Beispiele von Geistesgegenwart und Muth.

In Polen und Lithauen giebt es bekanntlich noch viele Wölfe, welche die Heerden überfallen, und oft nicht bloß die Schaafe wegnehmen, sondern auch Kühe und Ochsen anfallen. Doch wagt sich an diese nicht ein einzelner Wolf, sondern mehrere, die das Thier von verschiedenen Seiten anpacken, daß es ihnen nicht entgehen kann; besonders im Winter, wenn bei der dort herrschenden strengen Kälte, das Hornvieh wie die Schaafe viele Monate hindurch eingesperrt in ihren Ställen sind, und die Wölfe keine andere Nahrung finden können, als bisweilen auf dem Anger ein todtes Stück Vieh, machen Hunger und Kälte sie so dreist, oder vielmehr so wüthend, daß sie ungescheut selbst die Menschen anzufallen [201] wagen. Ein polnischer Beamter fuhr einmal im Winter durch einen Wald, im Schlitten, und sahe sich plötzlich, ob es gleich nur erst anfing zu dämmern, von einer Menge von Wölfen umringt. Sein junges muthiges Pferd, welches sie anpacken wollten, bäumte sich, warf den Schlitten um, und jagte davon. Der Beamte rettete sich in der Todesangst schnell genug noch auf einen Baum, welchen die Wölfe, denen das Pferd entwischt war, umringten und mit heißhungrigen Blicken den armen Manne auflauerten. Die Todesangst raubte ihm nicht alle Besinnung. Er wußte, daß selbst im größten Hunger diese Thiere einander nichts thun. Hat aber einer von ihnen die kleinste Wunde, oder nur etwas Blut an sich, so lecken die andern augenblicklich daran, und endlich zerreissen und fressen sie ihn. So zog nun der Gefangene sein Federmesser aus der Tasche und ritzte sich so stark mit demselben in die Hand, daß das Blut stark hervorquoll. Dieses tröpfelte er auf die zunächst dem Baum lauernden Wölfe, und augenblicklich glaubten die andern ein Recht zu haben, die mit Blut bezeichneten, zu verspeisen; welches auch sogleich geschah. Während sie mit dieser Mahlzeit beschäftigt waren, und die zerrissenen Stücke weit umher zerrend, sich vom Baum etwas entfernten, rettete sich der Beamte, hoffend, noch [202] vor dem Einbruch der Nacht ein nicht fernes Dorf zu erreichen, und entschlossen, sich im Nothfalle wieder auf einen Baum zu flüchten. Mehr tod als lebend kam er in dem Dorfe an, und mußte doch noch froh seyn, mit dem Schrecken bloß davon gekommen zu seyn. Einst fuhr auch ein Bauer in jenem Lande mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern durch den Wald. Bald war auch er von Wölfen umgeben, von denen einige sich an das Pferd machten, welches aber, da sie ihm den Weg versperrten, sich mit den Hufen wehrte, andere aber sprangen über den Schlitten und zerrten die Decke weg, welche die Mutter um die Kinder gebreitet hatte. Endlich entriß eins dieser wüthigen Thiere eines der Kinder der Mutter. Voll Entsetzen ergriff der Bauer ein bei sich habendes Beil, und schlug mit demselben so nachdrücklich auf den Kopf des Wolfes, daß dieser betäubt von dem Schlage zurücktaumelte, und das Kind, das nur noch bloß von den scharfen Zähnen geritzt war, fallen ließ. Schnell erfaßte es der Bauer und warf es in die Arme der Mutter, und eben so schnell tödtete er den Wolf, ehe dieser zur Besinnung kam; denn es ist höchst gefährlich eines dieser Thiere bloß zu verwunden, alsdann kennt seine Wuth keine Grenzen. Jetzt warf sich der Bauer wieder in den Schlitten, und es gelang dem [203] Pferde durchzubrechen, und die Leute und sich selbst durch die Flucht zu retten. Am besten ist es, so viele hellklingende Schellen und Glocken als möglich an dem Geschirre der Pferde zu befestigen. Dieser Klang hält die Wölfe zurück, sie fühlen alsdann eine Art von Scheu die Pferde anzufallen. Auch ist es sicherer, wenn man von den Wölfen umringt ist, nicht sehr schnell zu fahren; denn, unmöglich kann das Pferd so schnell und sicher zugleich laufen, daß man nicht Gefahr liefe, umgeworfen zu werden, und während das Pferd sich rettete, selbst eine Beute der Wölfe zu werden, statt daß, wenn der Eigenthümer dieses, im ärgsten Falle Preiß geben müßte, er doch das eigne Leben davon trüge. Auch wo es keine reissenden Thiere giebt, wie in andern Theilen von Europa, giebt es doch Gefahren anderer Art, und darum ist es gut, nie die Besinnung zu verlieren, sondern muthig und entschlossen zu bleiben. Ein Reisender der in einem Gasthofe schlief, hatte eines Abendes vergessen, die Thüre seines Zimmers zu verriegeln. In der Nacht erwachte er von einem Geräusch und erblickte beim Schein der Nachtlampe einen Dieb, der seinem Bette nahete. Da er völlig wehrlos, und sein Gegner, ein baumstarker Mann mit einem langen Messer bewaffnet, auf ihn zukam, hielt er es für das [204] Beste sich schlafend zu stellen. Der Dieb trat nahe an das Bett und hielt ihm die Spitze des Messers an die Brust; da aber der zum Schein Schlafende sich nicht rührte, entfernte er sich langsam wieder, nahm alles was nur einigen Werth hatte, mit sich, und verließ das Zimmer. Kaum war er hinaus, als der Reisende aufsprang, die Thiere verriegelte, und so stark schellte, daß die Leute im Hause davon erwachten und zu ihm eilten. Man ergriff noch den Dieb, der sich in einem Winkel des Hauses verborgen hatte, in der Hoffnung, unbemerkt, wenn die Hausthüre am Morgen geöffnet, zu entwischen. Ein anderer Reisender mußte im Frühling, wenn die Flüsse und Ströme stark von den Gebürgen herabgethauten Schnee, der die kleinsten Bäche, welche sich in Flüsse gießen, überlaufen macht, angeschwollen sind, einen breiten Fluß, vermittelst einer Fähre, passieren. Zur Sicherheit waren hohe Pfähle in der Fähre angebracht, durch welche Thaue liefen, die an beiden Seiten des Ufers befestiget waren, um so das Wegtreiben der Fähre zu verhindern. Doch, das Eis stemmte sich an diese, und erhob die eine Hälfte derselben so hoch, daß Menschen, Pferde und Wagen herab ins Wasser stürzen mußten. In dieser schrecklichen Gefahr ergriff der Reisende sein Taschenmesser, zerschnitt die Strenge eines der in [205] das Geschirr verwickelten Pferde, warf sich auf dasselbe, sich fest an den Hals desselben klemmend, und so ward durch das schwimmende Pferd es ans Ufer gebracht. Sein Bedienter faßte in der Todesangst das Thau, und ob es ihm gleich tief ins Wasser herabzog, gelang es doch denen die am Ufer zu Hülfe herbeieilten, ihn durch dieses Thau heraus zu winden. Vorsicht ist eben so nöthig als Muth, und daher sollte Niemand weite Reisen antreten, ohne sich mit guten Pistolen und einem oder ein Paar scharfen Taschenmessern zu versehen.

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TextGrid Repository (2012). Stahl, Karoline. Märchen. Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Beispiele von Geistesgegenwart und Muth. Beispiele von Geistesgegenwart und Muth. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1677-3