Spaziergänge eines Wiener Poeten
[von Anastasius Grün]

Jupiters Blitze von der Hand einer Grazie umhergestreut. – Nie hat mich ein Buch so gerührt, wie dieseSpaziergänge eines Wiener Poeten. Wir andern in allen Städten und Ländern klagen auch; aber wir klagen doch nicht allein. Es klagen viele mit uns. Tausend Gleichgültige gehen vorüber und reichen uns keine Hand; aber sie gehen doch vorüber. Sie verstehen uns nicht; aber sie mißverstehen, sie hören uns doch. Berge ringsumher schallen unsern Weheruf zurück. Aber dieser trauernde Mensch auf einer menschenleeren Insel ausgeworfen, allein atmend in einer leblosen Welt, ringsumher eine Wasserwüste, kein Echo für seinen Schmerz, unter sich das nahe Grab und über sich nur der ferne Gott – es ist etwas darin, das den tiefsten Grund meiner Seele bewegt, zu dem noch kein Gefühl hinabgereicht. Dieses Buch hat die stillen Schauer in mir aufgeregt, die, seit ich Bürger geworden, durch alle meine Nerven rieselten, so oft ich das Wort Österreich hörte. Wahrlich, ich komme mir vor wie das possierlich kleine Männlein, das in dem herrlichen Gedichte: Warum? sich auf der Sprache garbenreichem unermessenem Erntefeld ein einziges goldenes Körnlein liebend auserwählt; das Männerwort: Warum? Sooft ich erfuhr, was man in Österreich tut und duldet, frug ich leise, lispelnd, stille vor mich hin, seufzt' ich: Warum? Warum? Fiele ich in Lissabon als Schlachtopfer unter tausend Schlachtopfern, nun, da sehe ich doch einen Tyrannen, der Lust hat an unserm Schmerze, einen Tiger, der unser Blut trinkt. Ich weiß warum. Aber in Österreich ist Tyrannei, und ich sehe [987] keinen Tyrannen; Unterdrückung, und ich sehe keinen Unterdrücker; des Lebens kostbarste Güter werden geraubt, und ich sehe keinen Räuber, der sie genießt, der sie auch nur vergeudet. Warum? Knecht ist alles. Knecht ist der Kaiser wie der gemeine Soldat; Knecht der Minister wie der niedrigste Schreiber; Knecht ist der Untertan, und Knecht ist das Gesetz. Wo ist der Herr? Mauer um Mauer gezogen, eine Mauer beschützt die andere – und warum? Was wird denn endlich beschützt? Ein ungeheures Gebäude aufgerichtet, worin die Menschen, die es bewohnen sollen, mit eingemauert, als Karyatiden, als Säulen, Decke und Gewölbe tragend – warum? wer soll denn das Haus bewohnen? Des Lebens längste Dauer zu des Lebens höchsten Zweck zu machen, die frischesten saftigsten Völker der Erde, vom Baume der Geschichte pflücken, sie in Essig einmachen, die Luft von ihnen abhaltend, sie Jahrhundert nach Jahrhundert bewahrend – warum? Wer endlich wird denn das genießen? Wenn Österreich hunderttausend Jahre steht, hat es mehr gelebt als Athen, Pisa, Florenz in einem einzigen Jahrhundert? Und daß es Menschen gibt, die das bewundern können! Wenn rings um Österreich alle Länder beben, alle Völker übereinanderstürzen, alle Throne wanken – doch Österreich steht fest – dann frohlocken seine Staatsmänner: Seht! bei uns ist Ruhe, Friede, Ordnung; was habt ihr gewonnen bei eurem rastlosen Streben? Gerechter Gott! So kann jeder Grabstein spotten! »Du Mensch unter mir mit deiner stolzen Brust, mit deinem glühenden Herzen, was bist du jetzt? Staub, Asche, nichts. Als du lebtest, hast du mich mit Füßen getreten, schnell war dein Dasein, und ich stehe noch immer und laste auf dir!« Er steht noch, der Grabstein, er hat den Menschen überdauert; aber lebt er, hat er je gelebt? Heißt das Leben einen Raum einnehmen, ist das Bewegung so viele Luft verdrängen? Und dauerte Österreich [988] noch Millionen Jahre, ein Erdbeben wirft es doch endlich um. Und widerstände es allen Erschütterungen, so verwittert es endlich doch. Wozu war es dagewesen? Und darum ein Volk zum Steine machen, daß es als Grabstein über gestorbene Völker prange! Es ist ein furchtbares Naturgeheimnis in diesem österreichischen Staate, das ich nie ergründen werde. Einen ähnlichen Staat hatte die Geschichte früher: Sparta; aber weil Sparta die Tyrannei noch besser verstand als Österreich, war seine Tyrannei minder schrecklich. In Sparta wurde keine Neigung, keine Kraft des Menschen unterdrückt; sie durften sich alle frei entwickeln. Aber der Staat verstand sie alle zu bändigen, und sie mußten ihm alle dienen. Doch Österreich versteht von den tausend Kräften und Neigungen seiner Bürger nur hundert zu bezähmen, und die andern Hunderte, die widerspenstig sind und die es nicht beherrschen kann – schlägt es tot.


Sein einziger Trost in diesem feuchten dunkeln Kerker, daß es ihm an guten Sohlen nicht fehle, dem Drucke der Luft zu entlaufen, auf Feld und Berg.

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TextGrid Repository (2012). Börne, Ludwig. Schriften. Literaturkritiken. Spaziergänge eines Wiener Poeten. Spaziergänge eines Wiener Poeten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3C8F-4