Zweites Selbstgespräch

Wer bin ich? Alles erwacht in mir! mein Geist! –
Höhen – Tiefen! – ich schaudre! – die nur Gott durchmißt! –
Dunkel liegt mein Grund! – Leidenschaft durchfleußt
Ihn unendlich und braust! – braust! – Geist, Du bist
Eine Welt, ein All, ein Gott, Ich! –
Mensch fühl' ich mich, und beten vor mir an?
Nein! aufrecht stehn und denken will ich mich!
Du jeder mein Gedank, des stärksten Selbsttriebs Blut
Und jede Nerv sei Kraft und jede Ader Gluth,
Daß ich mich fühlen, fassen, lenken kann!
Es schläft in mir! Im Schooß des Chaos schläft
Welche Gedankenwelt!
Um einen Punkt dehnt ein unendlich Feld
Sich in der Ferne Schatten. Es schläft
Um mein Jetzt die Asche von Vergangen,
In ihr der Keim der ganzen Künftigkeit.
Wie keimt im Todtenkrug die Asche von Vergangen
Zum Keim der Künftigkeit!
Wolkenhoch erwach' ich am Segel, und unter mir
Ruht ein Ocean! doch in den hohlen Tiefen
Donnert herauf Neptun. So steigen hier
Gedanken empor; es rauscht das Feld in mir
Von Todten, die sich ins Leben riefen.
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O, spräch' ich: »Sei!« und meine ganze Welt
Erstünde mir, dem Gott, so! welche Millionen!
Der Zoll der ganzen Schöpfung, tief versenkt
Ins Meer der Nacht! So ruht das Gold, umschränkt
Von Acherons, von Cerbers rings umbellt,
Da Alpen, Klüfte, Plutons auf ihm thronen!
So ruhn im Meere Schätze Millionen,
Der Raub der Indiens, im Schiffbruch, ach! ertränkt!
So schlummert unter Eis und Schneesthronen
Des Frühlings bunte Blumenwelt!
Wer ruft Dich, Frühlingswind, der mich von Banden
Enteist! O welche Sonne gebiert
Aus mir ein Tempe und weckt ein hohes Aehrenheer,
Wie Riesen aus Jason's Saat entstanden!
Entwälzt kein Hercules die Felsen mir und entführt
Der Hölle mein Gold! Wer spricht zum Meer:
»Gieb Deine Todten her!«
Und kann ich selbst nicht, selbst mir Hercul sein?
Er, der den Cerber speiend, die Allmachtskeule
Gefaßt, im Löwenschmuck
Voll Hyderblut erschien und Ruh und Säule
Und Kampf Olympens nachließ; denn es trug
Den Pappel-, Oel- und Lorbeer-Neugekrönten
Die Wolke himmelwärts,
Und dunkler Götterblitz im Auge des Verhöhnten
Nahm Junons ganzes Herz
Und Pindar's Geist, der seinen Spuren
Voll Trotz sich, Adler, nachschwang! –
Wie Shakespeare, der aus Wildnißfluren
Im Räubersbart zu Göttern drang;
Denn er grub ins Menschenherz, zur Höllengluth
Erschüttert, Simson, seine Tempelsäulen,
Er, fast sein Schöpfer. Und sein Schöpferstab
Spricht hier ein Feenreich, dort Wildnisse, die heulen.
Das war er! und Mensch! – Mensch? und ich knie' vor Dir!
Ich knie'! Ja, weinen will ich Blut
Mir, nicht Dir! – und schwören mir,
Nicht Shakespeare, ich zu sein. Fallt ab,
Fesseln der Feigheit, ab!

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Sechstes Buch. Zweites Selbstgespräch. Zweites Selbstgespräch. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-594A-4