[1r]

Das Phänomen der Klangwellen auf gestrichenen Glasscheiben war mir
schon seit dem Jahre 1808 bekannt wo ich die Physik studirte und mir
unter andern einen kleinen chladnyschen Apparat zu Hause vorrichtete.
Ich schrieb damals einen Aufsatz darüber und überreichte ihn dem
Lehrer dem verstorbenen Prof der Physik Schmidt. Seitdem beschäftigte
ich mich nicht mehr damit, verlor jedoch den Gegenstand nie ganz aus
den Gedanken, und war bei Journal- und sonstiger Lectüre immer
darauf aufmerksam ob nicht Andeutungen oder Ausführungen ähnlicher
Versuche sich mir darböten. In meiner Inauguraldissertation über das
subjective Sehen
machte ich zuerst, nur als auf einen analogen Fall
im Vorbeygehen darauf aufmerksam. - Als ich 1821 Dresden besuchte
fand ich, daß Krause auch bereits ähnliche Versuche angestellt,
und in seinem Tageblatte des {Menscheitslebens} ihrer Erwähnung gethan
hatte. 1822 kam ich in Berlin mit Oerstedt in Berührung, der das
Phänomen der Klangwellen ebenfalls kannte und bei seiner ersten
Reise in Paris den H. Jens davon in Kenntniß setzte, der dessen
in einem Compendium der Physik1 das mir aber noch nicht bekannt ist
erwähnt haben soll. Chladny selbst den ich bei seiner Anwesenheit in
Prag 1821 darauf aufmerksam machte und der dessen auch in seinem Werke
wo er über die Bewegung der Flüssigkeiten spricht Erwähnung thut, schien
[1v] für dessen Gesetzmäßigkeit gar keinen Sinn zu haben, und hielt es für
ein bloßes Wellenspiel wie sonstwo bei bewegten Wasserflächen.
Als ich diesen Herbst das Glück hatte mit (E.)Euer Excellenz in ein näheres
Verhältniß zu kommen fand ich Sie auch mit ähnlichen Versuchen be-
schäftigt, mit der Aussicht dieselben nach Zeit und Gelegenheit weiter
zu verfolgen. Dieses erregte ebenfalls in mir die Lust meinen
so lange ausgesetzten Untersuchungen wieder von Neüem nachzugehen.

Mein Hauptziel war nun, das Verhältniß der Zahl der Wellen, ein
bestimmtes Längenmaß als Einheit gesetzt, zu der Höhe und Tiefe des
Tones auszumitteln. Um aber dieses bequem und mit einem hinreichen-
den Grade von Präcision zu bewerkstelligen drang sich von selbst die Noth-
wendigkeit auf, die Tonwellen zu fixiren, weil die Flüchtigkeit der Erschei-
nung, ein bloßes Wellenspiel eines Flüssigen, nicht erlaubte ruhige und
genaue Messungen anzustellen. Der aufgestreüte Bärlappsamen ließ
ebensowenig eine Messung zu. Ich hoffte daher vom geschmolzenen
roosischen Metallgemische auf Metallplatten aufgegossen irgend ein
Resultat. Aber die Erwartung betrog mich, wie es bei näherem Be-
denken der Sache von selbst zu erwarten war, indem das zarte Spiel
der Tonwellen ohnmöglich dem mächtigen Erstarrungsprocesse bestehen
konnte. Geschmolzenes Wachs, Geigenharz, Talg, Salpeter gaben ebensowenig
einen Erfolg. - Nun, nach gemachten Versuchen kömmt es mir selbst
lächerlich vor sie angestellt zu haben. Ich sah auch wohl voraus
daß nichts zu erwarten sei, und doch ließ die Hoffnung
[2r]eines unerwarteten Erfolgs dem zweiflenden Gemüthe nicht eher Ruhe
bis auch der Zwang der Sinnenwahrheit den anticipirenden Gedanken
bestätigte. Ich wendete mich nach einer anderen Seite. Ich strich eine Lage
geschmolzenen Geigenharzes auf einen Theil der Glasscheibe, und hoffte, daß
die Erschütterung des Klanges in dem spröden Stoffe regelmäßige Sprünge
und Risse veranlassen werde; aber auch dies betrog meine Erwartung.
Endlich stand es1 plötzlich klar vor der Einbildung. Ein feines specifisch schwe-
res Pulver mußte sich in der regelmäßig bewegten Flüssigkeit nach
dem Maße der stärkeren und schwächeren Bewegung ihrer einzelen Antheile
an einzelen Stellen häufen und zu Boden senken, und hiemit Spuren
der vorgegangenen Bewegung hinterlassen. Der nächste Versuch mit einem
Niederschlage von Schwefelsaurem Baryt bestätigte glänzend die Vermuthung.
Ich versuchte nun allerlei Stoffe um mir eine reiche Wahl zu verschaffen als:
reines weißes Zinkoxyd, die tutia, kohlensaures Bleioxyd, Calomel, Kreide, (kohlens.)kohlensaure
Magnesia, schwarzes Eisenoxyd, Zinnober, {Queksilbermohr}. Unter allen
diesen fand ich den letzteren am geeignetsten die tiefsten und höchsten
Töne darzustellen. Die weniger specifisch schweren, als Kreide und (kohlens.)kohlensaure
Magnesia, wenn sie sich auch während der Bewegung der Flüssigkeit in regel-
mäßige Reihen häufen, zerfließen mit aufhörender Bewegung wieder
in unbestimmte unregelmäßige Schichten. Andere, als: tutia und schwarzes Eisen-
oxyd waren zu grob um die feineren Tonwellen darzustellen. Wieder andere
als: Zinnober, (kohlens)kohlensaures Blei hätten vielleicht bessere Resultate gegeben, wären
sie feiner pulverisirt worden. Ich zog also zu meinen Messungen den
{Queksilbermohr} vor. Anfangs verfuhr ich etwas zu umständlich, indem ich
[2v]jedesmal, wenn mir eine Wellenparthie gelang gelungen2 diese schnell auf heißem Ofen
troknete mit einem Kopalfirniß überstrich, und erst dann die Messung
vornahm. Diese Methode ist wohl geeignet die Tonwellen zu fixiren und mittheilbar
zu machen, wo aber nur das Messen der Hauptzweck ist wird es hinrei-
chend seyn die Messung sogleich vorzunehmen. Beispielsweise sind einige
gefirnißte Glasstücke beigelegt.

Indem augenscheinlich die Zahl und Kleinheit der Tonwellen mit der Höhe
und Tiefe des Tones jedesmal in einem steigenden und fallenden Verhältnisse
sich befand, wurde ich von der Erscheinung selbst leicht verführt, erst die
Zahl der Wellen bei constanter Größe des Raumes ohne alle andere
Rücksichten (: also ohne Rücksicht auf Chladnys Klangfiguren, auf Gestalt,
Größe, Stoff und Dämpfung der Scheiben :) blos mit Vergleichung der jedes-
maligen Tonstufe zu untersuchen. Aber vielfache, wenig fruchtende Be-
mühungen mit ärmlichen Resultaten überzeügten mich bald, daß ich mit
einem Vorurtheile ans Werk getreten und daß allerdings jene Rück-
sichten nicht zu vernachlässigen sind. Indeß waren doch meine Versuche
auf negative Weise belehrend, indem sie mich von dem Vorurtheile be-
freiten welches mich glauben machte, daß die Zahl der neben einander er-
scheinenden Tonwellen bei einem und demselben Raummaße mit der Zahl
der Schwingungen in einem bestimmten Zeittheile (welches der Ton ist) in einem
gleichmäßig ab und zunehmenden Verhältnisse stehe. Die beigefügte Tabelle
welche aus einer Menge zerstreüter Versuche auf verschieden geform-
ten Glasstücken zusammengetragen ist lehrt gleich mit dem ersten Hin-
blicke daß auf einen halben pariser Zoll dieselbe Zahl von Wellen
für die verschiedensten Töne auf3 einer und derselben Tonleiter erscheinen
könne. So kömmt die Zahl 20 bei dis, e, f, und g vor; 30 bei cis, d, e,
[3r]33 bei fis, g. gis, b, und selbst höhere Zahlen, wo ein Fehler im Abzählen von
weniger Bedeutung wäre z. B. 50 für g und d, 60 für g und f.

Ferner fand ich in einer Reihe Versuche an einem und demselben Glasstücke
daß, wenn die Zahl der Schwingungen für eine Reihe Oktaven in einer geo-
metrischen Progression mit dem Exponenten 2 steigt, die Zahl der Tonwellen
wenigstens für einige Glieder in einer arithmetischen Progression zunimmt,
und zwar sehr häufig mit 10 als Differenz. (Bezeichnung der Tonstufen
wenn å den Theaterton der Stimmgabel bedeütet

.)

Beispiele.

Diese und dergleichen unzu-
reichende Resultate drängten mich zu anderen umsichtigeren Versuchen.
Ich nahm nämlich an einer und derselben Glastafel {Zahlungen} der Schallwellen
vor mit Rücksicht auf die chladnischen Figuren, und auf die Stufe des Tones.
Die beiliegende Tabelle dient als Specimen davon. Man nehme eine Qua-
tratscheibe von weißem Glas und spanne sie in ihrer Mitte4 in ein Schraubwerk so ein,
daß sie genau in horizontaler Lage sich befinde. Ich bediente mich hiezu
nur einer Schraube welche die Glastafel jedesmal in ihrer Mitte festhielt.
Da es aber nothwendig ist, die Hervorbringung aller möglichen Figuren
in seine Gewalt zu bekommen, so sollte man sich einen Apparat mit mehreren
Schrauben einrichten womit mehrere beliebige Stellen der Scheibe in Spannung
gebracht werden könnten; ferner eine Vorrichtung den Rand an ver-
schiedenen Punkten zu stemmen. Um das Abzählen der Tonwellen zu er-
leichtern, wäre es gut genau gemessene und bis auf Linientheile an den Rän-
dern gradirte Glas und Metalltafeln vorräthig zu besitzen. Uiberhaupt er-
warte ich erst feste Resultate von einer Reihe Versuchen worin die chladnyschen als nothwen-
diges Element mit aufgenommen sind, wozu [es] mir aber für itzt an Muße gebricht, und [ich] mich
daher dem Zuge der gegenwärtigen Experimentirlust mit Gewalt entreissen muß.

[3v]

Allgemeine Bemerkungen.

1.) Zur Hervorbringung des Phänomens der Schallwellen, kömmt die Adhäsion an die
Fläche des klingenden {Körper}, die Schwere und Schwungkraft der Flüssigkeit mit
in Concurrenz. Ist die Schichte zu dünn, so daß die ganze Flüssigkeit der
Adhäsion unterliegt, so erscheinen keine Wellen. Ist das Wasser sehr {gehaüft},
so prävalirt die Fliehkraft und [es] wird bei stark angegebenem Tone in feinen
{Tropfchen} herumgespritzt. Hängt ein Tropfen an der untern Fläche der Scheibe
so wird er gegen seine Schwere zur Tafel hinangezogen, breitet sich aus und
es bilden sich gleichfalls Schallwellen auf demselben.

2. Bei einem schwach angegebenen Tone regt sich die Flüssigkeit erst gar nicht;
bei allmähliger Schwellung desselben zeigen sich geradlinige parallele Wellen
an den Rändern der Scheibe senkrecht auf diese und in den Mittelpunkten und
Mittellinien anderer schwingenden Stellen[.] (fig a) Wird der Ton verstärkt,
krümmen sich diese Wellen in Schlangenlinien deren Ausbüge einander genähert sind[.] (fig b)
Bei noch mehr verstärktem Tone vereinigen und spannen sich die {Ausbuge} gegen-
einander und es entsteht ein Feld von abwechslend erhöhten und vertieften
Quadratwellen. (fig c.) Beim stärksten Tone lösen sich von den äußersten
Gipfeln der erhöhten Quadratwellen Tröpfchen los, und werden weggeschleü-
dert. (fig c)

3.) Nebst denen zuerst erscheinenden Wellen die ich die queeren nennen möchte, giebt
es andere die sich später zeigen und senkrecht auf jene stehend entweder frei
für sich erscheinen oder mit jenen combinirt sie kreuzen die ich also die Kreüz-
wellen nenne. Sie sind eigentlich diejenigen die in die erstern die Schlängelung
hineinbringen indem sie sich über sie legen und sie eindrücken und sich auch außerhalb
dieser frei für sich fortsetzen, und manchmal in zusammenhängenden Furchenfeldern
manchmal in einzelnen auseinanderfahrenden Furchenstreifen in die übrige5 noch ruhende
Flüssigkeit sich verbreiten. (fig d.)

[4r]

4.) Die Wellen erheben sich jedesmal zuerst in den Mittelpunkten und Mittellinien
der klingenden Stellen, und bewegen sich gegen die chladnyschen ruhenden Linien
hin. Es erscheinen jedesmal die Querwellen zuerst und verbreiten sich nach
der Richtung der klingenden Stelle (fig e) Die nachfolgenden Kreüzwellen
laufen parallel mit den Linien der Ruhe. Die Ränder sind als durchschnit-
tene klingende Stellen zu betrachten.

5. Chladnys Klangfiguren stellen im Grunde dieselben Modificationen dar
wie die Schallwellen. Sie erscheinen in ihrer Reinheit entweder als gerade
Parallellinien oder als Schlangenlinien oder als Gitter.

6.) Die Schwingung der Glasscheibe kann man auch besonders bei sehr tiefen
Tönen, an dem sich an der Fläche spiegelnden Lichtflammenbilde sehen, welches
verzerrt ja wohl gar verdoppelt wird. Sollte wohl das Licht durch diese Be-
wegung, die {gewies} nicht ohne partielle Veränderungen der Cohäsion vor sich geht
nicht auch entoptische Modificationen erhalten?

7. Auch wäre zu erforschen ob klingende Stahlplatten nicht magnetisch werden,
oder ob sich überhaupt bei diesen Versuchen nicht Wärme- und (elekt.)elektrische (Phän.)Phänomene zeigen.

8.) Klingende Saiten die mit einer Wasserfläche in Berührung kommen zeigen
ebenfalls die Querwellen, und zwar senkrecht auf ihre Länge.

9. Wenn auf eine in einem Rahmen gespannte Glastafel an einer be-
schränkten Stelle Wasser aufgegossen wird, und in dessen Nähe durch schlüpfern-
des Hin und Herfahren des benetzten Fingers ein Ton hervorgelockt, so erscheinen
auf der Wasserfläche die Tonwellen wie von einem vorübergehenden Wehen.
Wird der Finger mitten in der Flüssigkeit tönend bewegt, so entstehen sie
jedesmal um denselben und begleiten ihn.

[4v]

10.) Im Vorbeigehen bemerke ich noch daß die sogenannten Lämmerwolken {ahnliche} Er-
scheinungen und Veränderungen darbieten wie das in den Klangwellen am Grunde
bewegte Pulver, oder wie der Bärlappsamen an ihrer Oberfläche. Dürfte man nicht
die Vermuthung wagen, daß dort am Sitze der Lämmerwolken sich in der Atmosphäre
eine relative Oberfläche als Gränze zwischen zwei Luftschichten von verschiedener spe-
zifischen Schwere bilde die den dort sich sammelnden Dünsten zur Unterlage dient
und die wie jede flüssige Oberfläche unter bestimmten Bedingungen wellenformig be-
wegt seyn kann.

[5r]
Notes
1
Das erwähnte Werk ist nicht identifizierbar.
es]
gelang gelungen]
auf]
in ihrer Mitte]
übrige]
CC-BY-SA-4.0

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TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. M 147 TL (1823): Purkinje: Das Phänomen der Klangwellen. M_147_1823.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-B735-7