich naiverweise dem Eindruck des Moments und meinem Gefühl, später aber vermisse ich jene Gegenwart und finde nun manches absurd und unpassend für den Abwesenden. Der Brief an den König ist fertig, sogar mundirt, aber ich kann mich nicht entschließen ihn abzusenden.«

Labourdonnaye's Austritt aus dem Ministerium piquirte ihn; er möchte die wahre Ursache wissen. Auf meine Frage, was er denn eigentlich bei der jetzigen Krisis in Paris prophezeie? erwiederte er: »Leider glaube ich, daß die Minister irgend einen Gewaltschritt thun werden, aber ich kann mir doch nicht denken, daß die Liberalen sich gewaltsam opponiren, es sind zu wenige Revolutionsmomente dermalen im Volke vorhanden, und dem Gouvernement stehen lauter Leute gegenüber, die zu viel zu verlieren haben. Ich bin jetzt im zehnten Bande der St. Simon'schen Memoiren, die [180] mich aber zu ennuyiren anfangen, da die Periode der Regentschaft herangekommen! Habe ich mich schon geärgert, daß der verständige, kluge, brave St. Simon unter Louis XIV. keinen Einfluß gewonnen, so ist es nun doppelt verdrießlich, ihn unter dem Halbmenschen Orleans so ganz null an politisch praktischer Wirksamkeit zu sehen. Jener König ist doch noch eine stattliche Figur, ein Tyrann, ein Herrscher von prononcirter Farbe gewesen, aber Orleans weiß durchaus nicht was er will, ist rein gar nichts.«

Als ich von der bewundernswürdigen Menge seiner täglichen Lectüre sprach, versicherte er, im Durchschnitt wenigstens einen Octavband täglich zu lesen. So habe er kürzlich einen ganzen Band absurder Krummacher'scher Predigten durchlesen, ja einen Aufsatz darüber zusammen zu bringen versucht, den er an Röhr mittheilen wolle. Mir freilich werde seine Geduld dabei verwunderlich erscheinen, weil ich diese Predigten nur in Beziehung auf mich beurtheile; aber ihm sei daran gelegen, so ein tolles Individuum ganz kennen zu lernen und zu ergründen, wie es sich zu unserer Zeit und Bildung verhielte und sich darin habe gestalten können. Das zweite Gedicht »An Ihn« im Chaos 1 hielt er von einem Manne verfaßt; es sei bei aller poetischen Formgerechtigkeit [181] gar zu unweiblich, abstract, ja arrogant. Er redete mir sehr zu, doch meinen Pisaner Excurs ins Chaos zu geben und lobte meine italienischen Tagebücher ungemein.


Note:
1 Es könnte nur die Stelle sein:
Mich trennt das Meer von den Geliebten,
die aber bis 1829 in allen Cotta'schen Ausgaben der Werke Goethes richtig lautet.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1830. 1830, 11. Januar. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A5C6-3