Ida Boy-Ed
Ich selbst?

Wenn ich von tausend Millionen sprechen will, kann ich das mit einem Wort ausdrücken, ich sage: eine Milliarde. Wenn ich aber von einer Unsumme von Arbeit, Leiden, Freuden, Illusionen, Enttäuschungen, Kämpfen, Schönheiten, Unbegreiflichkeiten, Widerwärtigkeiten reden soll, kann ich das nicht kurz tun, geschweige denn alles mit einem Wort ausdrücken. Hier unterbricht mich schon ein schlagfertiger Leser und bemerkt überlegen: es gibt doch ein Wort, das das alles zusammen benennt; es heißt: Leben! Dieser Schlagfertige hat Unrecht. Das Leben ist kein arithmetischer Begriff, und es gibt keine gleichen Leben. Jedes ist ein unvergleichbares Ereignis für den, der es durchstreitet. Ich glaube selbst bei den Trappisten und den Klarissinnen: so stumm und gleichförmig dies religionsautomatisch aufgezogene Menschentum äußerlich auch seine Tage sich abspinnen sieht, drinnen in der Brust eines jeden wohnt doch ein Sonderleben, und sei es auch nur das der Erinnerung.

Ich habe mich gefragt, ob es leicht oder schwer sei, von mir zu sprechen. Es ist leicht – nicht etwa, weil ich mir selbst kein interessanter Stoff mehr bin, sondern weil die höchstmögliche Reife (vollkommene Reife gibt es nicht!) eines mit der völligsten Unschuld gemeinsam [67] hat: die gänzliche Unbefangenheit. Konventionell zu sein, wäre auch zu mühsam für jemanden, der sich immer mit dem Studium des Menschen beschäftigt hat, und dessen heimliches, persönliches Ziel war, einfach zu werden! Für eine Frau wohl das schwierigste aller Ziele, vor allem für eine, bei der »Mutterschaft und Künstlertum« (siehe den so betitelten Abschnitt in meinem Buche »Germaine von Staël«) sich in einem nie auszugleichenden Interessenstreit befinden. Mit Zielen ist es nun so wie mit dem Landungspunkt des Schiffers, der einen über den Nil setzt und wegen der gewaltigen Strömung die Richtung ein Viertelkilometer weiter flußaufwärts nimmt, als er eigentlich ankommen will und kann. Auch bei ethischen Zielen drängt der Strom des Lebens einen doch beträchtlich niedriger ans Ufer, als man erstrebt hatte.

In Biographien wird immer erstaunlich viel umgruppiert. Um zwei Beispiele zu geben, die mir gerade einfallen: in Liliencrons Biographie ist die Geschichte, wie seine nachmalige zweite Frau durch Hermann Heidbergs Vermittlung in mein Haus kam und wie sie es wieder verließ, mit ein paar ganz unwahren Worten berichtet, während in der Tat diese Episode für alle Beteiligten ungemein charakteristisch war. Was in Geibels Biographien und nach seinem Tode in seiner Leichenrede von seiner Ehe gesagt wurde, weicht völlig von dem ab, was Bodenstedt als miterlebender Zeuge mir einst erzählt hat. Aber freilich: Ehegeschichten eignen sich wohl eigentlich nicht zu Beispielen, denn sie haben immer zwei Seiten, und beide können wahr sein. Wie fast jede Daseinsäußerung auf jeder Stufe des Darzustellenden zwei verschiedene Beleuchtungen verträgt; [68] welche unumstößliche Wahrheit schon dartut, daß fast in jeder Biographie die Unterströmungen, und damit die eigentlichste Möglichkeit, den Dargestellten genau zu erkennen, fehlen. Autobiographische Notizen sind zuverlässiger. Aber das Notwendigste davon findet sich ja immer im Meyer und Brockhaus, darin niemand, der dort genannt ist, sich vereinsamt fühlen wird, und die ungeheure Menge der Namhaften drückt einen selbst zum winzigen Pünktchen im Gesamtbild der Kultur herab. Und was geht das Publikum eigentlich das an, was über die standesamtlichen Angaben hinausgeht? Ist man ein Vergänglicher, gewiß sehr wenig. Und den Unvergänglichen spürt die Nachwelt durch und durch; sie interpretiert hinein und heraus nach literarischem Feinschmeckervergnügen, nach vorgefaßten Meinungen, zu Umknetungszwecken, um eigene Weisheit leuchten zu lassen. So ein Unvergänglicher bin ich nicht, diese Beschäftigung mit mir herauszufordern. Höchstens komme ich noch einst in die »Anmerkungen« zu den Biographien anderer, wenn über diesen oder jenen höchst Namhaften der letzten dreißig, vierzig Jahre aus meinen Briefschätzen Erläuterungen zu ziehen sein würden. Und im Verzeichnis der Schillerliteratur wird meine psychologische Biographie der Charlotte von Kalb, welches Buch beträchtliches Aufsehen machte und das erste geschlossene Lebensbild der Freundin Schillers ist, nicht fehlen. Ebensowenig in der Liste der Goetheliteratur meine Studie »Das Martyrium der Charlotte von Stein«.

Was die oben erwähnte Einfachheit betrifft (man könnte auch sagen: Schlichtheit oder Bescheidenheit), so ist mein Dasein mit einem großen Vorteil begnadet [69] gewesen (von dem bitteren Nachteil, der mit diesem Vorteil verbunden war, spreche ich noch). Ich lebte, seit meine Heirat mich aus der von geistigen und politischen Interessen erfüllten Atmosphäre meines Vaterhauses entführte, fast immer unter unliterarischen Menschen. (Die ersten Jahre meiner Ehe waren überhaupt, wie es bei Tausenden von Frauen und besonders den intelligenten, sind, eine schwere und in geistiger Beziehung quälende Zeit; Kinder kommen; man ist selbst noch erschreckend unreif, man soll sich auf einen nicht angeborenen Familienkreis abstimmen, dessen Mitglieder man sich auch bei gereifter Erkenntnis nie zu seinem Umgang gewählt hätte.) Natürlich pflegte in meinem eigentlichen Gesellschafts-und Freundeskreis die eine oder andere Persönlichkeit geschmackvoll und eifrig literarische Neigungen. Aber es wehte doch durchaus die Luft der realen Welt, die hanseatische Luft, die vom Salz der Meere durchhaucht ist, und in welcher die Kulturmission des Kaufmannes und die ordnende Tätigkeit des Juristen natürlicher gedeiht als die des Literaten. (Dieser Luft verdanke ich meinen Roman »Ein königlicher Kaufmann«.) Das hat mich vor der Überschätzung literarischen Schaffens geschützt. Wer zwischen lauter Kunstschöpferischem lebt, denkt oder fühlt, als seien ihre Taten der Angelpunkt der Kultur überhaupt.

Man hat sich so oft gewundert, daß ich seßhaft in Lübeck geblieben bin. Meine jüngeren Mitbürger, die sich durch ihre Begabungen zum Kampf um das bittere Grün der Lorbeerkrone berufen sahen, sind gegangen: Heinrich Mann, Thomas Mann; Fritz Behn, Joachim Pagels, Schwegerle, die drei erfolgreichen Bildhauer; Otto Grautoff, [70] der Kunsthistoriker. Mich haben keineswegs nur persönliche Fesseln gehalten, die sich nicht lösen ließen, auch nicht allein Aufgaben, die unbedingt erfüllt werden mußten. Ich habe ein ganz merkwürdig starkes Heimatgefühl, ich brauche die »Waterkant«! Es lebt sich so gut in solcher Stadt voll alter Geschichte, deren eigentlichster Bevölkerungskern durch unzählige Traditionen miteinander verkittet ist, und die in immer stärkerem Aufblühen auch die Anregungen der Großstadt gerade in aufnehmbarem Maße bietet. Und viele und weite Reisen waren ja bis zum Kriege der selbstverständliche Inhalt eines Teils des Jahres. Und wie festlich und erquicklich ist bei solchen Lebensumständen dann das gelegentliche Zusammensein mit erlesenen Freunden aus künstlerischer Zone. Die Beziehungen sinken nicht, sie werden nie gefährdet durch die elektrischen Spannungen, die immer mal eintreten und zur Parteinahme für oder gegen nötigen, wo Sterne in allzu häufiger Nähe zueinander sich in der Entfaltung ihres Lichts vom Nachbargestirn beeinträchtigt fühlen.

Aber wenn man so fern vom literarischen Getriebe einer Weltstadt lebt, hat man auch einen schweren Nachteil, mit dem der Genuß der gesünderen Freiheit und des bequemeren Lebens teuer bezahlt wird. Ich will noch gar nichts sagen, daß dieser Nachteil der ist, daß man keiner Clique angehört. Aber es gibt ein Volkswort: Ansehen tut gedenken. Man kennt keine Kritiker, man begegnet ihnen nicht. Wer nur ungefähr weiß, wie riesig die Zahl der Neuerscheinungen ist, aus denen der Kritiker sich einige Werke herauswählen muß, versteht seine Schwierigkeiten. Es ist so menschlich, daß er dann am ehesten, am wohlwollendsten und ausführlichsten [71] die Bücher jener Autoren bespricht, denen er oft persönlich begegnet, deren redlichen Kunstwillen er aus Unterhaltungen kennt. Ich stehe ganz allein. Und da sind auch noch andere Dinge. Also Beziehungen und Förderungen fehlen mir ganz. – Um so dankbarer bin ich den wenigen Männern, die sich, ohne mich persönlich zu kennen, mit meinen Arbeiten anerkennend beschäftigen, worunter ich einige autoritative Universitätsprofessoren nennen könnte.

Ich habe mir auch vielfach selbst im Wege gestanden. Oben sprach ich von Aufgaben, die unbedingt erfüllt werden mußten. Sie waren erst die der Befreiung, dann wurden sie eines Tages plötzlich wirtschaftlich. Erst mußte ich Romane schreiben, um der nächsten Umwelt zu zeigen, daß ich immerhin einige Individualitätsrechte habe und daß eine Begabung keine brotlose Kunst und Zeitverschwendung sei; dann traten schmerzliche Ereignisse ein, die mir zeigten, daß bürgerliche Pflichten über den literarischen stehen können. Übrigens hat mir dieses Schaffen oft viel Vergnügen gemacht und Unzähligen auch Freude bereitet. Doch habe ich die mir peinliche Einschätzung als Unterhaltungsschriftstellerin ertragen müssen, und für manches Werk war sie auch zutreffend. Das hat dann der Bewertung anderer Schöpfungen geschadet. Ich glaube indessen, daß Romane wie »Ein königlicher Kaufmann«, »Die Opferschale« u.a. als Dokumente einer bestimmten Epoche ihren Wert haben; und daß sie eine Fülle von Psychologie enthalten, die auch anspruchsvollsten Lesern manches zu sagen wußte, ist mir oft genug aus Leserkreisen des In- und Auslandes bestätigt worden. Wenn man nicht an sich selbst glaubte, dürfte man ja überhaupt [72] nicht schreiben. Es sagte mir einmal Fritz Mauthner, als wir beide noch Anfänger waren, ungefähr dies: »Man schreibt, weil man das, worüber man schreibt, besser zu verstehen glaubt als andere Leute.« Indessen spüre ich doch, daß selbst meine »Unterhaltungsromane« immer noch mehr gelesen werden als meine literarhistorisch-psychologischen Arbeiten. Diese setzen sich nicht so rasch durch.

Und doch lernt man einen Verfasser, dem man Teilnahme zuwendet, immer noch genauer aus solchen Werken kennen als aus allem, was er über sich selbst sagt. Feiner Spürsinn mag aus »Charlotte von Kalb«, aus »Dem Martyrium der Charlotte von Stein« und meinem kürzlich herausgekommenen Werk »Germaine von Staël«, meine eigentlichste Biographie (nicht die äußerlichen Daten), herauskristallisieren. Germaine sagt einmal ein sehr hartes Wort: »Ich liebe nicht mehr, was ich geliebt habe, und ich achte nicht mehr, was ich geliebt habe.« Welcher Erfahrene könnte diesen Ausspruch nicht als Unterschrift unter manche Erinnerung seines Lebens setzen.

Und nun? Der Schluß? Wer von uns nun Siebzigjährigen erträgt den Rest der Tage anders als mit Widerwillen? Trägt ihn nur, weil man es Kindern und Enkeln schuldet, aufrecht zu bleiben. Es brach zusammen, was man sein Dasein hindurch werden und wachsen sah – das Vaterland. Man hat oft das Gefühl, umsonst gelebt zu haben. Welche Saat soll man ausstreuen auf einem Boden, dessen Fruchtmöglichkeiten man anzweifelt? Aber dennoch heißt es arbeiten, denn um unseren Feierabend sind wir betrogen. Ich dachte einst in fröhlicher Geistesfrische, ihn mir mit allerlei Liebhabereien – [73] Aquarellieren und Blumenzucht – reizvoll auszufüllen. Dergleichen ist einem aus der Hand geschlagen. Es ist aber doch ein wunderbares Gefühl, so alt zu sein und sich vollkommen vom Leben durchpulst zu spüren. Und da halte ich mir denn immer Goethes Spruch vor: »Noch ist es Tag, da rühre sich der Mann. Die Nacht tritt ein, wo niemand schaffen kann.«

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TextGrid Repository (2012). Boy-Ed, Ida. Autobiographisches. Ich selbst. Ich selbst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3D77-3