Émile Zola
Germinal
(Germinal)

Erster Teil

Erstes Kapitel

In sternenloser, finsterer Nacht schritt ein einzelner Mann durch die flache Ebene auf der Heerstraße dahin, die von Marchiennes nach Montsou führt und sich zehn Kilometer lang geradeaus durch Rübenfelder hinzieht. Er vermochte selbst den schwarzen Boden vor sich nicht zu unterscheiden und war sich des ungeheuren, flachen Horizontes nur bewußt durch das Wehen des Märzwindes, der in breiten Stößen eisig kalt dahinfuhr, nachdem er meilenweite Strecken von Sümpfen und kahlen Feldern bestrichen hatte. Kein Baumschatten hob sich vom Nachthimmel ab; die Straße zog sich mit der Regelmäßigkeit eines Dammes durch die Nacht hin, in der die Augen fast erblindeten.

Der Mann war gegen zwei Uhr von Marchiennes aufgebrochen. Er machte lange Schritte, denn ihn fröstelte in seiner Jacke von dünnem Wollenzeug und in seinem Beinkleid von Samtstoff. Sein Päckchen, das in ein kariertes Taschentuch gewickelt war, belästigte ihn sehr; er drückte es bald mit dem einen, bald mit dem anderen Arm an sich, um beide Hände zugleich in die Taschen stecken zu können, seine erstarrten Hände, die der eisige Ostwind wund geblasen hatte. Ein einziger Gedanke beschäftigte das müde Gehirn dieses arbeits- und obdachlosen Mannes: die Hoffnung, daß nach Sonnenaufgang die Kälte weniger empfindlich sein werde. Er mochte eine Stunde so dahingeschritten sein, als er zur Linken zwei Kilometer von Montsou rote Feuer wahrnahm, drei Gluthaufen im freien Felde, die gleichsam in der Luft schwebten. Zuerst zögerte er, von [5] Furcht ergriffen; dann konnte er dem schmerzlichen Bedürfnis nicht widerstehen, einen Augenblick seine Hände zu wärmen.

Der Mann betrat einen Hohlweg, der zu den Feuern führte. Alles um ihn her verschwand. Zur Linken hatte er eine Plankenwand, die einen Schienenweg abschloß, während rechts eine grasbestandene Böschung sich erhob, gekrönt von Häusergiebeln, die in der nächtlichen Finsternis verschwammen; es war das Schattenbild eines Dorfes mit niedrigen, gleichförmigen Hausdächern. Er machte ungefähr zweihundert Schritte. Plötzlich tauchten bei einer Biegung des Weges die Feuer ganz nahe wieder auf, und er begriff jetzt sowenig wie früher, wie es komme, daß sie so hoch unter dem toten Himmel brannten, rauchenden Monden gleich. Doch am Boden zog ein anderer Anblick seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war eine schwerfällige Masse, eine Gruppe niedriger Gebäude, aus deren Mitte der Schattenriß eines Fabrikschlotes aufstieg; ein Lichtschein drang aus den wenigen schmutzigen Fenstern hervor; außen hingen an Balken fünf oder sechs trübselige Laternen, deren geschwärzte Hölzer sich zu riesigen Gerüsten aneinanderreihten; von dieser phantastischen, in Nacht und Rauch getauchten Erscheinung stieg eine einzige Stimme auf: der laute und zischende Atem eines Dampfstromes, den man nicht sah.

Da erkannte der Mann, daß er sich bei einem Bergwerk befand. Abermals wurde er von Furcht ergriffen: was nützte es? Er bekam doch keine Arbeit. Anstatt seine Schritte nach den Gebäuden zu lenken, entschloß er sich endlich, den Hügel zu ersteigen, auf dem die drei Kohlenfeuer in großen, gußeisernen Körben brannten, um Licht und Wärme zu liefern. Die bei dem Abbau beschäftigten Arbeiter mußten bis in die späte Nacht am Werk gewesen sein, denn es wurde noch immer Schutt herausgefahren. Er hörte die Züge über die Gerüste rollen und unterschied lebende Schatten, die bei jedem Feuer ihre Hunde leerten.

[6] »Guten Morgen«, sagte er, als er sich einem der Feuerkörbe näherte.

Der Kärrner stand mit dem Rücken dem Feuer zugewandt; es war ein alter Mann in einer Trikotjacke von blauem Wollzeug und mit einer Mütze von Kaninchenfell; sein Pferd, ein großer, gelber Gaul, wartete unbeweglich, als sei es von Stein, bis man die sechs Karren, die es heraufgeführt, geleert hatte. Der bei der Ausleerungsvorrichtung angestellte Handlanger, ein roter, magerer Bursche, beeilte sich nicht; mit schläfriger Hand drückte er auf den Hebel. Da oben wehte der Wind noch stärker, ein eisiger Nordost, dessen breite, regelmäßige Stöße gleich Sensenstrichen vorübersausten.

»Guten Morgen«, erwiderte der Alte.

Dann trat wieder Stille ein. Der Fremdling, der sich mit mißtrauischen Blicken betrachtet wußte, sagte sogleich seinen Namen.

»Ich heiße Etienne Lantier und bin Maschinist. Gibt es hier keine Arbeit?«

Die Flammen beleuchteten ihn; er mochte einundzwanzig Jahre zählen, war sehr braun, ein hübscher Mann von kräftigem Aussehen trotz seiner kleinen Gestalt.

Der Kärrner schüttelte den Kopf; er schien jetzt beruhigt.

»Arbeit für einen Maschinisten?« sagte er. »Nein, nein ... Gestern waren auch zwei da. Es gibt keine Arbeit.«

Ein Windstoß schnitt ihm das Wort ab. Dann fragte Etienne, indem er auf die dunkle Gruppe von Gebäuden am Fuße des Hügels zeigte:

»Das ist ein Bergwerk, nicht wahr?«

Der Alte konnte nicht sogleich antworten. Ein heftiger Hustenanfall drohte ihn zu ersticken. Endlich spie er aus, und sein Speichel bildete einen schwarzen Fleck am roten Erdboden.

[7] »Ja, das Bergwerk le Voreux ... Der Ort liegt ganz nahe.«

Er wies mit ausgestrecktem Arme nach dem im Dunkel der Nacht daliegenden Dorfe, dessen Hausdächer der junge Mensch mehr geahnt als gesehen hatte. Doch die sechs Hunde waren jetzt leer; der Alte folgte ihnen ohne einen Peitschenknall mit seinen gichtsteifen Beinen, während der große, gelbe Gaul von selbst seinen Gang wieder antrat und zwischen den Schienen mühsam seine Last schleppte, von einem neuen Windstoße gepeitscht, der ihm das Fell zerzauste.

Die Grube le Voreux schien aus dem Nachtschlafe zu erwachen. Etienne, der seine armen, blutenden Hände am Kohlenfeuer wärmte, verlor sich völlig in seinen Betrachtungen und erkannte allmählich sämtliche Teile des Bergwerkes, den geteerten Schuppen des Sichtungswerkes, den Glockenstuhl des Schachtes, die geräumige Halle der Fördermaschine, den viereckigen Turm der Schöpfpumpe. Dieses Bergwerk, das in der Tiefe einer Schlucht lag, schien ihm mit seinen niedrigen Ziegelbauten, seinem wie ein drohendes Horn in die Höhe ragenden Schlot das unheilkündende Aussehen eines gierigen Raubtieres zu haben, das dahockte, um die Welt zu verschlingen. Während er es betrachtete, dachte er an sich selbst, an sein Vagabundenleben, das er seit acht Tagen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz führte. Er sah sich in seiner Eisenbahnwerkstätte, wo er seinen Vorgesetzten geohrfeigt hatte, dann aus Lille verjagt und überall vertrieben. Am Samstag war er in Marchiennes angekommen, wo er in den Eisenhütten angeblich Arbeit finden sollte; aber es war nichts, weder in den Eisenhütten noch in den Fabriken Sonnevilles; er hatte den Sonntag unter den Hölzern einer Wagnerei verborgen zugebracht, deren Aufseher ihn um zwei Uhr nachts weggejagt hatte. Er hatte nichts mehr, keinen Sou und keinen Bissen Brot; was sollte er anfangen? Ziellos irrte er auf der Heerstraße und wußte nicht, wohin er vor den Unbilden der Witterung [8] flüchten sollte. Ja, es war ein Bergwerk, die wenigen Laternen beleuchteten das Pflaster des Vorhofes; eine plötzlich geöffnete Tür gestattete ihm, die Feuer der Dampfkessel zu sehen. Er erklärte sich jetzt alles, selbst die Dampfströme der Pumpe, dieses laute, unablässige Pfeifen, das gleichsam der verschleimte Atem des Ungeheuers war.

Der Handlanger bei der Kohlenlöschhalde stand mit gekrümmtem Rücken da und warf keinen Blick auf Etienne. Dieser wollte eben sein kleines Bündel vom Boden wieder aufheben, als ein Hustenanfall die Rückkehr des Kärrners ankündigte. Man sah ihn langsam aus dem Dunkel auftauchen, gefolgt von dem gelben Gaul, der sechs volle Hunde schleppte.

»Gibt es in Montsou Fabriken?« fragte der junge Mann.

Der Alte warf wieder schwarzen Speichel aus und erwiderte dann:

»Oh, an Fabriken ist kein Mangel. Noch vor drei, vier Jahren summte und brummte es ringsumher; man konnte nicht genug Leute finden; nie gab es so guten Lohn. Aber jetzt sind wieder magere Jahre gekommen. Ein rechtes Elend ist ins Land eingezogen; man entläßt die Leute, die Werkstätten werden geschlossen, eine nach der anderen ... Es ist vielleicht nicht die Schuld des Kaisers; aber warum geht er nach Amerika, um sich dort herumzuschlagen? Dazu kommt noch, daß das Vieh an der Cholera zugrunde geht wie die Menschen.«

In kurzen Sätzen mit stockendem Atem klagten die beiden weiter. Etienne erzählte, wie er seit einer Woche vergebens Arbeit suche. Müsse man denn wirklich vor Hunger umkommen? Bald würden die Landstraßen sich mit Bettlern füllen. »Ja, ja,« meinte der Alte, »das wird bös enden. Gott kann unmöglich wollen, daß so viele Christenmenschen auf die Straße geworfen werden.«

»Man hat nicht alle Tage seinen Bissen Fleisch.«

»Wenn man nur alle Tage Brot hätte!«

[9] »Das ist wahr; wenn man nur alle Tage Brot hätte!«

Ihre Stimmen verloren sich; der Wind entführte ihre Worte mit melancholischem Gestöhn.

»Seht, dort liegt Montsou!« sagte jetzt der Kärrner laut und wandte sich nach Süden.

Wieder streckte er die Hand aus und zeigte im Dunkel auf fast unsichtbare Punkte in der Reihenfolge, wie er sie benannte. Fauvelles Zuckerfabrik in Montsou halte sich noch, Hotons Zuckerfabrik jedoch entlasse Arbeiter; Dutilleuls Müllerei und Bleuzes Seilerei hätten noch zu tun. Dann zeigte er mit einer weiten Handbewegung den halben Horizont im Norden; die Bauwerkstätten Sonnevilles hätten dieses Jahr nicht zwei Drittel ihrer sonstigen Aufträge bekommen; von den drei Hochöfen der Eisenwerke zu Marchiennes seien bloß zwei angeblasen; in der Glasfabrik Gagebois drohe ein Ausstand, weil man von einer Herabsetzung der Arbeitslöhne spreche.

»Ich weiß, ich weiß«, wiederholte der junge Mann bei jeder dieser Auskünfte. »Ich komme von dort.«

»Bei uns ist es bisher noch erträglich«, fügte der Kärrner hinzu. »Und doch haben die Kohlengruben überall ihren Betrieb eingeschränkt. Da drüben auf dem Siegeswerk brennen auch nur noch zwei Koksöfen.«

Er spie und ging wieder hinter seinem schlaftrunkenen Gaul her, den er von neuem vor die leeren Karren gespannt hatte.

Jetzt konnte Etienne gleichsam die ganze Gegend überblicken. Es herrschte noch immer tiefe Finsternis; aber die Hand des Alten hatte sie mit dem großen Elend erfüllt, das der junge Mann jetzt unwillkürlich ringsumher in unermeßlicher Ausdehnung witterte. War's nicht ein Schrei des Hungers, den der Märzwind durch diese kahle Landschaft trug? Die Windstöße waren stärker geworden; sie schienen den Tod der Arbeit mit sich zu führen, eine Hungersnot, die viele Menschen zu töten drohte. Mit irrenden Augen suchte [10] er die Dunkelheit zu durchdringen, gepeinigt von dem Verlangen und der Furcht zu sehen. Alles verlor sich in der Tiefe der nächtlichen Finsternis; er sah nichts als in weiter Ferne die Hochöfen und Kokereien. Batterien von hunderten schiefer Schlote warfen rote Flammen gen Himmel, während die beiden mehr nach links gelegenen Hochöfen mit blauen Flammen brannten gleich Riesenfackeln. Es war traurig wie auf einer Brandstätte; keine anderen Lichter waren zu sehen an diesem drohenden Horizont als diese nächtlichen Feuer von Eisen und Kohle.

»Sind Sie vielleicht aus Belgien?« fragte jetzt hinter Etienne der Kärrner, der zurückgekehrt war.

Diesmal brachte er nur drei Hunde; man konnte sie immerhin ausleeren. Im Aufzugsschacht war ein Gewinde gebrochen, und dieser Unfall störte die Arbeit eine gute Viertelstunde. Am Fuße des Hügels war es still geworden. Die Männer an der Winde hatten aufgehört, mit ihrer Arbeit die Gerüste in unaufhörliche Erschütterung zu versetzen. Nur aus der Grube tönte das ferne Geräusch eines Hammers herauf, der auf Blech schlug.

»Nein, ich bin aus dem Süden«, antwortete der junge Mann.

Der Handlanger hatte die Hunde ausgeleert und sich dann auf die Erde gesetzt, froh über den Unfall, der ihm eine kurze Ruhe gestattete. Der Fremdling bewahrte seine stumme Scheu und hob die matten Augen erstaunt zu dem Kärrner, gleichsam bedrückt von so vielen Worten. Der Alte hatte in der Tat nicht die Gewohnheit viel zu reden. Das Gesicht des Fremden mußte ihm gefallen, und er wurde augenscheinlich von jenem Drang nach Vertraulichkeit erfaßt, der zuweilen bewirkt, daß alte Leute von selbst und ganz laut zu plaudern beginnen.

»Ich bin von Montsou,« sagte er, »und heiße Bonnemort.« (Gutertod.)

»Das ist wohl ein Spitzname?« fragte Etienne erstaunt.

[11] Der Alte grinste vergnügt und sagte, nach dem Voreuxschachte zeigend:

»Ja, ja ... Man hat mich dreimal halbtot dort herausgezogen. Das erstemal war mir die Haut versengt, das zweitemal steckte ich in der Erde bis an den Kopf; das drittemal war der Bauch von Wasser angeschwollen wie der eines Frosches ... Da sahen die Leute, daß ich nicht sterben wollte, und nannten mich Bonnemort, freilich nur so zum Spaß.«

Er begann dabei zu kichern; es klang wie das Kreischen eines eingerosteten Brunnenschwengels und artete schließlich in einen furchtbaren Hustenanfall aus. Der Feuerkorb beleuchtete jetzt vollständig seinen dicken Kopf mit den weißen, schütteren Haaren und dem flachen, bleichen, bläulich gefleckten Gesicht. Er war klein von Gestalt, hatte einen furchtbar dicken Hals, die Waden und Fersen nach außen gekehrt, lange Arme, deren vierschrötige Hände auf seinen Knien ruhten. Er schien übrigens von Stein zu sein wie sein Pferd, das unbeweglich auf den Beinen stand, völlig unbekümmert um den Wind; die Kälte und der Wind, der ihm um die Ohren pfiff, ließen ihn unberührt. Wenn er gehustet hatte – wobei ein tiefes Röcheln seinen Hals zu zerreißen schien –, spie er am Fuße des Feuerkorbes aus, und die Erde färbte sich schwarz.

Etienne betrachtete ihn und den beschmutzten Boden.

»Arbeitet Ihr schon lange in der Grube?« fragte er.

Bonnemort streckte beide Arme weit auseinander und erwiderte:

»Lange? Ach, ja ... Ich war noch nicht acht Jahre alt, als ich in den Voreuxschacht einfuhr; jetzt zähle ich achtundfünfzig. Rechnet einmal ... Ich habe da drinnen alles gemacht, war zuerst Schlepper, dann Eggenmann, als ich stark genug dazu war, hernach Schaufler achtzehn Jahre lang. Und später, als die vertrackten Beine lahm wurden, gaben sie mich zum Abbau als Füller und Flicker bis zu dem Tage, da sie mich heraufholen mußten, weil der Arzt sagte, daß ich [12] das Leben da unten lassen müsse. Jetzt bin ich Kärrner seit fünf Jahren ... Fünfzig Jahre Bergwerksarbeit, das ist hübsch, wie? Davon fünfundvierzig in der Grube ...«

Während er so sprach, warfen einzelne brennende Kohlenstücke, die aus dem Korbe gefallen waren, einen blutroten Schein auf sein fahles Gesicht.

»Sie raten mir, in den Ruhestand zu gehen«, fuhr er fort. »Aber ich will nicht; ich bin nicht so dumm! ... Ich werde wohl noch zwei Jahre aushalten, bis die Sechzig voll sind, um meine Pension von hundertachtzig Franken zu bekommen. Wenn ich heute meinen Abschied nehme, würden sie mir nur hundertfünfzig bewilligen. Es sind pfiffige Kerle! ... Ich bin übrigens noch kräftig, von den Beinen abgesehen. Das Wasser ist mir unter die Haut gedrungen, weil ich in den Stollen gar so sehr naß geworden bin. Es gibt Tage, an denen ich kein Glied rühren kann, ohne vor Schmerz aufzuschreien.«

Ein Hustenanfall unterbrach ihn wieder.

»Ihr habt auch den Husten davon?« fragte Etienne.

Er schüttelte heftig den Kopf. Als er wieder reden konnte, sagte er:

»Nein, nein; ich habe mich im vorigen Monat erkältet. Niemals habe ich gehustet, jetzt aber kann ich den Husten nicht loswerden. Und das Komische dabei ist, daß ich speie ...«

Ein Röcheln stieg wieder in seiner Kehle auf, und er spie aus.

»Ist das Blut?« wagte Etienne endlich zu fragen.

Bonnemort wischte sich mit dem Handrücken langsam den Mund ab.

»Das ist Kohle«, sagte er. »Ich habe in meinem Leibe genug davon, um mich bis an das Ende meiner Tage zu wärmen. Und doch habe ich seit fünf Jahren keinen Fuß mehr in die Gruben gesetzt. Wie es scheint, habe ich die Kohle aufgespeichert, ohne es zu wissen. Bah! Das hält die Knochen zusammen!«

Es trat wieder Schweigen ein; der Hammer in der[13] Ferne führte regelmäßige Schläge; der Wind fuhr klagend dahin wie ein Schrei des Hungers und der Ermüdung aus den Tiefen der Nacht. Vor dem Kohlenfeuer sitzend, das im Winde aufflackerte, fuhr der Alte mit leiserer Stimme in seinen Erinnerungen fort. Ach ja, es war lange her, daß er und die Seinen in den Minen arbeiteten. Die Familie stand im Dienste der Bergwerksgesellschaft von Montsou seit der Gründung des Unternehmens vor hundert Jahren. Sein Großvater, Wilhelm Maheu, hatte als fünfzehnjähriger Bursche die Steinkohle in Réquillart entdeckt; dort war die erste Grube der Gesellschaft; sie lag unten in der Nähe der Zuckerfabrik Fauville und ist jetzt längst verlassen. So wußte es das ganze Land; zum Beweise dessen hieß das entdeckte Kohlenlager »Wilhelmsschacht« nach dem Vornamen seines Großvaters. Er hatte ihn nicht gekannt; er war, wie man erzählte, ein großer, sehr starker Mensch gewesen, der mit sechzig Jahren an Altersschwäche gestorben war. Sein Vater, Nikolaus Maheu, genannt der Rote, war mit kaum vierzig Jahren im Voreuxschachte geblieben, der zu jener Zeit gegraben wurde; es fand ein Einsturz statt, eine vollständige Verschüttung; die Felsen verschlangen Blut und Knochen. Später hatten zwei seiner Oheime und seine drei Brüder gleichfalls ihre Haut dagelassen. Er selbst, Vincent Maheu, der fast ganz gesund, nur mit geschwächten Beinen, aus der Grube herausgekommen war, galt deshalb für einen Schlaumeier. Was war übrigens zu machen? Man mußte doch arbeiten und tat es vom Vater auf den Sohn, wie man auch etwas anderes getan hätte. Sein Sohn Toussaint Maheu plagte sich jetzt dort ab, und auch seine Enkel, seine ganze Familie, die da drüben im Dorfe wohnte. Hundert Jahre Fron, nach den Alten die Jungen, immer für den nämlichen Herrn: ist das schön? Nicht viele Spießbürger könnten so leicht ihre Geschichte hersagen.

»Wenn man wenigstens zu essen hat«, murmelte Etienne wieder.

[14] »Das sage ich auch; solange man Brot hat, kann man leben.«

Bonnemort schwieg und wandte die Augen nach dem Dorfe, wo jetzt Lichter angezündet wurden, eines nach dem andern. Im Kirchturm zu Montsou schlug es vier Uhr; die Kälte wurde noch empfindlicher.

»Ist eure Gesellschaft reich?« fragte Etienne weiter.

Der Greis zog die Schultern in die Höhe und ließ sie wieder sinken, wie erdrückt durch einen Berg von Talern.

»O ja, o ja ... Vielleicht nicht so reich wie ihre Nachbarin, die Gesellschaft von Anzin. Aber doch Millionen und Millionen; es ist gar nicht zu zählen ... Neunzehn Schächte, davon dreizehn für die Ausbeute, le Voreux, der Siegesschacht, Crèvecoeur, Mirou, Sankt-Thomas, der Magdalenenschacht, Feutry-Cantel und andere; sechs für Förderung und Lüftung, wie Réquillart ... Zehntausend Arbeiter; Bodenrechte, die sich auf siebenundsechzig Gemeinden erstrecken, eine Förderung von täglich fünftausend Tonnen; eine Eisenbahn, die sämtliche Gruben verbindet; und Werkstätten und Fabriken! ... O ja, Geld ist da! ...«

Ein Rollen von Hunden über die Gerüste ließ den großen, gelben Gaul die Ohren spitzen. Der Aufzug unten schien inzwischen ausgebessert zu sein; die Männer an der Winde hatten ihre Arbeit wieder aufgenommen. Während der Kärrner seinen Gaul anspannte, um hinabzufahren, sagte er zu dem Tiere in sanftem Tone:

»Vertrackter Faulpelz, du sollst dich nicht ans Schwatzen gewöhnen! ... Wenn Herr Hennebeau wüßte, wie du die Zeit vergeudest!«

Etienne schaute nachdenklich in die Nacht hinaus und fragte:

»Das Bergwerk gehört also Herrn Hennebeau?«

»Nein,« erklärte der Alte, »Herr Hennebeau ist nur der Generaldirektor; er wird ebenso bezahlt wie wir.«

[15] Der junge Mann wies mit einer Handbewegung in die unermeßliche, dunkle Ferne hinaus und fragte weiter:

»Wem gehört denn all dies?«

Doch Bonnemort wurde jetzt von einem neuen, dermaßen heftigen Anfall erschüttert, daß er nicht zu Atem kommen konnte. Als er endlich ausgespien und den schwarzen Schaum wieder von seinen Lippen weggewischt hatte, sprach er in den wieder schärfer gewordenen Wind hinaus:

»Wie? Wem all dies gehört? Man weiß es nicht; es gehört Leuten.«

Er wies in der Dunkelheit nach einem unbestimmten Punkte, nach einem unbekannten, fernen Orte, bevölkert von den Leuten, für welche die Familie Maheu seit hundert Jahren in den Bergwerken arbeitete. Seine Stimme hatte eine andächtige Scheu angenommen; es war, als spräche er von einem unnahbaren Heiligtum, wo der gesättigte Gott im Verborgenen weilte, dem sie Leib und Leben hingaben, und den sie noch niemals gesehen hatten.

»Wenn man sich doch wenigstens mit Brot satt essen könnte«, sagte Etienne zum dritten Male, ohne scheinbaren Übergang.

»Ach ja, wenn man immer Brot zu essen hätte, es wäre zu schön! ...«

Das Pferd hatte sich in Gang gesetzt, auch der Kärrner verschwand mit dem schleppenden Schritt eines Invaliden. Der Handlanger bei der Entleerungsvorrichtung hatte sich nicht gerührt; er saß zu einer Kugel zusammengerollt da, das Kinn zwischen den Knien, und starrte mit den großen, matten Augen ins Leere.

Etienne hatte sein Bündel wieder an sich genommen, entfernte sich aber noch nicht. Er fühlte, wie ihm der Rücken in dem eisigen Winde erstarrte, während seine Brust vor dem großen Kohlenfeuer briet. Viel leicht würde er doch gut tun, sich an die Bergwerksverwaltung zu wenden; der Alte war vielleicht nicht recht [16] unterrichtet; überdies war er in sein Schicksal ergeben und bereit, jegliche Arbeit anzunehmen. Wohin sollte er gehen, und was sollte aus ihm werden in dieser durch Arbeitsmangel ausgehungerten Gegend? Sollte er hinter einer Mauer verrecken wie ein herrenloser Hund? Doch ein Zögern hielt ihn zurück, eine Angst vor dem Voreuxschachte inmitten dieser kahlen, in tiefe Nacht getauchten Ebene. Der Wind schien mit jedem Stoß stärker zu werden, als blase er von einem immer mehr sich erweiternden Horizonte her. Am toten Himmel wollte noch immer kein Morgendämmern aufleuchten; nur die Hochöfen und die Koksöfen flammten in der Finsternis mit blutrotem Schein, ohne die Ferne zu erhellen. Der Voreuxschacht, in seinem Loche hockend wie ein bösartiges Tier, duckte sich noch mehr und atmete schwerer und tiefer, wie in mühsamer Verdauung von Menschenfleisch.

Zweites Kapitel

Inmitten der Getreide- und Rübenfelder schlief das Grubendorf der Zweihundertundvierzig in der finsteren Nacht. Man unterschied nur undeutlich vier Blöcke von kleinen, Rücken an Rücken stehenden Häusern, Blöcke wie von Kasernen oder Spitälern, genau geometrisch und parallel angelegt, durch drei breite Zwischenräume getrennt, die in gleich große Gärten aufgeteilt waren. Auf der verlassenen Hochebene hörte man nichts als das Klagen des Windes in den abgerissenen Drähten der Einfriedigungen.

Bei der Familie Maheu, die das Häuschen Nummer 16 im zweiten Block bewohnte, rührte sich noch nichts. Die einzige Stube des ersten Stockwerkes lag in tiefer Dunkelheit, die gleichsam mit ihrem Gewichte den Schlaf der Wesen umfing, die man zuhauf, offenen Mundes, von Müdigkeit erdrückt, meinte daliegen zu sehen. Trotz schneidender Kälte draußen herrschte hier [17] in der schweren Luft große Wärme, jene erstickende Schwüle, die man selbst in den sorgfältigst gereinigten Stuben antrifft, wenn sie nach Menschen riechen.

Die Kuckucksuhr der im Erdgeschoß gelegenen Wohnstube schlug die vierte Morgenstunde. Nichts rührte sich, man konnte leises Atemholen vernehmen, begleitet von dem Geräusch zweier Schnarcher. Plötzlich richtete Katharina sich auf. In ihrer Schlaftrunkenheit hatte sie aus Gewohnheit die durch den Fußboden herauftönenden vier Schläge der Uhr gezählt, ohne die Kraft zu finden, vollends zu erwachen. Dann zog sie die Beine unter der Bettdecke hervor, tastete einen Augenblick herum, rieb endlich ein Zündhölzchen an und machte Licht. Doch blieb sie sitzen; ihr Kopf war so schwer, daß er zwischen die Schultern zurückfiel in einem unüberwindlichen Bedürfnis, den Schlaf fortzusetzen.

Jetzt beleuchtete die Kerze die viereckige, mit zwei Fenstern versehene Stube, die von drei Betten fast ganz angefüllt war. Es standen da außerdem ein Schrank, ein Tisch und zwei Stühle von altem Nußholz, deren dunkler Ton sich scharf von den hellgelb getünchten Mauern abhob. Kein weiteres Einrichtungsstück; die Kleider hingen an Nägeln. Auf den Fliesen stand ein Krug neben einer roten irdenen Schüssel, die als Waschbecken diente. In dem Bette zur Linken schlief Zacharias, der älteste Sohn, ein Bursche von einundzwanzig Jahren, mit seinem Bruder Johannes, der eben sein elftes Jahr vollendet hatte. In dem Bette zur Rechten schliefen zwei kleinere Kinder, Leonore und Heinrich, das Mädchen sechs, der Junge vier Jahre alt; einander in den Armen haltend, lagen sie da. Katharina teilte das dritte Bett mit ihrer Schwester Alzire, die für ihre neun Jahre so schwächlich war, daß Katharina sie neben sich kaum gefühlt hätte, wäre nicht der Höcker der Kleinen gewesen, den diese ihr in die Seite stieß. Die mit Glasscheiben versehene Tür stand offen; man bemerkte den Flurgang, eine Art Tunnel, wo Vater und Mutter ein viertes Bett einnahmen, vor dem die Wiege [18] der jüngsten Tochter stand, die Estelle hieß und erst drei Monate zählte.

Katharina machte inzwischen eine verzweifelte Anstrengung. Sie streckte sich und vergrub beide Hände in ihre roten Haare, die struppig auf Stirn und Nacken niederfielen. Schmächtig für ihre fünfzehn Jahre, zeigte sie von ihren Gliedern außerhalb der engen Hülle, die ihr Hemd bildete, nur bläuliche Füße, die von der Kohle gleichsam tätowiert waren, und zarte Arme, deren Milchweiße sich lebhaft von der bleichen Farbe des Gesichtes abhob, das von dem fortwährenden Waschen mit schwarzer Seife schon verdorben war. Ein letztes Gähnen öffnete ihren etwas groß geratenen Mund mit prächtigen Zähnen, die im blutleeren Zahnfleisch saßen; in den grauen Augen standen Tränen vom Kampf gegen den Schlaf, sie waren schmerzerfüllt, und Erschöpfung schien ihre ganze Gestalt anzufüllen.

Doch jetzt ward ein Gebrumm aus dem Flur hörbar; Maheu stammelte mit müder Stimme:

»Alle Wetter, es ist Zeit aufzustehen! ... Hast du Licht gemacht, Katharina?«

»Ja, Vater; es hat unten vier Uhr geschlagen.«

»Spute dich, Nichtsnutz! Hättest du gestern am Sonntag weniger getanzt, dann hättest du uns früher wecken können. Ist das ein Faulenzerleben!«

Er brummte weiter; doch der Schlaf übermannte ihn; seine Vorwürfe verwirrten sich und gingen schließlich in einem neuen Schnarchen unter.

Im Hemde und mit nackten Füßen ging das Mädchen in der Stube hin und her. Als sie am Bette Heinrichs und Leonores vorbeikam, warf sie die herabgeglittene Decke über sie; sie erwachten nicht aus ihrem festen Kinderschlafe. Alzire, die mit offenen Augen dalag, hatte sich wortlos umgewendet, um den noch warmen Platz ihrer älteren Schwester einzunehmen.

»Los, Zacharias! Und du auch, Johannes!« rief Katharina und blieb vor ihren Brüdern stehen, die mit der Nase im Kopfkissen weiterschliefen.

[19] Sie mußte den Großen bei der Schulter fassen und schütteln; als er vor sich hin fluchte, entschloß sie sich, ihnen die Decke wegzuziehen. Sie fand es drollig und begann zu lachen, als sie die beiden Jungen mit den nackten Beinen strampeln sah.

»Das ist blöde, laß mich in Frieden!« brummte Zacharias mürrisch, nachdem er sich aufgesetzt hatte. »Ich mag solche Späße nicht ... Herrgott, daß man schon wieder aufstehen soll!«

Er war ein magerer, schlotteriger Kerl mit einem langen Gesichte, in dem einige spärliche Bartstoppeln saßen, und hatte die gelben Haare und die blutleere Blässe, die der ganzen Familie eigen waren. Sein Hemd hatte sich bis zum Bauche hinauf verschoben, er zog es herab, nicht aus Schamhaftigkeit, sondern weil er fror.

»Es hat unten vier Uhr geschlagen«, wiederholte Katharina. »Auf, auf! Der Vater wird bös.«

»Scher dich zum Teufel! Ich will schlafen«, sagte Johannes, zog die Beine an und schloß die Augen.

Sie lachte wieder gutmütig. Er war so klein und seine Glieder so schwächlich mit den von Skrofeln angeschwollenen Gelenken, daß sie ihn mit leichter Mühe in ihre Arme nahm. Allein er zappelte mit den Beinen; seine bleiche, faltige Affenfratze mit den grünen Augen, die durch seine großen Ohren noch breiter wurde, ward ganz bleich in ohnmächtiger Wut. Er sagte nichts, biß sie aber in die rechte Hand.

»Böser Bube!« brummte sie, einen Schrei unterdrückend und den Jungen auf die Erde setzend.

Alzire war nicht wieder eingeschlafen; sie hatte die Decke bis zum Kinn hinaufgezogen und lag stillschweigend da. Mit den klugen Augen eines Krüppels folgte sie den Bewegungen ihrer Schwester und ihrer Brüder, die sich ankleideten. Doch jetzt brach ein neuer Streit an der Waschschüssel aus; die Jungen stießen das Mädchen weg, weil es sich zu lange wusch. Die Hemden flogen über die Köpfe, während sie noch schlaftrunken sich wuschen, ohne jede Scham, mit dem ruhigen [20] Behagen junger Hunde, die zusammen aufwachsen. Katharina war übrigens zuerst fertig. Sie schlüpfte in die Bergmannshose, legte die Leinwandjacke an, knüpfte die blaue Haube um den Haarknoten und glich in dieser sauberen Werktagsgewandung einem kleinen Mann. Nichts war von ihrer Weiblichkeit übriggeblieben als ein leichtes Wiegen der Hüften.

»Wenn der Alte heimkommt, wird er sich freuen, das Bett so unordentlich vorzufinden«, sagte Zacharias boshaft. »Ich werde ihm erzählen, daß du es getan hast.«

Der Alte war der Großvater, Bonnemort, der bei Nacht arbeitete und bei Tage schlief. Das Bett lüftete denn auch nie aus; es schlief immer jemand darin.

Ohne zu antworten, hatte sich Katharina daran gemacht, das Bett in Ordnung zu bringen. Doch seit einer Weile wurden hinter der Mauer aus der Nachbarschaft Geräusche vernehmbar. Diese Ziegelbauten, von der Gesellschaft aufs sparsamste hergestellt, waren so dünn, daß man jeden Laut hindurch hörte. Man lebte eng zusammengedrängt von einem Ende des Ortes bis zum andern; nichts von dem intimen Leben blieb verborgen, selbst vor den Kindern nicht. Ein schwerer Tritt hatte eine Treppe in Erschütterung gebracht; dann hörte man einen weichen Fall, dem ein Seufzer der Erleichterung folgte.

»Schön«, sagte Katharina. »Levaque geht zur Grube, und Bouteloup geht zu Frau Levaque.«

Johannes kicherte, und auch Alzires Augen funkelten lebhafter. Jeden Morgen belustigten sie sich in dieser Weise über die benachbarte Ehe; es war ein Häuer, der einem Erdarbeiter Unterkunft gab; in dieser Weise hatte die Frau zwei Männer.

»Philomene hustet«, begann Katharina wieder und spitzte die Ohren.

Sie sprach von der Ältesten der Eheleute Levaque, einem großen Mädchen von neunzehn Jahren, der Geliebten Zacharias', von dem sie schon zwei Kinder hatte. Sie war übrigens so schwach auf der Brust, daß man [21] sie am Sortierungsplatz beschäftigte, weil sie zur Arbeit in der Grube nicht taugte.

»Freilich, Philomene!« antwortete Zacharias. »Die schläft jetzt. Es ist doch eine Schweinerei, bis sechs Uhr zu schlafen.«

Er schlüpfte in seine Hose; da schien ihm ein Einfall zu kommen, und er öffnete ein Fenster. Draußen herrschte noch immer tiefe Dunkelheit, und das Dorf erwachte allmählich; zwischen den Brettchen der Rolladen sah man nacheinander die Lichter aufblitzen. Da gab es einen neuen Zank; Zacharias neigte sich hinaus, um zu spähen, ob er nicht aus dem gegenübergelegenen Hause der Eheleute Pierron den Oberaufseher des Voreuxschachtes weggehen sehe, den man im Verdacht hatte, daß er Frau Pierron liebe; während Katharina ihm zurief, daß der Mann gestern Tagdienst in der Grube gehabt habe, und daß folglich Herr Dansaert nicht dagewesen sein könne. Die Luft drang eiskalt herein; die beiden ereiferten sich; jeder trat für die Richtigkeit seiner Beobachtungen ein, als plötzlich ein heftiges Weinen losbrach. Es war Estelle, die in ihrer Wiege fror.

Maheu erwachte augenblicklich wieder. Was hatte er denn in den Knochen, daß er von neuem eingeschlafen war wie ein Taugenichts? Er fluchte so wild, daß die Kinder nebenan keinen Laut mehr wagten. Zacharias und Johannes beendeten mit müden Händen das Waschen. Alzire schaute noch immer mit weit offenen Augen drein. Die beiden Kleinen, Leonore und Heinrich, hatten trotz des Lärmens sich nicht gerührt, sondern schliefen, einander in den Armen liegend, mit demselben leisen Atem weiter.

»Katharina, gib mir die Kerze!« rief Maheu.

Sie war eben mit dem Zuknöpfen ihrer Jacke fertig geworden und trug die Kerze nach dem Flur, während ihre Brüder bei dem schwachen Licht, das durch die Glastür fiel, ihre Kleider zusammensuchten. Ihr Vater stieg aus dem Bette. Doch sie hielt sich nicht länger[22] auf; mit dicken Wollstrümpfen an den Füßen stieg sie tastend hinunter, um den Kaffee zu bereiten. Die Holzschuhe der ganzen Familie standen dort unter dem Eßschrank.

»Wirst du schweigen, elender Wurm?« rief Maheu, den das fortwährende Geschrei Estelles erbitterte.

Er war klein wie der alte Bonnemort und glich ihm, obgleich er dicker war, mit seinem starken Kopfe, seinem platten und fahlen Gesichte unter gelben, kurzgeschnittenen Haaren. Das Kind heulte jetzt noch ärger, erschreckt durch die großen, kräftigen Arme, die über seinem Kopfe fuchtelten.

»Laß sie in Frieden; du weißt doch, daß sie nicht still sein will«, sagte seine Frau und streckte sich mitten im Bette aus.

Auch sie war eben erwacht und beklagte sich; es sei doch zu dumm, daß man niemals die ganze Nacht durchschlafen könne. Konnten sie denn nicht mit weniger Geräusch weggehen? In die Bettdecke eingewickelt, zeigte sie nichts als ihr langes Gesicht mit den groben Zügen einer etwas schwerfälligen Schönheit, mit neununddreißig Jahren schon verunstaltet durch ein Leben voll Mühe und Not und durch die Geburt der sieben Kinder. Die Augen auf die Zimmerdecke gerichtet, sprach sie mit gedehnter Stimme, während ihr Mann sich ankleidete. Weder er noch sie achtete auf die Kleine, die sich schier den Hals ausschrie.

»Ich muß dir sagen, daß ich keinen Sou im Hause habe, und es ist heute erst Montag, sechs Tage dauert es noch bis zum Fünfzehnten des Monats. Ich weiß nicht, wie wir uns durchschlagen sollen. Ihr bringt alle miteinander neun Franken; wie soll ich da auskommen? Wir sind unser zehn im Hause.«

»Oho, neun Franken?« wandte Maheu ein. »Ich und Zacharias je drei, das macht sechs; Katharina und der Vater je zwei, das macht vier; sechs und vier sind zehn; Johannes bringt einen, macht elf Franken.«

[23] »Ja, elf; aber du rechnest die Sonntage nicht und die Tage, an denen es keine Arbeit gibt. Nie mehr als neun, hörst du?«

Er suchte seinen Ledergurt am Boden und schwieg. Dann richtete er sich auf und sagte:

»Beklage dich nicht, Weib; ich bin noch stark genug. Mehr als einer mußte mit zweiundvierzig Jahren schon aus der Grube herauf.«

»Das ist möglich, Alter, aber damit haben wir noch kein Brot. Was fange ich an? Hast du nichts?«

»Ich habe zwei Sous.«

»Behalte sie, um einen Schoppen zu trinken ... Mein Gott, was fange ich an? Sechs Tage, eine Ewigkeit! ... Wir schulden Maigrat sechzig Franken; er hat mir vorgestern die Tür gewiesen. Das soll mich aber nicht hindern, wieder zu ihm zu gehen. Wenn er sich nun weigert, uns zu pumpen ...«

So fuhr die Maheu fort mit bekümmerter Stimme und unbeweglichem Kopfe; vor dem schwachen Lichte der Kerze schloß sie von Zeit zu Zeit die Augen. Der Schrank sei leer, sagte sie, und die Kleinen verlangten Brotschnitten zum Kaffee, der ebenfalls ausgegangen sei. Reines Wasser mache nur Bauchzwicken. Dann erzählte sie von den langen Tagen, die man damit zubringe, daß man mit gekochten Kohlblättern den Magen täusche. Allmählich hatte sie die Stimme heben müssen, weil Estelles Geheul ihre Worte übertönte. Das Geschrei der Kleinen ward unerträglich. Maheu schien es plötzlich zu hören; außer sich vor Wut, nahm er das Kind aus der Wiege und schleuderte es auf das Bett der Mutter mit den Worten:

»Da, nimm sie, ich würde sie zertreten ... das Donnerwetter über den Balg! Das trinkt an der Mutterbrust, dem geht nichts ab, und es grölt ärger als die anderen!«

Estelle hatte in der Tat zu saugen begonnen; sie war unter der Decke verschwunden und in der Bettwärme still geworden; man hörte nichts mehr als das gierige Lutschen ihrer Lippen.

[24] »Haben die Bürgersleute von Piolaine dir nicht gesagt, daß du sie besuchen sollst?« fragte der Mann nach einer Weile.

Die Frau kniff den Mund mit einer Miene mutlosen Zweifels zusammen.

»Ja, sie sind mir begegnet«, antwortete sie. »Sie bringen den armen Kindern Kleider ... Ich werde heute morgen Leonore und Heinrich hinführen. Vielleicht geben sie mir hundert Sous.«

Wieder trat Schweigen ein. Maheu war fertig. Er blieb einen Augenblick unbeweglich, dann sagte er mit dumpfer Stimme:

»Was willst du? Es ist einmal so: mach, wie du kannst, die Abendsuppe fertig. Das Schwatzen führt zu nichts; es wird besser sein, wenn ich zur Arbeit gehe.«

»Gewiß«, sagte die Maheu. »Blase das Licht aus; ich kann mir auch im Finstern den Kopf zerbrechen.«

Er blies die Kerze aus. Zacharias und Johannes stiegen schon hinunter, er folgte ihnen; die hölzerne Treppe krachte unter seinen schweren, mit wollenen Strümpfen bekleideten Füßen. Die Stube und der Flur lagen jetzt wieder in Finsternis. Die Kinder schliefen: auch Alzire hatte die Augen geschlossen. Nur die Mutter starrte mit offenen Augen in die Finsternis, während an ihrer Brust Estelle wie ein junges Kätzchen schmatzte.

In der Wohnstube unten beschäftigte sich Katharina zunächst mit dem Feuer. Es stand ein Kamin aus Gußeisen da mit einem Rost in der Mitte und einem Backofen auf jeder Seite. In diesem Kamin brannte unaufhörlich Kohlenfeuer. Die Gesellschaft verteilte monatlich acht Hektoliter Abfallkohle an jede Familie. Dieser auf den Straßen zusammengelesene Staub entzündete sich schwer. Darum deckte das Mädchen jeden Abend das Feuer mit Asche zu, am Morgen brauchte sie die Glut nur anzufachen und einige aus dem Schmutz sorgfältig herausgesuchte Kohlenstückchen aufzulegen. Dann setzte sie einen Kochtopf auf den Rost und hockte vor den Speiseschrank nieder.

[25] Es war eine ziemlich geräumige Stube, die das ganze Erdgeschoß einnahm; sie war apfelgrün gestrichen und von holländischer Sauberkeit mit den blank gescheuerten und mit feinem weißen Sande bestreuten Fliesen. Außer dem Speiseschrank von gefirnißtem Tannenholz bestand die Einrichtung aus Tisch und Sesseln von demselben Holze. An den Mauern hingen grellfarbige Bilder, von der Gesellschaft geschenkt, sie stellten den Kaiser und die Kaiserin dar, weiterhin Soldaten und Heilige in goldenen Gewändern, die von der hellen Kahlheit der Mauern abstachen. Zierat fand sich nicht in der Stube außer einer Schachtel von rosafarbenem Karton auf dem Speiseschrank und der Kuckucksuhr in buntbemaltem Kasten, deren helles Ticktack die Leere der hohen Stube auszufüllen schien. Neben der Tür, die sich auf die Treppe öffnete, war noch eine zweite Tür, die in den Keller führte. Trotz der Reinlichkeit verpestete ein seit dem Abend eingeschlossener Geruch von verbrannten Zwiebeln die Luft, diese heiße, schwere, stets von einem scharfen Kohlengeruch gesättigte Luft.

Katharina hockte sinnend vor dem offenen Speiseschrank. Es war nichts geblieben als ein Stück Brot, weißer Käse zur Genüge, aber kaum ein Krümchen Butter; und es galt, vier Butterbrote zurechtzumachen. Endlich entschloß sie sich, schnitt die Brotstücke, bedeckte eines mit Käse, bestrich ein zweites mit Butter und legte die beiden zusammen. Das war der »Ziegel«, die Doppelschnitte, die jeden Morgen in die Grube mitgenommen wurde. Bald lagen die vier »Ziegel« nebeneinander auf dem Tisch, mit größter Genauigkeit aufgeteilt, von dem größten, der für den Vater bestimmt war, bis zu dem kleinsten, den Johannes bekam.

Katharina, scheinbar ganz bei ihrer Arbeit, dachte über die Geschichten nach, die Zacharias von dem Oberaufseher und der Frau Pierron erzählte. Sie öffnete die Haustür zur Hälfte und warf einen Blick hinaus. Der Wind blies noch immer; in den niedrigen Häusern des Dorfes flammten immer mehr Lichter auf, und das [26] undeutliche Geräusch der erwachenden Bevölkerung machte sich bemerkbar. Türen wurden geöffnet und geschlossen; einzelne dunkle Reihen von Arbeitern zogen durch die Nacht dahin. Sie war doch recht dumm, sich einer Erkältung auszusetzen, da ja der Häuer gewiß zu Hause schlief, bis er um sechs Uhr seine Arbeit aufnehmen mußte. Aber sie verharrte dennoch in ihrer hockenden Stellung und beobachtete das Haus, das auf der anderen Seite hinter den Gärten lag. Jetzt ging die Tür auf, und ihre Neugierde ward wieder rege. Doch das konnte nur Lydia sein, die Tochter der Pierronschen Eheleute, die zur Grube ging.

Ein zischendes Geräusch veranlaßte sie, den Kopf zu wenden. Sie schloß die Tür und eilte zum Herde: das Wasser kochte, floß über und drohte das Feuer zu löschen. Es war kein Kaffee mehr da; sie mußte sich begnügen, Wasser auf den Satz von gestern zu schütten. Dann süßte sie den Inhalt der Kaffeekanne mit Farinzucker. Eben kamen ihr Vater und ihre beiden Brüder herunter.

»Alle Wetter!« sagte Zacharias, als er die Nase in den Napf gesteckt hatte, »der Trank wird uns nicht zu Kopf steigen.«

Maheu zuckte resigniert die Achseln.

»Bah!« sagte er; »man hat wenigstens etwas Warmes im Leibe, und das tut wohl.«

Johannes hatte die Brosamen neben den Schnitten zusammengescharrt und in seinen Napf geworfen. Nachdem sie getrunken, goß Katharina den Rest des Kaffees in die blechernen Feldflaschen. Alle vier standen in dem fahlen Lichte der flackernden Kerze und stürzten in aller Hast den Trunk hinunter.

»Sind wir endlich fertig?« fragte der Vater. »Man möchte glauben, daß wir von Renten leben.«

Doch jetzt wurde von der Treppe her, deren Tür sie offen gelassen hatten, eine Stimme vernehmbar. Frau Maheu rief:

[27] »Nehmt alles Brot; ich habe noch einen Rest Nudeln für die Kinder übrig.«

»Ja, ja«, antwortete Katharina.

Sie hatte das Feuer wieder zugedeckt und in einer Ecke des Rostes einen Rest Suppe warm gestellt, den der Großvater, der um sechs Uhr kam, vorfinden sollte. Jeder holte unter dem Eßschrank seine Holzschuhe hervor, hängte die Feldflasche um und schob die Butterschnitte rückwärts zwischen Hemd und Jacke. Dann brachen sie auf, die Männer voraus, das Mädchen hinterdrein, nachdem es die Kerze ausgelöscht und den Schlüssel umgedreht hatte. Das Haus verfiel wieder in Stille und Dunkelheit.

»Wir gehen zusammen«, sagte ein Mann, der die Tür des Nachbarhauses schloß.

Es war Levaque mit seinem Sohn Bebert, einem Jungen von zwölf Jahren, der mit Johannes eng befreundet war.

Die Lichter im Dorfe erloschen jetzt nacheinander. Eine letzte Tür fiel ins Schloß, dann war alles wieder still; die Frauen und Kinder setzten in den bequemer gewordenen Betten ihren Schlaf fort. Vom Dorfe bis zu dem lärmenden Voreuxschachte bewegte sich ein langsamer Zug von Schatten, es war der Aufbruch der Kohlenarbeiter zum Werke, die ihre Schultern dahinschoben und ihre Arme, mit denen sie nichts anzufangen wußten, über der Brust kreuzten, während der Brotvorrat auf dem Rücken eines jeden einen kleinen Höcker bildete. Bloß mit dünner Leinwand bekleidet, zitterten sie in der Kälte, ohne sich deshalb mehr zu beeilen; in unregelmäßigen Abständen zogen sie mit dem Getrappel einer Herde ihres Weges dahin.

[28] Drittes Kapitel

Etienne war endlich von dem Hügel hinabgestiegen und zum Voreuxschacht gegangen. Die Männer, an die er sich mit der Frage wandte, ob es keine Arbeit gebe, schüttelten den Kopf und sagten ihm alle, er solle auf den Oberaufseher warten. Man ließ ihm freie Bewegung inmitten der schlecht beleuchteten Gebäude, die voll finsterer Löcher waren und beängstigend wirkten mit ihrem Wirrsal von Hallen und Stockwerken. Nachdem er eine dunkle, halb zerstörte Treppe emporgestiegen, befand er sich auf einem schwankenden Brückensteg; dann durchschritt er den Schuppen des Sichtungswerkes, der in so tiefer Finsternis lag, daß er mit den Händen tasten mußte, um nicht anzustoßen. Plötzlich sah er vor sich zwei riesige, gelbe Augen die Nacht durchbrechen. Er befand sich unter dem Glockenstuhl im Aufnahmesaal an der Mündung des Schachtes.

Ein Aufseher, der Vater Richomme, ein Dicker mit dem Gesichte eines gutmütigen Gendarmen, das ein grauer Schnurrbart zierte, begab sich eben ins Bureau des Aufnahmebeamten.

»Braucht man hier nicht einen Arbeiter für irgendeine Beschäftigung?« fragte Etienne abermals.

Richomme wollte nein sagen; doch er ward anderen Sinnes und sagte wie die übrigen, während er sich entfernte:

»Warten Sie auf Herrn Dansaert, den Oberaufseher.«

Vier Laternen waren hier angebracht, und die Reflektoren, die das ganze Licht auf den Schacht warfen, beleuchteten hell die eisernen Geländer, die Hebel der Signale und Verschlüsse, die Pfosten der Seile, an denen die beiden Aufstiegkasten hinabglitten. Der einem Kirchenschiff gleichende geräumige Saal lag sonst im Dunkel und war mit großen, schwebenden Schatten bevölkert. Bloß die Laternenkammer flammte im Hintergrunde, während das Lämpchen im Bureau des Aufnahmebeamten einem erlöschenden Stern glich. Die [29] Kohlenförderung war wieder aufgenommen worden. Es ertönte ein unaufhörliches Dröhnen auf den gußeisernen Platten, die Kohlenhunde rollten unablässig, und man sah die gebeugten Gestalten der an der Winde beschäftigten Männer inmitten des Getümmels all dieser in Bewegung befindlichen dunklen und geräuschvollen Gegenstände.

Einen Augenblick stand Etienne unbeweglich da, betäubt und geblendet. Er fror, denn es zog von allen Seiten. Dann trat er einige Schritte vorwärts, angezogen durch die Maschine, deren stählerne und kupferne Bestandteile er glänzen sah. Sie stand etwa fünfundzwanzig Meter hinter der Schachtmündung in einem höher gelegenen Saale, so fest auf ihrem Unterbau gelagert, daß sie mit ihren vollen vierhundert Pferdekräften arbeitete, und daß ihr riesiger Kolben sich, gut geölt, leicht und glatt auf und ab bewegte, ohne die Mauern im geringsten zu erschüttern. Der Maschinist, der am Hebelwerk stand, lauschte dem Geklingel der Signale und wandte kein Auge von der Tafel, auf welcher der Schacht mit seinen verschiedenen Stockwerken durch eine senkrechte Fuge dargestellt war, in der an Schnüren befestigte Bleistücke, die Aufzugskasten darstellend, auf und nieder liefen. Wenn beim Abstieg die Maschine sich in Bewegung setzte, drehten sich die beiden Riesenräder von fünf Meter Durchmesser, auf deren Naben die Stahlseile in entgegengesetzter Richtung auf und ab rollten, mit solcher Schnelligkeit, daß sie grauem Staube glichen.

»Aufgepaßt!« riefen drei Arbeiter, die eine Riesenleiter schleppten.

Es fehlte nicht viel, und Etienne wäre von der Leiter erschlagen worden. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit; er sah das Zittern der Seile in der Luft, mehr als dreißig Meter stählerner Bänder, die schwingend emporstiegen, über Räder liefen und dann senkrecht in den Schacht fielen, wo sie an den Aufzugkasten befestigt waren. Ein eisernes Gerüst, dem [30] Gebälk eines Glockenturmes gleichend, trug die Räder. Es war wie der Flug eines Vogels, ohne Geräusch, ohne Anstoß; der reißend schnelle Lauf, das unaufhörliche Auf und Nieder eines Seiles von ungeheurem Gewichte, das zwölftausend Kilogramm mit einer Geschwindigkeit von zehn Metern in der Sekunde zu heben vermochte.

»Aufgepaßt!« riefen noch einmal die Arbeiter, welche die Leiter nach der anderen Seite schleppten, um das linksseitige Rad zu untersuchen.

Etienne kehrte langsam in den Aufnahmesaal zurück. Dieser Riesenflug über seinem Haupte verblüffte ihn völlig. In der von allen Seiten auf ihn eindringenden Zugluft fröstelnd, betrachtete er die Handhabung der Schalen, fast betäubt durch das Rollen der Hunde. Neben dem Schachte arbeitete das Signal, ein Hebelhammer, den eine in der Tiefe gezogene Schnur auf einen Block niederfallen ließ. Ein Schlag für das Anhalten, zwei Schläge für den Abstieg, drei Schläge für den Aufstieg; es war eine unaufhörliche Folge von Keulenschlägen, die den Tumult beherrschten, begleitet von einem hellen Geklingel, während der Arbeiter, der die Vorrichtung leitete, das Getöse noch vergrößerte, indem er dem Maschinisten durch ein Sprachrohr Weisungen zurief. Inmitten all dieses Getümmels tauchten die Schalen auf und versanken wieder, leerten und füllten sich, ohne daß Etienne etwas von dieser komplizierten Arbeit begriff.

Er begriff nur eins: der Schacht verschlang Men schen in Haufen von zwanzig und dreißig so leicht, als fühle er gar nicht ihren Durchgang. Um vier Uhr begann der Abstieg der Arbeiter. Sie kamen aus der Baracke, barfüßig, mit der Laterne in der Hand, in kleinen Gruppen wartend, bis sie in genügender Anzahl waren. Geräuschlos, gleich dem stillen Auftauchen eines Nachttieres, erschien der Eisenkäfig aus der finsteren Tiefe und setzte sich auf die Riegel mit seinen vier Stockwerken, deren jedes zwei mit Kohlen gefüllte Hunde enthielt. Auf den verschiedenen Absätzen holten die [31] Arbeiter die Hunde heraus und ersetzten sie durch andere, entweder leere oder mit Grubenholz beladene. In den leeren Hunden nahmen die Arbeiter Platz zu fünf und fünf bis zu vierzig auf einmal, wenn sie alle Abteilungen einnahmen. Eine Weisung erging durch das Sprachrohr, darauf folgte ein dumpfes, undeutliches Brüllen, während man viermal an dem Seil des unteren Signals zog, um die Einfahrt dieser Ladung von menschlichem Fleisch anzukündigen. Nach einem leichten Emporschnellen sank die Schale geräuschlos hinab, fiel wie ein Stein und ließ nichts hinter sich zurück als den zitternden Strang des Seiles.

»Ist es tief?« fragte Etienne einen Grubenarbeiter, der neben ihm stand und mit schläfriger Miene wartete, bis die Reihe an ihn kam.

»Fünfhundertvierundfünfzig Meter«, sagte der Mann. »Aber es sind vier Absätze, der erste in einer Tiefe von dreihundertundzwanzig Meter.«

Beide schwiegen und richteten die Augen auf das Seil, das jetzt emporstieg. Etienne fragte wieder:

»Und wenn es reißt?«

»Wenn es reißt ...«

Der Grubenarbeiter beendete den Satz mit einer Gebärde. Er war an der Reihe, die Schale war mit ihrer leichten, mühelosen Bewegung wieder erschienen. Er hockte darin nieder in Gesellschaft von Kameraden, und die Schale versank; nach kaum vier Minuten tauchte sie wieder auf, um eine neue Ladung von Männern zu verschlingen. Eine halbe Stunde lang fraß der Schacht in dieser Weise Menschen mit seinem gierigen Schlund, unaufhörlich, immer hungrig, ein Riesendarm, der ein ganzes Volk zu verdauen vermochte. Es füllte sich wieder und immer wieder, und die finstere Tiefe blieb stumm, die Schale stieg mit der nämlichen gefräßigen Stille aus der Unterwelt auf.

Etienne wurde schließlich von demselben Unbehagen ergriffen, das er schon auf dem Hügel gefühlt hatte. Was nützte seine Hartnäckigkeit? Der Oberaufseher [32] verabschiedete ihn sicher ebenso wie die anderen. Eine unbestimmte Angst brachte ihn plötzlich zu einem Entschlusse: er ging fort und machte draußen erst vor dem Gebäude mit den Dampfkesseln halt. Das weit offene Tor ließ sieben Kessel mit je zwei Herden sehen. Inmitten des weißen Dunstes und des unter lautem Pfeifen entweichenden Dampfes war ein Heizer damit beschäftigt, einen der Feuerherde frisch zu füllen, dessen sengende Glut man bis zur Schwelle fühlte. Froh über die Wärme, trat der junge Mann näher, als er einem neuen Trupp von Kohlenarbeitern begegnete, die eben bei der Grube eintrafen. Es waren die Maheu und die Levaque. Als er an der Spitze des Trupps Katharina mit ihrem gutmütigen Knabenantlitz erblickte, kam ihm der abergläubische Gedanke, noch eine letzte Frage zu wagen.

»Sagen Sie, Kamerad, braucht man hier nicht einen Mann für irgendwelche Arbeit?«

Sie sah ihn überrascht an, ein wenig verwirrt durch diese plötzlich aus dem Dunkel auftauchende Stimme. Doch Maheu, der hinter ihr kam, hatte die Frage gehört und beantwortete sie, indem er sich einen Augenblick zum Plaudern gönnte. Nein, man brauche keinen Arbeiter, sagte er. Dieser arme Teufel, dieser umherirrende Mann interessierte ihn. Als er ihn verließ, sagte er zu den anderen:

»Schaut, so könnte es auch uns ergehen ... Man muß nicht allzuviel klagen. Nicht alle haben Arbeit wie wir.«

Der Trupp trat ein und begab sich geradeswegs zur Baracke, einem weiten Saal mit grobem Kalkbewurf, ringsum mit Schränken angefüllt, die mit Vorlegeschlössern verriegelt waren. In der Mitte stand ein eiserner Kamin, eine Art Ofen ohne Tür, dermaßen vollgestopft mit glühender Kohle, daß einzelne Stücke auf den gestampften Boden herausfielen. Der Saal war nur durch diesen Ofen erhellt, dessen blutroter Widerschein an dem schmutzigen Gebälke tanzte bis hinauf zu der mit schwarzem Staub beschmutzten Decke.

[33] Als die Maheu ankamen, herrschte lautes Gelächter in dem heißen Saale. Etwa dreißig Arbeiter standen mit dem Rücken zum Feuer gewandt, mit einer Miene des Behagens sich röstend. Vor dem Abstieg kamen alle hierher und nahmen etwas Wärme mit, um der Feuchtigkeit des Schachtes Trotz bieten zu können. An diesem Morgen gab es einen Spaß; man scherzte mit der Mouquette, einer Schlepperin von achtzehn Jahren, einer gutmütigen Dirne, deren riesiger Busen und Rücken Jacke und Hose zu sprengen drohten. Sie wohnte in Réquillart mit ihrem Vater, dem alten Mouquet, der als Stallknecht diente, und ihrem Bruder Mouquet, der bei der Winde beschäftigt war; da die Arbeitsstunden nicht für alle die nämlichen waren, ging sie allein zur Grube. Nun erzählte sie von ihren Abenteuern, und alle lachten, während sie unter ihnen umherging, mit den bis zur Ungesundheit angeschwollenen Fleischklumpen komisch und beängstigend zugleich.

Doch bald ließ die Heiterkeit nach. Die Mouquette erzählte Maheu, daß die lange Fleurance nicht mehr kommen werde; man habe sie gestern tot und starr in ihrem Bette gefunden. Die einen redeten von einem Herzübel, die anderen von einer allzu hastig geleerten Schnapsflasche. Maheu war verzweifelt über diese Nachricht; es sei ein Unglück, er verliere eine seiner Hilfsarbeiterinnen, ohne sie sogleich ersetzen zu können. Er arbeitete im Akkord; sie waren ihrer vier Häuer in seinem Schlag; er, Zacharias, Levaque und Chaval; wenn sie nur noch Katharina als Schlepperin hätten, werde die Arbeit sicherlich leiden. Plötzlich rief er aus:

»Halt! Und der Mann, der vorhin Arbeit suchte?«

Eben kam Dansaert an der Baracke vorüber. Maheu erzählte ihm die Geschichte und bat um die Ermächtigung, den Mann anzuwerben; dabei betonte er das Bestreben der Gesellschaft, die Hilfsarbeiterinnen durch Burschen zu ersetzen wie in Anzin. Der Oberaufseher lächelte zuerst, denn der Vorschlag, die Frauen von der Grubenarbeit auszuschließen, mißfiel gewöhnlich [34] den Bergleuten, die um die Anstellung ihrer Töchter besorgt waren, wenig berührt durch die Frage der Sittlichkeit und der Gesundheit. Nach kurzem Zögern gab er endlich seine Einwilligung mit dem Vorbehalte, die Genehmigung bei Herrn Negrel, dem Ingenieur, einzuholen.

»Der Mann muß schon weit sein, wenn er seither immer marschiert ist«, sagte Zacharias.

»Nein,« sagte Katharina, »ich habe ihn bei den Dampfkesseln stehenbleiben sehen.«

»Lauf ihm nach, Maulaffe!« rief Maheu.

Das Mädchen setzte sich in Lauf, während ein Trupp Arbeiter zum Schachte hinaufging und anderen das Feuer überließ. Auch Johannes holte seine Laterne, ohne auf den Vater zu warten, mit Bebert, einem dicken, kindlichen Jungen, und Lydia, einem schwächlichen Mädchen von zehn Jahren. Die Mouquette, die vor ihnen aufgebrochen war, stieß in dem dunklen Treppengang ein Geschrei aus, nannte sie schmutzige Rangen und drohte ihnen mit Maulschellen, wenn sie sie wieder in die Arme kniffen.

Etienne plauderte in der Tat bei den Kesseln mit dem Heizer, der die Öfen frisch füllte. Es überlief ihn eiskalt bei dem Gedanken, daß er wieder in die finstere Nacht hinaustreten solle. Indes entschloß er sich zum Aufbruch, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte.

»Kommt,« sagte Katharina, »es ist etwas da für Euch.«

Er begriff nicht sogleich; dann wallte die Freude in ihm auf, und er drückte dem Mädchen kräftig die Hände.

»Dank, Kamerad ... Ihr seid ein guter Junge, wahr haftig!«

Sie begann zu lachen, während sie ihn in dem roten Lichte der Feuerherde betrachtete. Es machte ihr Spaß, daß er sie für einen Jungen hielt, weil sie noch so schmächtig und ihr Haarknoten unter der Haube verborgen war. Auch er lachte zufrieden, und sie standen einen Augenblick mit frohen Gesichtern einander gegenüber. [35] Maheu hockte in der Baracke vor seiner Kiste und zog seine Holzschuhe und Wollstrümpfe aus. Als Etienne kam, wurde alles in vier Worten geregelt: dreißig Sous Tagelohn für eine anstrengende Arbeit, die er bald erlernen werde. Der Häuer riet ihm, seine Schuhe an den Füßen zu behalten, und lieh ihm einen alten ledernen Hut zum Schutze für seinen Schädel, eine Vorsicht, die der Vater und die Kinder verschmähten. Man holte das Arbeitsgerät aus einer Kiste, wo sich auch die Schaufel der Fleurance vorfand. Als Maheu die Holzschuhe und Strümpfe aller und das Bündel Etiennes in der Kiste verschlossen hatte, verlor er plötzlich die Geduld.

»Was macht denn dieser Tölpel von Chaval?« rief er. »Wir haben uns heute um eine halbe Stunde verspätet.«

Zacharias und Levaque brieten sich ruhig die Schultern. Ersterer sagte schließlich:

»Du wartest auf Chaval? Er ist vor uns gekommen und gleich eingefahren.«

»Wie, du weißt das und sagst mir nichts davon? Vorwärts, schnell!«

Katharina, die ihre Hände wärmte, mußte dem Trupp folgen. Etienne ließ sie vorausgehen und stieg hinter ihr hinan. Wieder kam er durch ein ganzes Wirrsal von Treppen und dunklen Gängen, wo die nackten Füße das weiche Geräusch von altem Schuhwerk hervorbrachten. Schließlich befand man sich vor der hell beleuchteten Laternenkammer. Diese war ein durch eine Glaswand abgesonderter Raum voll Gestellen, wo in übereinandergelegten Fächern Hunderte von Sicherheitslampen hingen, die, nachdem sie sorgfältig untersucht und nach dem gestrigen Gebrauch gereinigt worden, angezündet wurden und den brennenden Kerzen einer erleuchteten Kapelle glichen. Am Schalter empfing jeder seine Laterne, die mit einer Ziffer gestempelt war, dann prüfte er sie und schloß sie selbst, während ein an einem Tische sitzender Beamter in einem Register die Stunde der Einfahrt verzeichnete. Maheu mußte [36] vorstellig werden, um die Laterne für seinen neuen Hilfsmann zu erwirken. Noch eine Vorsichtsmaßregel wurde beobachtet; die Arbeiter zogen an einem Kontrolleur vorüber, der sich vergewisserte, ob auch alle Laternen wohlverschlossen seien.

»Alle Wetter, hier ist es nicht warm«, murmelte Katharina zähneklappernd.

Etienne begnügte sich, mit dem Kopfe zustimmend zu nicken. Er stand wieder vor dem Schacht in der Mitte des weiten, vom Luftzug durchfegten Saales. Gewiß, er hielt sich für tapfer, und dennoch faßte ihn ein unbehagliches Gefühl der Aufregung inmitten des Dröhnens der rollenden Hunde, der dumpfen Schläge der Signalhämmer, des heisern Geheuls des Sprachrohrs, angesichts des unablässigen Fluges der Kabel, welche durch die Maschine mit voller Dampfkraft auf und ab gerollt wurden. Die Schalen stiegen auf und nieder gleich dem stillen Gleiten eines nächtlichen Tieres, immer wieder Männer verschlingend, die der Schacht zu schlucken schien. Er war jetzt an der Reihe; ihm war sehr kalt, aber er bewahrte sein nervöses Schweigen, über das Zacharias und Levaque sich lustig machten; denn diese beiden mißbilligten die Anwerbung dieses Unbekannten, besonders Levaque, der beleidigt war, daß man ihn nicht zu Rate gezogen hatte. Darum war denn auch Katharina froh, als sie hörte, wie ihr Vater dem jungen Manne die Dinge erklärte.

»Schauen Sie, oberhalb der Schale sind eiserne Krampen, die in die Bohlen einhaken, wenn das Seil reißt. Die Schutzvorrichtung funktioniert aber nicht immer ... Der Schacht hat drei Abteilungen, die von oben bis unten durch Planken abgeschlossen sind; in der Mitte laufen die Schalen, links ist ein Schacht mit Leitern ...«

Doch er unterbrach sich, um mürrisch, aber nur halblaut zu sagen:

»Aber was soll das heißen? Darf man uns so gottsjämmerlich frieren lassen?«

[37] Der Aufseher Richomme, der sich ebenfalls zur Einfahrt rüstete, und dessen Laterne mit frei brennender Flamme an seinem Barett hing, hörte diese Klage.

»Hab' acht, die Wände haben Ohren!« brummte er in väterlichem Tone als alter Arbeiter, der für seinen Kameraden gut geblieben war. »Die Vorbereitungen müssen doch getroffen werden. Da, wir sind schon dran; steige mit deinen Leuten ein.«

In der Tat harrte ihrer, fest in den Ankern sitzend, die durch Blechplatten und ein enges Drahtnetz geschützte Schale. Maheu, Zacharias, Levaque und Katharina schlüpften in einen rückwärtigen Kasten, und weil ihrer fünf dort Platz finden sollten, folgte ihnen Etienne; allein, da die guten Plätze schon besetzt waren, mußte er neben dem Mädchen niederhocken, dessen Ellbogen ihm den Leib bearbeitete. Seine Lampe war ihm im Wege; man riet ihm, sie in ein Knopfloch seiner Jacke zu hängen. Aber er hörte nicht und behielt sie ungeschickt in der Hand. Das Einsteigen der Arbeiter dauerte fort über und unter ihnen; es war wie ein verworrenes Verladen von Vieh. Was ging denn vor, daß man noch immer nicht einfahren konnte? Sein ungeduldiges Harren schien ihm schon lange Minuten zu währen. Endlich gab es einen Ruck, und alles versank, die Gegenstände um ihn her schienen zu entfliehen; er selbst hatte ein schwindelerregendes, beklemmendes Gefühl des Fallens, das ihm die Eingeweide zusammenzog. Es währte solange, wie sie über Tag waren und inmitten der rollenden Flucht des Gebälks durch die zwei Stockwerke des Aufnahmesaals fuhren. Als sie dann in die Finsternis des Schachtes hinabgesunken waren, war er wie betäubt und hatte nicht mehr das klare Bewußtsein seiner Empfindungen.

Alle waren guten Mutes; nur er fragte sich zuweilen, ob er steige oder sinke. Wenn die Schale niederfiel, ohne die Falzen zu berühren, schien sie ganz ruhig; dann kam wieder ein plötzliches Erzittern, ein Hüpfen in den Balken, das ihm Angst vor einer Katastrophe [38] einjagte. Er konnte übrigens hinter dem Drahtgitter, an das er sein Antlitz drückte, die Wände des Schachtes nicht unterscheiden. Die Laternen beleuchteten undeutlich die zusammengepferchten Leiber zu seinen Füßen. Nur die frei brennende Lampe des Aufsehers in dem benachbarten Karren glänzte wie ein Leuchtfeuer.

»Dieser Schacht hat vier Meter im Durchmesser«, fuhr Maheu in seiner Belehrung fort. »Die Verzimmerung müßte schon erneuert werden, denn das Wasser sickert auf allen Seiten durch ... Jetzt kommen wir auf dem Grund an; hören Sie?«

Etienne fragte sich eben, was dies platzregenartige Geräusch bedeuten möge. Zuerst waren einige dicke Tropfen auf das Dach der Schale aufgeschlagen wie bei dem Beginn eines Wolkenbruchs; jetzt verdichtete sich der Regen, floß in Strömen, verwandelte sich zu einer wahren Sintflut. Das Dach war ohne Zweifel durchlöchert, denn ein Wasserfaden floß auf seine Schulter herab und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Die Kälte ward eisig; man versank in feuchte Finsternis, dann fuhr man blitzschnell durch blendende Helle; es war wie die Erscheinung einer Höhle, wo Menschen sich bewegen, im Lichte eines Blitzes gesehen. Schon sank man wieder in das Nichts.

Maheu sagte:

»Das ist der erste Absatz. Wir sind jetzt dreihundertundzwanzig Meter tief.. Achten Sie nur auf die Schnelligkeit.«

Er hob die Laterne und beleuchtete einen Balken der Leitung, der mit solcher Geschwindigkeit vorbeiflog wie ein Schienengleis unter einem mit Volldampf dahinrollenden Zuge; sonst war nichts zu sehen. Es folgten noch drei Absätze, deren Helle man im Fluge durchfuhr. Der Regen prasselte mit betäubendem Geräusch durch die Finsternis hernieder.

»Wie tief es ist!« murmelte Etienne.

[39] Ihm war, als währe dieser Fall Stunden. Er litt infolge der unbequemen Stellung, die er in dem Kasten eingenommen hatte, wagte aber nicht, sich zu rühren; besonders der Ellbogen Katharinas marterte ihn. Sie sprach kein Wort; er fühlte bloß, wie sie so eng an ihn gelehnt dasaß, daß sie ihn erwärmte. Als die Schale endlich am Grunde des Schachtes, in einer Tiefe von fünfhundertvierundfünfzig Meter, hielt, hörte er erstaunt, daß die Einfahrt genau eine Minute gedauert habe. Doch das Geräusch der Anker, die sich einhakten, und das Gefühl der Festigkeit unter seinen Füßen gaben ihm sogleich seine gute Laune wieder, und zum Spaß redete er Katharina mit du an.

»Was hast du nur unter der Haut, daß du so warm bist? ... Dein Ellbogen ist mir in den Bauch gedrungen.«

Da brach auch sie in ein Gelächter aus. Wie konnte er so albern sein, sie noch immer für einen Jungen zu halten?

»In den Augen hast du meinen Ellbogen, nicht im Bauche«, erwiderte sie mit neuem Lachen, das der überraschte junge Mann sich nicht zu erklären wußte.

Die Schale leerte sich; die Arbeiter durchschritten einen Saal. Dieser Saal war in den Felsen gehauen, mit gemauertem Gewölbe, durch große Lampen mit frei brennendem Lichte erhellt. Die Verlader rollten die vollen Hunde mit dröhnendem Geräusch auf dem mit gußeisernen Platten belegten Boden dahin. Von den nassen Mauern ging ein Kellergeruch aus, eine nach Salpeter riechende Kühle, zuweilen durchweht von einem warmen Odem, der aus dem benachbarten Stalle kam. Vier Stollen öffneten sich hier klaffend.

»Nach dieser Richtung«, sagte Maheu zu Etienne. »Wir sind noch nicht am Ziel; wir haben gute zwei Kilometer zurückzulegen.«

Die Arbeiter trennten sich, verloren sich gruppenweise in der Tiefe dieser schwarzen Höhlen. Ihrer fünfzehn wandten sich nach dem linksseitigen Stollen; Etienne ging als letzter, hinter Maheu, dem Katharina, [40] Zacharias und Levaque vorausschritten. Es war ein schöner Abfuhrstollen, quer getrieben und von so festem Gestein, daß er nur stellenweise untermauert werden mußte. Einzeln schritten sie dahin, ohne ein Wort zu sprechen, in dem schwachen Lichte ihrer Laternen. Der junge Mann strauchelte bei jedem Schritte; seine Füße blieben in den Schienen stecken. Seit einer Weile ängstigte ihn ein dumpfes Getöse; es war wie das Grollen eines fernen Gewitters, das an Heftigkeit zuzunehmen und aus dem Innern der Erde zu kommen schien. War es der Donner eines Einsturzes, der die ungeheure Masse, die sie vom Tageslichte trennte, niederdrückte? Jetzt durchzuckte Licht die Nacht, und er fühlte den Fels erzittern. Als er sich gleich seinen Kameraden dicht an die Wand gestellt hatte, sah er vor seinem Antlitz ein großes weißes Pferd vorüberziehen, das vor einen Zug von Karren gespannt war. Auf dem ersten Hunde saß Bebert und hielt die Zügel, während Johannes, die Fäuste auf den Rand des letzten Hundes gestemmt, mit nackten Füßen hinterdreinlief.

Sie setzten ihren Marsch fort. Weiterhin kam ein Kreuzweg; hier öffneten sich zwei neue Stollen, und der Trupp teilte sich abermals; die Arbeiter verteilten sich nach und nach auf alle Plätze der Grube. Der Stollen war hier mit einer Holzverschalung versehen; Eichensparren stützten die Decke und bildeten um den leicht einfallenden Felsen eine Verkleidung von Gebälk, hinter der man die Schieferplatten mit ihrem Glimmerglanze und die glanzlose, rauhe Masse des Sandsteines sah. Züge voller oder leerer Hunde kamen unablässig vorüber und kreuzten sich mit einem Dröhnen, das sich im Dunkel verlor, gezogen durch undeutlich sichtbare Tiere in gespensterhaftem Trabe. Auf einem Nebengleise lag einer langen schwarzen Schlange gleich ein Kohlenzug, dessen Pferd schnaubte, dermaßen im Dunkel verborgen, daß das kaum sichtbare Hinterteil des Tieres einem niedergefallenen Blocke glich. Lüftungstüren öffneten und schlossen sich langsam. Als man weiterkam, [41] wurde die Galerie immer enger, immer niedriger; die Arbeiter waren unaufhörlich gezwungen, sich zu bücken.

Etienne stieß mit dem Kopfe hart an. Ohne den Schutz der Lederkappe hätte er sich den Schädel eingerannt. Indes folgte er aufmerksam den geringsten Bewegungen Maheus, dessen dunkler Schattenriß sich im Lichte der Laternen abhob. Keiner der Arbeiter verletzte sich, sie mußten jeden Ast an der Verzimmerung, jeden Vorsprung der Bergwand kennen. Der junge Mann litt auch durch den rutschigen Boden, der immer nasser wurde. Zuweilen kam er durch wahre Pfützen, deren Vorhandensein nur durch das klatschende Geräusch der Füße verraten wurde. Doch hauptsächlich setzte ihn der plötzliche Temperaturwechsel in Erstaunen. Am Grunde des Schachtes war es sehr kühl, und in dem Abfuhrstollen, wo alle Luft der Grube ihren Durchzug hatte, wehte ein eisiger Wind, der zwischen den engen Mauern zu einem heftigen Sturme anschwoll. Je mehr man indes die anderen Wege einschlug, die nur eine spärliche Lüftung hatten, flaute der Wind ab, und die Wärme wuchs zu bleischwerer, erstickender Schwüle.

Maheu hatte den Mund nicht mehr geöffnet. Er bog rechts in einen neuen Stollen ein und sagte bloß zu Etienne, ohne sich umzuwenden:

»Der Wilhelmstollen.«

In diesem Stollen war ihr Bau. Gleich nach den ersten Schritten stieß Etienne überall mit dem Kopfe und den Ellbogen an. Die abschüssige Decke senkte sich so tief nieder, daß er in einer Länge von zwanzig bis dreißig Meter auf den Knien fortrutschen mußte. Das Wasser reichte ihm bis zu den Knöcheln. So hatte man einen Weg von etwa zweihundert Metern zurückgelegt, als er plötzlich Zacharias, Levaque und Katharina verschwinden sah, die durch einen schmalen Spalt, den er vor sich sah, entschlüpft zu sein schienen.

»Jetzt gilt's emporzuklettern«, sagte Maheu. »Hängen [42] Sie die Laterne in ein Knopfloch, und halten Sie sich an der Verzimmerung fest.«

Da verschwand auch er selbst. Etienne mußte ihm folgen. Dieser Kamin in der Ader war für die Arbeiter frei gelassen und diente als Zugang für alle Seitenwege. Er hatte die Weite der Kohlenschicht, kaum sechzig Zentimeter. Glücklicherweise war der junge Mann von schmächtiger Figur; denn ungeschickt wie er noch war, wand er sich mit einem überflüssigen Aufwande von Muskelkräften empor, Schultern und Hüften einziehend, an die Hölzer der Verzimmerung sich klammernd, mit Hilfe der aufgestemmten Handknöchel vorwärts strebend. Fünfzehn Meter weiter oben fand man den ersten Seitengang; doch sie mußten weiter, denn der Schlag von Maheu und Genossen befand sich im sechsten Gange, in der »Höhle«, wie sie sagten. Von fünfzehn zu fünfzehn Metern lag ein Gang über dem andern; der Aufstieg wollte kein Ende nehmen durch diesen Spalt, der Rücken und Brust abschürfte. Etienne keuchte, als habe das Gewicht der Felsen ihm die Glieder zermalmt; seine Hände waren zerrissen, seine Beine todmüde, und vor allem fehlte es ihm an Luft, so daß er das Gefühl hatte, als wolle das Blut ihm die Haut sprengen. In einem Seitenwege sah er undeutlich zwei Geschöpfe hocken, ein kleines und ein dickes, die Hunde schoben; es waren Lydia und die Mouquette, schon bei der Arbeit. Er hatte noch zwei Schläge zu erklettern. Der Schweiß blendete ihn; er verzweifelte daran, die anderen zu erreichen, deren gelenkige Glieder er an dem Felsen dahingleiten hörte.

»Mut, wir sind angelangt«, hörte er Katharina sagen.

Doch als er tatsächlich an Ort und Stelle war, rief eine andere Stimme aus der Tiefe des Schlages heraus:

»Was ist's denn? Wollt ihr uns etwa zum besten halten? Ich komme von Montsou, habe zwei Kilometer zurückzulegen und bin der erste am Platze!«

Es war Chaval, ein großer, magerer Mensch von fünfundzwanzig Jahren, knochig, mit scharf ausgeprägten [43] Zügen. Er ärgerte sich, weil man ihn hatte warten lassen. Als er Etienne bemerkte, fragte er im Tone der Überraschung und Geringschätzung:

»Wer ist denn das?«

Als Maheu ihm die Geschichte erzählt hatte, brummte er zwischen den Zähnen:

»So? Die Burschen essen jetzt das Brot der Dirnen?«

Die beiden Männer tauschten einen Blick aus, in dem der instinktive Haß plötzlich aufflammte. Etienne hatte den Schimpf empfunden, ohne die Bemerkung recht zu verstehen. Es herrschte Stille, und alle gingen an die Arbeit. Die Adern füllten sich allmählich, man war bei allen Schlägen in voller Tätigkeit, in jedem Stockwerk, am Ende eines jeden Minenganges. Der gefräßige Schacht hatte seine tägliche Ration Menschen verschlungen, nahezu siebenhundert Arbeiter, die jetzt in diesem riesigen Ameisenbau arbeiteten und die Erde von allen Seiten durchlöcherten, daß sie aussah wie altes, wurmstichiges Holz. Wenn man inmitten der bedrückenden Stille, die hier unter den tiefen Schichten herrschte, das Ohr an den Felsen legte, konnte man die Arbeit dieser in Bewegung befindlichen Menschenkäfer hören, angefangen von dem Sausen des Kabels, das die Fördermaschine auf und nieder steigen ließ, bis zu den Schlägen der Werkzeuge, die in der Tiefe der Häue die Kohle aus dem Gestein brachen.

Als Etienne sich umwandte, fand er sich abermals an Katharina gedrängt.

»Du bist ein Mädchen?« murmelte er betroffen.

Worauf sie in heiterem Tone, und ohne zu erröten, erwiderte:

»Gewiß ... Aber du hast lange gebraucht, um es zu merken.«

[44] Viertes Kapitel

Die vier Häuer lagen einer neben dem andern auf dem sanft ansteigenden Flötz hingestreckt. Durch den Bretterverschlag getrennt, der die abgeschlagene Kohle festhielt, hatte jeder etwa vier Meter Raum in dem Minengange für sich. Die Ader war an dieser Stelle so dünn – kaum fünfzig Zentimeter –, daß sie gleichsam zwischen Decke und Mauer eingezwängt lagen, mittels der Knie und Ellbogen sich fortbewegten und bei der geringsten Bewegung mit den Schultern an die Mauer stießen. Sie mußten, um die Kohle anzubrechen, auf der Seite liegen mit zurückgebogenem Halse und die kurzstielige Spitzhacke schwingen.

Zu unterst lag Zacharias, Levaque und Chaval etwas höher und ganz oben Maheu. Jeder bearbeitete zuerst die Schicht mit der Spitzhacke, machte dann zwei Längseinschnitte und löste schließlich den Block los, indem er am oberen Teile ein Eisen einstemmte. Die Steinkohle war fett; der Block zerbrach und rollte in Stücken den Bauch und die Schenkel entlang. Wenn die durch den Verschlag festgehaltenen Stücke sich unter ihnen angesammelt hatten, verschwanden die Häuer, gleichsam eingemauert in den engen Spalt.

Maheu litt am meisten. Oben stieg die Temperatur bis auf fünfunddreißig Grad; es gab keine Luftbewegung mehr; der Druck wurde auf die Dauer unerträglich. Er hatte, um deutlich zu sehen, seine Lampe an einem Nagel neben seinem Kopfe befestigen müssen; diese neben dem Schädel brennende Lampe brachte sein Blut vollends zum Sieden. Die schlimmste Marter aber kam von der Nässe. Wenige Zentimeter über seinem Antlitz floß das Wasser aus dem Felsen; dicke Tropfen fielen in unablässiger, rascher Folge und einer beharrlichen Gleichmäßigkeit immer auf die nämliche Stelle. Vergebens drehte er den Hals: die Tropfen klatschten ihm unablässig ins Gesicht. Nach einer Viertelstunde war er durchnäßt und überdies von Schweiß bedeckt, [45] so daß ein dichter Dampf von ihm ausging wie von feuchter Wäsche. Heute fiel ihm ein Tropfen so hartnäckig ins Auge, daß er zu fluchen begann. Er wollte die Arbeit nicht unterbrechen und führte kräftige Schläge, er lag eingeklemmt zwischen den zwei Felsen wie eine Laus zwischen zwei Blättern eines Buches, in Gefahr, vollständig erdrückt zu werden.

Kein Wort wurde gewechselt. Alle arbeiteten; man hörte nichts als die unregelmäßigen, dumpfen, gleichsam fernen Schläge. Jedes Geräusch klang rauh, ohne Widerhall in dieser toten Luft. Es schien, als sei die Finsternis von einer ganz unbekannten Schwärze, verdichtet durch den fliegenden Kohlenstaub, beschwert durch die Gase, die auf die Augen drückten. Die Dochte der Lampen unter ihrem Hütchen von metallischer Leinwand waren in dieser Luft nur rötliche Punkte. Man konnte nichts unterscheiden; gähnend öffnete sich der Schlag und stieg an wie ein langer, enger, schräger Kamin, in dem der durch zehn Winter angehäufte Ruß tiefe Finsternis verursacht. Gespensterhafte Formen bewegten sich darin; die Irrlichter ließen bald die Rundung einer Hüfte sehen, bald wieder einen knorrigen Arm oder ein dräuendes Haupt, geschwärzt, wie um ein Verbrechen zu begehen. Zuweilen leuchteten die losgelösten Kohlenblöcke an ihren Ecken und Kanten plötzlich in einem kristallischen Widerscheine auf. Dann versank wieder alles in Dunkelheit; die Spitzhacken arbeiteten mit dumpfen Schlägen; man hörte nichts als das Keuchen der Brüste und das Murren des Unbehagens und der Ermüdung in der drückenden Luft und dem strömenden Regen.

Zacharias, dessen Arme nach der gestrigen Schwelgerei noch ganz schlaff waren, ließ die Arbeit bald im Stich, indem er die Notwendigkeit, die Wand zu verholzen, vorschützte. Dies gestattete ihm eine kleine Ruhepause, während welcher er leise vor sich hinpfiff und ins Leere starrte. Hinter den Häuern waren nahezu drei Meter der Ader hohl, ohne daß sie noch die Vorsicht [46] gebraucht hätten, den Felsen zu stützen, unbekümmert um die Gefahr und geizend mit ihrer Zeit.

»He, Aristokrat, reiche mir Holz herauf!« rief der junge Mann Etienne zu.

Etienne, der von Katharina lernte, wie die Schaufel zu gebrauchen sei, mußte Holz nach dem Schlag hinaufschaffen. Es war noch vom gestrigen Tage ein kleiner Vorrat da. In der Regel wurde jeden Morgen Holz hinabgeschafft, fertiggeschnitten, je nach Bedarf.

»Spute dich doch, verdammter Faulpelz«, rief Zacharias, als er sah, wie der neue Mann inmitten der Kohlen mühselig emporkletterte, die Arme mit vier Stück Eichenholz beschwert.

Er machte mit seiner Spitzhacke einen Einschnitt in die Decke, dann einen zweiten in die Wand; in diese Einschnitte stemmte er die beiden Enden der Hölzer, und so stützte er den Felsen. Des Nachmittags holten die Erdarbeiter den Schutt, den die Häuer in den Galerien zurückgelassen, und füllten damit die ausgebeuteten Gänge der Ader, wobei sie nur den unteren und den oberen Weg zur Fortschaffung der Kohle frei ließen.

Maheu hatte aufgehört zu stöhnen. Endlich hatte er seinen Block los. Er trocknete sich mit dem Rockärmel das schweißbedeckte Antlitz und schaute nach, was Zacharias machte, der hinter ihm heraufgekommen war.

»Laß das,« sagte er, »wir sehen nach dem Frühstück ... Es ist besser, im Schlag fortzufahren, wenn wir unsere Anzahl Hunde fertigbringen wollen.«

»Die Decke senkt sich«, bemerkte der junge Mann. »Da ist ein Riß. Ich fürchte einen Einsturz.«

Doch der Vater zuckte mit den Achseln. Ach was, Einsturz! Das wäre auch nicht zum erstenmal; man wird dabei nicht gleich die Knochen lassen. Er wurde schließlich böse und sandte seinen Sohn zum vorderen Schlag zurück.

Übrigens benutzten alle die Pause, um die Glieder zu recken. Levaque, der auf dem Rücken liegenblieb, fluchte, weil ihm ein niederfallender Stein den linken[47] Daumen verletzt hatte. Chaval zog wütend das Hemd aus und entblößte seinen Oberkörper, um weniger durch die Hitze zu leiden. Sie alle waren schon von der Kohle geschwärzt, dicht überzogen von feinem Staub, den der Schweiß in schwarze Bäche verwandelte. Maheu ging zuerst wieder an die Arbeit, diesmal tiefer unten am Fuße der Felswand. Der Wassertropfen fiel ihm jetzt auf die Stirn mit solcher Beharrlichkeit, daß er glaubte, ihm werde schließlich der Schädel durchbohrt.

»Achte nicht darauf«, sagte Katharina zu Etienne; »sie schreien immer so.«

Als folgsames Mädchen nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Jeder beladene Hund kam so zum Tageslichte empor, wie er vom Schlage abgefahren, mit einer besonderen Marke bezeichnet, damit der Aufnahmebeamte die Ladung auf die Rechnung des betreffenden Werkplatzes setzen könne. Man mußte darauf achten, den Hund ganz vollzumachen und nur reine Kohle zu nehmen, weil sonst die Ladung nicht angerechnet wurde.

Der junge Mann, dessen Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, sah das Mädchen an: sie war noch jugendlich, mit blutleerer Haut, und er hätte ihr Alter nicht angeben können; er hielt sie höchstens für zwölf Jahre alt, so schwächlich schien sie ihm. Indes fühlte er, daß sie älter sei und mit der Freiheit eines Jungen sich benahm, ja mit einer naiven Unverschämtheit, die ihm ein wenig lästig war. Sie gefiel ihm nicht: er fand sie zu keck mit ihrem blassen Hanswurstkopf, an dessen Schläfen die Mütze knapp auflag. Doch setzte ihn die Stärke dieses Kindes in Erstaunen, eine nervöse Kraft, die mit großer Behendigkeit gepaart war. Sie füllte ihren Karren schneller als er, mit regelmäßigen und flinken Schaufelwürfen; dann schob sie ihn bis zu der schiefen Bahn mit einem einzigen langsamen Stoß, ohne steckenzubleiben, und huschte unter den [48] niedrigen Felsen mit Leichtigkeit hinweg. Er hingegen stieß überall an, glitt aus und blieb zurück.

Es war wirklich kein bequemer Weg; die Entfernung von dem Schlage bis zu der schiefen Bahn betrug sechzig Meter. Der Weg, den die Erdarbeiter noch nicht erweitert hatten, war ein wahrer Schlauch mit einer Decke von ungleicher Höhe und mit zahllosen Vorsprüngen; an gewissen Stellen war knapp so viel Raum, daß der beladene Karren hindurch konnte; der Schlepper mußte sich zu Boden werfen und auf den Knien fortbewegen, um sich nicht den Schädel einzurennen. Überdies begannen die Hölzer sich zu biegen und zu brechen; man sah sie geborsten, in langen weißen Bruchstücken, allzu schwachen Krücken gleichend. Man mußte auf seiner Hut sein, um an diesen Holzstücken sich die Haut nicht wundzureißen; und unter dem langsamen, allmählichen Druck, der schenkeldicke Eichenprügel knickte, warf man sich platt auf den Bauch in der dumpfen Angst, daß plötzlich der Rücken zerschlagen werde.

»Schon wieder!« rief Katharina lachend.

Etiennes Karren war an der schwierigsten Stelle entgleist. Es wollte ihm nicht gelingen, den Karren geradeaus fortzuschieben auf diesen Schienen, die in dem feuchten Erdreich sich verbogen; und er fluchte und wetterte und plagte sich wütend mit den Rädern ab, die er trotz äußerster Anstrengung nicht wieder an ihre Stelle bringen konnte.

»Geduld«, sagte das Mädchen; »wenn du ärgerlich wirst, geht es erst recht nicht.«

Sie hatte sich hurtig herangeschlichen und rücklings kriechend den Rücken unter den Karren geschoben; mit einem Ruck der Lenden hob sie ihn und brachte ihn wieder an seine Stelle. Es war ein Gewicht von siebenhundert Kilogramm. Überrascht und beschämt stammelte er Worte der Entschuldigung.

Sie mußte ihm zeigen, wie er die Beine spreizen und die Füße an die Hölzer zu beiden Seiten der Galerie [49] stemmen müsse, um feste Stützpunkte zu gewinnen. Der Körper müsse vorgebeugt, die Arme stramm ausgestreckt werden, damit man mit allen Muskeln, mit den Schultern und mit den Hüften stoßen könne. Während einer solchen Fahrt folgte er ihr und konnte sehen, wie sie rasch dahinfuhr, mit gespannten Muskeln, die Fäuste so tief ansetzend, daß sie auf allen vieren zu laufen schien wie eines jener Tiere, die man im Zirkus arbeiten sieht. Sie schwitzte und keuchte, ihre Gelenke krachten; aber sie klagte nicht, sie zeigte den Gleichmut der Gewohnheit, als ob es das gemeinsame Elend aller sei, so gebeugt zu leben. Ihm aber wollte es nicht gelingen; seine Schuhe belästigten ihn, sein Körper versagte den Dienst bei dieser Art, mit gesenktem Kopfe zu gehen. Schon nach wenigen Minuten ward diese Körperhaltung für ihn eine Marter, eine unerträgliche, dermaßen schmerzliche Pein, daß er sich einen Augenblick auf die Knie warf, um sich aufzurichten und Atem zu schöpfen.

Bei der abschüssigen Fläche trat eine neue Schwierigkeit ein. Sie zeigte ihm, wie man flink seinen Karren einschalten müsse. Auf der Höhe und am Fuße dieser schiefen Ebene, deren sich alle Schläge von einem Absatz bis zum andern bedienten, war je ein Gehilfe, oben der Bremser, unten der Aufnehmer. Diese beiden Taugenichtse von zwölf und fünfzehn Jahren riefen einander abscheuliche Worte zu, und um sie zu benachrichtigen, mußte man ihnen noch rohere zubrüllen. Sobald ein leerer Karren zum Aufziehen da war, gab der Aufnehmer das Signal, die Schlepperin schaltete den vollen Karren ein, dessen Gewicht den anderen Karren emporsteigen ließ, wenn der Bremser die Bremse lockerte. Unten in der Galerie am Boden bildeten sich die Züge, welche dann die Pferde bis zum Aufzugsschachte zogen.

»He, ihr verdammten Schlingel!« rief Katharina in die schiefe Ebene hinab, die, vollständig verzimmert,[50] etwa hundert Meter lang war und widerhallte wie ein riesiges Sprachrohr.

Die Burschen schienen auszuruhen, denn sie antworteten nicht, weder der eine noch der andere. In allen Stockwerken ruhte die Abfuhr.

Doch jetzt hörte man den Aufnehmer rufen, die Karren sollten eingeschaltet werden. Ohne Zweifel ging unten ein Aufseher vorüber. Die Abfuhr wurde in den neuen Stockwerken wieder aufgenommen; man hörte nichts als die regelmäßigen Rufe der Arbeiter und das Schnauben der Schlepperinnen, die dampfend gleich allzu stark beladenen Tieren bei der schiefen Ebene ankamen.

Sooft er diese Fahrt machte, fand Etienne in der Tiefe des Schlages jedesmal dieselbe drückende Schwüle wieder, die regelmäßig sich wiederholenden dumpfen Schläge der Spitzhacken, die schweren, tiefen Seufzer der Häuer, die hartnäckig bei ihrer Arbeit ausharrten. Alle vier hatten sich entkleidet, lagen unter der Kohle vergraben, bis an die Lederkappe von schwarzer Jauche durchnäßt. Einmal hatte man Maheu, der unter der Last zu röcheln begann, helfen und die Bretter wegnehmen müssen, um die Kohle auf den Weg hinabgleiten zu lassen. Zacharias und Levaque wetterten gegen die Ader, die – wie sie sagten – »hart« zu werden begann, wodurch die Bedingungen ihres Erwerbes sich ungünstiger gestalteten. Chaval wandte sich um, blieb einen Augenblick auf dem Rücken liegen und schimpfte über Etienne, dessen Anwesenheit ihn augenscheinlich erbitterte.

»He, Blindschleiche! Der ist nicht so stark wie ein Mädchen! ... Willst du rasch deinen Hund füllen? ... Du möchtest wohl deine Ärmchen schonen? Bei Gott, ich behalte deine zehn Sous ein, wenn uns deinetwegen ein Hund zurückgewiesen wird!«

Der junge Mann vermied es zu antworten; er war bis jetzt gar zu froh, diese Sträflingsarbeit gefunden zu haben. Aber er vermochte nicht mehr zu gehen; seine [51] Füße bluteten, seine Glieder waren von furchtbaren Krämpfen zusammengezogen, sein Rumpf wie von einem eisernen Ring zusammengepreßt. Glücklicherweise war es zehn Uhr; der Werkplatz beschloß zu frühstücken.

Maheu hatte eine Uhr, aber er schaute sie nicht an. In dieser sternenlosen Nacht irrte er sich nie um fünf Minuten. Alle legten das Hemd und den Kittel wieder an. Dann stiegen sie vom Schlag herunter und hockten nieder, die Ellbogen an die Seiten gedrückt, mit dem Gesäß auf den Fersen ruhend, in der Haltung, die den Grubenarbeitern so vertraut war, daß sie sie außerhalb der Grube beibehielten, ohne eines Pflastersteines oder eines Balkens zu bedürfen, um sich darauf zu setzen. Jeder hatte seinen »Ziegel« hervorgeholt und aß mit ernster Miene von der dicken Brotschnitte, wobei er nur selten ein Wort über die Morgenarbeit fallen ließ. Katharina, die stehengeblieben war, trat schließlich zu Etienne, der sich ein Stück weiterhin quer über die Schienen gelagert hatte, mit dem Rücken an die Verholzung gelehnt. Er hatte da ein fast trockenes Plätzchen gefunden.

»Du ißt nicht?« fragte sie mit vollem Munde, ihren »Ziegel« in der Hand.

Dann erinnerte sie sich, daß er in der Nacht herumgeirrt sei ohne einen Sou, vielleicht ohne ein Stück Brot.

»Willst du mit mir teilen?« fragte sie.

Als er ablehnte mit der Beteuerung, daß er keinen Hunger habe, wobei aber die Qual des leeren Magens seine Stimme zittern ließ, fuhr sie in heiterem Tone fort:

»Wenn es dich vielleicht ekelt! ... Doch schau, ich habe nur auf dieser Seite abgebissen und will dir die andere geben.«

Schon hatte sie die Brotschnitten entzweigebrochen. Der junge Mann hatte seine Hälfte genommen und mußte an sich halten, um sie nicht auf einmal zu verschlingen; er legte die Arme auf seine Schenkel, damit [52] sie sein Zittern nicht sehe. Mit der ruhigen Miene eines guten Kameraden hatte sie sich neben ihm platt auf den Bauch hingelegt, das Kinn auf die eine Hand gestützt. Ihre Laternen, die zwischen ihnen standen, beleuchteten sie.

Katharina betrachtete ihn einen Augenblick schweigend. Sie mußte ihn hübsch finden mit seinem feinen Gesicht und seinem schwarzen Schnurrbart. Ein vergnügtes Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Also, du bist Maschinist, und man hat dich bei deiner Eisenbahn entlassen ... Warum?«

»Weil ich meinen Chef geohrfeigt habe.«

Sie war verblüfft, völlig verwirrt in ihren ererbten Vorstellungen von Unterwerfung und leidendem Gehorsam.

»Ich muß sagen, daß ich getrunken hatte«, fuhr er fort. »Wenn ich trinke, verliere ich den Kopf und möchte mich selbst und andere fressen ... Jawohl; zwei Gläser genügen, und ich suche einen Menschen, um ihn zu vernichten ... Nachher bin ich zwei Tage krank.«

»Du solltest nicht trinken«, sagte sie in ernstem Tone.

»Sei ohne Angst, ich kenne mich!«

Er schüttelte dabei den Kopf. Er haßte den Branntwein; es war der Haß des letzten Sprößlings eines Säufergeschlechtes, den das Erbe einer vom Alkohol verdorbenen Familie so belastete, daß ein Tropfen für ihn zu Gift wurde.

»Es ärgert mich nur wegen meiner Mutter, daß ich auf die Straße gesetzt wurde«, sagte er, nachdem er einen Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Meine Mutter ist nicht glücklich, und ich sandte ihr von Zeit zu Zeit ein Hundertsousstück.«

»Wo ist deine Mutter?«

»Sie ist Wäscherin in Paris.«

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Wenn er an diese Dinge dachte, trübte ein Zittern seine schwarzen Augen, wie die vorübergehende Beklemmung durch das Erbübel, das in ihm steckte unter der Hülle jugendlicher [53] Gesundheit. Einen Augenblick saß er da und starrte in die Finsternis der Grube; in dieser Tiefe sah er unter der erdrückenden Wucht der Erde seine Kindheit wieder, seine noch schöne und kräftige Mutter, die, von seinem Vater verlassen, sich später mit einem andern wiederverheiratet hatte; die dann zwischen zwei Männern lebte, die an ihr zehrten, und mit denen sie in den Straßenschmutz sank, um in Wein und Unflat unterzugehen. Er erinnerte sich sehr wohl der Straße und vieler Einzelheiten: der schmutzigen Wäsche inmitten des Ladens, des Stiefvaters, der mit seiner Trunkenheit das Haus verpestete, der Maulschellen, die es absetzte, daß die Kinnbacken schier aus den Fugen gingen.

»Von meinen dreißig Sous, die ich täglich erwerben soll, werde ich ihr nichts schenken können«, hub er langsam wieder an ... »Sie wird sicherlich in Not und Elend verkommen.«

Er zuckte verzweifelt mit den Achseln und biß wieder in seine Brotschnitte.

»Willst du trinken?« fragte Katharina, indem sie ihre Blechflasche entkorkte. »Es ist Kaffee, der Trunk kann dir nicht schaden ... Man erstickt, wenn man sein Essen so hinunterwürgt.«

Aber er lehnte ab; es sei schon genug, daß er ihr die Hälfte ihres Brotes genommen habe. Doch sie drang gutherzig in ihn und sagte schließlich:

»Gut, ich werde zuerst trinken, weil du so höflich bist ... Jetzt darfst du aber die Flasche nicht mehr zurückweisen. Das wäre häßlich.«

Damit reichte sie ihm den Trank. Sie hatte sich auf den Knien aufgerichtet; er sah sie jetzt ganz nahe bei sich im Lichte der beiden Lampen. Warum hatte er sie denn häßlich gefunden? fragte er sich. Jetzt, da sie ganz schwarz war, das Gesicht mit feinem Kohlenstaub bestreut, fand er seltsame Reize an ihr. In diesem in Dunkel getauchten Antlitz schimmerten die Zähne glänzend weiß aus dem zu groß geratenen Munde hervor; [54] die Augen waren erweitert und leuchteten in grünlich schimmerndem Widerschein wie Katzenaugen. Ein Büschel ihrer roten Haare war unter der Mütze hervorgeschlüpft und kitzelte sie am Ohr, daß sie lachen mußte. Sie schien ihm jetzt nicht mehr so jung und mochte sehr wohl vierzehn Jahre alt sein.

»Um dir gefällig zu sein«, sagte er, trank und gab ihr die Flasche zurück.

Sie nahm noch einen Schluck und nötigte ihn, gleichfalls noch einen zu nehmen. Sie wolle mit ihm teilen, sagte sie. Es machte ihnen Spaß, wie dieser dünne Flaschenhals von einem Munde zum anderen wanderte. Er fragte sich plötzlich, ob er sie nicht in seine Arme nehmen und auf den Mund küssen solle. Sie hatte dicke Lippen von einer feinen, durch die Kohlenschwärze etwas belebten Röte, und diese Lippen erregten eine quälende, immer stärkere Begierde in ihm. Doch ihm fehlte der Mut, und er blieb schüchtern vor ihr. Er hatte sich in Lille nur mit Mädchen der niedrigsten Gattung abgegeben und wußte nicht, wie er sich einer Arbeiterin gegenüber, die im Kreise ihrer Familie lebte, benehmen solle.

»Du bist vierzehn Jahre alt?« fragte er, als er sich wieder an sein Brot machte.

Sie war erstaunt, fast beleidigt durch diese Frage.

»Was, vierzehn Jahre? Ich bin fünfzehn! ... Groß bin ich allerdings nicht ... Die Mädchen wachsen hier langsam.«

Er fuhr fort, sie auszufragen. Sie sagte alles nicht dreist und nicht scheu. Sie hatte die Schultern eingezogen, denn sie fror ein wenig in ihren von Schweiß durchtränkten Gewändern. Ihre Miene war sanft und ergeben; sie schien bereit, Menschen und Dinge ruhig hinzunehmen.

»Man findet leicht einen Schatz, wenn man so beisammenlebt, nicht wahr?« fragte er.

»Ganz gewiß.«

[55] »Auch schadet das niemandem ... Nur dem Pfarrer darf man nichts davon sagen.«

»Oh, ich kümmere mich wenig um den Pfarrer! Aber der schwarze Mann! ...«

»Was? Der schwarze Mann?«

»Der alte Bergmann, der in der Grube umgeht und den schlimmen Mädchen den Hals umdreht.«

»Du glaubst an solche Dummheiten! Weißt du denn so wenig?«

»Doch, ich kann schreiben und lesen ... Das ist bei uns von Nutzen; zur Zeit von Vater und Mutter lernte man nichts.«

Er fand sie sehr nett und gedachte, sobald sie mit ihrer Brotschnitte zu Ende sei, sie zu fassen und auf die dicken, roten Lippen zu küssen. Es war die Entschlossenheit eines Schüchternen, ein gewaltsamer Gedanke, der ihm die Kehle zuschnürte. Er hatte seinen letzten Bissen hinuntergewürgt, trank aus der Flasche und gab sie ihr zurück, damit sie den letzten Rest trinke. Jetzt war der Augenblick zu handeln gekommen, und er warf einen ängstlichen Blick nach den im Hintergrunde sitzenden Arbeitern, als plötzlich ein Schatten vor der Galerie erschien.

Chaval stand seit einer Weile da und betrachtete sie von fern. Jetzt kam er näher und versicherte sich durch einen Blick, daß Maheu ihn nicht sehen könne; da Katharina noch immer auf der Erde saß, packte er sie bei den Schultern, beugte ihren Kopf zurück und preßte einen wilden Kuß auf ihre Lippen, ganz ruhig, augenscheinlich unbekümmert um die Anwesenheit Etiennes. Dieser Kuß war gewissermaßen eine Besitzergreifung, eine Art eifersüchtigen Entschlusses.

Doch das junge Mädchen wehrte sich.

»Laß mich, hörst du?« rief sie.

Er hielt ihren Kopf fest und schaute ihr tief in die Augen. Sein roter Schnurr- und Geißbart flammte in dem schwarzen Gesichte mit der großen Adlernase. Endlich ließ er sie los und ging wortlos seines Weges.

[56] Ein Frösteln überlief Etienne. Es war zu dumm von ihm, daß er gewartet hatte. Nein, gewiß, jetzt wollte er sie nicht mehr umarmen; sie könnte sonst glauben, er sei so wie der andere. Er war ordentlich trostlos in seiner verletzten Eitelkeit.

»Warum hast du gelogen?« sagte er mit leiser Stimme. »Das ist dein Liebhaber.«

»Aber nein!« rief sie. »Es besteht nicht die geringste Gemeinschaft zwischen uns. Manchmal treibt er Spaß mit mir ... Er ist auch gar nicht aus unserer Gegend; vor sechs Monaten ist er aus dem Pas-de-Calais hierhergekommen.«

Beide hatten sich erhoben. Man ging wieder an die Arbeit. Als sie ihn so kühl sah, schien sie verdrossen. Ohne Zweifel fand sie ihn hübscher als den andern und würde ihn vielleicht vorgezogen haben. Es plagte sie der Gedanke, sich ihm freundlich zu zeigen, gleichsam um ihn zu trösten, und als der junge Mann erstaunt seine Lampe betrachtete, die mit blauer Flamme brannte und einen breiten, blassen Kragen hatte, versuchte sie wenigstens, ihn zu zerstreuen.

»Komm, ich will dir etwas zeigen«, flüsterte sie mit kameradschaftlicher Miene.

Als sie ihn in die Tiefe des Schlages geführt hatte, zeigte sie ihm einen Spalt in dem Kohlenlager. Ein leises Brodeln tönte da hervor, ein schwaches Geräusch, das dem Pfeifen eines Vogels glich.

»Tu deine Hand daher, spürst du den Schwaden? Das sind die bösen Gase, durch sie entstehen die Grubenbrände.«

Er war erstaunt. Die furchtbare Sache, die schlagenden Wetter, die alles in die Luft sprengten: war's nichts weiter als das? Sie erwiderte lachend, es müsse sich davon heute viel angesammelt haben, weil die Lampen mit so blauer Flamme brannten.

»Habt ihr bald genug geschwätzt, Faulenzer!« rief die rauhe Stimme Maheus.

Katharina und Etienne beeilten sich, ihre Karren zu [57] füllen, und schoben sie nach der schiefen Ebene, mit verrenktem Nacken unter der verzimmerten Decke des Weges dahinkriechend. Schon bei der zweiten Fahrt waren sie von Schweiß bedeckt, ihre Gelenke schmerzten.

In dem Schlage hatten die Häuer ihre Arbeit wieder aufgenommen. Oft kürzten sie ihr Frühstück ab, um sich nicht zu erkälten; ihre »Ziegel«, die sie fern von der Sonne mit stummer Gier verzehrt hatten, lagen ihnen bleischwer im Magen. Auf der Seite liegend, hieben sie jetzt fester drauflos und hatten keinen anderen Gedanken als den, möglichst viele Hunde zu füllen. Alles verschwand in der wilden Gier nach dem Erwerb, der ihnen so schwer gemacht wurde. Schließlich fühlten sie das Wasser nicht mehr, das auf sie herabfloß und ihre Glieder anschwellen ließ, nicht die durch die gezwungenen Stellungen verursachten Krämpfe, noch die erstickende Luft der Finsternis, in der sie bleich wurden wie Kellerpflanzen. Doch in dem Maße, wie der Tag vorrückte, verdarb die Luft immer mehr und erhitzte sich durch den Qualm der Lampen, durch die schlechten Ausdünstungen der Arbeiter, durch die Stickluft der bösen Gase; sie lag trübe vor den Augen wie Spinngewebe und konnte nur durch die nächtliche Lüftung weggefegt werden. Die Häuer in ihrem Maulwurfsloche, gleichsam von dem ungeheuren Gewichte der Erde erdrückt, hieben immer drauflos, bis sie schließlich keinen Atem mehr in der keuchenden Brust hatten.

Fünftes Kapitel

Ohne auf seine Uhr zu schauen, die er in seinem Kittel gelassen, hielt Maheu in der Arbeit inne und sagte:

»Es ist bald ein Uhr ... Zacharias, bist du fertig?«

Der junge Mann war seit einer Weile mit der Verholzung beschäftigt. Er war bei dieser Arbeit auf dem[58] Rücken liegengeblieben, schaute mit stieren Augen drein und dachte an die Kugelpartien, die er gestern gespielt. Aus seinem Brüten auffahrend, erwiderte er:

»Ja, es wird schon genügen; morgen wollen wir weiter sehen.«

Damit nahm er seinen Platz im Schlage wieder ein. Levaque und Chaval hatten die Spitzhaue aus der Hand gelegt. Es trat eine Ruhepause ein. Alle trockneten sich das Gesicht mit ihren nackten Armen und blickten zu dem Dachfelsen empor, dessen glimmerige Masse sich in Blättern spaltete. Sie sprachen nur von der Arbeit.

»Wieder so ein Glückszug, daß wir auf ein abstürzendes Lager gestoßen sind«, brummte Chaval. »Auf dem Bureau haben sie es nicht in Rechnung gezogen.«

»Das sind Gauner«, schimpfte Levaque. »Sie denken nur daran, wie sie uns prellen können.«

Zacharias lachte; ihm war die Arbeit und alles an dere gleichgültig, aber es machte ihm Spaß, wenn er auf die Unternehmung schimpfen hörte. Maheu erklärte mit ruhiger Miene, daß die Beschaffenheit des Erdreiches sich alle zwanzig Meter ändere. Man müsse gerecht sein; das könne man nicht vorhersehen. Als die beiden anderen weiter die Vorgesetzten verlästerten, schaute er ängstlich um sich.

»Still! Jetzt ist's genug!«

»Du hast recht«, sagte Levaque und dämpfte die Stimme. »Es könnte uns übel ergehen.«

Eine Angst vor Spionen plagte sie selbst in dieser Tiefe, als ob die Kohle der Aktionäre noch in der Grube Ohren habe.

»Gleichviel,« setzte Chaval laut und trotzig hinzu, »wenn dieser Dansaert mit mir wieder in dem Tone wie neulich spricht, schleudere ich ihm einen Stein an den Magen ... Ich hindere ihn nicht, sich blonde Frauen mit feiner Haut zu nehmen!«

Jetzt lachte Zacharias hell auf. Die Liebschaft des Oberaufsehers mit der Frau Pierron war Gegenstand unaufhörlicher Späße in der Grube. Auch Katharina,[59] die auf ihre Schaufel gestützt am Fuße des Schlages stand, hielt sich die Seiten vor Lachen und klärte mit einigen Worten Etienne auf, während Maheu, von einer Angst ergriffen, die er nicht zu verhehlen suchte, ärgerlich ausrief:

»Wirst du schweigen? ... Warte, bis du allein bist, wenn du willst, daß es dir schlimm ergehe.«

Noch sprach er, als das Geräusch von Schritten von der oberen Galerie her zu vernehmen war. Fast gleichzeitig erschien auf der Höhe des Schlages der Grubeningenieur, der kleine Negrel, wie die Arbeiter ihn unter sich nannten. In seiner Begleitung befand sich Dansaert, der Oberaufseher.

»Ich sagte es ja«, brummte Maheu. »Es sind immer Leute da, die aus der Erde auftauchen.«

Paul Negrel, der Neffe des Herrn Hennebeau, war ein junger Mann von sechsundzwanzig Jahren, schmächtig und hübsch, mit gekräuselten Haaren und braunem Schnurrbart. Seine spitzige Nase, seine lebhaften Augen gaben ihm das Aussehen eines liebenswürdigen Spürhundes; er war mit einem skeptischen Verstande begabt, der sich im Verkehr mit den Arbeitern in spröde Autorität verwandelte. Er war so gekleidet wie sie und gleich ihnen von der Kohle geschwärzt. Um sie zum Respekt zu nötigen, zeigte er einen Mut, bei dem er oft seine gesunden Knochen aufs Spiel setzte, kletterte durch die schwierigsten Stellen, war bei Einstürzen und schlagenden Wettern der erste am Platze.

»Hier ist's, nicht wahr, Dansaert?« fragte er.

Der Oberaufseher, ein Belgier mit dickem Gesichte und dicker, sinnlicher Nase, erwiderte mit übertriebener Höflichkeit:

»Ja, Herr Negrel ... Da ist der Mann, den man heute morgen angeworben.«

Beide hatten sich in die Mitte des Schlages hinabgleiten lassen. Man ließ Etienne heraufkommen. Der Ingenieur hob seine Lampe in die Höhe und betrachtete ihn, aber ohne eine Frage an ihn zu richten.

[60] »Gut«, sagte er endlich. »Ich mag nicht, daß man unbekannte Leute von den Straßen aufliest ... Tun Sie es nicht wieder!«

Er wollte die Aufklärungen nicht hören, die man ihm gab: die Anforderung der Arbeit, das Streben, bei der Abfuhr die Weiber durch Männer zu ersetzen. Er begann das Dach zu prüfen, während die Häuer wieder zu ihren Geräten gegriffen hatten. Plötzlich rief er:

»Sagen Sie doch, Maheu, sind denn alle Mahnungen fruchtlos? ... Ihr alle werdet das Leben lassen!«

»Das hält noch«, antwortete der Arbeiter ruhig.

»Wie, es hält noch? Der Felsen senkt sich doch schon, und ihr stützt ihn in einer Entfernung von mehr als zwei Metern, und auch dann nur mit Widerwillen! Ihr seid alle gleich, ihr würdet euch lieber den Schädel zerschmettern, als eine Ader stehenlassen, um der Verholzung die nötige Zeit zu widmen! ... Ich bitte, hier augenblicklich Stützen anzubringen. Verdoppelt die Hölzer, hört ihr?«

Angesichts des Widerstrebens der Arbeiter, die mit ihm stritten und erklärten, daß sie selbst über ihre Sicherheit zu wachen wüßten, geriet er in Zorn.

»Warum nicht gar!« rief er. »Tragt ihr etwa die Folgen, wenn euch der Kopf zertrümmert wird? Keineswegs. Die Gesellschaft muß euch oder euren Weibern Ruhegehälter zahlen. Wie gesagt, man kennt euch. Um zwei Hunde mehr voll zu bekommen, würdet ihr eure Haut hingeben.«

Trotz des Zornes, der ihn allmählich ergriff, sagte Maheu mit ruhigem Ernste:

»Würde man uns genügend bezahlen, dann würden wir auch besser verzimmern.«

Der Ingenieur zuckte mit den Achseln, ohne zu antworten. Er stieg vollends herunter und sagte, als er unten war:

»Ihr habt noch eine Stunde, macht euch alle ans Werk. Bedenkt, daß der Werkplatz sonst drei Franken Strafe bekommt.«

[61] Ein dumpfes Murren der Häuer begleitete diese Worte. Nur die Macht der Rangordnung hielt sie zurück, dieser militärisch organisierten Rangordnung, die vom Schlepperjungen bis zum Oberaufseher immer einen unter die Gewalt des andern beugte. Chaval und Levaque machten wütende Gebärden, während Maheu sie mit einem Blick beschwichtigte und Zacharias höhnisch mit den Achseln zuckte. Etienne war vielleicht am meisten von allen erregt. Seitdem er sich in der Tiefe dieser Hölle befand, stieg ein immer wachsender Unmut in ihm auf. Er betrachtete Katharina, die demütig mit gebeugtem Nacken dastand. War es möglich, daß man sich bei so schwerer Arbeit in diesen todbringenden Gruben um Leben und Gesundheit brachte, ohne auch nur die paar Sous für das tägliche Brot zu erwerben?

Indes entfernte sich Negrel in Begleitung von Dansaert, der sich begnügte, immerfort zustimmend zu nicken. Jetzt hörte man von neuem ihre lauten Stimmen; sie waren wieder stehengeblieben und prüften die Verzimmerung der Galerie, welche die Häuer hinter dem Schlage in einer Länge von zehn Meter instand zu halten hatten.

»Ich sage Ihnen ja, daß sie uns zum besten halten!« rief der Ingenieur. »Und Sie, Unglücksmensch, vernachlässigen Sie denn die Aufsicht?«

»Nein, gewiß nicht«, stammelte der Oberaufseher. »Man bekommt es schließlich satt, diesen Leuten immer wieder dasselbe zu sagen.«

Negrel rief heftig:

»Maheu! Maheu!«

Alle stiegen vom Schlage herab. Der Ingenieur fuhr fort:

»Schaut euch das an! ... Das ist wie ein Kartenhaus. Dieses Geländer ist dermaßen hastig aufgesetzt, daß die Stützen es kaum tragen ... Ich begreife jetzt, daß die Ausbesserungen uns so schweres Geld kosten. Es genügt euch, daß es so lange hält, wie eure Verantwortlichkeit [62] währt, nicht wahr? Dann geht alles in die Brüche, und die Gesellschaft ist genötigt, ein Heer von Ausbesserern zu halten ... Schaut nur da hinunter! Da ist ja alles in Splittern.«

Chaval wollte reden, aber er gebot ihm Schweigen.

»Ich weiß schon, was ihr sagen wollt. Man soll euch mehr bezahlen, nicht wahr? Gut, aber ich sage euch, daß ihr in dieser Weise die Direktion zwingt zu handeln: man wird euch die Verzimmerung besonders bezahlen und den Preis des Karrens verhältnismäßig herabsetzen. Wir wollen sehen, ob ihr dabei besser fahrt. Einstweilen verzimmert mir das sogleich von neuem. Morgen komme ich wieder.«

Unter dem Eindruck des Schreckens, den diese Drohung hervorbrachte, entfernte er sich. Dansaert, in seiner Gegenwart so demütig, blieb einige Augenblicke zurück, um den Arbeitern in schroffem Tone zu sagen:

»Euretwegen habe ich Tadel zu hören ... Nehmt euch in acht! Bei mir kommt ihr mit drei Franken Strafe nicht durch!«

Als auch er fort war, brach Maheu endlich los.

»Bei Gott! Unrecht bleibt Unrecht. Ich will Ruhe haben, weil man nur in Ruhe sich verständigen kann; aber schließlich wird man von diesen Leuten doch in Wut gebracht ... Habt ihr gehört? Der Preis des Karrens soll herabgesetzt und die Verzimmerung besonders angerechnet werden! ... Wieder eine Art, uns weniger zu zahlen ... Daß doch Gottes Donner dreinfahre!«

Er suchte jemanden, an dem er seinen Zorn auslassen könne, und bemerkte Etienne und Katharina, die mit hängenden Armen dastanden.

»Schafft Hölzer herbei!« schrie er sie an. »Was hat euch das zu kümmern? Ich werde euch mit Rippenstößen antreiben!«

Etienne ging, um sich mit Hölzern zu beladen; er grollte dem Hauer nicht wegen seiner Rauheit, denn er selbst war so wütend über die Vorgesetzten, daß er die Grubenarbeiter viel zu gutmütig fand.

[63] Levaque und Chaval hatten in derben Worten ihrem Zorne Luft gemacht. Alle, auch Zacharias, waren jetzt mit erbittertem Eifer bei der Verzimmerungsarbeit. Eine halbe Stunde hindurch hörte man nichts als das Krachen der Hölzer, die mit Schlägelhieben festgemacht wurden. Sie sprachen kein Wort mehr und wüteten in ihrer Erbitterung gegen den Stein, den sie mit ihren Schultern zurückgestoßen und gehoben hätten, wenn sie es vermocht hätten.

»Jetzt ist's genug!« sagte Maheu endlich, gebrochen von Zorn und Ermüdung. »Es ist halb zwei Uhr. Ein sauberer Tag: wir haben keine fünfzig Sous verdient! ... Ich gehe, es ekelt mich an.«

Obgleich man noch eine halbe Stunde zu arbeiten hatte, kleidete er sich an. Die anderen folgten seinem Beispiele. Der bloße Anblick des Schlages brachte sie außer sich. Da die Schlepperin sich wieder an die Arbeit gemacht hatte, riefen sie sie, verdrossen über ihren Eifer; wenn die Kohle Füße habe, solle sie von selbst hinausgehen, schrien sie. Die sechs Leute brachen mit ihren Geräten unter dem Arme auf; sie hatten zwei Kilometer zurückzulegen, um auf demselben Wege, auf dem sie morgens gekommen waren, zum Aufzugsschachte zu gelangen.

In dem Kamin verweilten Katharina und Etienne einen Augenblick, während die Häuer hinabglitten. Sie begegneten da der kleinen Lydia, die mitten im Wege anhielt, um sie vorbeigehen zu lassen, und ihnen erzählte, daß die Mouquette verschwunden sei; sie sei von einem solchen Nasenbluten befallen worden, daß sie seit einer Stunde – man wisse nicht wo – sitze, um ihr Gesicht zu baden. Als sie das Kind verließen, schob es seinen Karren weiter. Es war erschöpft, mit Schmutz bedeckt und streckte seine Ärmchen und Beinchen einer mageren, schwarzen Ameise gleich, die sich mit einer allzu schweren Last abmüht. Katharina und Etienne ließen sich jetzt ebenfalls hinunter und zogen die Schultern ein aus Furcht, sich die Haut zu zerschinden; [64] und sie rutschten so schnell den von den Hosen der Grubenarbeiter glatt gescheuerten Felsen hinab, daß sie sich von Zeit zu Zeit an der Verschalung festhalten mußten, damit ihre Rücken nicht Feuer fingen, wie sie scherzweise sagten.

Unten befanden sie sich allein. In der Ferne sahen sie bei einer Biegung der Galerie rote Lichter verschwinden. Ihre gute Laune war weg; sie gingen mit schweren, müden Schritten dahin, sie voraus, er hinterdrein. Die Lampen kohlten nur; er sah sie kaum, wie sie, in einen rauchigen Nebel gehüllt, sich fortbewegte. Der Gedanke, daß sie ein Mädchen sei, verursachte ihm Unbehagen; er fühlte, daß es einfältig von ihm sei, sie nicht zu küssen, und daß nur die Erinnerung an den andern ihn daran hindere. Sicherlich hatte sie ihn belogen: der andere war ihr Liebhaber. Sie aber wandte sich jede Minute nach ihm um, machte ihn auf ein Hindernis aufmerksam, schien ihn gleichsam aufzufordern, freundlich zu sein. Man war so allein und hätte so gemütlich schäkern können. Endlich erreichten sie die Abfuhrgalerie; für ihn war dies eine Erleichterung inmitten der Unsicherheit, die ihn quälte, während sie ein letztes Mal einen traurigen Blick auf ihn richtete, als trauere sie über entgangenes Glück, das sie nicht wiederfinden würde.

Rings um sie her herrschte jetzt ein geräuschvolles unterirdisches Leben, ein ewiges Kommen und Gehen der Aufseher und der Züge, die von den Pferden im Trabe fortgeschleppt wurden. Man sah unaufhörlich Lampen in der Grubennacht funkeln. Katharina und ihr Begleiter mußten sich an die Felswand drücken und den Weg frei lassen für die Schatten der Menschen und Tiere, deren Atem ihr Gesicht streifte. Johannes, der mit nackten Füßen hinter seinem Kohlenzuge einherlief, schrie ihnen eine Bosheit zu, die sie in dem Lärm der rollenden Räder nicht verstanden. Sie gingen immer weiter; sie schwieg jetzt still, er aber erkannte die [65] Gassen und Kreuzwege nicht wieder, die er am Morgen gesehen, und bildete sich ein, daß sie ihn hier unter der Erde immer mehr irreführen wolle. Am meisten litt er durch die Kälte, eine immer mehr zunehmende Kälte, die ihn ergriffen, als er vom Schlage heruntergestiegen, und die ihn immer heftiger schüttelte, je mehr er sich dem Aufzugsschachte näherte. Zwischen den geraden Wandungen wurde die Luftsäule wieder zum Sturm. Er verzweifelte schon, daß sie jemals ans Ziel kommen würden, als sie sich plötzlich in dem Aufzugssaale befanden.

Chaval warf ihnen mit argwöhnisch verzogenem Munde einen hämischen Blick zu. Auch die anderen standen schweißtriefend in dem eisigen Luftzuge, stumm wie sie, dumpfe Zornesworte hinunterwürgend. Sie kamen zu früh, und man wollte sie erst nach einer halben Stunde hinaufbefördern, um so mehr, als man allerlei verwickelte Zurüstungen zu machen hatte, um ein Pferd hinabzulassen. Die Verlader stellten noch Kohlenhunde mit betäubendem Geräusch von klirrendem Eisen ein; die Schalen flogen empor und verschwanden in dem Platzregen, der aus dem finsteren Loche niederfiel. Aus der zehn Meter tiefen Grube, die dieses Wasser auffing, kam ein schlammigfeuchter Geruch herauf. Männer hatten fortwährend um den Aufzugsschacht zu schaffen, zogen an den Signalleinen und drückten die Hebel inmitten des Wasserstaubes nieder, der ihre Kleider durchnäßte. Die rötliche Helle der drei frei brennenden Lampen, die große, schwankende Schatten warf, verlieh diesem unterirdischen Saale das Aussehen einer Verbrecherhöhle, einer Banditenschmiede in der unmittelbaren Nachbarschaft eines reißenden Wassers.

Maheu wagte einen letzten Versuch und näherte sich Pierron, der seinen Dienst beim Förderschacht um sechs Uhr angetreten hatte.

»Höre, du könntest uns hinauflassen.«

[66] Doch der Verlader, ein hübscher Mann mit kräftigen Gliedern und sanftem Antlitz, weigerte sich und machte eine Bewegung des Schreckens.

»Unmöglich; wende dich an den Aufseher ... Ich würde bestraft.«

Wieder brummten die Grubenleute Worte des Unmutes vor sich hin. Katharina neigte sich zum Ohr Etiennes und sagte:

»Komm den Stall besichtigen; dort ist's gut!«

Sie mußten sich unbemerkt davonschleichen, denn es war verboten, in den Stall zu gehen. Dieser lag links am Ende einer kurzen Galerie. Der Stall, fünfundzwanzig Meter lang und vier Meter hoch, war in den Felsen gebrochen und von Ziegeln überwölbt; zwanzig Pferde hatten darin Platz. In der Tat ließ es sich gut darin sein; es herrschte da die Wärme lebender Tiere und der angenehme Geruch einer reinlich gehaltenen frischen Streu. Die einzige Laterne verbreitete in dem Raume das gedämpfte Licht einer Nachtlampe. Die zur Rast eingestellten Pferde wandten den Kopf mit ihren großen, harmlosen Augen und machten sich dann wieder an ihren Hafer, ohne Eile, wie wohlgenährte, gesunde, von jedermann geliebte Arbeiter.

Doch als Katharina laut die Namen las, die auf Zinkplatten oberhalb der Raufen angebracht waren, stieß sie einen leisen Schrei aus: eine Gestalt hatte sich plötzlich vor ihr aufgerichtet. Es war die Mouquette, die sich betroffen von der Streu erhob, wo sie geschlafen hatte. Wenn sie am Montag von den Ausschweifungen des Sonntags allzu müde war, versetzte sie sich einen heftigen Faustschlag auf die Nase, verließ ihren Schlag unter dem Vorwande, Wasser zu holen, und kroch in die warme Streu zwischen de Tiere. Ihr Vater, der ihr gegenüber sehr schwach war, duldete es auf die Gefahr hin, Verdruß deswegen zu haben.

Vater Mouquet, der eben in den Stall trat, war ein kurzer, kahlköpfiger Mensch mit stark verwitterten Zügen, aber dick von Gestalt, was selten war bei einem [67] ehemaligen Grubenarbeiter von fünfzig Jahren. Seitdem man ihn zum Stallknechte gemacht, kaute er so leidenschaftlich Tabak, daß das Zahnfleisch in seinem schwarzen Munde blutete. Als er neben seiner Tochter die zwei anderen bemerkte, wurde er zornig.

»Was habt ihr da zu suchen? Fort mit euch Dirnen!«

Etienne ging mit den beiden verlegen von dannen, während Katharina ihm zulächelte. Als alle drei nach dem Aufzugssaale zurückkehrten, trafen eben auch Bebert und Johannes mit einem Kohlenzuge ein. Da es einen kurzen Aufenthalt gab, bis die Förderschalen bereit waren, näherte sich Katharina dem Pferde, tätschelte es mit der Hand und sprach mit dem Kameraden von dem Tiere. Es war Bataille, der Älteste in der Grube, ein Schimmel, der seit zehn Jahren unten arbeitete. Seit zehn Jahren lebte er in diesem Loche, immer in demselben Winkel des Stalles, und verrichtete immer dieselbe Arbeit in diesen schwarzen Galerien, ohne jemals das Tageslicht wiedergesehen zu haben. Sehr fett, mit glänzendem Haar und von gutmütigem Aussehen, schien er das Leben eines Weisen zu führen, bewahrt vor allem Ungemach der Erde. Der Gaul war übrigens hier in der Finsternis sehr schlau geworden. Der Weg, den er befuhr, war ihm schließlich so vertraut geworden, daß er mit dem Kopfe die Lüftungstüren aufstieß und bei den allzu niedrigen Stellen sich bückte, um nicht anzustoßen. Ohne Zweifel wußte er auch, was seine Pflicht sei; denn wenn er die vorgeschriebene Anzahl von Fahrten erledigt hatte, weigerte er sich, noch eine zu machen, und man mußte ihn zur Raufe zurückführen. Jetzt kam das Alter; seine Augen nahmen zuweilen einen trüben Ausdruck an. Vielleicht sah er in seinen dunklen Träumen die Mühle wieder, wo er geboren, eine Mühle in der Nähe von Marchiennes am Ufer der Scarpe, umgeben von breiten Fluren, über die ein frischer Wind dahinfegte. Etwas brannte dort in der Luft, eine ungeheure Lampe, deren sein Tiergedächtnis sich nicht genau erinnern konnte. [68] So stand er denn mit gesenktem Kopfe zitternd auf seinen alten Füßen da und machte vergebliche Anstrengungen, sich der Sonne zu erinnern.

Inzwischen dauerten die Manöver in dem Schachte fort; der Signalhammer hatte vier Schläge getan, das Pferd wurde heruntergelassen. Das verursachte immer eine gewisse Aufregung; denn es geschah manchmal, daß das Tier, von Entsetzen ergriffen, unten tot anlangte. Oben wurde es mittels eines Netzes gefesselt, wogegen es sich verzweifelt wehrte; sobald es keinen Boden mehr unter sich fühlte, war es wie versteinert; so versank es in der Tiefe ohne ein Beben der Haut mit weiten, starren Augen. Das Tier, das heute hinabbefördert werden sollte, war zu groß, um zwischen den Leitpfosten hindurch zu können; man hatte es unterhalb der Förderschale befestigen und den Kopf zur Seite festbinden müssen. Der Abstieg währte nahezu drei Minuten; aus Vorsicht verlangsamte man den Gang der Maschine. Darum stieg unten die Verwunderung immer höher. Was? Will man etwa das Pferd unterwegs in der Luft hängen lassen? Endlich war es sichtbar, unbeweglich, wie erstarrt, die Augen vor Furcht weit aufgerissen. Es war ein Brauner, kaum drei Jahre alt, Trompete mit Namen.

»Aufgepaßt!« rief Vater Mouquet, der das Tier zu übernehmen hatte. »Schafft es her, aber macht es noch nicht los.«

Trompete wurde wie eine tote Masse auf die eisernen Platten des Fußbodens niedergelegt. Das Tier bewegte sich noch immer nicht; das schier endlose, finstere Loch, durch welches es gekommen, und dieser tiefe, von Geräusch widerhallende Saal: sie lasteten wie ein Alpdruck auf ihm. Man war eben damit beschäftigt, es loszubinden, als Bataille, seit einem Augenblick ausgespannt, sich näherte und den Kopf vorstreckte, um den Gefährten zu beriechen, der so urplötzlich von der Oberwelt daherkam. Die Arbeiter machten ihre Späße über die Szene und stellten sich in einem weiten Kreis [69] auf. Welchen Wohlgeruch fand er denn an ihm? Doch unbekümmert um das Lachen wurde Bataille immer lebhafter. Er witterte hier ohne Zweifel den Wohlgeruch der freien Luft, den längst vergessenen Geruch des von der Sonne beschienenen Grases. Plötzlich brach er in ein lautes Gewieher aus, in einen Freudenruf, in den sich etwas wie ein zärtliches Schluchzen mengte. Das war der Willkommgruß, die Freude über die alten Dinge, von denen ihm jetzt ein Hauch zukam, zugleich die Trauer über diesen neuen Gefangenen, der nicht mehr lebend an die Erdoberfläche gelangen sollte.

»Der Schlingel Bataille!« riefen jetzt die Arbeiter, erheitert durch das Treiben ihres Lieblings. »Seht, wie er mit dem Kameraden plaudert.«

Trompete war mittlerweile seiner Fesseln entledigt worden, rührte sich aber nicht. Das Pferd blieb auf der Seite liegen, als fühle es sich noch immer im Netz gefangen; es war gleichsam durch die Furcht gelähmt. Endlich brachte man es mit einem Peitschenhieb auf die Beine; betäubt und an allen Gliedern zitternd stand es da. Vater Mouquet führte die beiden Tiere weg, die sogleich Freundschaft miteinander schlossen.

»Kommen wir endlich an die Reihe?« fragte Maheu.

Man mußte die Förderschalen frei machen; aber es fehlten noch zehn Minuten an der zum Aufstieg festgesetzten Stunde. Allmählich leerten sich die Werkplätze; die Grubenarbeiter kamen aus allen Galerien herbei. Es hatten sich schon etwa fünfzig versammelt, durchnäßt, fröstelnd in dem Luftzuge, der von allen Seiten kam. Pierron mit dem sanften Gesicht ohrfeigte seine Tochter Lydia, weil sie zu früh den Schlag verlassen hatte. Alle blickten finster. Die Unzufriedenheit unter den Arbeitern wurde immer größer; Chaval und Levaque erzählten von der Drohung des Ingenieurs, daß der Preis des Karrens herabgesetzt, die Verholzung besonders bezahlt werden solle. Dieses Vorhaben wurde mit allgemeinen Entrüstungsrufen aufgenommen; Aufruhr brach los in diesem engen Winkel, sechshundert [70] Meter unter der Erde. Bald wurden die Stimmen laut; die von der Kohle geschwärzten und vom Warten in der Zugluft erstarrten Männer beschuldigten die Gesellschaft, daß sie die eine Hälfte der Arbeiter in den Gruben töte, während sie die andere Hälfte Hungers sterben lasse. Etienne hörte es fröstelnd mit an.

»Rasch, sputet euch!« rief der Aufseher Richomme den Verladern zu.

Er beschleunigte die Vorbereitungen für den Aufzug; er wollte nicht hart sein und tat daher, als höre er nichts. Indes nahm das Murren dermaßen zu, daß er genötigt war einzuschreiten. Hinter ihm rief man, daß es nicht immer so bleiben dürfe, und daß eines Tages »die Bude in die Luft fliegen werde«.

»Du bist besonnen, heiße sie schweigen«, sagte er zu Maheu. »Wenn man nicht der Stärkere ist, muß man der Klügere sein.«

Doch Maheu, der sich beruhigt hatte, und den das Gerede ringsumher zu ängstigen begann, hatte es nicht mehr nötig, sich einzumengen. Plötzlich verstummten alle Stimmen; Negrel und Dansaert kehrten von ihrem Besichtigungsgange zurück und kamen aus einer Galerie, beide mit Schweiß bedeckt. Die Gewohnheit der Disziplin veranlaßte die Leute, sich in Reih und Glied zu stellen, während der Ingenieur schweigend durch die Gruppe schritt. Er setzte sich in einen Karren, der Oberaufseher in einen andern; man zog fünfmal an der Signalleine, um die schwere Ladung hinaufzuschaffen, wie man von den Vorgesetzten sagte, und die Schale flog inmitten einer dumpfen Stille in die Höhe.

Sechstes Kapitel

In der Schale, die ihn – mit vier anderen zusammengepfercht – in die Höhe führte, beschloß Etienne, seine Hungerwanderung auf den Landstraßen wieder aufzunehmen. Besser gleich zu verrecken, als wieder in diese Hölle hinabzusteigen, wo man nicht einmal sein [71] Brot erwerben konnte. Katharina war über ihm eingestiegen und saß nicht mehr knapp an seiner Seite mit der wohltuenden Wärme ihres Körpers. Er hielt es für besser, nicht mehr an Liebschaften zu denken und seiner Wege zu gehen. Er hatte mehr gelernt als diese Herde und fühlte nicht ihre Entsagungskraft in sich; schließlich werde er einen Vorgesetzten erdrosseln. Plötzlich war er wie geblendet. Der Aufstieg war so schnell vor sich gegangen, daß die Tageshelle, deren er sich schon entwöhnt hatte, ihn nötigte, die Augen zu schließen. Doch war es ihm eine Erleichterung, als er den Aufzugskasten in seinen Ankern sich festsetzen fühlte. Ein Handlanger öffnete die Tür, die Arbeiter sprangen aus den Karren.

»Sag', Mouquet, gehen wir heut abend zum, Vulkan'?« flüsterte Zacharias dem Handlanger ins Ohr.

Der »Vulkan« war ein Tingeltangel in Montsou. Mouquet blinzelte mit dem linken Auge, wobei ein stilles Lächeln seine Kinnladen umspielte. Klein und dick wie sein Vater, hatte er die freche Nase eines Kerls, der alles verpraßt, unbekümmert um den morgigen Tag. Eben stieg die Mouquette aus, und er versetzte ihr einen kräftigen Schlag auf den Rücken als Zeichen seiner brüderlichen Zärtlichkeit.

Etienne erkannte den hohen Aufnahmesaal kaum wieder, der ihm am Morgen im Flackerlicht der Laternen so beängstigend erschienen. Der Raum war kahl und schmutzig. Fahles Licht fiel durch die staubigen Fenster herein. Nur die Maschine mit ihren Kupferteilen funkelte; die mit Fett beschmierten Stahltrossen flogen wie in Tinte getauchte Bänder; die Räder in der Höhe, das ungeheure Gebälk, das sie trug, die Schalen, die Hunde, das überall verwendete Metall beherrschte den Saal mit dem harten Grau alten Eisens. Das Rollen der Räder versetzte die Eisenplatten des Fußbodens in fortwährende Erschütterung, während von der heraufbeförderten Kohle ein feiner Staub aufflog, der sich wie [72] schwarzes Mehl auf den Fußboden, auf die Mauern, selbst auf die Balken des Aufzugsturmes legte.

Chaval hatte inzwischen einen Blick auf die Berechnungstafel geworfen, die in dem kleinen Glasverschlage des Aufnahmebeamten hing. Das machte ihn vollends wütend, denn er hatte festgestellt, daß man ihnen zwei Karren zurückgewiesen hatte, die eine deshalb, weil sie nicht die vorgeschriebene Menge ent hielt, die andere, weil die Kohle nicht rein war.

»Der Tag ist gut«, rief er. »Wieder zwanzig Sous weniger! ... Warum nimmt man auch Taugenichtse, die sich ihrer Arme so bedienen wie ein Schwein seines Schwanzes.«

Der gehässige Blick, den er auf Etienne warf, vervollständigte seine Gedanken. Etienne fühlte sich versucht, mit Faustschlägen zu antworten. Doch er sagte sich, es sei unnütz, da er nicht bleiben wollte. Dieser Zwischenfall bestärkte ihn vollends in seinem Entschlusse.

»Man trifft es nicht gleich am ersten Tage«, sagte Maheu, um Frieden zu stiften. »Morgen wird er's besser machen.«

Indes waren alle verdrossen und von Streitlust erfüllt. Als sie in die Laternenkammer gingen, um ihre Lampen abzugeben, begann Levaque einen Streit mit dem Aufseher, den er beschuldigte, die seine schlecht gereinigt zu haben. Erst in der Baracke, wo das Feuer noch immer brannte, beruhigten sie sich ein wenig. Man hatte den Ofen zu stark mit Kohlen gefüllt, er war ganz glühend, und der fensterlose Raum schien in Flammen zu stehen, weil der Widerschein des Feuers die Wände blutrot färbte. Die Leute grunzten vor Vergnügen; sie brieten ihren Rücken in entsprechender Entfernung und dampften wie heiße Suppe. Hatten sie sich rückwärts genügend geröstet, wandten sie dem Feuer den Bauch zu.

»Ich gehe«, sagte Chaval, nachdem er seine Geräte in seinem Kasten verwahrt hatte.

[73] Niemand rührte sich. Bloß die Mouquette beeilte sich, ihm zu folgen, unter dem Vorwande, daß beide nach Montsou gingen. Doch da fielen neue Späße, denn man wußte, daß er sie nicht mehr mochte.

Katharina hatte inzwischen leise mit ihrem Vater gesprochen. Dieser hörte ihr erstaunt zu, dann nickte er zustimmend mit dem Kopfe. Er rief Etienne herbei, um ihm sein Paket zurückzugeben.

»Hören Sie,« sagte er ihm leise, »wenn Sie kein Geld haben, können Sie bis zum Halbmonatslohn längst verhungert sein ... Soll ich Ihnen irgendwo Kredit verschaffen?«

Der junge Mann stand einen Augenblick verlegen da. Er wollte gerade seine dreißig Sous fordern und seiner Wege gehen. Doch angesichts des Mädchens ward er von Scham ergriffen. Sie sah ihn scharf an; vielleicht glaubte sie gar, daß er die Arbeit scheue.

»Ich will Ihnen nichts versprechen«, sagte Maheu weiter; »schlimmstenfalls werden wir eine abschlägige Antwort bekommen.«

Etienne sagte nicht nein. Er werde gewiß eine abschlägige Antwort bekommen, dachte er. Übrigens verpflichtete ihn das zu nichts; er konnte ja immer noch weggehen, nachdem er einen Bissen gegessen hatte. Dann wieder verdroß es ihn, daß er nicht nein gesagt, als er die Freude Katharinas sah, die ihm freundschaftlich zulächelte, ganz froh darüber, daß sie ihm zu Hilfe gekommen war. Was half ihm alles das?

Als die Maheu ihre Holzschuhe an sich genommen und ihre Fächer verschlossen hatten, verließen sie die Baracke und folgten den Kameraden, die einer nach dem andern sich entfernten, nachdem sie sich erwärmt hatten. Etienne schloß sich ihnen an; Levaque und sein Sohn gingen mit demselben Trupp. Doch im Siebwerk wurden sie durch eine heftige Szene zurückgehalten. Es war ein geräumiger Schuppen mit einem von Kohlenstaub geschwärzten Gebälk und großen Fensterläden, durch die ein fortwährender Luftzug strich. Die Kohlenhunde [74] kamen unmittelbar aus dem Aufnahmesaal hierher und wurden durch die Auslader auf lange Rutschen aus Eisenblech geleert. Bei den Rutschen standen rechts und links auf erhöhten Stufen die Sichterinnen, mit Schaufel und Rechen ausgerüstet, scharrten die Steine beiseite und stießen die reine Kohle in die Trichter hinab, durch welche sie in die Waggons der Eisenbahn fielen, die unter dem Schuppen hinlief.

Hier arbeitete Philomene Levaque, ein mageres, bleiches, schwindsüchtiges Mädchen mit einem Schafsgesicht. Den Kopf mit einem blauen Lappen umwickelt, Hände und Arme schwarz bis zu den Ellbogen, oblag sie der Sichtungsarbeit; sie stand unterhalb einer alten Hexe, der Mutter der Frau Pierron, Brulé genannt, einem schrecklichen Weib mit Eulenaugen und eingekniffenen Lippen, die an den Geldbeutel eines Geizhalses erinnerten. Sie lagen im Streit miteinander; die Junge beschuldigte die Alte, daß sie ihr die Steine wegnehme, so daß sie in zehn Minuten nicht einen Korb voll zusammenbringe. Man bezahlte sie nämlich nach Körben. Da gab es denn endlosen Zank und Hader; die Zöpfe flogen, die Hände zeichneten sich in schwarzen Flecken auf dem roten Gesicht der Gegnerin ab.

»Gib ihr doch eins in die Fratze!« rief Zacharias von oben seiner Geliebten zu.

Alle Sichterinnen lachten. Doch die Brulé wandte sich jetzt giftig gegen den jungen Mann.

»Du tätest besser, dir eine vernünftige Frau auszusuchen! ... Hat man je so etwas gehört! ... Eine Hopfenstange von achtzehn Jahren, die sich kaum auf den Beinen halten kann!«

Maheu mußte seinen Sohn verhindern hinabzugehen, um sich – wie er sagte – die Hautfarbe dieses Gerippes anzusehen. Ein Aufseher eilte herbei, die Rechen senkten sich wieder in die Kohle. Von der Höhe sah man nichts mehr als die runden Rücken der Weiber, die sich aufs heftigste die Steine streitig machten.

Draußen hatte der Wind sich plötzlich gelegt; eine[75] feuchte Kälte senkte sich vom grauen Himmel hernieder. Die Grubenarbeiter hoben die Schultern, kreuzten die Arme und gingen in Gruppen dahin mit einer wiegenden Bewegung der Lenden, die ihre derben Knochen unter der dünnen Leinwandhülle ihrer Kleidung hervortreten ließ. Im Tageslichte sahen sie aus wie eine Bande von Negern, die man in Schmutz getaucht hat. Einige hatten ihren »Ziegel« nicht ganz verzehrt, und dieser Brotrest, den sie zwischen Hemd und Jacke zurückbrachten, ließ sie bucklig erscheinen.

»Schau, da ist Bouteloup«, sagte Zacharias grinsend.

Ohne stehenzubleiben, tauschte Levaque zwei Sätze mit seinem Mieter aus, einem kräftigen Burschen von fünfunddreißig Jahren mit sanftem, biederem Antlitz.

»Ist die Suppe fertig, Louis?«

»Ich glaube.«

»So ist das Weib heute gutgelaunt?«

»Ja, ich glaube.«

Andere Grubenarbeiter kamen, die gruppenweise in dem Schacht verschwanden. Es war die Drei-Uhr-Schicht; neue Männer, welche die Grube verschlang, wo sie an Stelle der anderen die Arbeit aufnahmen. Niemals feierte die Grube; Tag und Nacht waren menschliche Maulwürfe da, die sechshundert Meter unter den Rübenfeldern in dem Gestein gruben.

Indes gingen die jungen Leute voraus. Johannes vertraute Bebert einen verwickelten Plan an, wie man sich für vier Sous Tabak verschaffen könne. Lydia folgte ihnen in einer respektvollen Entfernung. Katharina ging mit Zacharias und Etienne. Niemand sprach. Vor der Gastwirtschaft »Zum wohlfeilen Schoppen« wurden sie von Maheu und Levaque eingeholt.

»Da ist's«, sagte ersterer. »Wollen wir eintreten?«

Man trennte sich. Katharina blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete den jungen Mann mit ihren großen Augen, die grünlich schimmerten wie klares Quellwasser, und deren Kristallreinheit durch das geschwärzte Gesicht noch gehoben wurde. Sie [76] lächelte und verschwand mit den anderen auf dem ansteigenden Wege, der zum Dorfe führte.

Die Herberge lag zwischen der Siedlung und der Grube an der Kreuzung der beiden Wege. Es war ein zweistöckiger Ziegelbau, von oben bis unten mit Kalk getüncht, mit einem breiten himmelblauen Saume um die Fenster. Eine viereckige Tafel über dem Tore trug in gelben Buchstaben die Inschrift: »Zum wohlfeilen Trunk«, Rasseneurs Gastwirtschaft. Dahinter lag eine Kegelbahn, die eine lebende Hecke einschloß. Die Gesellschaft, die alles versucht hatte, um dieses zwischen ihre weiten Ländereien eingekeilte Stück Boden zu erwerben, war trostlos wegen dieser Gastwirtschaft, die auf freiem Felde, sozusagen am Eingange des Voreuxschachtes, lag.

»Treten Sie ein«, sagte Maheu nochmals zu Etienne.

Die Gaststube war klein, von einer hellen Kahlheit mit ihren weißen Mauern, drei Tischen, zwölf Stühlen und ihrem Schanktisch von weißem Holz, der nicht größer war als ein Küchenschrank. Etwa zehn Schoppen waren aufgereiht, drei Likörflaschen, eine Wasserflasche, ein kleiner Zinkkasten mit zinnernem Hahn für das Bier. Nichts weiter: kein Bild, keine Tafel, kein Spieltisch. In dem blankgeputzten gußeisernen Kamin brannte langsam ein Kohlenziegel; die Fliesen waren mit einer dünnen Lage Sand bestreut, welche die ewige Feuchtigkeit dieser regennassen Gegend aufsog.

»Einen Schoppen!« bestellte Maheu bei einem starken, blonden Mädchen, der Tochter einer Nachbarin, die zuweilen die Gaststube hütete. – »Ist Rasseneur da?«

Das Mädchen drehte den Hahn des Bierfasses und erwiderte, der Wirt werde sogleich kommen. Langsam leerte der Grubenarbeiter in einem Zuge die Hälfte des Schoppens, um den Staub hinunterzuspülen, der ihm die Gurgel belegte. Seinem Begleiter bot er nichts an. Ein einziger Gast war noch da, gleichfalls ein Grubenarbeiter, der beschmutzt und durchnäßt an einem Tisch saß und still, nachdenklich sein Bier trank. Jetzt trat [77] ein dritter ein, bestellte mit einer Gebärde sein Bier, trank es aus, zahlte und ging, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Doch jetzt erschien ein dicker Mann von achtunddreißig Jahren mit einem gemütlichen Lächeln in dem glattrasierten, runden Gesicht. Es war Rasseneur, ein ehemaliger Häuer, den die Gesellschaft vor drei Jahren nach einem Streik entlassen hatte. Er war ein sehr guter Arbeiter und guter Redner; er stellte sich an die Spitze aller Beschwerdeführer und wurde schließlich das Oberhaupt der Unzufriedenen. Seine Frau hielt einen Getränkeausschank gleich vielen Arbeiterfrauen; als er entlassen wurde, blieb er Gastwirt und wußte das nötige Geld zu finden, um eine Wirtschaft zu eröffnen, die er hart vor die Grube hinpflanzte, gleichsam als Herausforderung gegen die Gesellschaft. Jetzt gedieh sein Haus, er wurde Mittelpunkt und bereicherte sich an all dem Groll, den er seinen ehemaligen Kameraden nach und nach eingeblasen hatte.

»Das ist der Bursche, den ich heute morgen angeworben habe«, erklärte Maheu. »Hast du eine Stube frei, und willst du ihm auf einen halben Monat Kredit einräumen?«

In Rasseneurs breitem Gesichte drückte sich sogleich großes Mißtrauen aus. Er musterte mit einem Blick Etienne und erwiderte, ohne das mindeste Bedauern zu bekunden:

»Unmöglich; meine beiden Stuben sind besetzt.«

Der junge Mann war auf diese Weigerung gefaßt; dennoch schmerzte sie ihn, und er war selbst erstaunt über den Verdruß, den ihm der Gedanke verursachte, sich wieder entfernen zu müssen. Doch er werde gehen, sobald er seine dreißig Sous habe, dachte er. Der Bergarbeiter, der einsam an einem Tische getrunken hatte, war fort; andere kamen einzeln, um sich die Kehle reinzufegen, und gingen dann mit den gleichen schaukelnden Schritten ihres Weges. Es war ein bloßes Ausspülen [78] ohne Genuß und Leidenschaft, die stumme Befriedigung eines Bedürfnisses.

»Also nichts Neues?« fragte der Wirt mit eigentümlicher Betonung Maheu, der in kleinen Schlucken sein Bier austrank.

Dieser wandte den Kopf und sah, daß Etienne allein da war.

»Es hat wieder einen Streit gegeben«, sagte er. »Ja, wegen der Verschalung.«

Er erzählte den Vorfall. Das Gesicht des Gastwirtes hatte sich gerötet; das Blut schoß ihm in die Wangen und schien durch Haut und Augen strömen zu wollen. Endlich brach er los:

»Wenn sie sich einfallen lassen den Lohn herabzusetzen, sind sie geliefert.«

Etienne war ihm im Wege. Indes fuhr er in seinen Reden fort, wobei er ihm mißtrauische Blicke zuwarf. Dabei gab es Vorbehalte und Zweideutigkeiten; er sprach vom Direktor, Herrn Hennebeau, von dessen Frau und Neffen, dem kleinen Negrel, ohne sie zu nennen; er wiederholte, daß es nicht so andauern könne, daß eines Tages alles in die Brüche gehen müsse. Das Elend sei zu groß; er nannte Fabriken, die den Betrieb einstellten, Arbeiter, die fortzogen. Seit einem Monate verschenke er täglich mehr als sechs Pfund Brot. Gestern habe man ihm erzählt, daß Herr Deneulin, der Eigentümer einer benachbarten Grube, nicht wisse, wie er durchhalten solle. Übrigens habe er aus Lille einen Brief voll beunruhigender Einzelheiten erhalten.

»Der Brief kommt von der Person, die du eines Abends hier gesehen hast«, sagte er in gedämpftem Ton zu Maheu.

Doch er wurde unterbrochen. Seine Frau trat ein, ein großes, mageres, leidenschaftliches Weib mit langer Nase und violett gefleckten Wangen. Sie war in Sachen der Politik weit radikaler als ihr Gatte.

»Der Brief Plucharts!« sagte sie. »Wenn er hier Herr wäre, würde bald alles besser gehen.«

[79] Etienne hörte seit einer Weile zu und begriff. Er begeisterte sich für diese Gedanken des Elends und der Vergeltung. Bei diesem plötzlich hingeworfenen Namen fuhr er zusammen und sagte laut wie unwillkürlich:

»Ich kenne Pluchart.«

Man schaute ihn an; er mußte hinzufügen:

»Ja, ich bin Maschinist; er war in Lille mein Werkführer ... Ein befähigter Mann; ich habe oft mit ihm gesprochen.«

Rasseneur betrachtete ihn von neuem, und in seinem Antlitz vollzog sich eine rasche Veränderung; ein Ausdruck der Teilnahme war in seinen Augen zu lesen. Endlich sagte er seiner Frau:

»Maheu hat mir diesen Herrn, seinen Schlepper, gebracht und gefragt, ob es für ihn bei uns nicht eine freie Stube und einen halbmonatlichen Kredit gebe.«

Die Angelegenheit war in wenigen Worten erledigt. Ein Zimmer war frei, der Mieter war eben diesen Morgen fort. Aber einmal im Zuge, ließ sich der Gastwirt immer mehr gehen und wiederholte, er wolle von den Besitzern nur das mögliche, ohne – wie so viele andere – Dinge zu fordern, die nur schwer bewilligt werden könnten. Seine Frau zuckte mit den Achseln; sie forderte unbedingt ihr Recht.

»Guten Abend denn«, unterbrach Maheu das Gespräch. »All dies wird nicht hindern, daß man in den Schacht einfährt, und solange man einfährt, wird es auch Leute geben, die daran zugrunde gehen ... Du bist ein kräftiger Junge geworden in den drei Jahren, die du nicht mehr unten arbeitest.«

»Ja, ich habe mich gut erholt«, erklärte Rasseneur selbstgefällig.

Etienne ging bis zur Tür und dankte dem Grubenarbeiter; doch dieser schüttelte nur den Kopf, ohne ein Wort mehr hinzuzufügen. Der junge Mann sah ihn mühsam den Weg zu dem Dorfe hinansteigen. Mit der Bedienung von Gästen beschäftigt, bat ihn Frau Rasseneur, sich einen Augenblick zu gedulden, bis sie ihn auf [80] seine Stube geleite, wo er sich waschen könne. Sollte er dableiben? Er ward wieder von einem Schwanken ergriffen, von einem Unbehagen, das ihn die Freiheit der Heerstraßen herbeisehnen ließ, das Hungern im Sonnenlicht, das er mit dem freudigen Bewußtsein ertrug, sein eigener Herr zu sein. Ihm war, als habe er Jahre verlebt seit seiner Ankunft bei dem Schacht, umbraust vom Sturm, bis zu den Stunden, die er unter der Erde, in den schwarzen Galerien auf dem Bauche herumkriechend, zugebracht hatte. Es widerstrebte ihm, dies alles noch einmal zu ertragen; es war ungerecht und zu hart; sein Mannesstolz empörte sich bei dem Gedanken, ein Tier zu sein, das man blendet und zu Tode hetzt.

Während Etienne so mit sich selbst kämpfte, irrten seine Augen über die endlose Ebene und fanden sich darin allmählich zurecht. Er war erstaunt; er hatte sich den Horizont nicht so vorgestellt, als der alte Bon nemort ihn, noch in Finsternis gehüllt, mit den Bewegungen seines Armes angedeutet hatte. Vor ihm lag allerdings der Voreuxschacht in einer Falte des Bodens mit den Holz- und Ziegelbauten, dem geteerten Sichtungswerk, dem mit Schiefer gedeckten Schachtturm, dem Maschinenraum und dem mattroten Schornstein, gedrückt und abstoßend. Rings um die Gebäude dehnte die Anlage sich aus, und er hätte sie sich nicht so geräumig gedacht, einem See von Tinte gleich wegen der wellenförmigen Massen der Kohlenvorräte, mit hohen Gerüsten, über welche die Schienen liefen, und mit dem Holzvorrat, der einen ganzen Winkel des Raumes einnahm, als habe man einen gefällten Wald dort abgelagert. Zur Rechten schnitt der Berg den Ausblick ab, kolossal wie eine Riesenbarrikade, auf dem alten, nicht mehr bebauten Teil schon mit Gras bedeckt, am andern Ende durch ein inneres Feuer verzehrt, das seit einem Jahre mit dichtem Rauche brannte und an der Oberfläche mitten in dem matten Grau des Schiefers und der Steine lange rote, rostige Streifen zurückließ. Darüber [81] hinaus zogen die Felder sich hin, endlose Getreide- und Gemüsefelder, zu dieser Jahreszeit ganz kahl; Sümpfe mit spärlichem Pflanzenwuchs, hier und da einige zwerghafte Weiden; ferne Wiesen, durch vereinzelte Pappelreihen voneinander getrennt. Kleine weiße Flecke in großer Entfernung zeigten die Lage von Städten an; im Norden Marchiennes, im Süden Montsou; im Osten schloß der Wald von Vandame mit der violetten Linie seiner kahlen Bäume den Horizont ab. Unter dem fahlen Himmel schien es in dem trüben Lichte dieses Winternachmittags, als habe alle Schwärze des Voreuxschachtes, all der fliegende Kohlenstaub sich auf der Ebene gelagert und die Bäume, die Straßen, den Erdboden überzogen.

Etienne schaute hinaus. Am meisten überraschte ihn ein Kanal, der korrigierte Scarpefluß, den er in der Nacht gar nicht gesehen hatte. Dieser Kanal lief in gerader Linie vom Voreuxschacht nach Marchiennes wie ein zwei Meilen langes Band von mattsilberner Farbe, eine Wasserstraße, die, von großen Bäumen eingesäumt, hoch jenseits des Tieflandes dahinfloß und sich in der Endlosigkeit verlor mit ihren grünen Böschungen und ihrem matt schillernden Wasser, in dem rot gestrichene Boote dahinglitten. In der Nähe der Kohlengrube befand sich ein Landungsplatz mit verankerten Lastschiffen, welche die auf die Brückenstege geschobenen Karren unmittelbar füllten. Dann machte der Kanal eine Biegung und durchschnitt quer die Sümpfe. Die ganze Seele der flachen Ebene schien in diesem in geometrisch genauen Linien dahinfließenden Wasser zu liegen, das sie wie eine Heerstraße durchzog, auf der Kohle und Eisen versandt wurden.

Die Blicke Etiennes wandten sich von dem Kanal dem Arbeiterdorfe zu, das auf der Hochebene erbaut war, und von dem er nur die roten Ziegeldächer sah. Dann wandten sie sich wieder dem Voreuxschachte zu und blieben am Fuße des lehmigen Abhanges an zwei riesigen Haufen von Ziegeln haften, die an Ort und[82] Stelle geformt und gebrannt wurden. Eine Abzweigung der gesellschaftlichen Eisenbahn verlief hinter einer Verplankung und diente den Zwecken der Kohlengrube. Die letzten Grubenarbeiter wurden hinabgelassen; ein einziger, von Männern geschobener Waggon rollte mit lautem Kreischen über die Schienen. Verflogen war die Unsicherheit der nächtlichen Finsternis, das unerklärliche Rollen, das Aufflammen unbekannter Gestirne. Die Hochöfen und Koksöfen in der Ferne waren mit der Morgendämmerung verblichen. Nur der Dampfstrom der Pumpe arbeitete fort mit lautem, langem Atem, dem Atem eines Ungeheuers, dessen grauen Qualm er jetzt zu unterscheiden vermochte, und das durch nichts besänftigt werden konnte.

Da entschied sich Etienne mit einem Schlage. Vielleicht hatte er die hellen Augen Katharinas da oben am Eingang des Arbeiterdorfes wiederzusehen geglaubt. Vielleicht war es nur ein Wind des Aufruhrs, der ihm vom Voreuxschachte zuwehte. Er wußte es nicht. Er wollte wieder in die Grube hinab, um zu leiden und zu kämpfen; in heftiger Aufwallung gedachte er der Leute, von denen Bonnemort gesprochen, des gesättigt dahockenden Gottes, dem zehntausend Hungernde ihr Fleisch gaben, ohne ihn zu kennen.

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Die Piolaine, die Besitzung der Familie Grégoire, lag zwei Kilometer von Montsou nach Osten an der nach Joiselle führenden Straße. Es war ein stilloses, großes, viereckiges Haus, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erbaut. Von dem Bodenbesitz, der ehemals dazugehört hatte, waren im ganzen dreißig Hektar verblieben, die mit einer Mauer umfriedet und leicht zu bewirtschaften waren. Der Obstgarten und der Gemüsegarten waren besonders berühmt, weil sie die schönsten Früchte und Gemüse der ganzen Gegend lieferten. Es fehlte der Park; ein Wäldchen sollte ihn ersetzen. Die Allee von alten Linden, ein Laubdach von dreihundert Meter Länge, zog sich vom Torgitter bis zur Auffahrt des Hauses und war eine Sehenswürdigkeit in dieser kahlen Ebene, wo es von Marchiennes bis Beaugnies nur wenige große Bäume gab.

Die Familie Grégoire war heute um acht Uhr aufgestanden. Sie waren Langschläfer und erhoben sich gewöhnlich erst eine Stunde später aus den Betten; allein der Sturm, der in der Nacht wütete, hatte sie herausgebracht. Während Herr Grégoire sogleich in den Garten ging, um zu sehen, ob der Sturmwind keinen Schaden angerichtet, begab sich die Frau des Hauses im Morgenkleide von weißem Flanell und in Pantoffeln nach der Küche. Sie war klein und dick, und obgleich schon achtundfünfzig Jahre alt, hatte ihr dickes Gesicht unter dem schimmernden Weiß des Haares einen kindlich-treuherzigen Ausdruck bewahrt.

»Melanie,« sagte sie der Köchin, »der Teig ist fertig; Sie können den Kuchen jetzt backen. Das Fräulein steht [84] nicht vor einer halben Stunde auf und ißt zu ihrer Schokolade davon ... Das wäre eine Überraschung, wie?«

Die Köchin, ein altes, mageres Weib, das seit dreißig Jahren im Hause diente, erwiderte lachend:

»Das ist wahr, es wäre eine schöne Überraschung ... Mein Herdfeuer brennt, die Bratröhre ist schon warm. Honorine wird mir übrigens behilflich sein.«

Honorine, ein Mädchen von zwanzig Jahren, von der Familie als verwahrlostes Kind aufgenommen und erzogen, diente jetzt als Stubenmädchen. Außer diesen beiden Mägden hatte man im Hause noch einen Kutscher namens Franz, der die groben Arbeiten zu besorgen hatte. Ein Gärtner und eine Gärtnerin hatten sich mit dem Obstgarten, dem Gemüsegarten und dem Hühnerhof zu beschäftigen. Der Haushalt war patriarchalisch; alle lebten in guter Freundschaft miteinander.

Frau Grégoire, die noch im Bett die Überraschung mit dem Kuchen ausgesonnen hatte, blieb in der Küche, um zu sehen, wie der Kuchen in den Ofen kam. Die Küche war riesig groß, und man merkte, daß sie eine bedeutsame Rolle im Hause spiele, an der außerordentlichen Reinlichkeit, die da herrschte, an der Menge Schüsseln, Geräte und Töpfe, die sie füllten. Es roch nach gesunder, guter Kost. Die Gesimse und Schränke waren voll von Vorräten jeder Art.

»Lassen Sie ihn schön goldgelb werden«, empfahl Frau Grégoire ihrer Köchin und begab sich dann in den Speisesaal.

Trotz der Warmluftheizung, die das ganze Haus erwärmte, brannte in diesem Saale ein lustiges Kohlenfeuer. Übrigens fehlte jeglicher Luxus: ein großer Tisch, die nötigen Sessel und ein Eßschrank von Mahagoni; bloß zwei tiefe Lehnsessel verrieten die Lust an Behaglichkeit, die langen Stunden zufriedener Verdauung. Man ging niemals in den Salon; man blieb hier, im Familienkreise.

[85] Eben kam Herr Grégoire, mit einer dicken Barchentjacke bekleidet, ins Haus zurück. Auch er sah rosig aus für seine sechzig Jahre, mit seinem schneeweißen Haar und seinen gütigen, rechtschaffenen Zügen. Er hatte den Gärtner und den Kutscher gesprochen; es war keinerlei namhafter Schaden entstanden, bloß ein Schornstein war vom Dache gestürzt. Es war ihm eine liebe Gewohnheit, jeden Morgen sich ein wenig in seiner Wirtschaft Piolaine umzutun, die nicht groß genug war, um ihm Sorgen zu verursachen, und an deren Besitz er seine Freude hatte.

»Steht denn Cäcilie heute nicht auf?« fragte er.

»Ich begreife es nicht«, antwortete seine Frau. »Mich dünkt, ich hörte sie schon sich bewegen.«

Der Frühstückstisch war gedeckt; drei Tassen standen auf der weißen Decke. Man schickte Honorine hinauf, daß sie nach dem Fräulein schaue. Doch sie kam sogleich wieder herunter, unterdrückte ein Lachen und dämpfte ihre Stimme, als spräche sie oben im Zimmer des Fräuleins.

»Ach, gnädiger Herr und gnädige Frau! ... Wenn Sie das Fräulein sähen! ... Sie schläft! ... Sie schläft wie das Jesuskind! ... Sie können es sich nicht vorstellen ... Es ist ein Vergnügen, sie zu sehen ...«

Der Vater und die Mutter tauschten gerührte Blicke aus.

»Wollen wir schauen?« fragte er.

»Das liebe Kind!« murmelte sie. »Komm!«

Sie gingen zusammen hinauf. Dies Zimmer war das einzige im Hause, das mit einigem Luxus eingerichtet war, mit blauen Seidenbezügen und weißen Lackmöbeln. Die Eltern hatten dieser Laune ihres verhätschelten Kindes nachgegeben. In der verschwimmenden Weiße des Bettes, in dem Zwielicht, das durch den Spalt des Vorhanges auf das Lager fiel, schlief das Mädchen, eine Wange auf den nackten Arm gelehnt. Sie war nicht schön, zu frisch, zu gesund, reif mit achtzehn Jahren; aber sie hatte herrliches Fleisch, weiß wie [86] Milch, kastanienbraunes Haar, ein rundes Gesicht mit keckem Näschen, das sich schier zwischen den Wangen verlor.

»Der böse Wind hat sie gewiß gehindert, die Augen zu schließen«, bemerkte die Mutter leise.

Der Vater winkte ihr, daß sie schweige. Beide neigten sich vor und betrachteten mit zärtlicher Liebe die in jungfräulicher Reinheit daliegende Tochter, die sie so lange ersehnt und erst spät bekommen hatten, als sie kaum mehr auf ein Kind zu hoffen wagten. Sie fanden sie vollkommen, nicht zu dick, nie gut genug ernährt. Sie schlief noch immer und ahnte nicht, daß sie da seien und mit ihren Wangen sie fast berührten. Doch jetzt zog ein leichter Schatten über ihr unbewegliches Gesicht. Sie zitterten, daß sie erwachen könne, und gingen auf den Fußspitzen hinaus.

»Still!« sagte Herr Grégoire bei der Tür. »Wenn sie nicht geschlafen hat, muß man sie schlummern lassen.«

»Solange sie will, das liebe Kind«, erwiderte die Mutter. »Wir werden warten.«

Sie gingen in den Speisesaal hinunter und ließen sich in den Lehnsesseln nieder, während die Mägde, über den tiefen Schlaf des Fräuleins lachend, ohne Murren die Schokolade warm stellten. Er hatte eine Zeitung zur Hand genommen; sie strickte eine wollene Fußdecke. Es war sehr warm in dem Gemach; kein Laut kam aus dem stillen Hause.

Das Vermögen der Grégoire, ungefähr vierzigtausend Franken Rente, bestand allein in einer einzigen Aktie der Bergwerke von Montsou. Sie erzählten gern von seinem Ursprung, der in die Zeit der Gründung der Gesellschaft fiel.

Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war in der ganzen Gegend von Lille bis Valenciennes eine wahres Fieber der Kohlenschürfungen ausgebrochen. Die Erfolge der Unternehmer, die später die Gesellschaft von Auzin bilden sollten, hatten alle Köpfe erhitzt. In der Gemeinde wurde das Erdreich durchwühlt; Gesellschaften [87] wurden gegründet, die Unternehmungen wuchsen über Nacht empor. Doch unter allen hartnäckigen Kämpfern jener Zeit hatte der Baron Desrumeaux sicherlich den Ruf des scharfsinnigsten und unermüdlichsten hinterlassen. Vierzig Jahre lang hatte er gerungen, ohne zu ermüden, trotz unaufhörlicher Fehlschläge; die ersten Schürfungen waren vergeblich; neue Gruben wurden angelegt und nach monatelanger Arbeit wieder verlassen; Einstürze verschütteten die Schächte, Zechen ertranken, Arbeiter gingen dabei zugrunde, Hunderttausende von Franken wurden in die Erde vergraben. Dann kamen die Verdrießlichkeiten der Verwaltung, die Angst der Aktionäre, der Kampf mit den Grundeigentümern, die entschlossen waren, die königlichen Unternehmungen nicht anzuerkennen, wenn man sich weigere, vorher mit ihnen zu unterhandeln. Endlich gründete er die Gesellschaft Desrumeaux, Franquenoix & Cie., um das Unternehmen von Montsou auszubeuten. Die Gruben begannen einen mäßigen Ertrag zu liefern, als zwei benachbarte Unternehmen von Cougny, Eigentum des Grafen von Cougny, und von Joiselle, Eigentum der Gesellschaft Cornille & Jenard, die Gruben der Gesellschaft Desrumeau mit ihrer furchtbaren Konkurrenz zu erdrücken drohten. Glücklicherweise kam am 25. August 1760 ein Vertrag zwischen den drei Unternehmungen zustande und vereinigte sie. Die Gesellschaft der Gruben von Montsou war gegründet, wie sie bis auf den heutigen Tag besteht. Man hatte den ganzen Besitz nach dem damaligen Münzfuße in vierundzwanzig Sous zerlegt; jeder Sou zerfiel in zwölf Denare; das machte zweihundertachtundachtzig Denare. Da jeder einen Wert von zehntausend Franken hatte, repräsentierte das Kapital eine Summe von nahezu drei Millionen. Desrumeaux, am Ende seiner Kräfte, aber dennoch Sieger, bekam bei der Teilung sechs Sous und drei Denare.

Zu jener Zeit besaß der Baron das Gut Piolaine, zu dem dreihundert Hektar Boden gehörten. Als Verwalter [88] stand Honorius Grégoire in seinen Diensten, ein aus der Pikardie stammender junger Mann. Dieser Grégoire war der Urgroßvater unseres Léon Grégoire, des Vaters von Cäcilie. Als der Vertrag von Montsou zustande kam, besaß Honorius fünfzigtausend Franken Ersparnisse, die er in einem Strumpfe verborgen hielt. Von der unerschütterlichen Zuversicht seines Gebieters angesteckt, holte er zehntausend Franken aus dem Strumpfe und erwarb einen Denar. Er zitterte dabei vor Angst, daß er seine Kinder berauben könne. Sein Sohn Eugen bezog in der Tat sehr magere Dividenden; da er ein Spießbürger war und überdies die Torheit begangen hatte, die anderen vierzigtausend Franken des väterlichen Erbes in einer unglücklichen Geschäftsunternehmung zu verschleudern, führte er ein ziemlich dürftiges Leben. Doch der Zinsertrag des Denars stieg allmählich; die Wohlhabenheit begann mit Felix; ihm gelang es, einen Traum zu verwirklichen, den sein Großvater, der ehemalige Verwalter, seit seiner Kindheit gehegt hatte; er konnte die zum Nationalgut erklärte und zerstückelte Besitzung Piolaine um einen Pappenstiel an sich bringen. Die folgenden Jahre waren jedoch ungünstig; es galt den revolutionären Umsturz und das blutige Ende Napoleons zu überdauern. So zog erst Léon Grégoire in erstaunlicher Steigerung die Vorteile aus der zaghaften Kapitalsanlage seines Vorfahren. Mit dem Gedeihen der Gesellschaft wuchsen und gediehen auch diese armseligen zehntausend Franken. Seit dem Jahre 1820 trugen sie hundert Prozent, das sind zehntausend Franken, im Jahre 1850 vierzigtausend Franken; vor zwei Jahren endlich war die Dividende auf fünfzigtausend Franken gestiegen; der Wert eines Denars, auf der Börse zu Lille mit einer Million gehandelt, war in einem Jahrhundert auf das Hundertfache gestiegen.

Herr Grégoire, dem man bei dem Kurse von einer Million geraten hatte, seinen Anteil zu verkaufen, hatte mit lächelnder und väterlicher Miene diesen Rat zurückgewiesen. [89] Sechs Monate später brach eine Industriekrise aus, und der Denar sank auf sechsmalhunderttausend Franken. Doch er lächelte noch immer und bedauerte nichts, denn die Grégoires hatten ein beharrliches Vertrauen zu ihrem Bergwerk. Die Aktien würden sicher wieder steigen. Zu dieser Zuversicht gesellte sich übrigens auch eine tiefe Dankbarkeit gegen einen Wert, der seit einem Jahrhundert die Familie so schön ernährte, daß sie die Hände in den Schoß legen konnte. Dieser Wert war gleichsam ihre Gottheit, die ihr Egoismus mit einem Kultus umgab, der Wohltäter der Familie, die in einem breiten Bett der Trägheit ruhte, sich an einer vollbesetzten Tafel mästete. Das Vertrauen ging vom Vater auf den Sohn über: warum das Schicksal durch Zweifel erzürnen? Auf dem Grunde ihrer Treue lauerte allerdings ein abergläubischer Schrecken, die Furcht, daß die Million plötzlich zerfließen könne, wenn sie ihren Anteil zu Geld machten und es in den Schrank legten. Sie hielten ihren Schatz für besser gehütet in der Erde, aus der ein Heer von Arbeitern, Geschlechter von Hungrigen, ihn für sie heraufholten, jeden Tag etwas, je nach ihren Bedürfnissen.

Übrigens flossen Glück und Segen reichlich auf dies Haus nieder. Herr Grégoire hatte in jugendlichem Alter die Tochter eines Apothekers von Marchiennes geheiratet, ein häßliches Fräulein ohne einen Sou, das er anbetete, und das ihm alle Glückseligkeit ersetzte. Sie hatte sich in ihrer Häuslichkeit eingeschlossen, lebte in ewigem Entzücken an der Seite ihres Gatten, hatte keinen andern Willen als den seinigen; niemals hatte eine Verschiedenheit des Geschmacks sie getrennt; dasselbe Ideal der Wohlanständigkeit vereinigte sie; so lebten sie seit vierzig Jahren in Zärtlichkeit und Sorge füreinander. Es war ein geregeltes Dasein; die vierzigtausend Franken wurden in Ruhe verzehrt, die Ersparnisse für Cäcilie aufgewandt, deren spätes Kommen einen Augenblick ihre Berechnungen ins Schwanken [90] brachte. Auch heute noch befriedigten sie jede ihrer Launen: ein zweites Pferd, noch zwei Wagen, Toiletten aus Paris. Das machte ihnen Freude; sie fanden nichts zu schön für ihre Tochter, während sie selbst solchen Widerwillen gegen jeden Prunk empfanden, daß sie an den Moden ihrer Jugend festhielten. Jede Ausgabe für sich, die keinen Vorteil brachte, schien ihnen unsinnig.

Plötzlich ging die Tür auf, und eine kräftige Stimme rief:

»Was heißt das? Man frühstückt ohne mich?«

Es war Cäcilie, die eben aus dem Bett kam, die Augen noch voll Schlaf. Sie hatte in aller Eile ihr Haar aufgesteckt und war in einen Frisiermantel von weißem Wollstoff geschlüpft.

»Nein,« sagte die Mutter, »du siehst ja, daß man auf dich gewartet hat ... Der Wind hat dich wohl in der Nachtruhe gestört, mein armes Kind?«

Das Mädchen schaute sie sehr erstaunt an.

»Wie? War es heute nacht stürmisch? ... Ich weiß nichts davon; ich habe mich nicht gerührt.«

Dies schien ihnen so komisch, daß alle drei zu lachen begannen; die Mägde, die das Frühstück brachten, lachten mit, belustigt von dem Gedanken, daß das Fräulein zwölf Stunden in einem Zuge geschlafen habe. Der Anblick des Kuchens tat das seinige, alle Gesichter vollends zu erheitern.

»Wie? Der Kuchen ist schon fertig?« rief Cäcilie wiederholt. »Da hat man mir eine Falle gelegt ... Ach, er ist noch ganz warm ... Wie gut wird sich das zur Schokolade essen lassen! ...«

Endlich setzten sie sich zu Tisch; die Schokolade dampfte in den Tassen; man sprach lange nur von dem Kuchen. Melanie und Honorine blieben da und erzählten, wie schön er sich gebacken habe; sie betrachteten ihre Gebieter, die mit fetten Lippen stopften, und meinten, es sei ein Vergnügen, einen Kuchen zu backen, wenn man sehe, wie die Herrschaft ihn so gern esse.

[91] Doch jetzt begannen die Hunde laut zu bellen; man glaubte, sie verkündeten die Ankunft der Klavierlehrerin, die jeden Montag und Freitag von Marchiennes kam. Auch ein Professor für Literatur wurde gehalten. Die ganze Ausbildung des Mädchens ging in der Piolaine selbst vor sich, in glücklicher Unwissenheit, unter tausend Launen eines Kindes, welches das Buch zum Fenster hinauswarf, wenn es eine Frage langweilte.

»Es ist Herr Deneulin«, meldete Honorine.

Deneulin, ein Vetter des Herrn Grégoire, folgte ihr auf dem Fuße, ohne Umstände und sehr geräuschvoll, lebhaft wie ein Kavallerieoffizier. Obgleich er die Fünfzig schon hinter sich hatte, waren seine kurzgeschorenen Haare und sein Schnurrbart schwarz wie Tinte.

»Ja, ich bin's. Guten Morgen! ... Laßt euch nicht stören!«

Er nahm Platz, während die Familie sich dagegen verwahrte, daß er sie stören könne. Sie fuhren fort, ihre Schokolade zu trinken.

»Hast du mir vielleicht etwas zu sagen?« fragte Herr Grégoire.

»Nein, nichts«, beeilte sich Herr Deneulin zu antworten. »Ich bin ausgeritten, um mir ein wenig Bewegung zu machen, und wollte nicht an eurer Tür vorbei, ohne euch guten Tag zu sagen.«

Cäcilie fragte nach seinen Töchtern: Johanna und Luzie. Sie befanden sich vollkommen wohl; die eine saß unablässig bei ihrer Malerei, während die andere, die ältere, vom Morgen bis zum Abend am Klavier hockte und ihre Stimme übte. Während er dies sagte, zitterte seine Stimme leicht, und seine geräuschvolle Heiterkeit verdeckte nur unvollkommen sein Unbehagen.

»Und wie geht's mit der Grube?« fragte Herr Grégoire weiter.

»Mein Gott! Die dumme Krise trifft mich genau wie die andern ... Wir büßen jetzt für die guten Jahre! Man hat in der Hoffnung auf eine ungeheure Produktion zuviel Fabriken, zuviel Eisenbahnen gebaut, zu große [92] Kapitalien festgelegt. Heute verkriecht sich das Geld; man findet nicht mehr genug, um den ungeheuren Betrieb aufrechtzuerhalten. Glücklicherweise ist nicht alles verloren, und ich werde mich schon durch kämpfen.«

Gleich seinem Vetter hatte auch er einen Anteil der Kohlengruben von Montsou geerbt. Doch er, der unternehmende Ingenieur, hatte sich aus Gier nach königlichem Reichtum beeilt zu verkaufen, als der Anteil auf den Wert einer Million gestiegen war. Monatelang erwog er einen Plan. Seine Frau hatte von einem Oheim das kleine Grubenunternehmen von Vandame geerbt, mit nur zwei Schächten, Jean-Bart und Gaston-Marie, in einem so verwahrlosten Zustande, so kläglich ausgerüstet, daß ihr Betrieb kaum die Kosten deckte. Sein Plan war, Jean-Bart instand zu setzen, den Zufahrtsschacht zu erweitern, damit mehr Leute einfahren könnten, während der Schacht Gaston-Marie bloß der Kohlenförderung dienen sollte. Das Geld müsse in Scheffeln zu holen sein, meinte er. Der Plan war richtig: allein er hatte die Million aufgezehrt, und diese unglückselige Industriekrise brach in dem Augenblick aus, da die Erträgnisse der Grube ihn hätten sanieren können. Er war überdies ein schlechter Verwalter, hatte plötzliche Anwandlungen von Güte seinen Arbeitern gegenüber und ließ sich ausplündern, seitdem seine Frau tot war. Auch ließ er seinen Töchtern volle Freiheit; die ältere sprach davon, zum Theater zu gehen, die jüngere hatte sich im Salon schon drei Bilder zurückweisen lassen; übrigens bewahrten beide ihre gute Laune. Inmitten des Zusammenbruches ihres Hauses und angesichts der drohenden Armut entpuppten sich beide als sehr gute Haushälterinnen.

»Siehst du, Léon,« fuhr er mit zögernder Stimme fort, »du hattest unrecht, nicht zu verkaufen, als ich es tat. Jetzt sinken alle Aktien im Werte, du kannst hinterdreinlaufen ... Hättest du mir dein Geld anvertraut, dann hättest du gesehen, was wir aus Vandame gemacht hätten.«

[93] Herr Grégoire trank bedächtig seine Schokolade. Als er damit fertig war, antwortete er ruhig:

»Niemals! ... Du weißt ja, ich mag nicht spekulieren. Ich lebe ruhig und wäre dumm, wollte ich mir den Kopf mit Geschäftssorgen zerbrechen. Was Montsou betrifft, so mögen die Aktien noch weiter im Werte sinken, wir werden unsere Bedürfnisse doch immer gedeckt sehen. Man muß es nicht gar zu fein haben wollen, zum Teufel! Übrigens sage ich dir, du beißt dir eines Tages in die Finger, denn Montsou wird sich wieder heben, und noch Cäciliens Kindeskinder werden ihr gutes Auskommen haben.«

Deneulin hörte ihm mit verlegenem Lächeln zu.

»Wenn ich dir also vorschlagen würde,« murmelte er, »hunderttausend Franken in meinem Unternehmen anzulegen, würdest du ablehnen?«

Angesichts der bestürzten Gesichter der Familie Grégoire bedauerte er seine Sache überhastet zu haben; er verschob diesen Anleiheplan auf ein anderes Mal, wenn die Lage sich noch mehr verschlimmern sollte.

»Ich bin noch nicht soweit, es war nur ein Scherz«, sagte er. »Mein Gott! Du hast vielleicht recht: von dem Gelde, das andere für uns erworben, wird man am sichersten fett.«

Man sprach jetzt von etwas anderem. Cäcilie fragte wieder nach ihren Basen, deren künstlerische Neigungen sie interessierten, wenngleich sie ihr mißfielen. Frau Grégoire versprach, an dem nächsten sonnigen Tage mit ihrer Tochter die lieben Kinder zu besuchen. Indes war Herr Grégoire zerstreut und nicht bei der Sache. Er bemerkte laut:

»Ich an deiner Stelle würde den eigensinnigen Widerstand aufgeben und in Unterhandlungen mit der Gesellschaft von Montsou eintreten. Diese verlangt nichts anderes, und du würdest wieder zu deinem Gelde kommen.« Er spielte damit auf die alte Freundschaft an, die zwischen dem Unternehmen von Montsou und von Vandame bestand. Obgleich das letztere wenig Bedeutung [94] hatte, ärgerte sich die mächtige Nachbarin, weil sie zwischen ihre siebenundsechzig Gemeinden diese Geviertmeile eingekeilt sah, die nicht ihr gehörte; nachdem sie vergeblich den Versuch gemacht hatte, das Unternehmen Vandame totzumachen, rechnete sie jetzt darauf, es zu einem niedrigen Preis an sich zu bringen, da es sich in Nöten befand. Es war ein Krieg ohne Waffenruhe; die beiden Betriebe näherten ihre Galerien nicht weiter als bis auf zweihundert Meter; es war ein Zweikampf bis zur Erschöpfung, wenngleich die Direktoren und Ingenieure freundschaftlichen Verkehr miteinander pflogen.

Jetzt flammten die Augen Deneulins auf.

»Niemals!« rief er. »Solange ich lebe, soll Montsou Vandame nicht haben ... Ich habe Donnerstag bei Hennebau gespeist und wohl bemerkt, daß er wieder an mich heran wollte. Schon im vorigen Herbst, als die Spitzen der Verwaltung da waren, um die Gruben zu besichtigen, legte man mir allerhand Köder ... Ja, ja, ich kenne sie, diese Marquis und diese Herzöge, diese Generale und diese Minister! Lauter Räuber, die einem das letzte Hemd nehmen möchten!«

Er wurde nicht müde, über diese Leute zu schimpfen. Herr Grégoire nahm übrigens nicht die Verwaltung von Montsou in Schutz, die im Sinne des Vertrages vom Jahre 1760 eingesetzten sechs Geschäftsleiter, welche die Gesellschaft mit unumschränkter Gewalt regierten, und deren fünf, wenn einer starb, ein neues Mitglied unter den reichen Großaktionären wählten. Der Besitzer von Piolaine mit seinen vernünftigen Ansichten war der Meinung, daß diese Herren in ihrer übertriebenen Geldgier zuweilen jede Grenze überschritten.

Inzwischen hatte Melanie den Tisch abgeräumt. Draußen begannen die Hunde wieder zu bellen, und Honorine wandte sich zur Tür, um nachzusehen; doch Cäcilie, der es in dem Zimmer nach dem Frühstück zu warm wurde, stand auf und rief der Magd zu:

»Nein, laß nur; es wird die Lehrerin sein.«

[95] Deneulin hatte sich gleichfalls erhoben. Er blickte dem Mädchen nach und fragte lachend, als sie draußen war:

»Wird etwas aus der Heirat mit dem kleinen Negrel?«

»Es ist noch nichts bestimmt«, antwortete Frau Grégoire ... »Ein Gedanke, der noch erwogen werden müßte.«

»Gewiß«, rief er mit einem vielsagenden Lachen. »Ich glaube, daß zwischen dem Neffen und der Tante ... Mich nimmt am meisten wunder, daß Frau Hennebeau selbst Cäcilie gegenüber so liebenswürdig tut.«

Doch Herr Grégoire widersprach der angedeuteten Vermutung. Eine so vornehme Dame und vierzehn Jahre älter als der junge Mann! Das sei ungeheuerlich; er liebe nicht, daß man mit solchen Gegenständen Spaß treibe. Deneulin lachte noch immer und drückte ihm die Hand zum Abschied.

»Es ist wieder nicht die Lehrerin«, sagte Cäcilie zurückkehrend. »Es ist die Frau mit den zwei Kindern ... Du weißt wohl, Mama, die Grubenarbeiterfrau, die wir neulich getroffen haben ... Soll man sie hereinlassen?«

Man zögerte eine Weile. Waren sie sehr schmutzig? Nein, nicht zu sehr; auch ließen sie ihre Holzschuhe draußen. Vater und Mutter hatten sich schon in ihren großen Lehnsesseln ausgestreckt, um zu verdauen. Die Scheu vor einem Luftwechsel brachte die Entscheidung.

»Honorine, lassen Sie sie eintreten.«

Frau Maheu und ihre Kinder traten ein, frierend und hungernd, von ängstlicher Scheu ergriffen, in dies Gemach, wo es so warm war und so gut nach Kuchen roch.

[96] Zweites Kapitel

In die enge Stube drangen allmählich graue Lichtstreifen ein, die sich an der Decke fächerartig entfalteten. Die eingeschlossene Luft wurde immer drückender. Alle setzten ihren nächtlichen Schlaf fort, Leonore und Heinrich einander in den Armen liegend, Alzire mit zurückgesunkenem Haupte, auf ihren Höcker gestützt, während Vater Bonnemort für sich allein im Bett von Zacharias und Johannes mit offenem Munde schnarchte. Kein Laut kam aus dem Zimmer, wo Frau Maheu wieder eingeschlafen war, während Estelle im Arm der Mutter lag.

Auf der Kuckucksuhr in der unteren Stube schlug es sechs. Längs der Häuserreihen des Arbeiterdorfes hörte man Türen auf- und zugehen, dann das Klappern der Holzschuhe auf dem Pflaster der Fußsteige: die Sichterinnen begaben sich zur Grube. Dann wurde es wieder still bis sieben Uhr. Um diese Stunde wurden die Fensterläden geöffnet, man hörte gähnen und husten durch die Mauern, eine Kaffeemühle knirschte lange; in der Stube aber wollte noch immer niemand wach werden.

Doch bei einem Geräusch von Maulschellen und einem Geheul, das aus der Ferne kam, richtete Alzire sich plötzlich in die Höhe. Sie merkte sogleich, wie spät es sei, und eilte mit nackten Füßen zum Lager der Mutter, um sie aufzurütteln.

»Mutter, Mutter, es ist spät, und du hast einen Gang zu machen! ... Gib acht, du wirst Estelle erdrücken!«

»Bei Gott!« brummte die Frau und rieb sich die Augen; »man ist so matt, daß man den ganzen Tag schlafen möchte ... Kleide Leonore und Heinrich an, ich nehme sie mit. Hab' acht auf Estelle; ich will sie hierlassen, sie könnte bei diesem Hundewetter krank werden.«

Sie wusch sich in aller Hast, warf einen alten blauen Rock, ihren besten, über und hüllte sich in ein Tuch [97] von grauem Wollstoff, auf das sie gestern erst zwei Flecke gemacht hatte.

»Und Suppe soll ich kochen! Mein Gott, mein Gott! ...« brummte sie von neuem.

Während ihre Mutter, alles beiseiteschiebend, hinunterging, kehrte Alzire in die Stube zurück und nahm Estelle mit, die wieder zu heulen begonnen hatte. Sie war an das Geschrei der Kleinen schon gewöhnt; mit acht Jahren war sie schon klug wie eine Frau, wenn es galt, das Kind zu beruhigen und zu zerstreuen. Sie legte sie sacht in ihr noch warmes Bett und schläferte sie wieder ein, indem sie ihr einen Finger in den Mund steckte. Es war Zeit, denn neuer Lärm brach los. Sie mußte Frieden stiften zwischen Leonore und Heinrich, die endlich erwachten. Diese Kinder vertrugen und halsten sich nur, wenn sie schliefen. Das sechsjährige Mädchen fiel über das Brüderchen her, sobald es erwachte, und prügelte das um zwei Jahre jüngere Knäblein, das die Püffe nicht erwidern konnte. Beide hatten denselben zu groß geratenen, aufgetriebenen Kopf voll struppiger, gelber Haare. Alzire mußte ihre Schwester bei den Füßen zerren und ihr drohen, daß sie sie gründlich verprügeln werde. Dann gab es ein Stampfen und Schreien wegen des Waschens und bei jedem Kleidungsstück, das sie ihnen anlegte. Man ließ die Fensterläden geschlossen, um den Schlaf des Vaters Bonnemort nicht zu stören. Doch er schnarchte fort inmitten des greulichen Lärmes der Kinder.

»Das Frühstück ist fertig. Kommt ihr endlich herunter?« rief Frau Maheu.

Sie hatte unten die Fensterläden geöffnet, das Feuer geschürt und Kohle zugelegt. Sie hatte gehofft, daß der Alte nicht alle Suppe verschlungen habe; allein sie fand den Topf leer. Deshalb ließ sie eine Hand voll Nudeln aufkochen, die sie seit drei Tagen in Vorrat gehalten. Man werde sie ohne Butter essen, so wie sie aus dem Wasser kommen, dachte sie; von dem Butterrest, der gestern noch da war, sei wohl nichts geblieben. [98] Zu ihrer Überraschung fand sie aber, daß Katharina, nachdem sie die »Ziegel« zurechtgemacht, noch ein faustgroßes Stückchen übriggelassen hatte. Der Speiseschrank jedoch war leer: nichts, nicht das kleinste Krümchen Brot, kein Knochen zum Abnagen. Was sollten sie anfangen, falls der Krämer Maigrat ihnen den Kredit verweigerte und die Spießbürger in der Piolaine ihr keine hundert Sous gaben? Wenn die Mannsleute und das Mädchen von der Grube zurückkommen, müssen sie doch essen; denn man habe leider noch kein Mittel erfunden, wie man leben könne, ohne zu essen.

»Kommt ihr endlich?« rief sie zornig. »Ich hätte schon fort sein sollen.«

Als Alzire und die kleineren Kinder da waren, verteilte sie die Nudeln auf drei kleine Teller. Sie selbst habe keinen Hunger, sagte sie. Obgleich Katharina den Kaffeesatz von gestern schon einmal aufgegossen hatte, schüttete sie noch mehr Wasser darüber und trank zwei große Gläser von diesem Kaffee, der so dünn war, daß er Rostwasser glich. Es werde ihr schon Leib und Seele zusammenhalten, meinte sie.

»Höre,« sagte sie wiederholt zu Alzire, »du läßt deinen Großvater schlafen und gibst acht, daß Estelle nicht aus dem Bett fällt; wenn sie erwachen und zu stark schreien sollte, hast du da ein Stück Zucker, das du im Wasser löst; davon gibst du ihr einige Löffel voll ... Ich weiß, du bist klug und wirst den Zucker nicht essen.«

»Und die Schule, Mama?«

»Die Schule bleibt für einen andern Tag ... Ich brauche dich heute.«

»Soll ich die Suppe machen, wenn du spät kommst?«

»Die Suppe, die Suppe ... Warte damit, bis ich komme.«

Mit der Altklugheit eines verkrüppelten Mädchens begabt, wußte Alzire sehr gut die Suppe zu bereiten. Sie schien indes die Mutter zu verstehen und drang nicht weiter in sie. Jetzt war das ganze Arbeiterdorf[99] erwacht; die Kinder gingen scharenweise zur Schule, man hörte das Geklapper ihrer Überschuhe. Es schlug acht Uhr; bei den Levaque, den linksseitigen Nachbarn, wurde das Gespräch immer lauter. Der Werktag der Frauen begann; sie standen bei ihren Kaffeetöpfen, die Fäuste auf die Hüften gestemmt, die Zungen in ewiger Bewegung wie Mühlsteine. Ein welker Kopf mit dicken Lippen und platter Nase erschien draußen am Fenster und rief:

»Hör' einmal, es gibt was Neues!«

»Nein, nein, später!« erwiderte Frau Maheu. »Ich habe einen Gang zu machen.«

In der Angst, dem Anerbieten, ein Glas heißen Kaffee zu nehmen, nicht widerstehen zu können, trieb sie Leonore und Heinrich zur Eile an und brach mit ihnen auf. Vater Bonnemort oben schlief weiter; sein gleichmäßiges Schnarchen hallte durch das Haus.

Draußen sah Frau Maheu mit Überraschung, daß der Wind aufgehört hatte. Plötzliches Tauwetter war eingetreten; der Himmel war fahl, auf den Mauern lag eine grünliche, klebrige Feuchtigkeit, die Straßen waren mit Schmutz bedeckt, der dieser Kohlengegend eigentümlich war, schwarz wie flüssiger Ruß, dick und zäh, daß die Schuhe darin steckenblieben. Sie mußte sogleich Leonore ohrfeigen, die sich den Spaß machte, mit ihren Schuhen den Schlamm aufzuheben wie mit der Spitze einer Schaufel. Als sie aus dem Dorfe waren, gingen sie längs des Kohlenlagers und Kanals dahin und, um den Weg abzukürzen, quer durch Feldwege zwischen allerlei wüstem Terrain, das mit alten, moosbedeckten Planken eingefriedet war. Es folgten Schuppen, langgestreckte Fabrikgebäude, hohe Schlote, die Ruß spien und diese ganze wüste Landschaft, diese Fabrikumgebung, besudelten. Hinter einem Pappeldickicht sah man die Ruinen des alten, verlassenen Réquillartschachtes mit dem eingestürzten Aufzugsturm, dessen roh gezimmertes Gebälk allein aufrecht geblieben war. Frau [100] Maheu wandte sich jetzt rechts und betrat die Heerstraße.

»Wart', schmutziges Schwein, ich werde dich lehren Kugeln machen!« rief sie.

Dies galt Heinrich, der eine Handvoll Schmutz aufgehoben hatte, den er knetete. Die beiden Kinder, von der Mutter gleichmäßig gezüchtigt, hielten nun Ordnung und begnügten sich, nach den runden Löchern zu schielen, die ihre Tritte im Schmutz zurückließen. So trotteten sie dahin, schon müde von den Anstrengungen, die sie machen mußten, um ihre Schuhe aus dem klebrigen Schmutz zu heben.

Die Straße nach Marchiennes zog sich zwischen rötlichen Feldern zwei Meilen lang dahin, geradeaus wie ein in Wagenschmiere getränktes Band. Auf der andern Seite schlängelte sich der Weg durch Montsou, das auf dem Rücken einer breiten Erhöhung lag. Diese Straßen im Norden, wie mit der Schnur zwischen den Industriestädten gezogen, in sanften Krümmungen und leichten Steigungen sich hinziehend, wurden nach und nach gebaut, gleichsam um aus dem Bezirk eine einzige Arbeiterstadt zu machen. Kleine Häuschen, aus Ziegeln erbaut und zur Aufheiterung der reizlosen Umgebung bemalt – die einen gelb, die andern blau, wieder andere schwarz, die letzteren ohne Zweifel deshalb, um sogleich bei dem schließlich doch unvermeidlichen Schwarz anzulangen –, schlängelten sich rechts und links den Abhang hinunter. Einige größere, zweistöckige Häuser, Wohnungen von Fabrikleitern, unterbrachen die gedrängte Zeile schmaler Häuserfronten. Eine Kirche, gleichfalls aus Ziegeln erbaut, glich einem neuartigen Hochofen mit ihrem viereckigen Turm, den der fliegende Kohlenstaub schon dunkel gefärbt hatte. Zwischen den Zuckerfabriken, Seilereien und Mühlen waren Tanzböden, Schenken, Bierstuben; auf tausend Häuser kamen fünfhundert Schenken.

Als sie sich dem gesellschaftlichen Werkhofe näherten – einem umfangreichen Komplex von Magazinen [101] und Arbeitsstätten –, entschloß sich Frau Maheu, die Kinder rechts und links bei der Hand zu nehmen. Jenseits des Werkplatzes stand die Behausung des Direktors, Herrn Hennebeau; es war eine Art Schweizerhaus, geräumig, nach der Straße hin durch ein Gitter abgeschlossen, mit einem Gärtchen davor, in dem einige Bäume ein kümmerliches Dasein fristeten. Eben hielt ein Wagen vor dem Tore; ein mit Orden geschmückter Herr und eine in einen Pelzmantel gehüllte Dame stiegen aus. Sie waren aus Paris zu Besuch gekommen und hatten in Marchiennes die Eisenbahn verlassen. Frau Hennebeau, die in dem Halbdunkel des Flurs erschien, stieß einen Ruf der Überraschung und der Freude aus.

»Vorwärts, ihr Schlafmützen!« brummte Frau Maheu und zog die beiden Kleinen mit sich fort, die sich im Straßenschmutz vergafften.

Vor dem Laden Maigrats war sie in großer Aufregung. Maigrat wohnte neben dem Direktor; bloß eine Mauer trennte das Haus des Direktors von dem Häuschen Maigrats. Dieser hatte auch ein Magazin, ein langes Gebäude, das sich in einem Laden ohne Fenster unmittelbar auf die Straße öffnete. Er hielt alles feil, Gewürze, Würste, Fleisch, Früchte, Brot, Bier, Küchengeräte. Als ehemaliger Aufseher im Voreuxschachte hatte er mit einer kleinen Kantine den Anfang gemacht; dank dem Schutze seiner Vorgesetzten hatte sein Handel zugenommen und nach und nach alle Kleinkrämer in Montsou erdrückt. Er monopolisierte den Handel, die bedeutende Kundschaft der Arbeiterdörfer gestattete ihm, wohlfeiler zu verkaufen und größere Kredite zu gewähren. Übrigens war er ganz in der Hand der Gesellschaft geblieben, die ihm sein Häuschen und sein Magazin erbaut hatte.

»Ich bin wieder da, Herr Maigrat«, sagte die Maheu untertänig, als sie ihn auf der Türschwelle erblickte.

Er schaute sie an, ohne zu antworten. Er war dick, von kühler Höflichkeit und bildete sich etwas darauf[102] ein, seinen einmal gefaßten Entschluß niemals zu ändern.

»Sie können mich unmöglich abweisen wie gestern«, fuhr die Maheu fort. »Wir müssen Brot zu essen haben von jetzt bis Samstag ... Allerdings schulden wir Ihnen sechzig Franken seit zwei Jahren ...«

Sie erklärte die Sache in kurzen, mühsam vorgebrachten Sätzen. Es war eine alte Schuld, die sie während des letzten Ausstandes gemacht hatten. Zwanzigmal hatten sie versprochen, die Schuld zu begleichen, aber sie konnten es nicht; sie waren nicht imstande, ihm zwei Franken alle vierzehn Tage zu geben. Überdies sei vorgestern ein Unglück dazwischengekommen: sie habe einem Schuhmacher, der ihnen mit der Pfändung drohte, zwanzig Franken bezahlen müssen. Darum seien sie jetzt ohne einen Sou; wäre dieser Zwischenfall nicht gewesen, sie hätten bis Sonnabend zu essen gehabt.

Maigrat, der die Arme auf dem dicken Bauche gekreuzt hielt, antwortete auf jede neue Bitte mit einem stummen Nein.

»Nur zwei Brote, Herr Maigrat. Ich bin ja vernünftig und verlange keinen Kaffee ... Nur zwei Brote zu drei Pfund täglich ...«

»Nein!« schrie er endlich mit voller Kraft.

Jetzt war sein Weib zum Vorschein gekommen, ein gebrechliches Geschöpf, das seine Tage über dem Geschäftsbuche hockend zubrachte und nicht aufzublicken wagte. Sie verschwand sogleich wieder, als sie das unglückliche Weib flehentliche Blicke auf sie richten sah. Man erzählte, daß ihre Ehe sehr unglücklich sei, da ihr Mann es mit der Treue nicht genau nehme.

Frau Maheu, welche die Augen noch immer bittend zu Maigrat erhob, fühlte sich belästigt durch die Art, wie er sie mit seinen kalten, klaren Äuglein musterte und gleichsam abschätzte. Sie ging weiter und zerrte Leonore und Heinrich mit sich, die aus dem Straßenschmutz Nußschalen aufgelesen hatten, deren Inneres sie untersuchten.

[103] »Das wird Ihnen kein Glück bringen, Herr Maigrat; merken Sie sich's!«

Jetzt blieben ihr nur die Bürgersleute in der Piolaine. Wenn diese nicht hundert Sous hergaben, konnten sich alle hinlegen und verrecken. Sie wandte sich links und schlug den Weg nach Joiselle ein. Hier stand das Haus der Grubenverwaltung – in dem Winkel, den die Straße bildete –, ein wahrer Palast, aus Ziegeln erbaut, wo die großen Herren aus Paris, Fürsten, Generale und Minister, alljährlich im Herbst große Essen gaben. Unterwegs sann Frau Maheu darüber nach, wie sie die hundert Sous verwenden werde: sie wollte zunächst Brot kaufen, dann Kaffee, ein Viertelpfund Butter, einen Scheffel Kartoffeln für die Frühsuppe und zum Abendbrot, endlich vielleicht ein wenig Fleischkäse, denn der Vater müsse Fleisch bekommen.

Der Pfarrer von Montsou, der Abbé Joire, kam eben vorüber und hob seine Soutane in die Höhe, um sie im Straßenkot nicht zu beschmutzen. Er war von milder Gemütsart und tat, als kümmere er sich um nichts, damit er weder die Arbeiter noch ihre Herren gegen sich erzürne.

»Guten Tag, Herr Pfarrer!« grüßte die Maheu.

Er lächelte den Kindern zu und ließ die Maheu mitten in der Straße stehen, ohne sich aufzuhalten. Die Maheu war jeder Religion bar; aber sie hatte sich plötzlich eingebildet, dieser Priester werde ihr etwas geben.

Sie setzte also ihren Weg in dem schwarzen, teigigen Schmutz fort. Zwei Kilometer hatte sie noch zurückzulegen. Erstaunt über diese weite Wanderung ließen sich die Kinder immer mehr schleppen. Rechts und links vom Wege lagen noch immer wüste Plätze, von moosbedeckten Planken eingeschlossen, und rauchgeschwärzte Fabrikgebäude, von hohen Schloten starrend. Im Freien dehnten sich dann die flachen Felder endlos aus, einem Meer von braunen Schollen gleich, in dem kein Baum sein Geäst ausbreitete, bis zur violetten Linie des Waldes von Vandame.

[104] »Mutter, trage mich!«

Sie trug sie abwechselnd. Es gab Pfützen auf der Straße; sie hob ihre Röcke in die Höhe aus Furcht, allzu schmutzig anzukommen. Dreimal war sie nahe daran, auf dem glitschigen Pflaster zu fallen. Als sie endlich vor der Auffahrt des Hauses anlangten, stürzten sich zwei riesige Hunde mit so wütendem Gebell auf sie, daß die Kleinen entsetzt aufschrien. Der Kutscher mußte eine Peitsche nehmen und die Hunde zurückjagen.

»Laßt eure Holzschuhe draußen und tretet ein«, sagte Honorine.

Die Mutter und die Kinder standen unbeweglich in dem Speisezimmer, betäubt durch die plötzliche Hitze, sehr verlegen unter den Blicken des alten Herrn und der alten Dame, die in ihren Lehnsesseln ausgestreckt lagen.

»Meine Tochter, walte deines Amtes«, sprach die alte Dame.

Die Grégoire betrauten Cäcilie damit, die Almosen auszuteilen. Dies paßte zu ihren Begriffen von einer guten Erziehung. Man mußte mildtätig sein; sie sagten selbst, ihr Haus sei das Haus des lieben Gottes. Sie schmeichelten sich übrigens, die Wohltätigkeit mit Klugheit zu üben; denn es plagte sie die ewige Angst, betrogen zu werden und das Laster zu unterstützen. Darum schenkten sie niemals Geld, niemals! Nicht zehn Sous, nicht zwei Sous; denn es sei bekannt, daß ein armer Mensch, sobald er zwei Sous besitze, sie vertrinke. Ihr Almosen bestand stets in Naturalien, besonders in warmen Kleidern, die zur Winterszeit an die armen Kinder verteilt wurden.

»Oh, die armen Kleinen!« rief Cäcilie; »wie bleich sie von der Kälte sind! ... Honorine, hole das Bündel aus dem Schrank!«

Auch die Mägde betrachteten die Unglücklichen mit Erbarmen und mit der Unruhe von Mädchen, die wegen ihres Mittagessens keine Sorge haben. Während das [105] Stubenmädchen hinaufging, vergaß sich die Köchin, stellte den Rest des Kuchens wieder auf den Tisch und stand mit hängenden Armen da.

»Ich habe gerade noch zwei wollene Kleider und zwei Tücher«, sagte Cäcilie. »Sie werden sehen, wie gut warm die armen Kleinen gekleidet sein werden.«

Endlich fand die Maheu die Sprache wieder.

»Vielen Dank, mein Fräulein«, stammelte sie. »Sie alle sind sehr gütig ...«

Tränen füllten ihre Augen; sie glaubte sich der hundert Sous sicher und dachte nur an die Art und Weise, wie sie diese erbitten könnte, wenn man sie ihr nicht anbot. Die Kammerfrau kam nicht sogleich zurück; es trat ein Augenblick verlegenen Schweigens ein. Die Kleinen hingen an den Röcken der Mutter und machten große Augen zum Kuchen hinüber.

»Sie haben nur diese zwei?« fragte Frau Grégoire, um das Stillschweigen zu brechen.

»Oh, Madame, ich habe sieben.«

Herr Grégoire, der sich wieder in seine Zeitung vertieft hatte, fuhr entrüstet auf.

»Sieben Kinder! Aber warum denn, lieber Gott!«

»Das ist unklug«, murmelte die alte Dame.

Die Maheu machte eine unbestimmte Gebärde der Entschuldigung. Mein Gott, das kommt von selbst, man denkt gar nicht daran. Und dann: wenn die Kinder einmal größer werden, helfen sie miterwerben und das Haus erhalten. Auch könnten sie ganz gut leben, wenn der Großvater nicht wäre, der schon kaum mehr arbeiten könne, und wenn von den vielen Kindern nicht nur erst drei soweit wären, zur Grube zu gehen, zwei Söhne und die älteste Tochter. Man müsse eben auch die Kleinen ernähren, die noch nichts leisten.

»Arbeiten Sie schon lange in der Grube?« fragte Frau Grégoire weiter.

Ein stummes Lachen erhellte das bleiche Antlitz der Maheu.

[106] »O ja, o ja ... Ich bin bis zu meinem zwanzigsten Jahre eingefahren. Als ich mein zweites Kind bekam, sagte der Arzt, ich werde zugrunde gehen, wenn ich noch länger in der Grube arbeite. Es schien mir die Knochen zu verderben. Übrigens heiratete ich damals und hatte in meiner Haushaltung genug zu tun ... Aber die Familie meines Mannes arbeitet seit Ewigkeiten in der Grube; der Großvater des Großvaters war schon dabei; er war mit bei dem ersten Spatenstich im Réquillartschacht.«

Herr Grégoire betrachtete sinnend diese Frau und ihre bedauernswerten Kinder mit ihrem wachsbleichen Fleisch, sah ihre farblosen Haare, die Entartung, in der sie verkümmerten, von Blutlosigkeit verzehrt, die traurige Häßlichkeit der Hungerleider. Es war wieder still geworden in dem Gemach; man hörte nur die Kohle knistern, von der Gasqualm aufstieg. Das warme Zimmer hatte jene schwere Luft, in der die spießbürgerliche Wohlhabenheit, schlummert.

»Wo bleibt sie denn solange?« rief Cäcilie ungeduldig. »Melanie, geh hinauf und sag' ihr, das Bündel liege im Schranke unten links.«

Herr Grégoire schloß inzwischen laut die Betrachtungen, welche der Anblick dieser Elenden in ihm angeregt hatte.

»Es gibt viel Ungemach hienieden, das ist wahr; allein, gute Frau, es muß auch gesagt werden, daß die Arbeiter nicht sehr vernünftig leben ... Anstatt einen Spargroschen beiseitezulegen wie unsere Bauern, trinken die Grubenarbeiter, machen Schulden und haben schließlich kein Brot für Weib und Kinder.«

»Der gnädige Herr hat recht«, antwortete Frau Maheu ernst. »Man geht nicht immer den richtigen Weg. Das sage ich immer den Taugenichtsen, wenn sie sich beklagen ... Ich habe es noch gut getroffen, mein Mann trinkt nicht. Dennoch geschieht es an lustigen Sonntagen, daß er über den Durst trinkt. Das ist aber auch alles. Das ist von ihm um so löblicher, als er vor unserer [107] Heirat soff wie ein Schwein – mit Respekt sei es gesagt ... Trotz seiner vernünftigen Lebensführung kommen wir zu nichts. Es gibt Tage – wie heute wieder –, wo Sie alle unsere Schubfächer umkehren können, ohne einen Heller darin zu finden.«

Sie wollte ihnen die Sache mit den hundert Sous beibringen und fuhr fort, mit ihrer weichen Stimme von der verhängnisvollen Schuld zu sprechen, anfänglich schüchtern, dann immer breiter und drängender. Sie bezahlten längere Zeit regelmäßig ihre Halbmonatsraten; aber eines Tages blieb man damit im Rückstand, und dann war's aus, sie konnten den Rückstand nicht mehr aufholen. Das Loch wurde immer größer; die Männer waren von einer Arbeit angewidert, die ihnen nicht so viel einbrachte, daß sie ihre Schulden bezahlen konnten. Es war alles vergebens, man saß im Dreck bis an sein Lebensende. Man müsse übrigens alles begreifen: ein Grubenarbeiter muß einen Schoppen trinken, um den Kohlenstaub hinunterzuspülen. Damit fängt er an, und wenn dann der Jammer kommt, sitzt er Tag und Nacht im Wirtshaus. Möglich auch – und dies soll gegen niemand eine Anklage sein –, daß die Arbeiter nicht genug erwerben.

»Ich glaubte,« sprach Frau Grégoire, »daß die Gesellschaft euch Wohnung und Heizung gibt.«

Frau Maheu schielte nach der Kohle, die im Kamin brannte.

»Ja, ja, man gibt uns Kohle; sie ist nicht sehr gut, aber sie brennt doch ... Was die Wohnung betrifft, so haben wir dafür nur sechs Franken monatlich zu entrichten; das scheint sehr wenig, und dennoch fällt es uns schwer, sie zu bezahlen ... Wenn man mich heute in Stücke schnitte, brächte man nicht zwei Sous aus mir heraus. Wo nichts ist, da ist nichts.«

Der Herr und die Dame schwiegen, behaglich in ihren Lehnsesseln liegend und allmählich gelangweilt und verdrießlich gemacht durch das Auskramen dieser Jammergeschichten. Sie fürchtete sie verletzt zu haben und [108] fügte mit der ruhigen Miene einer praktischen Frau hinzu:

»Ach, ich sage es nicht, um mich zu beklagen. Die Lage ist einmal so, man muß sich damit abfinden, um so mehr, als wir uns vergebens dagegen wehren würden; es würde uns doch nichts helfen. Es bleibt das beste, sein Leben ehrlich zu verbringen dort, wohin der liebe Gott uns gestellt hat. Nicht wahr, gnädiger Herr und gnädige Frau?«

Herr Grégoire stimmte ihr lebhaft zu.

»Liebe Frau,« sagte er, »mit solchen Gesinnungen ist man über jedes Unglück erhaben.«

Honorine und Melanie brachten endlich das Bündel. Cäcilie öffnete es und holte zwei Kleider hervor; sie legte noch Tücher dazu, auch Strümpfe und Fäustlinge. All dies wird vorzüglich passen, meinte sie. Sie beeilte sich und ließ die ausgewählten Kleidungsstücke durch die Mägde rasch einpacken. Ihre Klavierlehrerin war gekommen, und darum schob sie die Grubenarbeiterin mit ihren zwei Kindern zur Tür.

»Wir sind ganz mittellos«, stammelte Frau Maheu; »wenn wir wenigstens ein Hundertsousstück hätten ...«

Sie blieb mitten im Satze stecken, denn die Maheu waren stolz und bettelten nicht. Cäcilie blickte unruhig auf ihren Vater; doch dieser schlug die Bitte rundweg ab mit einer Miene, als erfülle er eine Pflicht.

»Nein, das liegt nicht in unsern Gewohnheiten. Wir können nicht.«

Das Mädchen, von dem verstörten Gesichte der Mutter bewegt, wollte die Kinder wenigstens erfreuen. Diese schauten noch immer starr auf den Kuchen; sie brach zwei Stücke davon ab und gab sie ihnen.

»Hier, das ist für euch.«

Dann nahm sie die Kuchenstücke wieder zurück und wickelte sie in ein altes Zeitungsblatt, indem sie sagte:

»Teilt das zu Haus mit euren Geschwistern.«

Unter den zärtlichen Blicken ihrer Eltern schob sie die Kinder zur Tür hinaus. Die armen Kleinen, die kein [109] Brot hatten, gingen von dannen, respektvoll den Kuchen in ihren kalten Händchen heimtragend.

Die Maheu zog ihre Kinder auf dem Straßenpflaster fort; sie sah weder die wüsten Felder noch den schwarzen Schmutz oder den fahlen Himmel, der sich um sie zu drehen schien. Als sie wieder durch Montsou kam, trat sie entschlossen bei Maigrat ein, den sie so eindringlich mit ihren Bitten bestürmte, daß sie schließlich zwei Brote, Kaffee, Butter und sogar ein Hundertsousstück mitnahm; denn der Mann lieh auch Geld aus auf Wochen. Nicht sie wollte er, sondern Katharina; sie begriff, als er ihr sagte, sie möge ihre Tochter wegen des Einkaufs senden. Man werde schon sehen, dachte sie. Sie setzte im stillen hinzu, Katharina werde ihm Maulschellen versetzen, wenn er ihr zu nahe kommen sollte.

Drittes Kapitel

Es schlug elf Uhr im Turm der kleinen Kirche des Arbeiterdorfes der Zweihundertvierzig; diese Kirche war eigentlich eine aus Ziegeln erbaute Kapelle, in welcher der Abbé Joire am Sonntag die Messe las. Aus der Schule nebenan, gleichfalls aus Ziegeln erbaut, hörte man die Stimmen der Kinder, obgleich die Fenster wegen der Kälte geschlossen waren. Die zwischen den vier Blöcken von gleichartigen Häusern sich hinziehenden breiten Straßen, eingekeilt in kleine, aneinanderstoßende Gärten, lagen verödet; und diese vom Winter verheerten Gärten breiteten sich in der Trübseligkeit ihres Mergelbodens aus, in dem die letzten Gemüse wie schmutzige Höcker staken. Die Schornsteine rauchten, in den Häusern wurde die Mittagsuppe gekocht; da und dort sah man ein Weib auftauchen, dann eine Tür öffnen und verschwinden. Vor allen Häusern, von einem Ende der Straße bis zum andern, tröpfelte es aus den Abzugsröhren in die davorstehenden Bottiche; es regnete zwar nicht, aber der graue Himmel hing voll feuchten [110] Nebels. Dies Dorf, mitten in die weite Hochebene hineingebaut, von schwarzen Straßen wie von einem Trauerrand eingesäumt, zeigte keine hellen Punkte wie seine roten Ziegeldächer, die von Platzregen unaufhörlich blank gewaschen wurden.

Als Frau Maheu heimkehrte, machte sie einen Umweg, um Kartoffeln bei dem Weibe eines Aufsehers zu kaufen, die noch von der Ernte her einen Vorrat übrig hatte. Hinter einer Reihe krüppelhafter Pappeln stand eine Gruppe vereinzelter Gebäude, Häuser zu vier und vier, von Gärten umgeben. Es war dies ein neuer Versuch, den die Gesellschaft machte, um ihren Aufsehern eine Vergünstigung zuzuwenden; dieser Teil der Ansiedlung wurde deshalb von den Arbeitern »Das Dorf der Seidenstrümpfe« genannt, während sie in gemütlicher Verhöhnung ihres Elends das eigene »Dorf der Schuldenzahler« nannten.

»Uff! Endlich sind wir da«, sagte die mit Bündeln beladene Frau Maheu, als sie die mit Schmutz bedeckten, todmüden Kinder Leonore und Heinrich ins Haus schob.

Vor dem Feuer saß Alzire und wiegte die unaufhörlich schreiende Estelle in den Armen.

»Gib sie her«, sagte die Mutter, als sie ihr Bündel abgelegt hatte. »Wir können sonst bei dem Geschrei kein Wort reden.«

Alzire war zuverlässig. Es war alles in Ordnung; die kleine Hauswirtin hatte das Feuer unterhalten, die Wohnstube ausgekehrt und aufgeräumt. Durch die Stille hörte man oben den Großvater schnarchen; es war dasselbe gleichmäßige Schnarchen, das nicht einen Augenblick aufgehört hatte.

»Sind das feine Sachen!« sagte Alzire, indem sie die mitgebrachten Vorräte lächelnd musterte. »Wenn du willst, Mutter, mache ich die Suppe.«

Der Tisch war bedeckt; ein Bündel Kleider, zwei Brote, Kartoffeln, Butter, Kaffee, Zichorie und ein halbes Pfund Fleischkäse.

[111] »Oh, die Suppe!« sagte die Maheu mit müder Miene; »da müßte man erst Sauerampfer und Lauch pflücken ... Nein, ich werde nachher für die Mannsleute Suppe kochen ... Setze Kartoffeln ans Feuer; wir essen sie mit ein wenig Butter ... Und Kaffee: vergiß den Kaffee nicht!«

Doch plötzlich erinnerte sie sich des Kuchens. Sie schaute auf die leeren Hände Leonores und Heinrichs, die schon wieder wohlgemut waren und sich am Boden wälzten und prügelten. Die naschhaften Rangen hatten unterwegs heimlich den Kuchen gegessen! Die Mutter ohrfeigte sie, während Alzire, die den Kochtopf ans Feuer setzte, die Mutter zu beruhigen suchte.

»Laß sie, Mama. Wenn es meinethalben ist, so weißt du ja, daß ich Kuchen nicht mag. Sie haben Hunger bekommen, weil sie so weit gegangen sind.«

Draußen wurde die Mittagsglocke geläutet; man hörte das Geklapper der Überschuhe heimkehrender Schulkinder. Die Kartoffeln waren gar; der Kaffee, dunkel von Zichorie, floß in großen Tropfen laut plätschernd durch den Filter. Eine Ecke des Tisches war abgeräumt; doch aß die Mutter allein da, die Kinder nahmen ihre Teller auf die Knie; der kleine Junge in seiner stummen Gefräßigkeit schaute sich – ohne etwas zu sagen – immerfort nach dem Fleischkäse um, dessen fette Papierhülle ihm die Ruhe raubte.

Frau Maheu trank ihren Kaffee in kleinen Schlucken und legte die Hände an das Glas, um sie zu erwärmen. Da kam der alte Bonnemort herunter. Sonst stand er später auf; man ließ ihm sein Frühstück am Feuer stehen. Heute begann er zu brummen, weil keine Suppe da war. Als seine Schwiegertochter ihm erklärt hatte, man könne nicht immer alles haben, wie man es möchte, aß er still seine Kartoffeln. Von Zeit zu Zeit erhob er sich und spie in die Asche; er tat dies aus Reinlichkeit, um den Estrich zu schonen; dann hockte er wieder auf seinem Sessel und kaute sein Essen mit gesenktem Kopfe und erloschenen Augen.

[112] »Ach, ich vergaß, Mutter,« sagte Alzire, »die Nachbarin war da ...«

Die Mutter unterbrach sie.

»Sie soll mich in Frieden lassen!«

Sie hatte einen dumpfen Groll gegen die Levaque, die gestern über Not gejammert hatte, um ihr nichts leihen zu müssen; und doch hatte sie Geld, wie die Maheu wohl wußte; der Mieter Bouteloup hatte einen halben Monat vorausgezahlt. In dem Arbeiterdorf liehen die Haushaltungen einander nicht gern.

»Da fällt mir ein,« fuhr die Maheu fort, »nimm eine Mühle voll Kaffee und schlag ihn in Papier ... Ich muß ihn der Frau Pierron bringen, der ich ihn seit vorgestern schuldig bin.«

Als ihre Tochter das Päckchen fertig hatte, sagte die Maheu, sie werde sogleich zurückkehren, um die Suppe für die Mannsleute ans Feuer zu setzen. Dann ging sie fort mit Estelle auf dem Arm. Der alte Bonnemort blieb zurück und aß langsam seine Kartoffeln, während Leonore und Heinrich sich um die zu Boden gefallenen Kartoffelschalen prügelten.

Anstatt den Weg über die Straße zu nehmen, schritt Frau Maheu quer durch die Gärten, aus Furcht, die Levaque könne sie rufen. Ihr Garten stieß an den der Familie Pierron, und in dem verfallenen Zaun, der sie trennte, war ein Loch, durch das die Nachbarn miteinander verkehrten. Da war auch der gemeinsame Brunnen, der vier Familien diente. Nebenan lag hinter einem verkümmerten Fliederstrauch die Scheuer, wo man die alten Geräte aufbewahrte und dann und wann ein Kaninchen züchtete, um an einem Feiertag einen Braten zu haben. Es war ein Uhr, die Kaffeestunde; keine Seele zeigte sich an den Türen und Fenstern. Bloß ein Arbeiter grub, ohne aufzublicken, in seinem Gärtchen, um die Zeit zu nützen, bis seine Stunde kam, zur Zeche zu gehen. Als die Maheu auf die Straße kam, sah sie zu ihrer Überraschung vor der Kirche einen Herrn und [113] zwei Damen. Sie blieb einen Augenblick stehen und erkannte die Fremden: es war Frau Hennebeau mit ihren Gästen, dem dekorierten Herrn und der Dame im Pelzmantel. Sie zeigte ihnen das Arbeiterdorf.

»Ach, wozu die Mühe? Es hatte keine Eile!« rief Frau Pierron, als Frau Maheu ihr den Kaffee zurückerstattete.

Sie war achtundzwanzig Jahre alt und galt für die Schöne im Dorf. Sie hatte eine braune Gesichtsfarbe, große Augen, einen kleinen Mund: sie war überdies kokett und reinlich wie eine Katze. Ihre Mutter, die Brulé, Witwe eines Grubenarbeiters, der in der Mine seinen Tod gefunden, hatte aus ihrer Tochter eine Fabrikarbeiterin gemacht und geschworen, daß sie niemals einen Grubenarbeiter heiraten solle. Sie kam denn auch aus dem Zorn nicht mehr heraus, seitdem ihre Tochter schon als reifes Mädchen sich mit Pierron verheiratet hatte, einem Witwer, der eine achtjährige Tochter hatte. Das Ehepaar lebte indes sehr zufrieden, unbekümmert um den Klatsch, der in Umlauf war über die Gefälligkeit des Gatten und die Liebhaber der Frau. Sie hatten keine Schulden, aßen zweimal wöchentlich Fleisch, und ihr Haus war so sauber gehalten, daß man sich in den Schüsseln hätte spiegeln können. Um ihr Glück zu vervollständigen, hatte sie dank ihren Beschützern von der Gesellschaft die Erlaubnis erhalten, Bonbons und Zwieback zu verkaufen; auf zwei Brettern hinter den Scheiben ihres Fensters waren diese Süßigkeiten in gläsernen Behältern zur Schau gestellt. Sie verdiente dabei sechs bis sieben Sous täglich, an manchem Sonntag sogar zwölf. Diese glückliche Häuslichkeit wurde nur durch das Geschrei der Brulé gestört, die in ihrer Wut immer den Tod ihres Mannes an den Herren rächen wollte; der zweite Störenfried war die kleine Lydia, die als Sündenbock der ganzen Familie sehr viele Maulschellen einzustecken hatte.

»Wie groß Estelle schon ist!« sagte Frau Pierron und spielte mit dem Kinde.

[114] »Laß es gut sein, die macht Mühe genug«, erwiderte die Maheu. »Du kannst froh sein, daß du keines hast. Da kann man wenigstens sein Haus sauber halten.«

Obgleich auch bei ihr alles in Ordnung gehalten wurde und sie jeden Sonnabend wusch und scheuerte, betrachtete sie doch mit den Blicken einer neidischen Hausfrau diese helle Stube, wo es sogar einigen Zierat gab, vergoldete Vasen auf dem Eßschrank, einen Spiegel und drei eingerahmte Kupferstiche.

Die Pierron trank eben ihren Kaffee allein; alle ihre Leute waren in der Grube.

»Trink ein Täßchen mit mir«, sagte sie.

»Nein, danke, ich habe soeben Kaffee getrunken.«

»Was tut das?«

Freilich, das tat nichts. Beide tranken nun langsam ihren Kaffee. Zwischen den Zwieback- und Bonbongläsern hindurch waren ihre Blicke auf den gegenüberstehenden Häusern haftengeblieben, wo sich Fenster an Fenster reihten mit ihren Vorhängen, deren Reinlichkeit ein Gradmesser für die häusliche Tugend der Frauen war. Die Vorhänge der Levaque waren sehr schmutzig, wahre Wischlappen, die aussahen, als habe man die Kochtöpfe damit gereinigt.

»Ist es möglich, in solchem Dreck zu leben?« murmelte Frau Pierron.

Da legte Frau Maheu unaufhaltsam los. Ach, wenn sie einen Mieter hätte wie diesen Bouteloup, wie ganz anders sollte es in ihrem Hauswesen zugehen. Ein Mieter sei eine sehr gute Hilfe, wenn man sie zu nützen verstehe. Allerdings dürfte man sich nicht mit ihm einlassen. Und der Mann! Der saufe, prügele sein Weib und laufe Bänkelsängerinnen von Montsou nach.

Die Pierron verzog angewidert den Mund. Von diesen Bänkelsängerinnen kämen alle Krankheiten, meinte sie.

»Mich wundert,« fügte sie hinzu, »daß du deinen Sohn mit ihrer Tochter gehen läßt.«

»Ach ja, wer kann das verhindern! ... Ihr Garten stößt an den unseren. Im Sommer steckte Zacharias[115] immer bei Philomene hinter den Fliedersträuchen, und man konnte nicht zum Brunnen gehen, ohne sie zu überraschen.«

Es war die gewöhnliche Geschichte des engen Zusammenlebens der Geschlechter im Dorf. Es hatte nichts weiter zu bedeuten; man wurde später Mann und Frau; nur die Mütter waren wütend, wenn die Burschen zu früh anfingen; denn ein Bursche, der heiratete, brachte der Familie nichts mehr ein.

»An deiner Stelle würde ich lieber ein Ende machen«, sagte Frau Pierron in vernünftigem Tone. »Dein Zacharias hat nun schon zwei Kinder; sie werden ihrer Wege gehen und ein Paar werden. Das Geld ist einmal weg.«

Die Maheu streckte wütend die Hände aus.

»Höre: ich verfluche sie, wenn sie heiraten ... Ist Zacharias uns nicht Respekt schuldig? Er hat uns Geld gekostet, nicht wahr? Er soll es uns wiedergeben, ehe er sich ein Weib auf den Hals lädt. Was würde aus uns werden, wenn unsere Kinder für andere arbeiteten? Da möchte man doch lieber gleich verrecken!«

Doch sie beruhigte sich wieder.

»Ich spreche im allgemeinen«, sagte sie. »Wir werden ja später sehen ... Dein Kaffee ist recht stark; du bereitest ihn gut.«

Nachdem sie noch eine Viertelstunde von allen möglichen Dingen geplaudert hatten, eilte die Maheu fort; die Suppe für ihre Mannsleute sei noch nicht fertig. Auf der Straße sah man die Kinder wieder zur Schule gehen; einige Weiber zeigten sich an den Türen und betrachteten Frau Hennebeau, welche die Front eines Hauses abschreitend ihren Gästen die Einrichtungen des Arbeiterdorfes erklärte. Dieser Besuch erregte nachgerade Aufsehen. Der einsame Mann in seinem Garten unterbrach seine Arbeit; zwei Hühner liefen erschreckt auseinander.

Als die Maheu heimkehrte, stieß sie auf die Levaque, die auf die Straße gekommen war, um den Arzt Dr. Vanderhaghen abzufassen, einen kleinen, allzeit geschäftigen [116] Mann, der durch die Straßen rennend seine ärztlichen Ratschläge erteilte.

»Herr Doktor,« sagte sie, »ich kann nicht schlafen; mir tut alles weh ... Wir sollten doch mal darüber reden.«

Der Arzt, der alle Bewohner des Dorfes duzte, antwortete ihr, ohne stehenzubleiben:

»Laß mich in Frieden! Du trinkst zuviel Kaffee.«

»Und mein Mann erst, Herr Doktor!« sagte jetzt die Maheu. »Sie sollten ihn einmal besuchen. Er hat noch immer Schmerzen in den Beinen.«

»Er ist schwach, laß mich in Frieden!«

Die zwei Weiber standen verblüfft da und schauten dem davoneilenden Arzte nach.

»Komm herein«, sagte die Levaque, nachdem sie mit ihrer Nachbarin ein trostloses Achselzucken ausgetauscht hatte. »Du weißt wohl, daß es etwas Neues gibt ... Auch einen Schluck Kaffee trinkst du; er ist ganz frisch.«

Die Maheu wehrte ab, aber sie konnte nicht widerstehen. Gut, einen Tropfen, um die Nachbarin nicht zu kränken. Und sie trat ein.

Die Stube war greulich schmutzig, die Wände voller Fettflecke, Tisch und Eßschrank starrten von Unsauberkeit; der Geruch dieser vernachlässigten Haushaltung bereitete jedem Eintretenden Übelkeit. Neben dem Feuer saß Bouteloup, noch jung aussehend für seine fünfunddreißig Jahre, beide Ellbogen auf dem Tische, die Nase in seinem Teller, und verzehrte einen Rest Rindfleisch mit der Behäbigkeit eines wohlgenährten, ruhigen Jungen. Neben ihm stand der kleine Achilles, Philomenes Erstgeborener, der jetzt ins dritte Jahr ging, und sah mit der stumm flehenden Miene eines hungrigen Tieres dem Essenden zu. Der Mieter, dessen großer, brauner Bart ein feines, weißes Gesicht einrahmte, schob von Zeit zu Zeit dem Kinde ein Stück Fleisch in den Mund.

»Wart', ich werde den Kaffee erst zuckern«, sagte die [117] Levaque, indem sie den Mehlzucker in die Kaffeekanne tat.

Sie war um sechs Jahre älter als er, abscheulich, welk, mit einem platten Gesicht und ergrauenden, stets ungekämmten Haaren.

»Ich wollte dir nur sagen,« fuhr sie fort, »daß man gestern abend Frau Pierron im Dorf der ›Seidenstrümpfler‹ sich herumtreiben sah. Ein gewisser Herr erwartete sie hinter Rasseneurs Herberge; dann sind sie zusammen längs des Kanals fortgegangen ... Das ist hübsch von einer verheirateten Frau, wie?«

Bouteloup lachte und warf ein Stück in Soße getunktes Brot Achilles in den Mund.

Die zwei Frauen ließen sich dann noch weiter über Frau Pierron aus, über diese Kokette, die nicht schöner sei als jede andere, aber den ganzen Tag damit zubringe, die Farbe ihrer Haut zu mustern, sich zu waschen und mit Pomade zu bestreichen.

So ging es fort, bis sie schließlich durch die Ankunft einer Nachbarin unterbrochen wurden, die ein neunmonatiges Kind brachte, Desirée, Philomenes Jüngste. Philomene ließ sich zur Frühstücksstunde das Kind nach dem Sichtungswerke bringen und nährte es dort, auf einem Kohlenhaufen sitzend.

»Die meinige darf ich nicht einen Augenblick allein lassen, sonst schreit sie gleich«, sagte die Maheu mit einem Blick auf Estelle, die in ihren Armen eingeschlafen war.

Doch es sollte ihr nicht gelingen, der verfänglichen Frage zu entgehen, die sie seit einer Weile in den Augen der Levaque las.

»Hör' einmal: wir sollten doch ein Ende machen«, begann die Levaque.

Die zwei Mütter waren anfänglich stillschweigend übereingekommen, die Heirat nicht zustande kommen zu lassen. Zacharias' Mutter wollte solange wie möglich den Lohn ihres Sohnes in die Hand bekommen, und auch Frau Levaque wütete bei dem Gedanken, den Erwerb [118] ihrer Tochter zu verlieren. Man hatte keine Eile: Philomenes Mutter hatte sich sogar dazu verstanden, Achilles zu behalten, solange dieser allein da war; doch als der Knabe größer wurde und Brot aß, und als ein zweites hinzukam, fand sie ihr Auskommen nicht mehr und drängte auf Hochzeit, weil sie nicht vom eigenen zulegen wollte.

»Zacharias hat seine Militärpflicht hinter sich, nichts hält ihn mehr zurück. Wann wollen wir Hochzeit machen?« fragte sie weiter.

»Verschieben wir es auf bessere Tage«, antwortete die Maheu verlegen. »Diese Geschichten sind so ärgerlich! Als ob sie nicht hätten warten können, bis sie verheiratet sind. Bei meiner Ehre! Ich würde Katharina erwürgen, wenn ich erführe, daß sie die nämliche Dummheit gemacht hat.«

Die Levaque zuckte mit den Achseln.

»Laß gut sein; sie ist nicht besser als die anderen«, sagte sie.

Bouteloup ging jetzt zum Eßschrank und suchte Brot mit der Ruhe eines Menschen, der zu Hause ist. Auf einer Ecke des Tisches lagen Gemüse, für Levaques Suppe bestimmt; Kartoffeln und Lauch, zur Hälfte geschält, inmitten des langen Tratsches zehnmal zur Hand genommen und wieder weggelegt. Das Weib hatte sich eben von neuem darangemacht, doch legte sie die Arbeit Arbeit gleich wieder hin, um sich ans Fenster zu stellen.

»Was ist denn das? ... Schau, Frau Hennebeau mit Leuten. Jetzt treten sie bei der Pierron ein.«

Wieder fielen sie über die Pierron her. Das ist immer so: wenn die Gesellschaft Besuch im Arbeiterdorfe hat, führt man ihn geradeswegs zu dieser Frau, weil es da sauber ist. Sicherlich erzählt man ihnen nicht die Geschichten mit dem Oberaufseher. Man kann alles leicht rein halten, wenn man Liebhaber hat, die dreitausend Franken verdienen, Wohnung und Heizung haben, die Geschenke ungerechnet. In diesem Tone schimpften sie fort, solange die Fremden im Hause der Pierron waren.

[119] »Jetzt kommen sie heraus«, sagte endlich die Levaque. »Schau, meine Liebe, ich glaube gar, sie gehen zu dir.«

Die Maheu wurde von Angst ergriffen. Wer weiß, ob Alzire den Tisch abgewischt hat? Ihre Suppe war auch noch nicht fertig. Mit einem flüchtigen »Auf Wiedersehen!« eilte sie davon nach ihrer Behausung, ohne rechts oder links zu schauen.

Doch zu Hause war alles sauber und in Ordnung. Als Alzire sah, daß die Mutter nicht kam, hatte sie einen Küchenlappen vorgebunden und sich an die Zubereitung der Suppe gemacht. Sie hatte die letzten Lauchstummel und Sauerampfer im Garten gepflückt und war eben mit der Reinigung der Gemüse beschäftigt, während am Feuer in einem großen Kessel das Wasser für das Bad der Mannsleute warm gehalten wurde. Heinrich und Leonore waren zufällig artig und vertrieben sich die Zeit mit dem Zerreißen eines alten Kalenders. Der Vater Bonnemort rauchte still seine Pfeife.

Die Maheu hatte sich noch nicht recht verschnauft, als Madame Hennebeau an die Tür klopfte.

»Sie erlauben wohl, liebe Frau?«

Sie war groß und blond, etwas schwerfällig in der schönen Reife ihrer vierzig Jahre; sie lächelte mit gezwungener Leutseligkeit und ließ nicht allzu sehr die Furcht durchblicken, ihr Kleid von bronzefarbener Seide zu beschmutzen, über dem sie einen Mantel von schwarzem Samt trug.

»Treten Sie ein, treten Sie ein«, rief sie ihren Gästen zu. »Wir stören niemand ... Da ist's ebenfalls hübsch sauber, nicht wahr? Und diese wackere Frau hat sieben Kinder! So sind alle unsere Familien ... Wie ich Ihnen schon erklärt habe, vermietet ihnen die Gesellschaft das Haus für sechs Franken monatlich. Eine große Wohnstube im Erdgeschoß, zwei Stuben oben, ein Keller, ein Garten.«

Der dekorierte Herr und die Dame im Pelzmantel, die am Morgen mit dem Pariser Zuge gekommen waren, rissen die Augen auf; in ihren Mienen war die Verblüffung [120] über diese ihnen neuen, ungewohnten Dinge zu lesen.

»Ein Garten sogar!« wiederholte die Dame. »Man bekommt ordentlich Lust, da zu leben; es ist ja reizend!«

»Wir geben ihnen Kohle, mehr als sie brennen können«, fuhr Madame Hennebeau fort. »Ein Arzt erscheint wöchentlich zweimal bei ihnen; und wenn sie alt sind, bekommen sie Ruhegehälter, obgleich ihnen von ihrem Lohne nichts in Abzug gebracht wird.«

»Das ist ja eine Idylle! Ein wahres Schlaraffenland!« murmelte der Herr entzückt.

Die Maheu hatte sich beeilt, Stühle anzubieten, doch die Damen lehnten ab. Madame Hennebeau war der Sache schon wieder überdrüssig; es hatte ihr einen Augenblick Vergnügen gemacht, in der Langeweile ihrer Vereinsamung die Führerin zu spielen; doch war sie sogleich angewidert von dem faden Geruch des Elends trotz der Reinlichkeit der Häuschen, in die sie einzutreten wagte. Sie wiederholte übrigens nur einzelne abgerissene Redensarten, die sie selbst gehört hatte, und kümmerte sich sonst gar nicht um das Arbeitervolk, das in ihrer Nähe in schwerer Fron und in Elend dahinlebte.

»Die hübschen Kinder!« murmelte die Dame, die sie in Wirklichkeit abscheulich fand mit ihren dicken Köpfen und ihrem struppigen, strohgelben Haar.

Frau Maheu mußte das Alter der Kinder angeben; aus Höflichkeit befragte man sie auch über Estelle. Vater Bonnemort hatte respektvoll die Pfeife aus dem Munde genommen; nichtsdestoweniger blieb er in Unruhe, wie er dasaß, durch vierzig Jahre Grubenarbeit zugrunde gerichtet, mit steifen Beinen, morschen Gliedern, erdfahlem Gesichte. Als ein heftiger Hustenanfall ihn packte, ging er auf die Gasse speien, weil er dachte, sein schwarzer Auswurf könne die Gesellschaft ekeln.

Alzire fand am meisten Beifall. Welche nette, kleine Hauswirtin mit ihrem Küchenlappen! Man beglückwünschte die Mutter zu diesem für sein zartes Alter so verständigen Mädchen. Niemand sprach von dem [121] Höcker; Mitleid und Unbehagen zugleich drückten sich in den Blicken aus, die sich immer wieder nach dem armen, gebrechlichen Wesen wandten.

»Wenn man Sie«, schloß Madame Hennebeau, »in Paris über unsere Arbeiterkolonien befragt, werden Sie antworten können ... Hier ist es immer so still wie jetzt; es herrschen patriarchalische Sitten; alle sind gesund und zufrieden, wie Sie sehen. Sie sollten öfter hierherkommen, um sich in der guten Luft und der Ruhe zu erholen.«

»Wunderbar, wunderbar!« rief der Herr in einem Ausbruch der Begeisterung.

Sie traten aus dem Hause mit der entzückten Miene, mit der man eine Baracke verläßt, wo man Naturwunder gesehen. Frau Maheu, die ihnen das Geleit gab, blieb auf der Schwelle stehen und blickte ihnen nach, wie sie unter lauten Gesprächen sich langsam entfernten. Die Straßen hatten sich bevölkert; sie mußten Gruppen von Weibern ausweichen, die das von Haus zu Haus getragene Gerücht von dem Besuch auf die Straße gelockt hatte.

Die Levaque hatte vor ihrer Tür die Pierron angehalten, die neugierig herbeigelaufen war. Beide heuchelten Überraschung. Wollten diese Leute etwa bei der Maheu übernachten? Es war doch nicht so angenehm da drinnen!

»Immer ohne Sou bei dem schönen Erwerb, den sie haben. Mein Gott, wenn man Lastern frönt!«

»Ich erfahre soeben, daß sie heute vormittag bei den Spießbürgern in der Piolaine gebettelt hat; und Maigrat, der ihnen kein Brot mehr pumpen wollte, hat ihr doch wieder eines gegeben ... Man weiß ja, wie Maigrat sich bezahlt macht.«

»Still! da kommen die Leute.«

Mit ruhiger Miene, ohne aufdringliche Neugier, betrachteten die Levaque und Pierron die aus dem Hause der Maheu kommenden Fremden. Dann winkten sie die Maheu heran, die noch immer Estelle auf den Armen [122] trug. Alle drei blickten unbeweglich hinterdrein, als die wohlgekleideten Rücken der Madame Hennebeau und ihrer Gäste sich entfernten. Als diese etwa dreißig Schritte fort waren, ging der Klatsch mit erneuter Heftigkeit los.

»Die haben aber für schweres Geld Stoffe am Leibe; ihre Kleider sind vielleicht mehr wert als sie selbst.«

»Gewiß! ... Die andere kenne ich nicht; aber für diese da würde ich nicht vier Sous geben, so dick sie auch ist. Man erzählt sich Geschichten ...«

Die Spaziergänger setzten mit denselben langsamen Schritten und plaudernd ihren Weg fort, als eine Kalesche auf der Straße vor der Kirche stehenblieb. Ein Herr von ungefähr achtundvierzig Jahren mit schwarzem Leibrock stieg aus dem Wagen; er war von tiefbrauner Hautfarbe, sein Gesicht zeigte einen strengen, vornehmen Ausdruck.

»Das ist ihr Mann!« murmelte die Levaque mit gedämpfter Stimme, als ob er es hätte hören können; sie war von jener Furcht der Untergebenen ergriffen, welche der Direktor seinen sechstausend Arbeitern einflößte.

Jetzt war das ganze Dorf auf der Straße. Die Neugierde der Weiber stieg immer höher; die Gruppen näherten sich einander und verdichteten sich zu einer Masse, während auf den Fußwegen ganze Scharen schmutziger Kinder Maulaffen feilhielten. Einen Augenblick sah man den blassen Kopf des Lehrers, der hinter der Hecke des Schulhauses sich auf die Fußspitzen erhob, um besser zu sehen. Der Mann im Garten hielt in der Arbeit inne, stützte den Fuß auf die Schaufel und riß die Augen neugierig auf. Das Geschwätz schwoll allmählich zu einem Geräusch wie von Klappern an; es war wie ein Windstoß, der durch dürres Laub fährt.

Vor der Haustür der Levaque gab es eine besonders große Ansammlung von Leuten. Zwei Frauen waren herangekommen, dann zehn, dann zwanzig.

[123] Die Pierron schwieg jetzt vorsichtig; es waren zu viele Ohren da. Als Herr Hennebeau die Damen auf den Rücksitzen des Wagens hatte Platz nehmen lassen und die Kalesche in der Richtung nach Marchiennes davonfuhr, erfolgte ein letzter Ausbruch von geschwätzten Stimmen; alle Weiber gestikulierten und redeten einander ins Gesicht; es war eine Unruhe wie in einem gestörten Ameisenhaufen.

Doch jetzt schlug es drei Uhr. Die Erdarbeiter waren fort, Bouteloup und die anderen. Plötzlich tauchten an der Krümmung bei der Kirche die ersten Grubenarbeiter auf, die von der Zeche zurückkehrten, mit schwarzem Gesicht, durchnäßter Kleidung, gekreuzten Armen und gebeugtem Rücken. Da stoben die Weiber auseinander; alle liefen erschreckt heim; sie hatten zuviel Kaffee getrunken und geschwätzt und dadurch ihre häuslichen Obliegenheiten vernachlässigt. Man vernahm jetzt von allen Seiten nur den besorgten Ausruf:

»Meine Suppe! Meine Suppe ist noch nicht fertig?«

Viertes Kapitel

Als Maheu heimkehrte, nachdem er Etienne bei dem Gastwirt Rasseneur zurückgelassen, fand er Katharina, Zacharias und Johannes bei Tisch ihre Suppe essen. Wenn die Arbeiter aus der Grube kamen, waren sie dermaßen hungrig, daß sie in den durchfeuchteten Kleidern aßen, noch ehe sie sich gewaschen hatten. Keiner wartete auf den andern; der Tisch blieb vom Morgen bis zum Abend gedeckt; immer war einer da, der seine Portion aß, je nach der Arbeitsteilung.

Kaum eingetreten, sah Maheu die Vorräte. Er sagte nichts, aber sein besorgtes Gesicht heiterte sich auf. Der Gedanke an den leeren Speiseschrank, wo es selbst an Kaffee und Butter mangelte, hatte ihn den ganzen Vormittag gequält, während er in der erstickenden Hitze [124] des Schlages die Kohle bearbeitete. Wie sollte das Weib sich in der Not helfen? Und was sollte man anfangen, wenn sie mit leeren Händen zurückkehrte? Jetzt war von allem da. Sie sollte ihm das später erzählen; einstweilen lachte er vergnügt.

Katharina und Johannes hatten schon den Tisch verlassen und tranken ihren Kaffee stehend, während Zacharias, von der Suppe nicht vollständig gesättigt, sich ein breites Stück Brot abschnitt, das er mit Butter beschmierte. Wohl sah er den Fleischkäse auf einem Teller; doch rührte er nicht daran; er wußte, das Fleisch war für den Vater, wenn nur für einen da war. Alle spülten die Suppe mit einem tüchtigen Trunk frischen Wassers hinab; gegen Ende des Halbmonats mußte man sich damit begnügen.

»Ich habe kein Bier«, sagte die Maheu, als der Vater sich zu Tisch gesetzt hatte. »Ich wollte etwas Geld übrigbehalten. Wenn du willst, holt die Kleine dir eine Maß.«

Er sah sie vergnügt an. Was? Sie hatte auch Geld?!

»Nein, nein«, sagte er; »ich habe einen Schoppen getrunken, das genügt.«

Er begann langsam die Suppe auszulöffeln, einen Brei von Brotschnitten, Kartoffeln, Sauerampfer und Lauch; er aß sie aus einem Napf, der ihm als Teller diente. Die Maheu war, ohne Estelle von der Hand zu lassen, Alzire behilflich, damit es ihm an nichts fehle, schob ihm die Butter und den Fleischkäse hin und stellte seinen Kaffee ans Feuer, damit er recht heiß bleibe.

Inzwischen begann neben dem Ofen die Waschung; die Hälfte eines Fasses diente als Waschbottich. Katharina, die den Anfang machte, hatte ihn mit lauem Wasser gefüllt. Als sie sich gereinigt hatte, ging sie die Treppe hinauf und ließ das nasse Hemd und ihre anderen Kleidungsstücke in einem Haufen auf den Fliesen zurück. Doch jetzt brach ein Streit zwischen den Brüdern los: Johannes hatte sich beeilt, in den Bottich zu springen, unter dem Vorwande, daß Zacharias [125] noch esse; dieser stieß ihn, forderte, daß er selbst an die Reihe komme, und schrie, es sei doch artig genug von ihm, daß er Katharina den Vortritt gelassen; er wolle nicht im Schmutze des Jungen baden; nach Johannes könne man mit dem Wasser die Tintenfässer in der Schule füllen. Schließlich wuschen sie sich zusammen, gleichfalls zum Feuer gewendet, waren sogar einander behilflich und rieben sich gegenseitig den Rücken. Dann verschwanden sie gleich ihrer Schwester, indem sie die Treppe hinanliefen.

»Machen die eine Unordnung!« murmelte Frau Maheu, indem sie die Kleider vom Boden auflas, um sie zum Trocknen aufzuhängen. »Alzire, wasche doch ein wenig auf!«

Doch sie wurde durch ein Gepolter unterbrochen, das plötzlich aus dem Nachbarhause hörbar wurde. Es waren die Flüche eines Mannes und das Weinen einer Frau, Getümmel und Gestampfe, dazwischen dumpfe Hiebe, die hohl klangen wie Stöße an einen leeren Kürbis.

»Die Levaque bekommt ihren Teil«, stellte Maheu ganz ruhig fest, indem er mit dem Löffel den letzten Rest der Suppe aus dem Topf kratzte. »Das ist drollig; Bouteloup behauptete, die Suppe sei fertig.«

»Ach freilich, fertig!« sagte die Maheu. »Ich sah die Gemüse noch ungereinigt auf dem Tische liegen.«

Man hörte ein neues, heftiges Geschrei und ein furchtbares Ringen und Stoßen, das die Mauer erschütterte. Dann wurde alles still. Maheu schluckte den letzten Löffel Suppe und schloß mit ruhiger Miene:

»Ja, wenn die Suppe nicht fertig ist, dann ist's begreiflich.«

Er trank ein volles Glas Wasser und machte sich dann an den Fleischkäse. Er schnitt viereckige Stücke ab, die er mit seinem Messer aufspießte und auf seinem Brot aß, ohne eine Gabel zu gebrauchen. Wenn der Vater aß, wurde nicht gesprochen. Er selbst aß schweigend; er erkannte, daß es nicht das gewöhnliche Wurstzeug [126] Maigrats sei, es mußte von anderwärts kommen, doch richtete er an sein Weib keine Frage. Er erkundigte sich nur, ob der Alte oben noch immer schlafe. Nein, der Großvater war schon ausgegangen, um seinen gewohnten Spaziergang zu machen. Abermals trat Stille ein.

Doch der Geruch des Fleisches ließ Leonore und Heinrich aufblicken, die sich am Boden sitzend die Zeit damit vertrieben, aus dem verschütteten Wasser Bäche zu bilden. Beide Kinder stellten sich neben den Vater, das kleinere voran. Ihre Blicke folgten jedem Stücke, sahen hoffnungsvoll, wie es vom Teller geholt wurde, und sahen dann bestürzt, wie es im Munde des Vaters verschwand. Dieser bemerkte schließlich die Gier, von der sie erblaßten, und wie ihnen der Mund wässerig wurde.

»Haben die Kinder davon bekommen?« fragte er.

Als sein Weib mit der Antwort zögerte, fügte er hinzu:

»Du weißt, ich mag kein Unrecht. Es benimmt mir den Appetit, wenn sie dastehen und nach einem Bissen lechzen.«

»Aber ja, sie haben bekommen!« rief sie zornig. »Wenn du auf sie hören willst, kannst du ihnen deinen Teil geben und den Teil der anderen, sie werden sich vollstopfen, bis sie platzen. Nicht wahr, Alzire, wir alle haben Fleischkäse gegessen?«

»Gewiß, Mama«, antwortete die kleine Bucklige, die unter ähnlichen Umständen mit der Keckheit einer erwachsenen Person log.

Leonore und Heinrich waren verblüfft und empört angesichts einer solchen Lüge; sie selbst wurden geprügelt, wenn sie nicht die Wahrheit sagten. Ihre jungen Herzen waren tief gekränkt, und es drängte sie zu widersprechen und zu erklären, daß sie nicht da waren, als die anderen Fleisch aßen.

»Geht!« wiederholte die Mutter und jagte die Kinder in die andere Ecke der Stube. »Ihr sollt euch schämen, immer um den Teller des Vaters zu hocken. Wenn er [127] nur allein bekommt, ist es recht, denn er arbeitet, während ihr Taugenichtse nur Ausgaben verursacht, mehr als ihr wert seid!«

Maheu rief sie zurück, setzte Leonore auf seinen linken Schenkel, Heinrich auf den rechten; dann aß er den Rest des Fleischkäses mit ihnen. Er schnitt kleine Stückchen und gab jedem seinen Teil; die Kinder waren entzückt und verschlangen die Bissen, die der Vater ihnen reichte.

Als er gegessen hatte, sagte er seiner Frau:

»Gib mir noch nicht den Kaffee; ich will mich vorher waschen ... Sei mir behilflich, das schmutzige Wasser auszuschütten.«

Sie faßten den Bottich an beiden Henkeln und leerten ihn in die Gosse vor der Tür. In diesem Augenblick kam Johannes herunter; er hatte trockene Kleider an, eine Hose und einen Kittel von Wollstoff; beide Stücke waren zu groß, sein älterer Bruder hatte sie abgelegt. Als seine Mutter ihn durch die Tür schlüpfen sah, hielt sie ihn an.

»Wohin gehst du?«

»Dorthin.«

»Wo dorthin? ... Du pflückst mir für den Abend Löwenzahnsalat. Hörst du? Wenn du ohne Salat heimkommst, bekommst du es mit mir zu tun.«

»Gut, gut.«

Johannes ging mit den Händen in den Taschen, die Holzschuhe schleppend, seine mageren Lenden wiegend wie ein alter Grubenarbeiter. Jetzt kam auch Zacharias herunter, sorgfältiger in seinem Äußern, den Oberleib bekleidet mit einem schwarzen, blaugestreiften Wolltrikot. Sein Vater rief ihm zu, er solle nicht zu spät heimkommen; er ging kopfnickend davon mit der Pfeife zwischen den Zähnen, ohne zu antworten.

Der Bottich war wieder mit lauwarmem Wasser gefüllt. Maheu zog langsam die Jacke aus. Auf einen Wink führte Alzire Leonore und Heinrich hinaus. Der Vater liebte es nicht, sich vor der Familie zu waschen, wie dies [128] in vielen anderen Häusern des Arbeiterdorfes vorkam. Er tadelte übrigens niemand; er sagte bloß, es passe sich für Kinder, zusammen im Wasser zu plätschern.

»Was machst du da oben?« rief die Maheu über die Treppe hinauf.

»Ich bessere mein Kleid aus, das ich gestern zerrissen habe«, antwortete Katharina.

»Gut; komm jetzt nicht herunter, dein Vater wäscht sich.«

Maheu und sein Weib blieben jetzt allein. Diese legte Estelle, die merkwürdigerweise nicht heulte, auf einen Stuhl, weil sie sich neben dem Feuer wohl befand und von da ihre leeren Blicke auf die Eltern richtete. Maheu hockte nunmehr vor dem Bottich; er hatte zuerst den Kopf hineingesteckt und mit schwarzer Seife gerieben, deren Jahrhunderte währender Gebrauch die Haare des ganzen Stammes entfärbte und gelb machte. Dann stieg er ins Wasser, bestrich die Brust, den Bauch, die Arme, die Schenkel und bearbeitete sie kräftig mit beiden Händen. Sein Weib stand dabei und schaute ihm zu.

»Hör' einmal,« begann sie, »ich habe gesehen, wie du Augen machtest, als du heimkamst ... Du hast dir wohl den Tag über Kummer gemacht, und der Anblick dieser Vorräte hat dich aufgeheitert ... Denke dir, daß die Spießbürger in der Piolaine mir nicht einen Sou gegeben haben. Sie waren sehr freundlich, haben die Kleinen bekleidet, und ich schämte mich um Geld zu bitten, denn mir bleibt das Wort in der Kehle stecken, wenn ich betteln soll.«

Sie unterbrach sich einen Augenblick, um Estelle auf dem Sessel zurechtzulegen. Der Vater fuhr fort, sich die Haut abzureiben, ohne durch eine Frage diese ihn interessierende Geschichte zu beschleunigen, und geduldig wartend, bis er begreifen werde.

»Ich muß dir sagen, daß Maigrat mir den Kredit verweigert hat; ja, rundweg verweigert, wie man einen Hund hinausjagt ... Du kannst dir meine Lage vorstellen. [129] Wollene Kleider mögen ja gut warm halten, aber damit hat man noch nichts im Magen. Ist's nicht so?«

Er hob den Kopf, ohne etwas zu sagen. Nichts in der Piolaine, nichts bei Maigrat, was denn? Doch schon hatte sie, wie sie es gewöhnlich tat, die Ärmel aufgeschürzt, um ihm den Rücken und jene Teile des Körpers zu waschen, die er selbst nicht leicht erreichen konnte. Er liebte es übrigens, daß sie ihn einseifte, daß sie ihn überall rieb, bis die Handknöchel sie schmerzten. Sie nahm die Seife und bearbeitete ihm die Schultern, während er sich in die Höhe reckte, um den Druck ihrer Hände auszuhalten.

»Ich bin dann zu Maigrat zurückgegangen und habe ihm Worte gesagt, feine Worte! ... Es müsse einer kein Herz im Leibe haben, um so zu handeln, und es müsse ihm schlimm ergehen, wenn es noch eine Gerechtigkeit gebe ... Das ging ihm an die Kehle; er wandte den Kopf weg und wäre am liebsten fortgelaufen ...«

Während sie ihn abseifte, fuhr sie fort:

»Schließlich hat er mich eine alte Klette genannt ... Doch wir werden Brot haben bis zum Samstag, und das schönste ist, daß er mir auch hundert Sous geliehen hat ... Ich nahm bei ihm noch Butter, Kaffee und Zichorie; ich wollte auch Wurst und Kartoffeln nehmen, doch da begann er zu brummen ... Für sieben Sous Fleischkäse, für achtzehn Sous Kartoffeln; es blieben mir drei Franken und fünfundsiebzig Centimes für ein Ragout und ein Suppenfleisch ... Ich glaube meinen Vormittag ganz gut genutzt zu haben.«

Jetzt trocknete sie ihn ab und betupfte mit einem Lappen die Stellen, wo er nicht gleich trocken werden wollte. Er war froh, dachte nicht daran, daß die Schuld auch bezahlt werden müsse, brach in ein helles Lachen aus und schloß sie in seine Arme.

»Laß doch, Narr! Du bist noch ganz naß und wirst mich auch feucht machen ... Aber«, fügte sie hinzu, »ich glaube, Maigrat hat gewisse Absichten ...«

[130] Sie wollte von Katharina reden, hielt aber inne. Wozu sollte sie den Vater beunruhigen? Das gäbe wieder Geschichten ohne Ende.

»Was für Absichten?« fragte er.

»Die Absicht, uns zu betrügen. Katharina wird seine Rechnung genau prüfen müssen.«

Als Maheu trocken war, zog er bloß ein trockenes Beinkleid an. Wenn er sauber war und mit seinem Weibe geschäkert hatte, war es sein Vergnügen, eine Weile mit nacktem Rumpf zu bleiben. In seiner Haut, die so weiß war wie bei blutarmen Mädchen, gab es allerlei Risse und Schnitte, die von der Kohle herrührten; die Grubenarbeiter nannten dies »Augen«. Er tat ganz stolz, zeigte seine dicken Arme, seine breite Brust, die wie blau geäderter Marmor schimmerten. Zur Sommerzeit konnte man alle Grubenarbeiter so vor ihren Haustüren sehen. Er ging auch jetzt einen Augenblick hinaus, trotz des feuchten Wetters, und rief einem Kameraden, der jenseits der Gärten, gleichfalls mit nackter Brust, auf der Straße stand, ein gepfeffertes Wort hinüber. Es kamen noch andere heraus; und die Kinder, die auf dem Trottoir spielten, schauten auf und stimmten lachend mit ein in die Freude über all das müde Fleisch der Arbeiter, das in die freie Luft gebracht wurde.

Während er seinen Kaffee trank – ehe er noch sein Hemd übergeworfen hatte –, erzählte Maheu seinem Weibe von dem Zorn des Ingenieurs wegen der Verschalung. Er war jetzt ruhig und gelassen und hörte mit zustimmendem Kopfnicken die weisen Ratschläge seines Weibes an, das in diesen Dingen sehr viel gesunden Sinn zeigte. Sie wiederholte ihm immer wieder, daß bei Reibungen mit der Gesellschaft nichts zu gewinnen sei. Dann erzählte sie ihm von dem Besuch der Frau Hennebeau; beide waren stolz, ohne es zu sagen.

»Kann man hinunterkommen?« fragte Katharina von der Höhe der Treppe.

Das Mädchen hatte ihren Sonntagsstaat angelegt, ein [131] altes Kleid von blauer Popeline, in den Falten schon verblaßt und abgenützt. Auf dem Kopfe trug sie ein einfaches Häubchen von schwarzem Tüll.

»Schau, du hast dich angekleidet ... Wohin gehst du denn?«

»Ich gehe nach Montsou, um ein Band für meine Haube zu kaufen. Ich habe das alte weggerissen; es war zu schmutzig.«

»Hast du denn Geld?«

»Nein; die Mouquette hat mir versprochen, mir zehn Sous zu leihen.«

Die Mutter ließ sie ziehen; doch als Katharina schon bei der Tür war, rief sie ihr nach:

»Hör' einmal: kaufe dein Band nicht bei Maigrat ... Er betrügt dich und könnte glauben, daß wir im Gelde wühlen.«

Der Vater, der sich vor dem Feuer niedergehockt hatte, um Nacken und Achselhöhlen rascher zu trocknen, begnügte sich hinzuzufügen:

»Lauf des Nachts nicht auf den Straßen umher.«

Am Nachmittag arbeitete Maheu in seinem Garten. Er hatte schon Kartoffeln, Bohnen und Erbsen gepflanzt; auch hatte er sich gestern Kohl und Lattich zum Setzen bereitgestellt. Dieser Winkel des Gartens versorgte sie mit Gemüsen, Kartoffeln ausgenommen, von denen sie nie genug haben konnten. Er war im Gartenbau sehr bewandert und zog selbst Artischocken, was von den Nachbarn als Großtuerei angesehen wurde. Eben als er sich anschickte, die Pflanzen zu setzen, erschien Levaque, seine Pfeife rauchend, in seinem Gärtchen und betrachtete den Salat, den Bouteloup am Morgen gepflanzt hatte; hätte nicht der Mieter in dem Gärtchen einiges gearbeitet, wäre es von Brennesseln überwuchert. Die beiden begannen ein Gespräch über den Gartenzaun hinweg. Levaque, noch müde und aufgeregt von den Prügeln, die er seiner Frau verabreicht hatte, machte vergebliche Anstrengungen, Maheu in die Schenke Rasseneurs zu locken. Hatte er vor einem [132] Schoppen Angst? Man werde eine Kegelpartie machen, dann mit den Kameraden eine Weile herumstreichen und schließlich zum Abendessen heimkehren. So lebten die Arbeiter, wenn sie die Grube verlassen hatten. Es sei gewiß nichts Übles dabei; allein Maheu weigerte sich; er müsse seine Pflänzlein setzen, sagte er. Im Grunde weigerte er sich aus kluger Vorsicht; er wollte nicht einen Heller von dem verlangen, was seinem Weibe von den hundert Sous noch übriggeblieben war.

Es schlug fünf Uhr, als Frau Pierron kam, um zu fragen, ob ihre Lydia nicht mit Johannes fortgegangen sei. Levaque erwiderte, es müsse wohl so sein, da Bebert gleichfalls verschwunden sei und diese drei immer zusammen ihre schlimmen Streiche machten. Nachdem Maheu sie beruhigt hatte, indem er erzählte, daß die Kinder Löwenzahn zum Abendsalat suchten, begannen er und der Nachbar mit gutmütiger Ungezwungenheit Frau Pierron zu necken. Ihr kam eine magere Frau zu Hilfe, deren stammelnder Zorn dem Gegacker einer Henne glich. Andere Hausfrauen erschienen gleichfalls vor der Tür und zeigten gelinde Entrüstung. Jetzt war auch die Schule aus; die Kinder lungerten auf dem Straßenpflaster herum, es war ein Gewimmel von kleinen Wesen, die sich am Boden wälzten und balgten, während die Väter, die nicht in der Schenke waren, in Gruppen zu dreien und vieren auf ihren Fersen hockten wie in der Grube und im Schatten einer Mauer ihre Pfeife rauchen. Endlich entfernte sich Frau Pierron.

Das Abenddunkel brach plötzlich herein; Frau Maheu zündete die Lampe an, verdrossen darüber, daß weder die Tochter noch die Jungen heimkehrten. Sie hätte darauf wetten können: es wollte nie gelingen, zusammen die einzige Mahlzeit einzunehmen, bei der man sich rings um den Tisch hätte versammeln können. Dann wieder war es der Löwenzahnsalat, auf den sie wartete. Was konnte denn der Schlingel in der pechfinsteren Nacht noch pflücken? Ein Salat sei eine schöne Zutat zu dem Gemüse, das sie bereitet habe, eine Mischung [133] von Kartoffeln, Sauerampfer, Lauch und geschmorten Zwiebeln. Das ganze Haus war vom Wohlgeruch der geschmorten Zwiebeln angefüllt, diesem Geruch, der so schnell ranzig wird und als übler Gestank durch die Ziegelwände dieser Arbeiterhäuser dringt, daß man schon weit draußen im Freien die Nähe des Arbeiterdorfes erraten kann.

Als Maheu bei eingetretener Dunkelheit den Garten verließ, schlummerte er sogleich auf einem Sessel ein, den Kopf an die Wand gelehnt. Sobald er sich des Abends setzte, schlief er ein. Die Kuckucksuhr schlug die siebente Abendstunde; Heinrich und Leonore zerbrachen einen Teller, weil sie sich es in den Kopf gesetzt hatten, Alzire bei dem Tischdecken zu helfen. Jetzt kam Vater Bonnemort als erster nach Hause; er wollte rasch essen, um zur Grube zurückzukehren. Frau Maheu weckte ihren Mann.

»Laß uns essen; um so schlimmer für die Rangen! ... Sie sind groß genug, um den Weg nach Hause zu finden. Es ist nur schade, daß wir keinen Salat haben.«

Fünftes Kapitel

Etienne war, nachdem er in Rasseneurs Herberge eine Suppe gegessen, in die ihm angewiesene schmale Dachkammer hinaufgegangen und todmüde, völlig angekleidet, auf das Bett gesunken. In zwei Tagen hatte er nicht vier Stunden geschlafen. Als er in der Abenddämmerung erwachte, war er eine Weile betäubt und erkannte den Ort nicht, wo er sich befand. Er fühlte ein solches Unbehagen, eine solche Schwere des Kopfes, daß er sich mühsam aufrichtete, um ein wenig frische Luft zu schöpfen, bevor er sein Abendessen einnahm und sein Nachtlager aufsuchte.

Das Wetter draußen heiterte sich immer mehr auf; der bisher tiefschwarze Himmel bedeckte sich mit[134] kupferroten Wolken, die einen lang andauernden Regen ankündeten, wie er in Nordfrankreich häufig ist; die feuchte Wärme der Luft verriet seine Nähe. Die Nacht brach schnell herein und hüllte die verschwimmenden Fernen der Ebene wieder in tiefe Finsternis. Über diesem unermeßlichen Meer von rötlichen Flecken schien der tiefhängende Himmel in schwarzem Staube zu zerfließen, und nicht der leiseste Windhauch belebte die nächtliche Finsternis. Es war die stille, fahle Trübsal eines Kirchhofes.

Etienne ging geradeaus vor sich hin; er hatte keinen andern Zweck, als sein Fieber abzuschütteln. Als er bei dem Voreuxschachte vorbeikam, der dunkel in seiner Vertiefung lag, ohne jede Lampe, blieb er einen Augenblick stehen, um den Auszug der Tagarbeiter mit anzusehen. Ohne Zweifel war es sechs Uhr vorüber; Karrenschieber, Verlader, Pferdewärter kamen gruppenweise heraus, dazwischen auch Mädchen vom Sichtungswerk, deren undeutliche Gestalten sich im Dunkel entfernten.

Zuerst erschien die Brulé mit ihrem Schwiegersohn Pierron. Sie zankte ihn aus, weil er sie in einem Streite, den sie mit einem Aufseher wegen ihrer Arbeitsleistung gehabt, nicht unterstützt hatte.

»Du bist ein Schwächling! Wie kann ein Mann sich so ducken vor einem dieser Saukerle, die uns das Mark aus den Knochen saugen!«

Pierron folgte ihr ruhig, ohne zu antworten. Schließlich sagte er:

»Hätte ich vielleicht Händel mit ihm anfangen sollen? Ich danke für solchen Verdruß.«

»Ja, halte ihm nur den Rücken hin!« schrie sie. »Herrgott! Wenn meine Tochter mir gehorcht hätte! ... Ist es nicht genug, daß sie mir den Mann getötet? Soll ich mich bei ihnen noch bedanken? Nein, wahrhaftig, wenn ich ein Mann wäre, ich würde sie schinden!«

Ihre Stimmen verloren sich. Etienne sah die Alte sich entfernen mit ihrer Adlernase, ihrem fliegenden, weißen Haar, ihren mageren, langen Armen, die wütend herumfuchtelten. [135] Doch jetzt ward er auf das Gespräch von zwei jungen Leuten aufmerksam, die hinter ihm herkamen. Er erkannte Zacharias, der hier auf seinen Freund Mouquet gewartet hatte.

»Bist du da?« fragte dieser. »Wir wollen rasch essen und dann zum ›Vulkan‹ gehen.«

»Sogleich; ich habe zu tun.«

»Was denn?«

Er wandte sich um und bemerkte Philomene, die aus dem Sichtungswerk kam. Er schien zu begreifen.

Als Mouquet ging, begegnete er seinem Vater, dem alten Mouquet, der ebenfalls aus dem Voreuxschacht kam; die beiden Männer sagten einander gute Nacht, dann ging der Sohn auf der Straße fort, während der Vater längs des Kanals dahineilte.

Zacharias drängte Philomene – trotz ihres Widerstrebens – nach demselben abgelegenen Wege. Sie habe Eile, sagte sie; ein andermal.

»Komm mit mir«, brummte er ungeduldig. »Ich habe dir etwas zu sagen.«

Er hielt sie umschlungen und führte sie mit sanfter Gewalt fort. Als sie sich im Schatten des Hügels befanden, wollte er wissen, ob sie Geld habe.

»Wozu denn?« fragte sie.

Er geriet in Verwirrung und redete etwas von einer Schuld von zwei Franken, die seiner Familie schwere Sorgen verursache.

»Schweig! ... Ich habe Mouquet gesehen; du gehst wieder nach dem ›Vulkan‹, wo die schmutzigen Bänkelsängerinnen sind.«

Er verteidigte sich, schlug sich an die Brust und gab sein Ehrenwort. Als sie zu alldem nur mit den Achseln zuckte, sagte er plötzlich:

»Komm mit uns, wenn es dir Vergnügen macht ... Du siehst wohl, daß du mir nicht im Wege bist. Was will ich denn auch mit diesen Bänkelsängerinnen? ... Kommst du?«

[136] »Und der Kleine?« erwiderte sie. »Mit einem Kinde, das ewig heult, kann man sich nicht rühren ... Laß mich nach Hause gehen; ich wette, daß man dort vor Geschrei sein eigen Wort nicht mehr hört.«

Allein er hielt sie zurück und bat. Sie möge Vernunft annehmen; es sei nur, um nicht vor Mouquet als Tölpel zu erscheinen, dem er mitzutun versprochen habe. Ein Mann könne nicht jeden Abend mit den Hühnern schlafen gehen. Endlich überredet, schlug sie ihr Leibchen zurück, trennte mit dem Nagel die Naht auf und zog aus einer Ecke des Saumes mehrere Zehnsousstücke hervor. Aus Furcht, von ihrer Mutter bestohlen zu werden, verbarg sie den Lohn der Überstunden, die sie in der Grube machte.

»Ich habe fünf, wie du siehst, und will dir drei davon geben«, sagte sie ... »Doch mußt du mir schwören, daß du deine Mutter zur Heirat bestimmst. Ich habe dies Leben satt. Überdies wirft mir meine Mutter jeden Bissen vor, den ich esse ... Schwöre, schwöre zuerst!«

Sie sprach zu ihm mit der weichen Stimme eines großen, kränklichen, leidenschaftslosen Mädchens, das seines Daseins überdrüssig ist. Er schwor und beteuerte. Sie kehrte allein nach dem Arbeiterdorfe zurück, während er querfeldein ging, um seinen Kameraden einzuholen.

Etienne war ihnen mechanisch von fern gefolgt, ohne zu begreifen, in dem Glauben, es handle sich um ein bloßes Stelldichein. Die Mädchen in den Bergwerken waren frühzeitig reif; er erinnerte sich der Arbeiterinnen von Lille, Mädchen, die in der Verlassenheit ihres Elends schon mit vierzehn Jahren verderbt waren. Aber eine andere Begegnung überraschte ihn noch mehr, und er hielt auf seinem Wege inne.

Am Fuße des Hügels, in einem schluchtartigen Spalt voller Steine, die aus der Höhe niedergekollert waren, saß der kleine Johannes und zankte sehr heftig mit Lydia und Bebert, die rechts und links von ihm saßen.

[137] »Was sagt ihr? ... Ich werde jedem von euch noch eine Maulschelle verabreichen, wenn ihr nicht zufrieden seid ... Von wem ist der Einfall?«

In der Tat hatte Johannes einen Einfall gehabt. Nachdem er sich mit den beiden anderen eine Stunde lang in den Feldern längs des Kanals herumgetrieben und Löwenzahn gesammelt hatte, kam er angesichts des Salathaufens auf den Gedanken, daß man zu Hause unmöglich soviel Salat werde essen können; aber anstatt nach dem Arbeiterdorfe zurückzukehren, war er nach Montsou gegangen, hatte Bebert als Aufpasser bei sich behalten und Lydia genötigt, bei den Bürgersleuten anzuläuten und Löwenzahnsalat zum Kauf anzubieten. Er war erfahren in solchen Dingen und sagte, die Mädchen könnten alles verkaufen, was sie wollten. Im Eifer dieses Handels wurde das ganze Bund Salat verkauft, die Kleine brachte elf Sous zusammen, und jetzt wollten sie den Erlös teilen.

»Das ist ungerecht«, erklärte Bebert. »Das Geld muß in drei gleiche Teile geteilt werden ... Wenn du sieben Sous für dich behältst, entfallen auf uns beide nur je zwei Sous.«

»Warum ist das ungerecht?« entgegnete Johannes wütend. »Vor allem habe ich mehr Salat gepflückt.«

Gewöhnlich unterwarf sich der andere mit einer furchtsamen Bewunderung und einer Leichtgläubigkeit, die ihn stets das Opfer sein ließ. Obgleich älter und stärker als Johannes, ließ er sich von diesem sogar ohrfeigen. Allein das viele Geld reizte ihn diesmal zum Widerstand.

»Nicht wahr, Lydia, er betrügt uns? ... Wenn er nicht gleichmäßig teilen will, sagen wir es seiner Mutter.«

Als Johannes dies hörte, streckte er dem andern die Faust unter die Nase.

»Sag' das noch einmal! Ich werde zu euch gehen und erzählen, daß ihr den Salat, der für die Mutter bestimmt war, verkauft habt ... Und dann, Tölpel, kann man denn elf in drei gleiche Teile aufteilen? Versuche [138] es einmal, wenn du gar so pfiffig bist ... Da hat jeder von euch seine zwei Sous. Nehmt sie rasch, sonst stecke ich sie wieder ein.«

Bebert war besiegt und nahm die zwei Sous. Die zitternde Lydia hatte nichts gesagt; sie hatte vor Johannes die Angst einer geprügelten kleinen Frau. Als er ihr die zwei Sous reichte, streckte sie mit einem unterwürfigen Lachen die Hand aus. Allein er überlegte sich plötzlich die Sache.

»Was willst du mit dem vielen Gelde anfangen?« fragte er. »Deine Mutter wird es dir sicher abnehmen, wenn du es nicht zu verstecken weißt ... Es ist besser, ich behalte es bei mir. Wenn du Geld brauchst, verlange es von mir.«

Damit verschwanden die neun Sous. Um sie still zu machen, hatte er sie lachend umfangen.

Da Bebert zu solchen Vergnügungen nicht zugelassen wurde, vielmehr Kopfnüsse erhielt, wenn er Lydia anrühren wollte, war er verlegen und wütend, wenn die anderen zwei sich herzten, was sie völlig ungezwungen in seiner Gegenwart taten. Darum hatte er denn nur einen Gedanken: sie zu erschrecken und zu stören, indem er ihnen zurief, daß man sie sehe.

»Aufgepaßt! Ein Mann schaut zu!«

Diesmal log er nicht; es war Etienne, der sich entschloß, seinen Weg fortzusetzen. Die Kinder sprangen auf und liefen davon; er selbst ging weiter um den Hügel herum und dann den Kanal entlang, erheitert durch den Schrecken dieser kleinen Schelme.

Hundert Schritt weiter stieß er wieder auf Liebespaare. Er hatte Réquillart erreicht, und hier strichen rings um das alte, verfallene Bergwerk alle Mädchen von Montsou mit ihren Liebhabern umher.

Indes wohnte ein Wächter da, der alte Mouquet, dem die Gesellschaft zwei, fast unter dem niedergerissenen Schachtturme gelegene Stuben überließ, die der stets zu gewärtigende Einsturz der letzten Balken zu verschütten drohte. Er hatte einen Teil der Decke stützen [139] müssen und lebte da sehr behaglich mit seiner Familie, er und Mouquet in der einen Stube, die Mouquette in der anderen. Da es in den Fenstern keine einzige Scheibe mehr gab, hatte er sich entschlossen, sie mit Brettern zu vernageln; dies machte die Stuben dunkel, aber auch recht warm. Im übrigen hatte dieser Wächter nichts zu bewachen; er wartete die Pferde im Voreuxschacht und kümmerte sich nicht um die Ruinen der Réquillartgrube, deren Einfahrt man nur offen ließ, um sie als Lüftungsschacht für die benachbarte Grube zu benutzen.

So verlebte Vater Mouquet hier seine alten Tage, umgeben von Liebeshändeln. Jeden Abend erhielt er den Besuch seines Freundes, des Vaters Bonnemort, der vor dem Abendessen regelmäßig denselben Spaziergang machte. Die beiden Alten redeten nicht viel, tauschten kaum zehn Worte während der halben Stunde aus, die sie zusammen verbrachten. Aber es freute sie, sich so zusammenzufinden, an die Dinge von einst zu denken, die sie gemeinsam neu durchlebten, ohne davon zu reden. Zu Réquillart setzten sie sich auf einen Balken Seite an Seite, ließen von Zeit zu Zeit ein Wort fallen und versanken dann wieder in ihre Träumerei, die Blicke zu Boden gesenkt. Ohne Zweifel verjüngten sie sich. Rings um sie her kosten Burschen mit ihren Schätzen; die Alten schüttelten die Köpfe und trennten sich endlich, oft ohne sich auch nur gute Nacht zu sagen.

Diesen Abend jedoch sagte, eben als Etienne ankam, der Vater Bonnemort, indem er sich vom Balken erhob, um heimzukehren, zu seinem Kameraden Mouquet:

»Gute Nacht, Alter! ... Sprich, hast du die ›Brenzliche‹ gekannt?«

Mouquet blieb einen Augenblick stumm und zuckte nur mit den Achseln; dann sagte er, ins Haus zurückkehrend:

»Gute Nacht! Gute Nacht, Alter!«

Jetzt ließ sich Etienne auf dem Balken nieder. Seine Traurigkeit wuchs, ohne daß er wußte weshalb. Der [140] Greis, dessen Rücken er verschwinden sah, erinnerte ihn an seine Ankunft am Morgen und die vielen Worte, die der ärgerliche Wind dem stillen Alten abgepreßt hatte. Wieviel Elend! Alle diese Mädchen, die, von der Arbeit erschöpft, noch dumm genug waren, abends Geschöpfe in die Welt zu setzen, deren Schicksal harte Arbeit und Elend war! Vielleicht hing er nur deshalb solchen trüben Gedanken nach, weil es ihn verdroß, allein zu sein, während die anderen jetzt zu zwei und zwei ihres Weges gingen und scherzten. Das milde Wetter drückte auf ihn; einzelne Regentropfen fielen auf seine fiebernden Hände. Jawohl, alle diese Mädchen fielen der Leidenschaft zum Opfer; sie war stärker als die Vernunft.

Wie Etienne im Dunkel unbeweglich dasaß, kam eben ein Paar von Montsou her an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken, und betrat das wüste Feld des Réquillartschachtes. Das Mädchen war Katharina, mit dem langen Chaval. Etienne hatte sie nicht erkannt, als sie vorübergingen, und folgte ihnen mit den Augen. Warum hätte er sich einmengen sollen?

Das Dorf der Zweihundertvierzig verlassend, war Katharina immer auf der Straße nach Montsou gegangen. Seit ihrem zehnten Jahre, nämlich seitdem sie ihren Lebensunterhalt in der Grube erwarb, streifte sie so in der Gegend umher in der vollen Freiheit, welche die Grubenarbeiterfamilien genossen. Bei dem Werkhof angekommen, ging sie quer über die Straße und trat bei einer Wäscherin ein, wo sie die Mouquette zu finden hoffte; denn diese lebte in Gesellschaft von Weibern, die vom Morgen bis zum Abend herumsaßen und sich gegenseitig Kaffee zahlten. Allein zu ihrem Verdruß mußte sie erfahren, daß die Mouquette soeben die Gesellschaft freigehalten hatte und folglich ihr die versprochenen zehn Sous nicht leihen konnte. Vergebens bot man ihr, um sie zu trösten, ein Glas heißen Kaffee an. Sie wollte auch nicht, daß ihre Kameradin von einem andern Frauenzimmer die zehn Sous borge. [141] Eine Regung der Sparsamkeit kam über sie, eine Art abergläubischer Furcht, die Gewißheit, daß das Band, wenn sie es jetzt kaufe, ihr Unglück bringen werde.

Sie beeilte sich, den Heimweg einzuschlagen, und war schon bei den letzten Häusern von Montsou, als ein Mann, der auf der Schwelle der Herberge Piquettes stand, sie anrief:

»He, Katharina, wohin so geschwind?«

Es war der lange Chaval. Sie war verdrossen über diese Begegnung, nicht weil er ihr mißfiel, sondern weil sie nicht zum Spaßen gelaunt war.

»Komm herein, etwas trinken ... Ein Gläschen Süßen – willst du?«

Sie lehnte artig ab; die Nacht sei da, man erwarte sie zu Hause. Er war näher gekommen bis mitten in die Straße und bat sie mit leiser Stimme. Von einer Sache zur andern kommend, sprach sie von dem blauen Band, das sie nicht hatte kaufen können.

»Ich will dir eins kaufen«, rief er.

Sie errötete, weil sie fühlte, daß sie wohl daran tue, noch immer abzulehnen; im Grunde wurde sie aber dennoch von dem Verlangen geplagt, ihr Band zu haben. Sie nahm schließlich sein Anerbieten an unter der Bedingung, daß sie ihm zurückgeben dürfe, was er für sie auslege. Das gab wieder Anlaß zu Scherzen; sie kamen überein, daß sie ihm das Geld zurückerstatte, wenn sie nicht mit ihm tanze. Eine neue Schwierigkeit ergab sich, als er davon sprach, daß sie das Band bei Maigrat kaufen solle.

»Nein, nicht bei Maigrat; die Mutter hat es mir verboten.«

»Laß das; man muß nicht immer erzählen, wohin man geht ... Maigrat hat die schönsten Bänder in Montsou.«

Als Maigrat den langen Chaval und Katharina in seinen Laden eintreten sah wie zwei Verliebte, die ihr[142] Hochzeitsgeschenk kaufen, wurde er sehr rot und zeigte seine blauen Bänder mit der Wut eines Menschen, den man verhöhnt. Sobald er die jungen Leute bedient hatte, stellte er sich auf die Schwelle, um ihnen nachzuschauen, wie sie in dem Abenddunkel sich entfernten; als seine Frau kam, um eine Aufklärung zu verlangen, fiel er mit Schimpfreden über sie her und schrie, daß eines Tages die schmutzige Welt, die ihm den Staub von den Füßen lecken müßte, für ihren Undank büßen sollte.

Der lange Chaval gab auf der Straße Katharina das Geleite. Mit hängenden Armen ging er neben ihr her, aber er stieß sie an die Hüfte und führte sie, ohne es merken zu lassen. Plötzlich wurde sie gewahr, daß er sie veranlaßt hatte, die Heerstraße zu verlassen, und daß sie zusammen den schmalen Weg nach Réquillart einschlugen. Doch sie fand nicht Zeit, deshalb zu grollen: er hatte sie schon um den Leib gefaßt und betäubte sie mit einer Flut von Schmeichelworten. Sie sei doch einfältig, sich zu fürchten; wolle er ihr denn Schlimmes zufügen, der lieben Kleinen, die so fein sei wie Seide und zart zum Fressen? Er blies ihr hinter das Ohr, in den Hals, daß eine Gänsehaut sie überlief. Ihr versagte die Stimme, sie fand kein Wort. Während er mit seinem Schnurrbart ihr den Nacken kitzelte, so lieblich, daß sie dabei die Augen schloß, zog in ihrer Seele der Schatten eines andern Mannes vorüber, des jungen Menschen, den sie am Morgen gesehen.

Plötzlich blickte Katharina um sich. Chaval hatte sie unter die Ruinen von Réquillart geführt, und sie schauderte vor der Finsternis des eingestürzten Schuppens.

»O nein, nein!« murmelte sie. »Laß mich los, ich bitte dich!«

Doch er redete nichts mehr. Er hatte sie fest umschlungen und drängte sie unter den Schuppen.

Etienne hatte gelauscht, ohne sich zu rühren. Wieder eine, die zu Fall kam! Und nun, da er die Komödie [143] gesehen, erhob er sich, erfüllt von Mißbehagen, Eifersucht und Zorn. Er war sehr überrascht, als er nach etwa hundert Schritt auf der Straße sich umwandte und sah, daß sie schon wieder dort waren und, gleich ihm, den Weg nach dem Dorfe einzuschlagen schienen.

Da wurde Etienne von dem Verlangen gequält, ihre Gesichter zu sehen. Es war albern, und er beschleunigte seine Schritte, um der Versuchung nicht nachzugeben. Doch seine Füße verlangsamten ihre Schritte von selbst; bei der ersten Laterne verbarg er sich im Schatten. Er war starr, als er Katharina und den langen Chaval erkannte. Er zweifelte zuerst. War sie es wirklich, dies Mädchen im blauen Kleide mit dem Häubchen, war dies der vermeintliche Junge, den er am Morgen in Hose und Leinwandkappe gesehen hatte? Doch er zweifelte nicht länger; er hatte ihre Augen wiedererkannt, die grünliche Durchsichtigkeit dieser klaren, tiefen Quellen. Welche Schande! Er fühlte ein wütendes Bedürfnis, sich an ihr zu rächen, ohne Beweggrund, bloß aus Verachtung. Sie mißfiel ihm übrigens in ihrer Mädchenkleidung; er fand sie abscheulich.

Katharina und Chaval waren langsam vorübergegangen. Sie ahnten nicht, daß sie bespäht wurden; er hielt sie einen Augenblick an, um sie hinter dem Ohr zu küssen, während sie stehenblieb, um seine Liebkosungen zu genießen, die sie zum Lachen brachten. Etienne war zurückgeblieben, mußte ihnen aber dennoch folgen, ärgerlich darüber, daß sie ihm den Weg verstellten, und die Dinge mit ansehen, die ihn erbitterten. So war es denn wahr, was sie ihm am Morgen geschworen hatte: sie war noch niemandes Geliebte; und er hatte es nicht geglaubt, hatte sich ihrer beraubt, um nicht so zu tun wie der andere, hatte sie sich vor der Nase wegfischen lassen und die Albernheit so weit getrieben, sich in kindischer Weise an ihrem Anblick zu erheitern. Das raubte ihm schier die Sinne; er ballte die Fäuste und hätte diesen Mann zerreißen können in einem jener [144] Anfälle von Mordgier, in denen ihm rot vor den Augen wurde.

Der Spaziergang dauerte eine halbe Stunde. Als Chaval und Katharina sich dem Voreuxschachte näherten, verlangsamten sie ihren Gang noch mehr, blieben zweimal am Kanal, dreimal am Fuße des Hügels stehen, in heiterem, zärtlichem Getändel sich vergessend. Auch Etienne mußte jedesmal stehenbleiben, damit sie ihn nicht bemerkten. Er zwang sich, nicht mehr als brutales Bedauern zu fühlen. Jenseits des Voreuxschachtes, wo er endlich unbehindert zu Rasseneur hätte zurückkehren können, um sein Abendessen einzunehmen, folgte er ihnen noch immer, begleitete sie zum Dorfe, blieb da eine Viertelstunde im Schatten verborgen stehen und wartete, bis Chaval endlich Katharina heimkehren ließ. Als er sich vergewissert hatte, daß sie nicht mehr beisammen waren, nahm er seinen Gang wieder auf und wanderte sehr weit auf die Straße gen Marchiennes hinaus, ohne Gedanken, zu gedrückt und zu traurig, um sich in sein Zimmer einzuschließen.

Erst eine Stunde später gegen neun Uhr durchschritt Etienne wieder das Dorf, indem er sich sagte, er müsse zu Nacht essen und schlafen gehen, wenn er am nächsten Morgen um vier Uhr wach sein wolle. Das Dorf schlief schon in der nächtlichen Finsternis. Der Tag war zu Ende; die Arbeiter sanken vom Tisch in das Bett, erdrückt von Müdigkeit und Sättigung.

In der beleuchteten Wirtsstube Rasseneurs fand er einen Maschinisten und zwei Tagarbeiter bei ihrem Bierschoppen. Bevor er eintrat, warf Etienne noch einen letzten Blick in die dunkle Nacht hinaus. Er fand dieselbe schwarze Unermeßlichkeit wie am Morgen, als er, vom Sturm gejagt, hier ankam. Vor ihm hockte der Voreuxschacht, einem bösartigen Tiere gleich, undeutlich, bloß da und dort schwebte das winzige Licht einer Laterne. Die drei Kohlenfeuer brannten frei auf dem Hügel wie blutrote Monde, von denen sich dann und [145] wann die ins Ungemessene vergrößerten Schattenrisse des Vaters Bonnemort und seines gelben Gaules abhoben. Darüber hinaus in der flachen Ebene hatte die Dunkelheit alles verschlungen: Montsou, Marchiennes, den Wald von Vandame, das weite Meer der Rüben- und Getreidefelder, wo nur noch – fernen Leuchtfeuern gleich – die blauen Flammen der Hochöfen und die rote Glut der Koksöfen glänzten. Immer dichter senkte die nächtliche Finsternis sich herab; jetzt fiel Regen, langsam und andauernd, und hüllte die Nachtlandschaft in seine eintönige Flut ein. Nur eine einzige Stimme blieb hörbar: der kräftig pfeifende Atem der Fördermaschine, die Tag und Nacht arbeitete.

Dritter Teil

Erstes Kapitel

An den folgenden Tagen setzte Etienne seine Arbeit in der Grube fort. Er gewöhnte sieh daran; sein Leben regelte sich nach dieser Arbeit und nach den neuen Gebräuchen, die ihm anfänglich so schwer schienen. Ein einziges Vorkommnis unterbrach die Eintönigkeit der ersten zwei Wochen, ein vorübergehendes Fieber, das ihn nötigte, achtundvierzig Stunden hindurch das Bett zu hüten mit glühendem Kopf, in seinen Fieberphantasien träumend, daß er seinen Karren im Bergwerk durch einen allzu engen Gang schiebe, wo er nicht weiter könne. Die Krankheit war ganz einfach die Folge der ersten Lehrtage, eine Übermüdung, von der er sich bald erholte.

Es folgten Tage auf Tage, es verflossen Wochen und Monate. Gleich seinen Kameraden erhob er sich jetzt um drei Uhr morgens von seinem Lager, trank Kaffee und nahm sein Butterbrot mit, das Frau Rasseneur ihm schon am Abend zurechtmachte. Wenn er sich am Morgen zur Grube begab, traf er regelmäßig den Vater Bonnemort, der schlafen ging, und wenn er am Nachmittag aus der Grube kam, begegnete er Bouteloup, der seine Arbeit aufnahm. Er trug die Haube, die Hose, den Leinwandkittel; er fror und wärmte sich den Rücken an dem großen Ofen in der Baracke. Dann kam das Warten mit bloßen Füßen in dem Aufnahmesaal, durch den ein schneidender Luftzug strich. Doch die Maschine mit ihren mächtigen stählernen Gliedern und den Kupfersternen, die da oben im Dunkel leuchtete, interessierte ihn nicht mehr, auch nicht die Kabel, deren Lauf dem Fluge eines schwarzen, stummen Nachtvogels glich, noch[147] auch die Schalen, die unablässig auf und nieder stiegen inmitten des Geräusches der Signale, der Befehlsrufe, des Donners der Karren, die über den aus gußeisernen Platten gefügten Fußboden geschoben wurden. Seine Lampe brannte schlecht; der verwünschte Lampenputzer mußte sie schlecht gereinigt haben; er schaute erst wieder auf, wenn Mouquet sie alle verlud und dabei den Mädchen zum Spaß auf den Rücken klopfte. Die Schale löste sich aus den Ankern und fiel wie ein Stein, ohne daß Etienne auch nur den Kopf wandte, um zu sehen, wie das Tageslicht verschwand. Niemals dachte er an die Möglichkeit eines Sturzes; er fühlte sich fast heimisch, wie er unter dem Sturzregen in die Finsternis hinabsauste. Wenn sie unten angekommen waren und Pierron mit scheinheiliger Sanftmut sie herausgeladen hatte, gab es immer das nämliche Herdengetrappel, die einzelnen Werkgruppen begaben sich schleppenden Ganges zu ihren Schlägen. Er kannte jetzt schon die Galerien der Mine besser als die Gassen von Montsou, wußte, daß man da sich wenden, dort sich bücken, anderswo wieder einer Pfütze ausweichen müsse. Er kannte den zwei Kilometer langen Weg unter der Erde so genau, daß er ihn ohne Lampe mit den Händen in den Taschen hätte zurücklegen können. Es fanden jedesmal die nämlichen Begegnungen statt: irgendein Aufseher leuchtete im Vorübergehen den Arbeitern ins Gesicht, Vater Mouquet brachte ein Pferd, Bebert führte den stampfenden Gaul Bataille. Johannes lief hinter einem Zuge einher, um die Lüftungstüren zu schließen; die dicke Mouquette und die magere Lydia schoben ihren Karren.

Mit der Zeit litt Etienne auch weniger durch die Feuchtigkeit und die drückende Schwüle, die in dem Schlage herrschten. Er atmete ohne Unbehagen den Kohlenstaub ein, er sah klar in der Dunkelheit, er schwitzte ruhig, weil er sich schon daran gewöhnt hatte, vom Morgen bis zum Abend nasse Kleider am Leibe zu haben. Nach Ablauf von drei Wochen gehörte er zu den [148] guten Schleppern der Grube; kein einziger wußte seinen Karren so schnell zur schiefen Ebene zu rollen und so geschickt einzuhängen. Seine kleine Gestalt machte es ihm möglich, überall hinzuschlüpfen; seine Arme, fein und weiß wie die eines Weibes, schienen unter der zarten Haut von Eisen zu sein, so tüchtig waren sie bei der Arbeit. Er beklagte sich niemals – ohne Zweifel aus Stolz –, selbst dann nicht, wenn er vor Müdigkeit röchelte. Man machte ihm nur zum Vorwurf, daß er keinen Spaß verstehe und sogleich beleidigt sei, wenn man ihm Püffe versetzen wolle. Im übrigen wurde er jetzt als richtiger Bergmann angesehen, und die Macht der Gewohnheit drückte ihn mit jedem Tage mehr zur Funktion einer Maschine herab.

Besonders Maheu empfand Freundschaft für Etienne, denn er schätzte gute Arbeit. Auch merkte er – gleich den anderen –, daß dieser Bursche mehr gelernt habe als sie; er sah ihn lesen, schreiben, Pläne zeichnen; er hörte ihn von Dingen reden, von deren Existenz er – Maheu – bisher keine Ahnung gehabt. Dies nahm ihn nicht wunder; die Grubenarbeiter hatten weit härtere Köpfe als die Maschinisten; ihn überraschte aber der Mut dieses Kleinen, die Entschlossenheit, mit der er in die Kohle gebissen, um nicht Hungers zu sterben. Es war der erste Zufallsarbeiter, der sich so rasch in die Verhältnisse fand. Wenn der Kohlenschlag drängte und Maheu keinen Häuer entbehren konnte, beauftragte er den jungen Mann mit der Verzimmerung, weil er der Sauberkeit und Haltbarkeit der Arbeit sicher war. Die Vorgesetzten quälten ihn immer mit dieser verwünschten Verzimmerung; er fürchtete stündlich, daß der Ingenieur Negrel, gefolgt von Dansaert, erscheinen und schreiend und polternd fordern könne, daß alles neu gemacht werde; er hatte bemerkt, daß die Arbeit seines jungen Schleppers die Herren besser befriedigte, trotzdem sie immer wieder drohten, die Gesellschaft werde eines Tages durchgreifende Maßregeln ergreifen. So zogen sich die Dinge hin; eine dumpfe [149] Unzufriedenheit gärte in der Grube; selbst Maheu, sonst so ruhig, ballte schließlich die Fäuste.

Anfänglich gab es einen gewissen Gegensatz zwischen Zacharias und Etienne. Eines Abends hatten sie einander mit Maulschellen gedroht. Allein der erstere, ein wackerer Junge, dem außer seinen Vergnügungen alles gleichgültig war, und den das freundschaftliche Anerbieten eines Schoppens rasch besänftigte, hatte sich bald der Überlegenheit des Neuangekommenen beugen müssen. Auch Levaque zeigte jetzt ein freundlicheres Gesicht, redete von Politik mit dem Schlepper, der – wie er zugab – Gedanken hatte. Dieser fand denn auch unter allen Männern des Werkplatzes nur noch bei dem langen Chaval geheime Feindseligkeit; sie schmollten nicht miteinander, waren vielmehr Kameraden geworden; allein sie verzehrten sich gegenseitig mit Blicken, wenn sie zusammen scherzten. Katharina hatte – zwischen diesen beiden – das Leben eines müden, unterwürfigen Mädchens wieder aufgenommen, das gebeugten Rückens seinen Karren schob; sie war immer sehr artig zu ihrem Gefährten, der ihr oft behilflich war; anderseits war sie dem Willen ihres Liebhabers unterworfen, dessen Liebkosungen sie sich offen gefallen ließ. Die Umgebung hatte sich mit der Sache abgefunden; die beiden wurden als ein Paar angesehen, und selbst die Familie ließ sich das Verhältnis stillschweigend gefallen, so daß Chaval die Schlepperin jeden Abend spazieren führte und dann bis zu ihrer Haustür begleitete, wo er ihr angesichts des ganzen Dorfes den Abschiedskuß gab. Etienne, der sich mit der Sache gleichfalls abgefunden zu haben glaubte, neckte sie oft mit diesen Spaziergängen und ließ dabei zum Spaß rohe Worte fallen, wie man sie in den Schlägen zwischen Burschen und Mädchen hörte. Sie antwortete ihm in dem nämlichen Tone und erzählte ihm keck, was ihr Liebhaber ihr getan hatte; nichtsdestoweniger wurde sie verlegen und erbleichte, wenn die Augen des jungen Mannes den ihrigen begegneten. Beide wandten [150] den Kopf ab und verharrten zuweilen eine Stunde in Schweigen mit einer Miene, als haßten sie einander wegen längst eingesargter Dinge, über die sie sich nicht auseinandersetzten.

Der Frühling war gekommen. Als Etienne eines Tages aus dem Schachte kam, wehte der laue Hauch des April ihm entgegen, ein guter Geruch von junger Erde, zartem Laub, freier Luft. Seither roch, wenn er aus der Grube kam, der Frühling immer besser und wärmte ihn immer mehr nach seinen zehn Stunden Arbeit in dem ewigen Winter der Grube, inmitten des feuchten Dunkels, das niemals ein Sommer aufheiterte. Die Tage wurden länger; im Mai fuhr er schon bei Sonnenaufgang ein, wenn der Himmel das Licht des Morgenrots wie einen Goldstaub über den Voreuxschacht ausgoß und der weiße Dunst der Maschine rosenrot emporstieg. Man fröstelte nicht mehr; ein warmer Hauch wehte von den Fernen der Ebene her, während die Lerchen hoch in den Lüften ihren Sang ertönen ließen. Um drei Uhr genoß er das blendende Schauspiel der voll aufgegangenen Sonne, deren Lichtflut das ganze Firmament übergoß und die Ziegel der Häuser unter dem schmutzigen Kohlenstaub rot färbte. Im Juni stand das Getreide schon hoch, war bläulichgrün und hob sich von dem schwärzlichen Grün der Rüben ab. Es war ein endloses, bei dem leisesten Winde wogendes Meer, das er sich ausbreiten und von Tag zu Tag wachsen sah, zuweilen überrascht, daß es abends grüner sei als am Morgen. Die Pappeln am Kanal setzten Laubkronen an; der Hügel bekleidete sich mit Gras, die Wiesen schmückten sich mit Blumen, neues Leben sproß überall, schoß aus der Erde hervor, während unter ihr Menschen in Mühsal und Elend seufzten.

Wenn Etienne jetzt des Abends spazierenging, sah er unter den Liebespaaren oft Katharina und Chaval. Seither schien ihm die unendliche Ebene zu eng; er verbrachte seine Abende jetzt lieber in Rasseneurs Schenke.

[151] »Madame Rasseneur, geben Sie mir einen Schoppen ... Nein, ich gehe heute abend nicht aus, ich bin zu müde.«

Er wandte sich einem Kameraden zu, der gewöhnlich an einem Tische im Hintergrunde saß, den Kopf an die Wand gelehnt.

»Suwarin, nimmst du nicht auch einen Schoppen?«

»Danke, ich nehme nichts.«

Etienne hatte die Bekanntschaft Suwarins gemacht, weil sie hier Seite an Seite lebten. Er war Maschinist im Voreuxschacht, hatte oben ein möbliertes Zimmer inne und war der Nachbar Etiennes. Er war etwa dreißig Jahre alt, schmächtig, blond, mit einem feinen Antlitz, das von langen Haaren und dünnem Barte eingerahmt war. Seine weißen, spitzigen Zähne, sein feiner Mund und seine dünne Nase, seine rosige Gesichtsfarbe gaben ihm das Aussehen eines Mädchens mit einem Ausdruck eigensinniger Sanftmut, das Flackern der stahlblauen Augen gab ihm zuweilen einen wilden Zug. In seiner ärmlichen Arbeiterstube war nichts als eine mit Büchern und Papieren angefüllte Kiste. Er war Russe, sprach niemals von sich selbst und kümmerte sich nicht um die Märchen, die über ihn im Umlauf waren. Die Grubenarbeiter, die allen Fremden gegenüber sehr mißtrauisch waren und nach seinen kleinen Bürgerhänden vermuteten, daß er einer anderen gesellschaftlichen Klasse angehörte, hatten anfänglich ein Abenteuer vermutet, irgendeinen Mord, vor dessen Ahndung er die Flucht ergriffen hatte. Dann hatte er sich aber so brüderlich, so ohne jeden Stolz ihnen gegenüber gezeigt, hatte mit so vieler Leutseligkeit kleine Münzen unter die Kinder des Dorfes verteilt, daß sie ihn unter sich aufnahmen, beruhigt durch das Gerücht, daß er ein politischer Flüchtling sei; dies Wort war in ihren Augen eine Entschuldigung selbst für Verbrechen und bedeutete gleichsam Leidensgenossenschaft.

In der ersten Zeit stieß Etienne bei ihm auf scheue Zurückhaltung. Er erfuhr denn auch erst später seine[152] Geschichte. Suwarin war der jüngste Sohn einer adeligen Familie in Tula. In Sankt Petersburg, wo er Medizin studierte, hatte die sozialistische Strömung, welche damals die ganze russische Jugend fortgerissen, ihn dazu bewogen, ein Handwerk, und zwar das eines Mechanikers, zu erlernen, um sich unter das Volk zu mengen, es kennenzulernen und ihm brüderlich beizustehen. Von diesem Handwerk lebte er jetzt, nachdem er infolge eines vereitelten Anschlags auf das Leben des Zaren geflohen war. Um diesen Anschlag auszuführen, hatte er einen Monat hindurch in dem Keller eines Obsthändlers gelebt, eine Mine quer unter der Straße angelegt, Bomben angefertigt in der fortwährenden Gefahr, samt dem Hause in die Luft zu fliegen. Von seiner Familie verleugnet, aller Geldmittel entblößt, als Fremder abgewiesen von den französischen Werkstätten, die in ihm einen Spion witterten, starb er beinahe Hungers, als die Bergwerksgesellschaft von Montsou in einem Zeitpunkte, da Arbeitskräfte gesucht wurden, ihn endlich aufnahm. Seit einem Jahre arbeitete er als tüchtiger, nüchterner, ruhiger Arbeiter, eine Woche Tagdienst, die andere Nachtdienst machend, so pünktlich und verläßlich, daß die Vorgesetzten ihn als Muster anführten.

»Hast du denn niemals Durst?« fragte ihn Etienne lachend.

Er antwortete mit seiner sanften, fast ausdruckslosen Stimme:

»Ich habe Durst, wenn ich esse.«

Sein Gefährte neckte ihn auch wegen der Mädchen und schwor, ihn mit einer Schlepperin in den Getreidefeldern bei dem »Dorf der Seidenstrümpfe« gesehen zu haben. Doch Suwarin zuckte mit ruhiger Gleichgültigkeit die Achseln. Eine Schlepperin, wozu? Das Weib war für ihn ein Kamerad, wenn sie die brüderliche Anhänglichkeit und den Mut eines Mannes besaß. Wenn nicht: wozu sich etwas ins Herz pflanzen, was möglicherweise zur Feigheit führte? Weder Weib noch [153] Freund; er wollte keine Bande; er war frei von seinem Blute und frei von dem Blute anderer.

Jeden Abend, wenn die Schenke sich leerte, blieb Etienne im Gespräch mit Suwarin zurück. Er trank in kleinen Schlucken sein Bier; der Maschinist rauchte unaufhörlich Zigaretten, deren Tabak mit der Zeit seine dürren Finger gebräunt hatte. Seine verschleierten Augen folgten dem Rauch wie zerflatterndem Traum; seine Linke tastete nervös in der Luft herum, gleichsam um sich zu beschäftigen; gewöhnlich nahm er ein altes Kaninchen auf seinen Schoß, ein dickes, stets trächtiges Weibchen, das im Hause frei umherlief. Dies Kaninchen, das er »Polen« zubenannt hatte, war ihm in großer Treue zugetan, schnüffelte an seinem Beinkleid herum, richtete sich auf, kratzte ihn mit den Pfoten, bis er es auf seinen Schoß nahm wie ein Kind. Dann rollte es sich zusammen und saß da mit hängenden Ohren und geschlossenen Augen, während er mit einer unermüdlichen, unbewußten Bewegung der Hand das graue, seidenweiche Haar des Tieres streichelte, gleichsam beruhigt durch die Berührung mit diesem samtweichen lebendigen Wesen.

»Ich muß Euch mitteilen, daß ich von Pluchart einen Brief erhalten habe«, berichtete ihm Etienne eines Abends.

Außer ihnen war nur Rasseneur in der Wirtsstube; der letzte Gast hatte seine Schritte nach dem Dorf gelenkt, das zur Nachtruhe rüstete.

»Ah!« rief der Wirt, vor seinen beiden Mietern stehend. »Wie weit ist Pluchart mit seiner Tätigkeit?«

Etienne unterhielt seit zwei Monaten einen lebhaften Briefwechsel mit dem Mechaniker in Lille, dem er seinen Aufenthalt in Montsou angezeigt hatte, und der ihm jetzt Lehren erteilte in der Hoffnung, daß Etienne unter den Bergleuten Propaganda machen werde.

»Er ist so weit, daß die in Rede stehende Vereinigung erfreuliche Fortschritte macht; wie es scheint, kommen von allen Seiten Beitrittsanmeldungen.«

[154] »Was hältst du von ihrer Vereinigung?« wandte sich Rasseneur an Suwarin.

Dieser fuhr fort, »Polens« Kopf zärtlich zu streicheln, stieß eine Rauchwolke aus und murmelte endlich mit seiner ruhigen Miene:

»Neue Dummheiten!«

Allein Etienne begeisterte sich. In jugendlichen Träumen der Unwissenheit wurde er durch sein zum Aufruhr neigendes Wesen in den Kampf der Arbeiter mit dem Kapital gerissen. Es handelte sich um die internationale Arbeiterverbindung, um die berühmte »Internationale«, die eben damals gegründet worden. War das nicht eine herrliche Bewegung, ein Feldzug, in dem die Gerechtigkeit schließlich siegen mußte? Die Landesgrenzen hörten auf; die Arbeiter der ganzen Welt erhoben und vereinigten sich, um dem einzelnen Arbeiter den Lohn zu sichern, der ihm zustand. Welch einfache und doch große Organisation! Unten die Sektion in jeder Gemeinde; dann die Föderation, welche die Sektionen einer Provinz umfaßt; dann die Nation und darüber endlich die Menschheit, verkörpert in dem Generalrat, wo jede Nation durch einen Sekretär vertreten war. Ehe sechs Monate vergingen, habe man die Erde erobert und den Herren Gesetze diktiert, wenn sie sich nicht willfährig zeigen sollten.

»Nichts als Dummheiten«, wiederholte Suwarin. »Euer Karl Marx ist erst so weit, daß er die natürlichen Kräfte wirken lassen will. Keine Politik und keine Verschwörung, wie? Alles ganz offen und bloß zum Zwecke der Lohnerhöhungen ... Laßt mich in Frieden mit eurer Revolution! Zündet die Städte an allen vier Enden an, mäht die Völker nieder, rasiert alles weg; und wenn nichts mehr übrig ist von dieser verfaulten Welt, dann kommt vielleicht eine bessere an ihre Stelle.«

Etienne begann zu lachen. Er hörte noch immer nicht auf die Worte seines Kameraden; diese Zerstörungstheorie schien ihm Großsprecherei. Rasseneur, der noch praktischer dachte als Etienne, mit dem nüchternen [155] Sinn eines Mannes, der sein Gewerbe hatte, regte sich nicht einmal auf. Er wollte bloß die Dinge genau feststellen.

»Also du willst den Versuch machen, in Montsou eine Sektion zu gründen?«

Das war der Wunsch Plucharts, des Sekretärs der Nordföderation. Er betonte ganz besonders die Dienste, die der Bund den Bergleuten leisten werde, wenn sie eines Tages streiken würden. Etienne war der Meinung, der Arbeiterausstand stehe nahe bevor; der Streit um die Verschalung müsse schlimm enden: die nächste Forderung der Gesellschaft werde alle Schächte in Aufruhr versetzen.

»Das Verdrießliche an der Sache sind die Mitgliedsbeiträge«, erklärte Rasseneur einsichtig. »Fünfzig Centimes jährlich für den allgemeinen Fonds und zwei Franken für die Sektion: das scheint sehr wenig, und dennoch wette ich, daß viele sich weigern werden, sie zu zahlen.«

»Darüber hinaus«, fügte Etienne hinzu, »muß man hier eine Aushilfskasse gründen, aus der wir bei Gelegenheit eine Widerstandskasse machen ... Ganz gleich: es ist Zeit, an diese Dinge zu denken. Ich bin bereit, wenn die anderen bereit sind.«

Stillschweigen trat ein. Auf dem Schanktisch rauchte die Petroleumlampe. Durch die offene Tür hörte man das Geräusch, das ein Maschinenheizer im Voreuxschacht mit dem Aufschütten von Kohle verursachte.

»Alles ist so teuer«, bemerkte Frau Rasseneur, die ebenfalls eingetreten war und mit düsterer Miene zu hörte, gleichsam höher emporgewachsen in dem schwarzen Kleide, das sie immer trug. »Denken Sie sich, daß ich die Eier mit zweiundzwanzig Sous bezahlen mußte! ... Das kann nicht so fortgehen: es muß platzen!«

Die drei Männer waren diesmal derselben Ansicht. Sie sprachen einer nach dem andern, mit trostloser Stimme, und das Klagen ging von neuem an. Der Arbeiter könne nicht länger bestehen, die Revolution[156] habe sein Elend nur vergrößert; die Spießbürger mästeten sich seit dem Jahre 89 so gefräßig, daß sie die Schüsseln blank lecken. Man frage einmal, ob die Arbeiter entsprechend teilgenommen haben an der außerordentlichen Bereicherung seit hundert Jahren? Man hat sie nur zum besten gehalten, indem man sie für frei erklärte; ja, sie haben die Freiheit, Hungers zu sterben, und davon machen sie Gebrauch. Das gibt ihnen noch kein Brot, daß sie für Kerle stimmen, die sich hinterher den Wanst füllen, ohne an die Elenden mehr zu denken als an ihre alten Stiefel. Nein, man muß ein Ende machen in der einen oder andern Weise, entweder gütlich durch Gesetze in freundschaftlichem Einvernehmen oder gewaltsam, indem man alles niederbrennt und sich gegenseitig zerfleischt. Die Kinder würden es sicherlich erleben, wenn die Eltern es nicht mehr erlebten; denn das Jahrhundert könne nicht zu Ende gehen, ohne daß noch eine Revolution komme, diesmal die Revolution der Arbeiter, ein Umsturz, der die ganze Gesellschaft von oben bis unten hinwegfegen und sie neu aufbauen werde nach den Gesetzen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit.

»Es muß platzen!« wiederholte Frau Rasseneur energisch.

»Ja, ja,« riefen alle drei, »es muß platzen!«

Suwarin liebkoste jetzt die Ohren »Polens«, das vergnügt das Näschen rümpfte. Er sagte halblaut mit geschlossenen Augen, wie mit sich selbst sprechend:

»Die Löhne erhöhen: ist das möglich? Sie sind durch ein ehernes Gesetz auf den unerläßlich lebensnotwendigen Betrag festgelegt, auf genau soviel, wie notwendig ist, damit die Arbeiter trockenes Brot essen können ... Wenn die Löhne zu tief sinken, verrecken die Arbeiter, und die Nachfrage nach neuen Männern läßt sie wieder in die Höhe gehen. Wenn sie zu hoch gestiegen sind, werden sie durch das stärkere Angebot wieder herabgedrückt ... Das ist das Gleichgewicht der leeren [157] Bäuche, die ewige Verdammnis im Zuchthaus des Hungers.«

Wenn er sich so vergaß und von Dingen sprach, die ihm als einem unterrichteten Sozialisten geläufig waren, standen Etienne und Rasseneur unruhig da, in Verwirrung gebracht durch seine niederschmetternden Behauptungen, auf die sie nichts zu antworten wußten.

»Hört ihr,« wiederholte er, indem er sie mit Ruhe anschaute, »es muß alles zerstört werden, oder der Hunger wird wiederkommen. Ja, die Anarchie, nichts weiter; die Erde muß durch Blut gewaschen, durch Feuer gereinigt werden! ... Nachher werden wir sehen.«

»Der Herr hat ganz recht«, erklärte Frau Rasseneur, die trotz ihrer aufrührerischen Heftigkeit sich sehr höflich zeigte.

Etienne wollte die Erörterungen nicht fortsetzen, denn er hatte das niederschlagende Gefühl seiner Unwissenheit. Er erhob sich mit den Worten:

»Gehen wir schlafen. All das wird mich nicht hindern, morgen um drei Uhr aufzustehen.«

Suwarin biß auf das Ende seiner Zigarette und faßte das Kaninchen zart am Bauche, um es auf den Boden zu setzen. Rasseneur schloß das Haus. Sie trennten sich in aller Stille mit summenden Ohren, die Köpfe gleichsam geschwollen von den ernsten Fragen, über die sie nachdachten.

Jeden Abend gab es ähnliche Gespräche in der kahlen Wirtsstube rings um den einzigen Schoppen, bei dem Etienne eine Stunde verweilte. Unklare Gedanken, die in ihm geschlummert hatten, regten sich und gewannen Gestalt. Von Wißbegierde verzehrt, hatte er lange gezögert, Bücher von seinem Nachbarn zu entlehnen, der unglücklicherweise nur deutsche und russische Werke besaß. Endlich ließ er sich ein französisches Buch über »Kooperativ-Genossenschaften« leihen – auch solche Dummheiten – wie Suwarin sagte. Daneben las Etienne regelmäßig eine Zeitung, die Suwarin erhielt; es war ein in Genf herausgegebenes anarchistisches [158] Blatt unter dem Titel: »Der Kampf«. Trotz ihres täglichen Zusammenlebens fand er übrigens den Russen immer verschlossen, mit einer Miene, als sei er ein vorübergehender Gast auf dieser Erde, an die ihn weder Interessen noch Besitztümer fesselten.

Um die ersten Tage des Monats Juli verbesserte sich die Lage Etiennes. Inmitten des eintönigen, immer gleichen Grubenlebens war ein Ereignis eingetreten. Die Arbeiter im Wilhelmschacht waren auf Mischgestein geraten, das die Nähe eines tauben Ganges ankündigte. In der Tat stieß man alsbald darauf; die Ingenieure hatten von seinem Vorhandensein keine Ahnung, trotzdem sie das Erdreich sonst genau kannten. Dies Ereignis rief in der Grube große Bewegung hervor; man sprach von nichts anderem als von der verschwundenen Kohlenader, die sich ohne Zweifel gesenkt hatte. Die alten Bergleute schnupperten wie gute Hunde auf der Suche nach einer anderen Ader. Aber inzwischen durften die Werkplätze nicht feiern, und die Gesellschaft kündigte an, daß sie neue Schläge einrichten werde.

Als sie eines Tages aus der Grube kamen, machte Maheu Etienne den Vorschlag, als Häuer in seine Gruppe einzutreten, an Stelle Levaques, der zu einem andern Werkplatze gegangen war. Die Sache war mit dem Ingenieur und mit dem Oberaufseher schon ins reine gebracht, die mit dem jungen Manne sehr zufrieden waren. Etienne beeilte sich, dieses rasche Aufrücken anzunehmen, sehr froh über die wachsende Wertschätzung, die er bei Maheu fand.

Am Abend gingen sie zusammen nach dem Schacht, um die Ankündigungen zu lesen. Die neuen Schläge befanden sich in der Filonnièreader, in der Nordgalerie des Voreux. Sie schienen wenig Vorteil zu verheißen; der Bergmann schüttelte den Kopf, als der junge Mann ihm die Bedingungen vorlas. Als sie am folgenden Tage hinabgefahren waren und er mit dem jungen Manne die Ader besichtigte, machte er ihn auf die große Entfernung [159] vom Fahrstuhl aufmerksam, auf das lose, mit Einsturz drohende Erdreich, auf die geringe Dicke der Schicht und auf die Härte der Kohle. Allein es galt zu arbeiten, wenn man essen wollte. Sie erschienen denn auch am folgenden Sonntag bei der Vergebung, die in der Baracke stattfand, und die in Abwesenheit des Abteilungsingenieurs der Grubeningenieur – unterstützt vom Oberaufseher – leitete. Es waren fünf- bis sechshundert Grubenarbeiter da vor der kleinen Erhöhung, die man in einem Winkel der Baracke errichtet hatte. Die Vergebung ging so rasch vonstatten, daß man nur ein dumpfes Stimmengewirr hörte, ein lautes Schreien von Ziffern, die durch andere Ziffern übertönt wurden.

Einen Augenblick fürchtete Maheu, daß er keinen der vierzig Schläge, welche die Gesellschaft vergab, erhalten werde. Alle Mitbewerber gingen mit den Löhnen herab, unruhig wegen der Krisengerüchte und eine Betriebseinstellung fürchtend. Angesichts des eifrigen Bewerbes beeilte sich der Ingenieur Negrel nicht sonderlich, ließ die Angebote bis zu tiefsten Preisen hinabsinken, während Dansaert, um die Dinge zu beschleunigen, sich in lügnerischen Anpreisungen erging. Maheu hatte um seine fünfzig Meter einen heißen Kampf mit einem hartnäckigen Mitbewerber zu bestehen; sie führten diesen Kampf mit einem abwechselnden Nachlaß von einem Centime für die Karre, und Maheu blieb nur Sieger, weil er mit dem Lohne dermaßen hinunterging, daß der hinter ihm stehende Aufseher Richomme böse wurde und ihn mit dem Ellbogen stieß, indem er ihm wütend zuraunte, er könne bei diesem Preis unmöglich sein Auskommen finden.

Als sie gingen, fluchte Etienne. Er brach los, als er Chavals ansichtig wurde, der mit Katharina von den Getreidefeldern kam, während der Vater dem Brote nachging.

»Herrgott!« rief er, »ist das ein Elend! ... Man zwingt die Arbeiter, sich untereinander aufzufressen.«

[160] Chaval ereiferte sich; er würde nichts nachgelassen haben. Zacharias, der aus Neugierde herbeigekommen war, erklärte, es sei ekelhaft. Doch Etienne brachte sie zum Schweigen, indem er mit wütender Gebärde ausrief:

»Es wird ein Ende nehmen! Eines Tages werden wir die Herren sein!«

Maheu, der stumm geblieben war, schien jetzt die Sprache gefunden zu haben.

»Die Herren! ...« sagte er. »Es wäre schon an der Zeit!«

Zweites Kapitel

Am letzten Sonntag des Monats Juli fand in Montsou das große Bergmannsfest statt. Schon Samstag abend scheuerten die Hausfrauen die Wohnstube; es gab eine wahre Sintflut, das Wasser wurde in großen Mengen über die Fliesen und an die Wände geschleudert; und der Fußboden wurde nicht trocken trotz des weißen Sandes, womit er bestreut worden. Es war ein großes Ereignis für diese armen Leute. Der Tag kündete sich sehr heiß an; der Himmel war gewitterschwül, die Luft drückend, wie es zur Sommerszeit in den flachen Landschaften Nordfrankreichs häufig vorkommt.

In der Familie Maheu beobachtete man wegen des Sonntags nicht so genau die Stunde des Aufstehens. Den Vater litt es schon um fünf Uhr nicht mehr im Bett, und er kleidete sich an; die Kinder hingegen schliefen bis neun Uhr. Heute ging Maheu in den Garten seine Pfeife rauchen und kehrte schließlich heim, um allein die Butterschnitte zu essen, bis die Kinder kommen würden. So verbrachte er den Vormittag, ohne recht zu wissen womit; er besserte den Bottich aus, der das Wasser durchließ, und klebte ein Bild des kaiserlichen Prinzen, das man den Kleinen geschenkt hatte, an die Kuckucksuhr. Mittlerweise kamen auch die anderen [161] einzeln herunter; Vater Bonnemort hatte einen Stuhl vor die Tür gestellt, um sich an die Sonne zu setzen; die Mutter und Alzire hatten sich beide in der Küche zu schaffen gemacht. Katharina erschien mit Leonore und Heinrich, die sie soeben angekleidet hatte; es schlug schon elf Uhr, und der Geruch des Kaninchens, das mit Kartoffeln gebraten wurde, erfüllte das ganze Haus, als endlich Zacharias und Johannes als letzte herunterkamen, gähnend, mit vom Schlafe feuchten Augen.

Das ganze Dorf war auf den Beinen, erfüllt von Festesfreude und das Mittagessen beschleunigend, damit man so bald wie möglich nach Montsou kommen könne. Scharen von Kindern trieben sich auf den Straßen umher; Männer in Hemdsärmeln ergingen sich mit der Gemächlichkeit, die man sich an Ruhetagen gönnen durfte. Türen und Fenster standen bei dem schönen Wetter weit offen und gestatteten einen Einblick in die lange Zeile von Wohnstuben, wo die Familien in geräuschvollem Leben sich tummelten. Von einem Ende der Häuserreihe bis zum andern roch es nach Kaninchen; dieser Duft verdrängte heute den eingenisteten Geruch von geschmorten Zwiebeln.

Schlag zwölf Uhr aßen die Maheu zu Mittag. Sie machten wenig Lärm inmitten des Geräusches der Nachbarn, wo die Weiber miteinander plauderten, sich verschiedene Gegenstände liehen und wiedergaben, wo es ein ewiges Fragen und Antworten gab, wo die Kinder angerufen oder mit einem Klaps heimgejagt wurden. Sie lebten übrigens seit drei Wochen auf gespanntem Fuße mit der Familie Levaque; die Ursache war die Angelegenheit der Heirat zwischen Zacharias und Philomene. Die Männer verkehrten wohl miteinander; die Frauen aber taten, als kennten sie einander nicht. Diese Entzweiung hatte die Beziehungen zu Frau Pierron noch inniger gestaltet. Heute hatte Frau Pierron die Sorge für ihren Mann und für Lydia ihrer Schwiegermutter überlassen und war am frühen Morgen nach [162] Marchiennes gegangen, um den Tag bei einer Base zuzubringen. Darüber wurden Witze gerissen, denn man kannte die Base: sie hatte einen Schnurrbart und war Oberaufseher im Voreuxschacht. Frau Maheu erklärte, es sei nicht anständig, an einem solchen Festtage seine Familie im Stich zu lassen.

Außer dem Kaninchen, das die Familie Maheu seit einem Monat im Schuppen gemästet hatte, gab es heute noch eine Fleischbrühe und Rindfleisch zu Tisch. Der Halbmonatslohn war gestern fällig geworden. Seit Menschengedenken hatte man nicht so herrlich gespeist. Selbst am letzten Barbarafest, dem großen Feiertag der Bergleute, der immer ein dreitägiges Nichtstun mit sich bringt, war das Kaninchen nicht so fett und zart gewesen. Die zehn Paar Kinnladen – an gefangen bei der kleinen Estelle, deren Zähne schon zum Vorschein kamen, bis zum alten Bonnemort, der die seinen schon zu verlieren begann – arbeiteten denn auch mit einem solchen Eifer, daß selbst die Knochen verschwanden. Das Fleisch war gut, aber sie verdauten es schwer, weil sie es nur selten aßen. Alles wurde weggeputzt; es blieb nichts übrig als ein Stück Rindfleisch für den Abend; sollte man Hunger haben, würde man Butterbrot dazu essen.

Johannes verschwand zuerst. Bebert erwartete um hinter der Schule. Sie schlichen da lange umher, bis es ihnen gelang, Lydia mitzulocken, welche die Brulé zu Hause behalten wollte. Als sie die Flucht des Kindes gewahr wurde, heulte sie und fuchtelte mit den mageren Armen, während Pierron, dieses Getöses überdrüssig, ruhig spazierenging.

Als zweiter brach Vater Bonnemort auf; dann entschloß sich auch Maheu ins Freie zu gehen, nachdem er seine Frau gefragt, ob sie nachkomme. Nein, sie konnte nicht; es sei eine rechte Last mit den kleinen Kindern; vielleicht werde sie sich es noch überlegen, man werde sich schon wiederfinden. Als er draußen war, zögerte er eine Weile, dann trat er bei den Nachbarn [163] ein, um zu sehen, ob Levaque bereit sei. Hier fand er Zacharias, der auf Philomene wartete. Die Levaque begann sogleich die ewige Klage wegen der Hochzeit; man halte sie zum besten, schrie sie, und sie werde sich noch ein letztes Mal mit der Maheu auseinandersetzen. Sei das ein Leben, die vaterlosen Kinder der Tochter bei sich zu haben, während diese sich mit dem Liebhaber umhertreibe? Inzwischen hatte Philomene ruhig ihre Haube aufgesetzt, und Zacharias führte sie fort, indem er erklärte, er sei bereit zu heiraten, wenn seine Mutter einwillige. Levaque war übrigens schon fort; Maheu wies die Nachbarin an seine Frau und beeilte sich gleichfalls fortzukommen. Bouteloup, der mit beiden Ellbogen auf dem Tisch ein Stück Käse verzehrte, lehnte hartnäckig einen ihm angebotenen Schoppen Bier ab.

Allmählich leerte sich das Dorf; die Männer gingen fort, einer nach dem andern. Die Mädchen spähten auf den Türschwellen nach ihren Liebsten aus und schlugen an ihrem Arm in einer andern Richtung den Weg nach Montsou ein. Als Katharina ihren Vater um die Ecke der Kirche biegen sah, beeilte sie sich Chaval einzuholen, der sie gleichfalls nach Montsou führte. Als die Mutter mit ihren Kleinen allein geblieben war, hatte sie nicht die Kraft, sich von ihrem Stuhl zu erheben; sie goß sich ein zweites Glas Kaffee ein, das sie in kleinen Schlucken leerte. Im Dorfe waren nur noch die Weiber zu Hause, die sich gegenseitig einluden und den letzten Rest des Kaffees an den noch warmen, fettigen Mittagstischen tranken.

Maheu vermutete, daß Levaque bei Rasseneur sei, und begab sich langsamen Schrittes dahin. In der Tat fand er Levaque mit mehreren Kameraden bei einer Kegelpartie in dem hinter dem Wirtshause gelegenen schmalen Gärtchen. Vater Bonnemort und der alte Mouquet standen dabei und folgten dem Lauf der Kugel, so vertieft, daß sie vergaßen sich mit dem Ellbogen anzustoßen. Die Sonne sandte senkrecht ihre[164] heißen Strahlen nieder; nur längs der Schenke war ein schmaler Streif Schatten. Auch Etienne war da, trank an einem Tisch seinen Schoppen und war verdrossen, daß Suwarin ihn eben verlassen hatte, um nach seiner Stube hinaufzugehen. Fast jeden Sonntag schloß der Maschinist sich ein, um zu schreiben oder zu lesen.

»Spielst du mit?« fragte Levaque Maheu.

Dieser lehnte ab; ihm sei zu heiß, und er vergehe vor Durst.

»Rasseneur, einen Schoppen!« rief Etienne.

Zu Maheu gewendet, fügte er hinzu:

»Den zahle ich.«

Jetzt duzten sich alle untereinander. Rasseneur beeilte sich nicht, man mußte ihn dreimal rufen; schließlich brachte Frau Rasseneur warmes Bier. Der junge Mann hatte die Stimme gedämpft, um sich über das Haus zu beklagen; es seien brave, wohlgesinnte Leute, aber das Bier sei schlecht und die Suppen abscheulich! Er wäre schon zehnmal weggegangen, wenn er den weiten Weg nach Montsou nicht scheute. Er würde früher oder später bei einer Familie im Dorfe Unterkunft suchen.

»Gewiß, in einer Familie bist du besser versorgt«, sagte Maheu in seiner bedächtigen Art.

Doch jetzt erklang lautes Geschrei: Levaque hatte alle neun geschoben. Mouquet und Bonnemort schauten unverwandt zu Boden; inmitten des allgemeinen Tumultes verharrten sie in ihrem stummen Beifall. Die Freude über den glücklichen Wurf äußerte sich in allerlei Scherzen, besonders als die Spieler das heitere Gesicht der Mouquette jenseits der Hecke erblickten. Seit einer Stunde lungerte sie hier umher, bei dem lauten Gelächter wagte sie sich näher heran.

»Wie, du bist allein?« schrie Levaque. »Und deine Freunde?«

»Meine Freunde habe ich zum Teufel geschickt; ich suche jetzt einen«, antwortete sie mit frechem Gelächter.

Alle boten sich an, redeten ihr in derben Worten zu. Doch sie schüttelte den Kopf, lachte immer stärker und [165] zierte sich. Ihr Vater stand dabei, unbekümmert um die ganze Szene und ohne die Blicke von den Kegeln wegzuwenden.

»Geh, geh,« fuhr Levaque fort, einen Blick auf Etienne werfend, »man weiß wohl, nach wem du angelst, mein Kind ... Du mußt ihm Gewalt antun.«

Das erheiterte Etienne. In der Tat verfolgte ihn die Schlepperin. Er weigerte sich; die Sache machte ihm Spaß, aber er hatte kein Verlangen nach ihr. Einige Minuten blieb sie noch hinter der Hecke stehen und blickte ihn mit ihren großen Augen starr an; dann entfernte sie sich langsam mit plötzlich verdüstertem Antlitz.

Etienne wandte sich wieder Maheu zu und fuhr fort, ihm halblaut die Notwendigkeit der Gründung einer Hilfskasse für die Bergleute von Montsou auseinanderzusetzen.

»Die Gesellschaft erklärt, daß sie uns volle Freiheit lasse; wir haben also nichts zu fürchten«, wiederholte er. »Wir haben nichts als ihre Ruhegehälter, und diese bemißt sie nach ihrem Belieben, da sie keine Pensionsabzüge macht. Wir sind demnach von ihrem guten Willen abhängig; so empfiehlt die Vorsicht, einen Verein zu gegenseitiger Unterstützung zu gründen, auf die wir im Falle eines dringenden Bedarfs wenigstens sicher rechnen können.«

Er führte die Einzelheiten aus, erläuterte die Organisation, versprach, alle Mühe auf sich zu nehmen.

»Ich bin dabei«, sagte Maheu endlich überzeugt; »suche die anderen zu bestimmen.«

Levaque hatte gewonnen; man ließ das Kegelspiel und wandte sich dem Bier zu. Allein Maheu weigerte sich einen zweiten Schoppen zu trinken; man werde später sehen, sagte er, der Tag sei noch nicht zu Ende. Er hatte eben an Pierron gedacht. Wo konnte Pierron sein? Ohne Zweifel in Lenfants Schenke. Er überredete Etienne und Levaque, und alle drei brachen nach[166] Montsou auf, gerade in dem Augenblick, da eine neue Partie die Kegelbahn in Besitz nahm.

Unterwegs mußte man in Casimirs Weinstube und später im Wirtshause »Zum Fortschritt« haltmachen. Kameraden riefen sie durch die offenen Türen; es war nicht möglich, nein zu sagen. Jedesmal einen Schoppen, und wenn sie aus Höflichkeit ebenfalls einen zahlten, dann waren es zwei. Sie blieben zehn Minuten, tauschten einige Worte aus, dann gingen sie weiter und kehrten gelegentlich wieder ein. In der Schenke Lenfants fanden sie Pierron, der seinen zweiten Schoppen trank und, um mit ihnen anzustoßen, auch einen dritten nicht zurückwies. Sie waren jetzt ihrer vier und brachen auf, um zu sehen, ob Zacharias nicht in Tisons Schenke sei. Die Wirtsstube war leer; sie verlangten einen Schoppen, um eine Weile auf ihn zu warten. Dann dachten sie an die Schenke Saint-Eloi, nahmen daselbst von dem Aufseher Richomme einen Rundschoppen an und schlenderten dann von Schenke zu Schenke, um sich zu ergehen.

»Auf zum ›Vulkan‹!« rief plötzlich Levaque, der allmählich lustig wurde.

Die anderen lachten und zögerten eine Weile; dann begleiteten sie den Kameraden inmitten der immer mehr anwachsenden festlichen Menge. Im Hintergrunde des schmalen, langen Saales des »Vulkan« war eine Brettererhöhung errichtet, auf der fünf Bänkelsängerinnen ihre Lieder zum besten gaben. Es waren Schlepper, Handlanger, sogar Karrenjungen von vierzehn Jahren da, die ganze Jugend der Kohlengruben, Wacholderbranntwein statt Bier trinkend. Auch einige alte Bergleute, die zu Hause ein schlechtes Eheleben führten, beteiligten sich an diesem Treiben.

Als die Gesellschaft sich an einem der kleinen Tische niedergelassen hatte, machte sich Etienne an Levaque, um ihm seinen Plan einer Hilfskasse zu erklären. Er war in seiner Propaganda eifrig wie alle Neubekehrten, die sich einer Aufgabe widmen.

[167] »Jedes Mitglied könnte monatlich zwanzig Sous bezahlen«, wiederholte er. »Durch Ansammlung dieser Beiträge wird man in vier, fünf Jahren ein Kapital zusammenbringen, und wenn man Geld hat, ist man stark, was immer kommen mag, nicht wahr? Nun, was sagst du dazu?«

»Ich sage nicht nein«, antwortete Levaque zerstreut. »Wir werden darüber reden.«

Auf der Estrade war eine dicke Blonde erschienen, die ihn reizte; er erklärte denn auch, daß er bleiben wolle, als Maheu und Pierron, nachdem sie ihren Schoppen getrunken, aufbrachen, ohne das zweite Lied abzuwarten. Etienne ging mit ihnen fort.

»Wo ist Chaval?« fragte Pierron.

»Ja, wo ist Chaval?« wiederholte Maheu. »Suchen wir ihn bei Piquette.«

Bei Piquettes Schenke angekommen, wurden sie schon an der Tür durch eine Rauferei aufgehalten. Zacharias schwang drohend die Faust gegen einen wallonischen Nagelschmied, einen ruhig dreinschauenden, stämmigen Menschen; Chaval stand mit den Händen in den Taschen dabei und schaute zu.

»Da ist Chaval«, sagte Maheu ruhig. »Er ist bei Katharina.«

Seit fünf Stunden trieb sich die Schlepperin mit ihrem Galan im Marktgewühl umher. In der Straße von Montsou, einer breiten Straße mit niedrigen, bunt getünchten Häusern, wimmelte das Volk im hellen Sonnenschein wie ein Ameisenzug in der kahlen Ebene. Der ewige schwarze Schmutz war getrocknet; schwarzer Staub flog auf und schwebte dahin wie eine Gewitterwolke. Die Schenken zu beiden Seiten der Straße waren mit Menschen überfüllt und mußten ihre Tische bis auf das Straßenpflaster hinaus verlängern, wo eine Doppelreihe von Verkaufsbuden stand mit Spiegeln und Halstüchern für die Mädchen, Messern und Mützen für die Burschen, die Süßigkeiten und Lebkuchen ungerechnet. Vor der Kirche war ein Schießstand, dem Fabrikhofe [168] gegenüber ein Kugelspiel. An der Ecke der Joisellestraße drängten sich die Leute um einen eingeplankten Platz, wo zwei große, rote Hähne, mit eisernen Sporen bewehrt, einen blutigen Kampf ausfochten. Bei Maigrat wurde auf dem Billard um Schürzen und Hosen gespielt. Von Zeit zu Zeit trat tiefe Stille ein; die Menge trank und füllte sich den Magen.

Chaval kaufte Katharina einen Spiegel für neunzehn Sous und ein Busentuch für drei Franken. Bei jedem Rundgange trafen sie Mouquet und Bonnemort, die ebenfalls zum Fest gekommen waren und mit ihren schweren Beinen nachdenklich Seite an Seite dahinschritten. Eine andere Begegnung rief ihren Unwillen hervor. Sie sahen Johannes, der Lydia und Bebert zuredete, Schnapsfläschchen von einer fliegenden Schenke zu stehlen, die am Rande eines leeren Platzes errichtet war. Katharina konnte nur ihren Bruder züchtigen, denn die Kleine lief mit einer Flasche davon. Diese verdammten Rangen würden noch im Gefängnis enden.

Vor der Schenke »Zum Geköpften« kam Chaval auf den Einfall, seine Geliebte hineinzuführen, um einem Finkenkonzert beizuwohnen, welches seit acht Tagen angekündigt war. Fünfzehn Nagelschmiede aus den Fabriken von Marchiennes hatten der Aufforderung Folge geleistet und waren erschienen, jeder mit einem Dutzend Vogelbauer. Diese kleinen verdunkelten Käfige, in denen die Vögel sich ganz ruhig verhielten, hingen an einem Zaun im Hof der Schenke. Es handelte sich darum, festzustellen, welcher der Finken innerhalb einer Stunde am häufigsten seinen Schlag wiederholen werde. Jeder Nagelschmied stand mit einer Schiefertafel bei seinen Käfigen und verzeichnete die Rufe seiner Tiere, seine Nachbarn überwachend und von diesen selbst überwacht. Die Finken hatten zu singen begonnen, die einen tiefer, die anderen heller, anfänglich alle schüchtern, nur selten einen Schlag wagend, dann einander anregend, den Rhythmus beschleunigend und schließlich von einem so wütenden Wetteifer fortgerissen, daß [169] einige tot niederfielen. Die Nagelschmiede feuerten sie lebhaft an, riefen ihnen in ihrer wallonischen Sprache zu, noch ein Stückchen und noch ein Stückchen zu singen, während die Zuschauer – ungefähr hundert Personen – in lautloser, leidenschaftlicher Spannung verharrten inmitten dieser Musik von hundertachtzig Finken, die in einem greulichen Durcheinander den nämlichen Schlag wiederholten. Als der Sieg entschieden war, nahm der Sieger ganz glücklich den ersten Preis, eine blecherne Kaffeemaschine, in Empfang.

Katharina und Chaval waren schon da, als Zacharias und Philomene eintraten. Man reichte sich die Hände und blieb zusammen. Allein plötzlich geriet Zacharias in Zorn, weil er einen Nagelschmied, der mit den Kameraden aus Neugierde hergekommen war, dabei überraschte, wie er seine Schwester in die Wangen kniff. Sie war sehr rot geworden, ließ ihn aber gewähren, weil sie bei dem Gedanken an die Schlägerei erbebte, die es geben müsse, wenn alle diese Nagelschmiede sich auf Chaval stürzten. Ihr Galan lachte übrigens nur über den Zwischenfall; alle vier gingen fort, und die Sache schien beigelegt. Doch kaum waren sie bei Piquette eingetreten, um einen Schoppen zu trinken, als der Nagelschmied wieder auftauchte und ihnen herausfordernd ins Gesicht blies. Zacharias, in seinen brüderlichen Gefühlen verletzt, hatte sich auf den Unverschämten geworfen.

»Schweinekerl, das ist meine Schwester! ...« rief er. »Wart', ich werde dich Respekt lehren!«

Man trennte die beiden Männer, während Chaval ganz ruhig wiederholte:

»Laß ihn laufen; das geht mich an ... Ich sage dir ja, ich pfeife auf ihn!«

Jetzt traf Maheu mit seiner Gesellschaft ein und beruhigte Katharina und Philomene, die schon in Tränen aufgelöst waren. Die Leute ringsumher waren wieder lustig, der Nagelschmied war verschwunden. Chaval, der bei Piquette zu Hause war, zahlte Bier, um den[170] Verdruß hinunterzuspülen. Etienne mußte mit Katharina anstoßen! Alle tranken zusammen, der Vater, die Tochter und ihr Liebhaber, der Sohn und seine Geliebte, und sagten höflich: »Auf das Wohl der Gesellschaft!« Dann bestand Pierron darauf, eine Runde zu zahlen. Es herrschte das beste Einvernehmen, als Zacharias beim Anblick seines Kameraden Mouquet sich wieder des Nagelschmiedes erinnerte. Er rief Mouquet, sie wollten mit dem Wallonen abrechnen.

»Ich will den Kerl schinden! ...« rief er. »Chaval, nimm Philomene und Katharina in deinen Schutz; ich komme gleich wieder.«

Jetzt war an Maheu die Reihe, Bier zu zahlen. Wenn der Junge seine Schwester rächen wolle, gebe er damit nur ein gutes Beispiel, meinte der Vater. Philomene war beruhigt, seitdem sie Mouquet gesehen. »Die beiden Kerle gehen sicherlich zum ›Vulkan‹!« sagte sie.

Auf dem Tanzboden »Zur Gemütlichkeit« beschloß man den Festtag. Diesen Tanzboden hielt die Witwe Désir, eine dicke Frau von fünfzig Jahren, rund wie ein Faß, aber frisch und wohlerhalten. Die Wirtschaft »Zur Gemütlichkeit« bestand aus zwei Sälen: aus der Trinkstube, wo der Schanktresen und die Tische standen, und aus dem Tanzsaal, in den man aus der Gaststube durch eine weite Bogenöffnung gelangte. Der Tanzsaal war ein großer Raum, nur in der Mitte gedielt und ringsherum mit Ziegeln gepflastert. Den Zierat gaben zwei Gewinde von papiernen Blumen ab, die an der Saaldecke von einem Ende zum andern sich zogen und, in der Mitte sich kreuzend, durch einen Kranz ebensolcher Blumen zusammengehalten wurden. An den Wänden hingen vergoldete Wappenschilde, welche die Namen von Heiligen trugen: den heiligen Eloi, Schutzpatron der Eisenarbeiter; den heiligen Krispin, Schutzpatron der Schuster; die heilige Barbara, Schutzpatronin der Bergleute, kurz, den ganzen Kalender der Gewerbe. Die Saaldecke war so niedrig, daß die drei Musiker auf ihrer Tribüne, die nicht größer als eine Predigerkanzel [171] war, mit dem Kopf anstießen. Die Beleuchtung besorgten vier Petroleumlampen, die am Abend in den vier Winkeln des Saales aufgehängt wurden.

An diesem Sonntag begann der Tanz schon um fünf Uhr nachmittags bei hellem Tageslicht. Aber erst gegen sieben Uhr füllten sich die Säle. Draußen hatte sich ein heftiger Wind erhoben; er wirbelte schwarze Staubwolken auf, die alle Leute blendeten und sich knisternd in die offenen Bratöfen legten. Maheu, Etienne und Pierron waren ebenfalls gekommen, um Chaval aufzusuchen, der mit Katharina tanzte, während Philomene allein geblieben war und ihnen zusah. Weder Levaque noch Zacharias waren sichtbar geworden. Da es im Saale an Sitzbänken fehlte, ließ sich Katharina nach jedem Tanze am Tisch ihres Vaters nieder. Man rief auch Pilomene, allein sie wollte lieber stehen. Der Tag ging zur Neige; man sah im Saale nur noch Köpfe und Schultern in einem Wirrsal von Armen sich bewegen. Mit hellem Jubel wurden die vier Lampen empfangen; plötzlich war alles erhellt, die roten Gesichter, die an der Haut klebenden wirren Haare, die fliegenden Röcke, die den scharfen Geruch der schwitzenden Paare verbreiteten.

Endlich um acht Uhr erschien Frau Maheu mit Estelle, gefolgt von den Kleinen, von Alzire, Heinrich und Leonore. Sie suchte ihren Mann hier auf, weil sie sicher war, ihn zu treffen. Man beschloß, später zur Nacht zu essen, niemand hatte Hunger; alle hatten den Magen mit Kaffee und Bier überladen. Es kamen noch andere Frauen, und es gab ein Geflüster, als man hinter der Maheu die Levaque eintreten sah, gefolgt von Bouteloup, der Philomenes Kinder, Achilles und Desirée, an der Hand führte. Die beiden Nachbarinnen schienen Frieden gemacht zu haben; die eine drehte sich herum, um mit der anderen zu reden. Unterwegs hatte es eine große Auseinandersetzung zwischen ihnen gegeben; die Maheu hatte sich endlich darein ergeben, daß Zacharias heirate; allerdings war sie trostlos, den Erwerb ihres Ältesten [172] einzubüßen; doch mußte sie einsehen, daß es ungerecht sei, ihn noch länger zurückzuhalten. Sie versuchte gute Miene zu machen, obgleich ihr Herz von Sorge erfüllt war, weil sie, die Hausfrau, sich fragen mußte, wie sie fernerhin das Auskommen finden sollten, da doch ein Hauptteil ihres Einkommens wegfallen werde.

»Setz' dich dorthin, Nachbarin«, sagte sie und zeigte auf einen Tisch neben dem, an welchem Maheu mit Etienne und Pierron trank.

»Ist mein Mann nicht bei euch?« fragte die Levaque.

Die Kameraden sagten ihr, daß er wiederkommen werde. Man rückte enger zusammen, Bouteloup mit den Kindern nahm ebenfalls Platz, und man saß so gedrängt, daß die beiden Tische gleichsam nur einen ausmachten. Man bestellte Bier. Als Philomene ihre Mutter und ihre Kinder eintreffen sah, kam auch sie näher. Sie nahm einen Sessel und schien froh zu hören, daß man sie endlich verheirate. Als man Zacharias suchte, antwortete sie mit ihrer weichen Stimme:

»Ich erwarte ihn; er ist nicht weit.«

Maheu hatte mit seiner Frau einen Blick ausgetauscht. Wie, sie willigte ein? Er war ernst und rauchte schweigsam seine Pfeife. Auch ihn erfaßte die Sorge angesichts der Undankbarkeit der Kinder, die eines nach dem andern heirateten und ihre Eltern im Elend zurückließen.

Man tanzte noch immer; der Schluß einer Quadrille hüllte den Saal in rötlichen Staub; die Mauern krachten; eine Pickelflöte ließ schrille Pfiffe vernehmen wie eine Lokomotive; wenn die Tänzer stillstanden, dampften sie wie Pferde.

»Erinnerst du dich,« sagte die Levaque und beugte sich zum Ohr der Maheu, »daß du davon sprachst, Katharina erwürgen zu wollen, wenn sie die ›Dummheit‹ begehen werde?«

Chaval führte eben Katharina an den Familientisch zurück; hinter dem Vater stehend, tranken sie den Rest ihres Bieres.

[173] »Mein Gott, man sagt das wohl so ...«, entgegnete die Maheu kleinlaut.

Die Pickelflöte pfiff jetzt eine Polka. Während der betäubende Lärm des Tanzes wieder anging, teilte Maheu seiner Frau mit leiser Stimme einen Gedanken mit: warum sollten sie nicht einen Mieter nehmen, Etienne zum Beispiel, der eine Pension suchte? Sie würden Platz haben, weil Zacharias sie bald verlasse; das Geld, das sie in dieser Weise auf der einen Seite verloren, würden sie auf der anderen Seite zum Teil wieder hereinbekommen. Das Gesicht der Maheu hellte sich auf: gewiß, es sei eine gute Idee, und man müsse die Sache abmachen, meinte sie. Wieder einmal schienen sie vor dem Hunger gerettet; ihre gute Laune kehrte so rasch wieder, daß sie Bier für die Gesellschaft bestellte.

Mittlerweile bemühte sich Etienne, Pierron zu gewinnen, dem er seinen Plan einer Unterstützungskasse auseinandersetzte. »Wir reden dann ganz anders mit der Gesellschaft; wir finden so die ersten Mittel des Widerstandes ... Bist du dabei?«

Pierron hatte die Blicke gesenkt und war bleich geworden.

»Ich will darüber nachdenken«, stammelte er. »Gute Führung ist die beste Unterstützungskasse.«

Maheu bemächtigte sich jetzt Etiennes und machte ihm rundheraus als rechtschaffener Mann den Vorschlag, ihn als Mieter in sein Haus zu nehmen. Der junge Mann ging auf den Vorschlag sofort ein, denn er wünschte lebhaft, im Dorfe zu wohnen, mehr unter den Kameraden zu leben. Man schloß in wenigen Worten das Geschäft ab; die Maheu erklärte, man wolle nur die Heirat der Kinder abwarten.

Endlich kam auch Zacharias mit Mouquet und Levaque. Alle drei brachten die Gerüche des »Vulkan« mit, den Duft von Wacholderbranntwein, den scharfen Moschusgeruch von unsauberen Dirnen. Sie waren sehr betrunken, schienen zufrieden mit sich selbst und stießen einander zum Spaß mit den Ellbogen. Als Zacharias [174] erfuhr, daß man ihn endlich verheiraten wolle, lachte er so stark, daß es ihn fast erstickte. Philomene erklärte, sie sehe ihn lieber lachen als weinen. Da kein Sessel mehr frei war, überließ Bouteloup die Hälfte des seinen Levaque; dieser ließ plötzlich, gerührt durch den Anblick der versammelten Familie, noch einmal Bier auffahren.

»Man vergnügt sich doch nicht alle Tage, was?!« schrie er.

Sie blieben bis zehn Uhr da. Es kamen noch immer Weiber hinzu, um ihre Männer heimzuführen; den Weibern folgten Scharen von Kindern; und die Mütter taten sich keinen Zwang mehr an und nährten ihre pausbackigen Kleinen; die Kinder aber, mit Bier gefüllt, krochen unter den Tischen umher. Die Bierflut stieg immer höher; die Fässer der Désir wurden leer und die Bäuche voll.

Jemand sagte im Vorübergehen Pierron, daß seine Tochter Lydia vor der Tür quer auf dem Straßenpflaster liegend schlafe. Sie hatte ihren Teil aus der gestohlenen Schnapsflasche getrunken und war jetzt berauscht; er mußte sie heimtragen, während Johannes und Bebert, die noch fester auf den Beinen waren und die Sache sehr drollig fanden, ihm von fern folgten. Es war das Zeichen zum Aufbruch; ganze Familien verließen die Schenke »Zur Gemütlichkeit«; auch die Familien Maheu und Levaque entschlossen sich, nach dem Dorfe heimzukehren. In diesem Augenblick verließen auch Vater Bonnemort und der alte Mouquet Montsou bedächtigen Schrittes, in ihre Erinnerungen still versunken. So kehrten denn alle zusammen heim; man durchschritt noch einmal das Marktgewühl mit seinen Schenken, wo der Inhalt der letzten Schoppen bis auf die Straße hinausrann. Noch immer drohte das Gewitter; die Lustigkeit stieg höher und höher, als man die letzten beleuchteten Häuser des Dorfes hinter sich hatte und die finstere Landstraße betrat. Ein heißer Hauch strich über das reife Getreide hin. In regellosen Scharen langte man [175] im Arbeiterdorfe an. Weder die Levaque noch die Maheu hatten rechte Eßlust zum Nachtmahl; sie schliefen schon, während sie den vom Mittagessen gebliebenen Rest Rindfleisch aßen.

Etienne hatte Chaval weggeführt, um bei Rasseneur noch eins zu trinken.

»Ich bin dabei«, sagte Chaval, als der junge Mann ihm die Angelegenheit der Unterstützungskasse erklärt hatte. »Schlag ein, du bist ein wackerer Junge.«

Etiennes Augen flammten auf.

»Ja, wir wollen einig sein«, rief er. »Gerechtigkeit über alles; dafür gebe ich den Wein und die Weiber hin. Eine Sache ist's, die mir das Herz warm macht: der Gedanke, daß wir die Spießbürger bald hinwegfegen werden.«

Drittes Kapitel

Um die Mitte des August zog Etienne zu den Maheu, nachdem Zacharias, der inzwischen geheiratet, für Philomene und seine zwei Kinder ein leer gewordenes Haus von der Gesellschaft bekommen hatte. In der ersten Zeit fühlte sich der junge Mann Katharina gegenüber einigermaßen verlegen. Es war ein fortwährendes Beisammenleben; der junge Mann ersetzte in allen Stücken den älteren Bruder, teilte das Bett Johannes', dem Bett der erwachsenen Schwester gegenüber. Sie schaute ihn nicht an, beeilte sich indessen, war in zehn Sekunden entkleidet und hatte sich neben Alzire ausgestreckt. Dies geschah mit der Geschmeidigkeit einer Eidechse, so daß er kaum seine Schuhe ausgezogen hatte, wenn sie im Bett verschwand, ihm den Rücken kehrte und nichts als ihren dicken Haarknoten zeigte.

Sie hatte übrigens niemals Ursache, böse zu werden. Obgleich er unwillkürlich, gewissermaßen in der Gewalt eines Bannes, auf den Augenblick zu warten schien, wenn sie zu Bett ging, vermied er doch alle[176] Scherze. Die Eltern waren da, und überdies bewahrte er für sie ein Gefühl aus Freundschaft und Groll gemengt, das ihn hinderte, sie wie eine Dirne zu behandeln, nach der man Verlangen trägt in der Ungezwungenheit des gemeinsamen Lebens, bei der Toilette, bei den Mahlzeiten, während der Arbeit.

Nach Verlauf eines Monats schienen Etienne und Katharina einander nicht zu sehen, wenn sie, bevor die Kerze ausgelöscht wurde, im Zimmer hin und her gingen. Sie beeilte sich jetzt nicht mehr, nahm vielmehr ihre frühere Gewohnheit wieder auf, am Bettrande sitzend ihre Haare aufzustecken, die nackten Arme in der Luft. Die Gewohnheit tötete das Schamgefühl; sie fanden es natürlich, so zu sein, da sie doch nichts Übles taten und es nicht ihre Schuld war, wenn für so viele Leute nur eine Stube da war. Indes gerieten sie zuweilen plötzlich in Verlegenheit in Augenblicken, wo sie an nichts Sträfliches dachten. Wenn er viele Abende nicht mehr die Blässe ihres Körpers erblickt hatte, sah er sie plötzlich wieder so weiß, daß er erschauerte und genötigt war sich abzuwenden, weil er fürchtete, daß er der Versuchung erliegen könne, die Hände auszustrecken und sie zu ergreifen. Sie wieder wurde an manchen Abenden ohne ersichtliche Ursache von einer Regung der Züchtigkeit ergriffen, flüchtete unter die Bettdecke, als fühle sie die Hände des Burschen. Wenn dann die Kerze ausgelöscht war, merkten sie, daß sie nicht einschliefen, daß sie trotz ihrer Ermüdung aneinander dachten. Darüber waren sie am folgenden Tage unruhig und schweigsam; sie zogen die Abende vor, an denen es keine Aufregung gab und sie es sich voreinander ganz ruhig bequem machten.

Etienne hatte sich nur über Johannes zu beklagen, der einen unruhigen Schlaf hatte; Alzire atmete leicht und kaum hörbar; Leonore und Heinrich fand man des Morgens einander in den Armen liegend, wie man sie des Abends zu Bett gebracht hatte. In dem in Finsternis gehüllten Hause war kein anderes Geräusch hörbar als [177] das Schnarchen der Eheleute Maheu, das in regelmäßigen Zwischenräumen erscholl wie ein Blasebalg. Alles in allem fühlte sich Etienne da wohler als bei Rasseneur; das Bett war nicht schlecht, und die Bettwäsche wurde monatlich einmal gewechselt. Er aß auch eine bessere Suppe und litt nur darunter, daß selten Fleisch auf den Tisch kam. Allein die anderen lebten auch nicht besser, und für fünfundvierzig Franken Pension konnte er nicht verlangen, daß man ihm zu jeder Mahlzeit einen Kaninchenbraten vorsetzte. Diese fünfundvierzig Franken waren für die Familie eine bedeutende Hilfe; man konnte leben und machte nicht allzu viele Schulden. Die Maheu zeigten sich ihrem Mieter gegenüber dankbar; seine Leibwäsche wurde gewaschen und ausgebessert, seine Knöpfe festgenäht, seine Kleidung in Ordnung gehalten; kurz, er merkte, daß die Sauberkeit und Sorgfalt einer Frau ihn umgab.

Das war der Zeitabschnitt, in dem Etienne jene Ge danken erfaßte, die in seinem Gehirn wogten. Bis dahin hatte er – inmitten der dumpfen Gärung unter seinen Kameraden – nur eine unwillkürliche Empörung gefühlt. Allerlei verworrene Fragen tauchten in ihm auf: warum bestand das Elend der einen und der Reichtum der anderen? Warum wurden die ersteren von den letzteren geknechtet, ohne Hoffnung, jemals an ihre Stelle zu gelangen? Zunächst begriff er seine Unwissenheit. Seither quälte ihn eine geheime Scham, ein verborgener Kummer: er wußte nichts; er wagte nicht, von den Dingen zu sprechen, die ihn so leidenschaftlich erregten, von der Gleichheit aller Menschen, von der Gerechtigkeit, die eine Aufteilung der irdischen Güter forderte. Er warf sich also auf das Studium mit der regellosen, maßlosen Wißbegierde der Unwissenden. Jetzt stand er in einem regelmäßigen Briefwechsel mit Pluchart, der besser unterrichtet war und mitten in der sozialistischen Bewegung stand. Er ließ sich Bücher senden, deren unvollständig erfaßter Inhalt ihm vollends den Kopf erhitzte; besonders ein Buch: »Hygiene [178] des Bergarbeiters«, in welchem ein belgischer Arzt alle jene Krankheiten aufzählte, an denen die Bergleute zugrunde gehen; dann volkswirtschaftliche Abhandlungen von einer unfaßbaren technischen Trockenheit; anarchistische Flugschriften, die ihn in Erregung versetzten; alte Zeitungen, deren Behauptungen er als unanfechtbare Beweise in seinen Gesprächen anführte. Auch Suwarin lieh ihm Bücher. Das Werk über die Kooperativgenossenschaften ließ ihn einen vollen Monat über einen allgemeinen Bund zum Austausch der Waren brüten, bei dem das Geld abgeschafft und die Arbeit zur Grundlage des ganzen gesellschaftlichen Lebens gemacht werden sollte. Es schwand die Scham über seine Unwissenheit, und er wurde stolz, seitdem er sich als Denker fühlte.

In den ersten Monaten kam Etienne über das Entzücken des Neulings nicht hinaus; sein Herz floß von edler Entrüstung gegen die Bedrücker über und schwelgte in der Hoffnung auf den nahen Triumph der Bedrückten. In dem Gedankenwirbel, den alle diese Bücher in seinem Schädel hervorbrachten, kam er noch nicht so weit, sich ein System zu bilden. Die praktischen Forderungen Rasseneurs mengten sich bei ihm mit den Umsturzplänen Suwarins; und wenn er die Schenke »Zum wohlfeilen Schoppen« verließ, wo er fast jeden Tag mit Rasseneur und Suwarin gegen die Bergwerksgesellschaft wetterte, wandelte er wie im Traum und sah die Wiedergeburt der Völker, die sich vollzog, ohne daß eine Fensterscheibe zerbrochen oder ein Tropfen Blut vergossen wurde. Die Mittel zur Durchführung blieben übrigens in Dunkel gehüllt; er glaubte, daß die Dinge sehr gut gehen würden; denn sobald er ein Programm aufstellen wollte, nach dem die Welt neu eingerichtet werden sollte, verloren sich seine Gedanken in Wirrwarr. Er zeigte sogar Mäßigung und Mangel an Folgerichtigkeit; er wiederholte zuweilen, daß man die Politik aus dem Kreise der sozialen Frage verbannen müsse, eine Redensart, die er oft gelesen hatte, und die [179] gut zu klingen schien in der Umgebung phlegmatischer Bergleute, in der er lebte.

In der Familie Maheu war es jetzt Brauch geworden, nach dem Abendessen eine halbe Stunde in der Wohnstube zu verweilen, ehe man zum Schlafen hinaufging. Etienne sprach immer über den nämlichen Gegenstand. Seitdem seine Natur sich verfeinerte, fühlte er sich noch mehr verletzt durch das in dem Arbeiterdorf allgemein übliche Zusammenleben der Geschlechter. Waren diese Menschen denn Tiere, daß sie zusammengepfercht lebten, so aneinandergedrängt, daß man nicht sein Hemd wechseln konnte, ohne sich dem Nachbar zu zeigen? Wie wenig das der Gesundheit zuträglich war, und wie Burschen und Mädchen dabei notgedrungen verkümmerten!

»Mein Gott!« pflegte Maheu zu bemerken, »wenn man mehr Geld hätte, würde man es sich auch bequemer einrichten können ... Immerhin ist es schlimm genug für alle, daß man dermaßen dicht beieinander leben muß. Das Ende von alldem sind immer betrunkene Männer und unglückliche Mädchen.«

Dies war das Gespräch der Familie; jeder sagte sein Wörtchen, während die Petroleumlampe die von Zwiebelduft geschwängerte Luft noch mehr verdarb. Nein, wahrhaftig, das Leben war nicht schön. Man habe – gleich den Tieren – eine Arbeit zu verrichten, mit der ehemals die Galeerensklaven gestraft wurden; man lasse oft vorzeitig die Knochen dabei und all das, um des Abends nicht einmal Fleisch auf dem Tische zu haben. Man habe zwar zu essen, aber nur gerade genug, um nicht vor Hunger zu verrecken; man sei verschuldet bis über die Ohren und werde verfolgt, als stehle man sein Brot. Wenn der Sonntag komme, verschlafe man ihn vor Mattigkeit.

Da mengte Frau Maheu sich ein:

»Das Traurigste ist, daß man sich sagen muß, es wird nicht besser ... Wenn man jung ist, bildet man sich ein, das Glück werde kommen, und hofft auf allerlei Dinge; [180] dann sieht man, daß das Elend kein Ende nimmt, daß man darin eingeschlossen ist. Ich wünsche zwar niemand Schlimmes, aber manchmal empört mich diese Ungerechtigkeit.«

Ein Schweigen trat ein; alle verschnauften sich einen Augenblick in unbestimmtem Unbehagen angesichts der finsteren Zukunft. Nur wenn Vater Bonnemort da war, riß er erstaunt die Augen auf; zu seiner Zeit habe man sich nicht so gequält; man sei in der Kohle geboren und hämmere in den Kohlengängen, ohne nach anderem zu verlangen; heute wehe ein Wind, der in den Bergleuten Ehrgeiz wachrufe.

»Man soll nicht ungerecht sein«, brummte er. »Ein guter Schoppen ist ein guter Schoppen ... Die Vorgesetzten sind oft Halunken; aber Vorgesetzte wird es immer geben, nicht wahr? Es ist unnütz, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«

Sogleich fuhr Etienne auf. Wie, der Arbeiter solle nicht nachdenken dürfen? Ei, die Dinge würden ja nur deshalb in Bälde besser werden, weil der Arbeiter heutzutage nachdenke. Früher habe der Bergmann in der Grube wie ein Tier gelebt, wie eine Fördermaschine, immer unter der Erde, taub und blind für die Ereignisse der Außenwelt. Die herrschenden Reichen hätten es denn auch leicht, sich zu verständigen, ihn zu kaufen und zu verkaufen, um sein Fleisch zu essen; er habe es gar nicht geahnt. Jetzt erwache der Bergmann in seiner Grube; er keime in der Erde wie ein wirkliches Korn; man werde ihn eines Tages mitten aus den Feldern emporwachsen sehen; jawohl, Männer würden wachsen, eine Armee von Männern, welche die Gerechtigkeit wiederherstellen. Seien denn seit der Revolution nicht alle Bürger gleich? Man gebe zusammen seine Stimme ab: dürfe der Arbeiter noch länger der Sklave des Arbeitgebers sein, der ihn bezahle? Die großen Gesellschaften mit ihren Maschinen erdrückten alles, und man habe gegen sie nicht einmal mehr den Schutz der alten Zeit, als die Leute vom nämlichen Handwerk sich zu [181] ihrer Verteidigung zusammentaten. Deswegen und anderer Dinge wegen werde – dank der fortgeschrittenen Bildung – eines Tages alles in die Luft fliegen. Man brauche nur einen Blick in das Arbeiterdorf zu tun: die Großväter hätten ihren Namen nicht zu kritzeln gewußt; die Väter könnten ihn schon schreiben, die Söhne aber schrieben und läsen wie Professoren. Es sprieße allmählich eine herrliche Saat von Männern hervor, die in der Sonne reife. Sobald nicht jedermann sein ganzes Leben lang an demselben Fleck klebe und man den Ehrgeiz habe, sich an die Stelle des Nachbarn zu setzen: warum solle man nicht seine Fäuste gebrauchen und trachten, der Stärkere zu sein?

Maheu war wankend gemacht, blieb aber von Mißtrauen erfüllt.

»Wer sich empört, dem gibt man sein Arbeitsbuch zurück«, sagte er. »Der Alte hat recht: der Bergmann wird immer der Geplagte sein, ohne Aussicht, von Zeit zu Zeit einen Hammelbraten essen zu können.«

»O mein Gott! mein Gott!« jammerte die Maheu; »sollen wir denn wirklich für immer verloren sein?«

Sie ließ in unendlicher Trostlosigkeit die Hände auf die Knie niedersinken.

Alle schauten einander an. Vater Bonnemort spie in sein Taschentuch, während Maheu seine kalte Pfeife anzubrennen vergaß. Alzire hörte zu, zwischen Leonore und Heinrich sitzend, die am Tisch eingeschlafen waren. Katharina, das Kinn auf die Hand gestützt, schaute mit ihren großen Augen unverwandt auf Etienne, wenn er voll Unmut sein Glaubensbekenntnis hersagte und die zauberische Zukunft seines sozialen Traumes erschloß. In den Häusern ringsumher ging man zur Ruhe; man hörte nichts mehr als das ferne Weinen eines Kindes oder das Gezänk eines verspäteten Trunkenboldes. Die Kuckucksuhr ließ ihr langsames Ticktack vernehmen; von den mit Sand bestreuten Fliesen stieg trotz der schwülen Luft eine kühle Feuchtigkeit auf.

Endlos floß die eifrige Rede von seinen Lippen. Der [182] enge Horizont öffnete sich, plötzlich, und es wurde mit einem Schlage hell in dem düsteren Dasein dieser armen Leute. Die ewige Wiederkehr des Elends, die tierische Arbeit, das Schicksal des Viehes, das seine Wolle hergibt, um schließlich getötet zu werden, all der Jammer verschwand wie hinweggescheucht durch einen ungeheuren Sonnenstrahl; und in einem blendenden Feenglanze stieg die Gerechtigkeit vom Himmel hernieder. Da der gute Gott tot war, mußte die Gerechtigkeit das Glück der Menschen sichern, indem sie die Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen ließ. Eine neue Gesellschaft wuchs an einem Tage heran – wie in den Träumen –, eine neue, ungeheure Stadt von wunderbarem Glanz, in der jeder Bürger von seiner Beschäftigung lebte und seinen Anteil an den gemeinsamen Vergnügungen hatte. Die alte, vermoderte Welt war in Staub zerfallen; eine Menschheit, geläutert von Sünden, bildete ein einziges Volk von Arbeitern, welches die Losung hatte: jedem nach seinem Verdienst und jedem der Lohn nach seinen Werken. Dieser Traum breitete sich immer mehr aus und ward immer schöner; und je höher er in die Unmöglichkeit hinanstieg, desto verführerischer wurde er.

Von einem dumpfen Entsetzen ergriffen, wollte Frau Maheu anfänglich nichts hören. Nein, nein, es sei zu schön, man dürfe sich nicht solchen Gedanken hingeben; sie würden das Leben nachher nur noch abscheulicher erscheinen lassen, und man würde dann alles niedermetzeln, um glücklich zu werden. Als sie Maheus Augen funkeln sah, der verwirrt und so gut wie gewonnen war, unterbrach sie beunruhigt Etienne:

»Lieber Mann, hör' ihn nicht an! Du siehst wohl, daß er uns Märchen erzählt ... Werden die Bürger jemals arbeiten wollen wie wir?«

Doch allmählich wirkte der Zauber auch auf sie. Sie lächelte schließlich, als ihre Einbildungskraft erwachte und sie in das Feenreich der Hoffnung einzog. Es war so lieblich, eine Stunde lang die traurige Wirklichkeit [183] zu vergessen. Wenn man lebt wie die Tiere, zur Erde gebeugt, muß man doch wohl einen Lügenwinkel haben, wo man sich Dinge gönnt, die man nie besitzen wird. Was sie in leidenschaftliche Aufregung und in Übereinstimmung mit dem jungen Manne brachte, war der Gedanke der Gerechtigkeit.

»Sie haben recht!« rief sie. »Für eine gerechte Sache könnte ich mich in Stücke hacken lassen ... Es wäre nur gerecht, wenn auch für uns endlich bessere Tage kämen.«

Da wagte auch Maheu sich zu begeistern.

»Donner Gottes!« rief er; »ich bin nicht reich, aber ich würde hundert Sous dafür geben, wenn ich es noch vor meinem Tode erleben könnte. Welch eine Umwälzung! Wird es bald sein? Und wie wird man die Sache anfassen?«

Etienne begann wieder zu sprechen. Die alte Gesellschaft krache in allen Fugen und könne nur noch einige Monate dauern, behauptete er kühn. Über die Mittel der Durchführung äußerte er sich weniger bestimmt, mengte alles durcheinander, was er in den Büchern gelesen, erging sich vor diesen unwissenden Leuten ohne Scheu in Erklärungen, in die er selber sich schließlich verlor. Dabei kamen alle Systeme an die Reihe, gemildert durch die Sicherheit eines leichten Sieges, durch den Friedenskuß, der schließlich die Mißverständnisse der Klassen lösen solle; das schließe allerdings nicht aus, daß man die störrischen Köpfe unter den Besitzern und Spießbürgern zur Vernunft bringen müsse. Die Maheu schienen zu begreifen, stimmten ihm zu, fanden die wunderbaren Lösungen möglich mit dem blinden Glauben von Neubekehrten, gleich den ersten Christen, die das Erstehen einer vollkommenen Gesellschaft auf den Ruinen der alten Welt erwarteten. Die kleine Alzire fing einzelne Worte auf, dachte sich das Glück in der Gestalt eines stets warmen Hauses, wo die Kinder spielen und essen könnten, soviel sie wollten. Katharina saß stumm da, den Kopf auf die Hand [184] gestützt, und schaute immer auf Etienne. Als dieser zu sprechen aufhörte, fuhr sie zusammen und ward ganz bleich, wie von einem Schauer ergriffen.

Doch jetzt blickte Frau Maheu auf die Kuckucksuhr.

»Schon neun Uhr vorüber!« rief sie. »Ist's möglich? Wir werden morgen nicht aufstehen können.«

Sie erhob sich vom Tisch in unbehaglicher, beinahe verzweifelter Stimmung. Es war ihnen, als seien sie reich gewesen und sänken nun mit einemmal wieder ins Elend zurück. Vater Bonnemort, der zur Grube ging, brummte, daß solche Geschichten die Suppe nicht besser machten. Die anderen gingen – einer hinter dem andern – hinauf und bemerkten die feuchten Mauern und die drückende, schlechte Luft. Als Katharina zu Bett gegangen war und die Kerze ausgelöscht hatte, hörte Etienne in der tiefen Stille, die in dem schlafenden Dorfe herrschte, wie das Mädchen sich in fieberhafter Erregung lange Zeit auf seinem Lager wälzte, ehe es Ruhe finden konnte.

Bei diesen abendlichen Gesprächen waren oft auch Nachbarn anwesend; Levaque, den die Idee der Teilung begeisterte; Pierron, der die Vorsicht übte, schlafen zu gehen, sobald die Vorgesetzten angegriffen wurden. Dann und wann kam auch Zacharias auf einen Augenblick; allein die Politik langweilte ihn; er zog es vor, bei Rasseneur einen Schoppen zu trinken. Chaval überbot alle und forderte Blut. Fast jeden Abend verbrachte er eine Stunde bei den Maheu, und in dieser Beharrlichkeit lag eine uneingestandene Eifersucht, die Furcht, daß man ihm Katharina rauben könne. Dies Mädchen, dessen er schon überdrüssig wurde, war ihm teuer geworden, seitdem ein Mann in ihrer Nähe war und sie ihm nehmen konnte.

Etiennes Einfluß gewann an Ausdehnung; er brachte allmählich das ganze Bergdorf in Aufruhr. Es war eine stille Propaganda, die um so sicherer wirkte, als Etienne in aller Achtung stieg. Wenngleich als kluge Hausfrau noch mißtrauisch, behandelte die Maheu ihn rücksichtsvoll [185] als einen jungen Mann, der pünktlich zahlte, weder trank noch spielte, die Nase immer in die Bücher steckte; sie verschaffte ihm bei den Nachbarinnen den Ruf eines wohlunterrichteten jungen Mannes, und die Nachbarinnen mißbrauchten dies, indem sie sich ihre Briefe von ihm schreiben ließen. Er war eine Art Geschäftsagent geworden, den man in allen schwierigen Fällen zu Rate zog. Im Monat September war es ihm endlich gelungen, seine Unterstützungskasse zu gründen. Wohl stand sie noch auf schwachen Füßen, weil sie nur die Bewohner des Dorfes zu ihren Mitgliedern zählte; allein er hoffte auf den Anschluß der Bergleute sämtlicher Gruben, besonders wenn die Gesellschaft, die bisher gleichgültig geblieben war, auch fernerhin keine Schwierigkeiten machte. Man hatte ihn zum Sekretär des Unterstützungsvereins gewählt, und er bezog sogar ein kleines Gehalt für die Besorgung der Schreibarbeiten. Dadurch wurde er fast wohlhabend. Ein verheirateter Bergmann kann kaum sein Leben fristen; ein lediger jedoch, der keine Laster hat, kann einen Spargroschen zurücklegen.

Von da an vollzog sich bei Etienne eine langsame Umwandlung. Sein Bedürfnis nach Wohlanständigkeit, so lange durch Armut unterdrückt, regte sich wieder; er kaufte sich Tuchkleider und ein Paar feine Stiefel. Mit einem Schlage wurde er Führer; das ganze Dorf scharte sich um ihn. Es war eine köstliche Befriedigung seiner Eigenliebe; er berauschte sich an den ersten Freuden der Volkstümlichkeit. Daß er, noch so jung, vor kurzem noch ein Handlanger, als Gebieter an der Spitze der anderen stand: das erfüllte ihn mit Stolz, nährte seinen Traum von einer nahen Revolution, in der er eine Rolle spielen sollte. Sein Gesicht veränderte sich; er wurde ernst und hörte sich gern reden, während wachsender Ehrgeiz seine Anschauungen fieberhaft durchglühte und ihn zum Kampfe drängte.

Indessen kam der Spätherbst; die Oktoberkälte hatte die kleinen Gärten des Arbeiterdorfes mit Reif überzogen. Nur die Wintergemüse waren noch übrig, Kohlköpfe, [186] Lauch und Spätsalat. Wieder peitschte der Regen die roten Ziegeldächer und ergoß sich geräuschvoll in die Fässer unter den Dachtraufen. Die Öfen in den Häusern wurden nicht mehr kalt und schwängerten die Luft in den Stuben mit Kohlendunst an. Eine Jahreszeit des Elends hub wieder an.

In einer der ersten kalten Oktobernächte konnte Etienne nicht einschlafen, weil er noch erhitzt war von dem Vortrag, den er unten in der Wohnstube gehalten hatte. Er hatte Katharina unter die Bettdecke schlüpfen und dann die Kerze auslöschen sehen. Auch sie schien in großer Erregung, von einer jener Züchtigkeitsanwandlungen gequält, in denen sie sich zuweilen so hastig und ungeschickt entkleidete, daß sie sich nur noch mehr zeigte. Unbeweglich, wie tot, lag sie in der Finsternis in ihrem Bett; aber er merkte dennoch, daß sie nicht schlief. Er fühlte es, daß sie an ihn denke wie er an sie; niemals hatte dieser stumme Austausch sie mit solcher Verwirrung erfüllt. Es vergingen Minuten, weder er noch sie rührten sich. Zweimal war er auf dem Sprung, sich zu erheben. Die Kinder schliefen; sie war bereit; er war sicher, daß sie seiner harrte, daß sie stumm, mit zusammengepreßten Zähnen die Arme um ihn schlingen würde. So verfloß nahezu eine Stunde. Er ging nicht hin, um sie zu küssen; sie aber wandte sich nicht um aus Furcht, daß sie ihn rufen könne. Je länger sie Seite an Seite lebten, desto höher erhob sich zwischen ihnen eine Scheidewand von Scham, Widerstreben, freundschaftlicher Zartheit, die sie sich selbst nicht erklären konnten.

[187] Viertes Kapitel

»Höre, Mann,« sagte die, Maheu zu ihrem Gatten, »wenn du nach Montsou gehst, um deinen Lohn in Empfang zu nehmen, bringe mir ein Pfund Kaffee und ein Kilo Zucker mit.«

Maheu war damit beschäftigt, einen seiner Schuhe zu flicken, um so den Schuster zu ersparen.

»Gut«, brummte er, ohne in seiner Arbeit innezuhalten.

»Ich möchte auch, daß du zum Fleischer gehst. Ein Stück Kälbernes wäre nicht schlecht; wir haben schon lange keins gesehen.«

Jetzt blickte er auf.

»Glaubst du denn, ich habe Tausende zu bekommen? ... Der Halbmonatslohn wird mager ausfallen, sie lassen fortwährend die Arbeit unterbrechen.«

Jetzt schwiegen beide. Es war nach dem Frühstück an einem Sonnabend Ende Oktober. Unter dem Vorwand, daß die Lohnauszahlung störe, hatte die Gesellschaft heute wieder die Kohlenförderung in allen Schächten eingestellt. Angesichts der immer drückenderen industriellen Krise, und weil sie die ohnehin reichlichen Vorräte nicht noch mehr vergrößern wollte, war ihr jeder Vorwand gut genug, um zehntausend Arbeiter feiern zu lassen.

»Du weißt, daß Etienne dich bei Rasseneur erwartet«, fuhr die Maheu fort. »Er wird pfiffiger sein als du, um sich herauszuhauen, wenn man euch die Arbeitsstunden nicht richtig berechnen sollte.«

Maheu nickte zustimmend.

»Sprich auch mit den Herren wegen deines Vaters. Der Arzt steckt da mit der Direktion sicherlich unter einer Decke ... Nicht wahr, Alter, der Doktor irrt sich; Ihr könnt noch arbeiten?«

Seit zehn Tagen saß Vater Bonnemort mit steifen Beinen auf einem Sessel wie angenagelt. Die Maheu mußte die Frage wiederholen; dann brummte er:

[188] »Gewiß werde ich arbeiten. Wenn man schwache Beine hat, ist man doch noch nicht fertig. Das sind so Geschichten, die sie nur erfinden, um mir nicht meine Pension von hundertachtzig Franken geben zu müssen.«

Die Maheu dachte an die vierzig Sous Tagelohn, die ihr der Alte vielleicht nie wieder bringen werde, und dieser Gedanke erpreßte ihr einen Angstschrei.

»Mein Gott, wir werden bald alle tot sein, wenn das so fortdauert.«

»Wenn man tot ist, hat man keinen Hunger«, sagte Maheu.

Er schlug noch einige Nägel in seine Schuhe und machte sich auf den Weg. Das Dorf der Zweihundertvierzig sollte erst um vier Uhr abgelohnt werden. Die Männer beeilten sich denn auch nicht sehr, verweilten auf der Straße, gingen einer nach dem andern, verfolgt von ihren Weibern, die sie baten, sogleich zurückzukehren. Viele gaben ihren Männern Aufträge, um sie zu hindern, sich in den Schenken zu vergessen.

Etienne war bei Rasseneur eingetreten, um Neuigkeiten zu erfahren. Allerlei beunruhigende Gerüchte waren im Umlauf; man erzählte, die Gesellschaft sei mit der Verzimmerung immer unzufriedener. Es regnete Geldstrafen auf die Arbeiter nieder; ein Zerwürfnis schien unausbleiblich. Das war übrigens nur der eingestandene Zwist, unter dem sich geheime und ernste Ursachen bargen.

Eben als Etienne ankam, erzählte ein Kamerad, der, von Montsou zurückgekehrt, seinen Schoppen trank, daß bei dem Kassierer eine Kundmachung angeschlagen sei; aber er wisse nicht, was darin enthalten sei. Es kam ein zweiter und ein dritter, und jeder brachte eine andere Geschichte. Es schien indes sicher, daß die Gesellschaft einen Entschluß gefaßt habe.

»Was sagst du dazu?« fragte Etienne, indem er sich zu Suwarin setzte, der nichts als ein Bündel Tabak auf dem Tische vor sich liegen hatte.

Der Maschinist beeilte sich nicht mit der Antwort. Er [189] drehte sich langsam eine Zigarette und entgegnete schließlich:

»Es war leicht vorauszusehen; man wird euch zum Äußersten drängen.«

Er allein war scharfsinnig genug, die Lage zu deuten. Er erklärte sie ihnen in seiner ruhigen Art. Von einer Krise heimgesucht, sei die Gesellschaft genötigt, die Unkosten zu vermindern, wenn sie nicht zusammenbrechen wolle; natürlich müßten zunächst die Arbeiter Opfer bringen; ihnen werde man unter irgendwelchem Vorwande die Löhne beschneiden. Seit zwei Monaten liege die Kohle aufgehäuft, fast alle Fabriken feierten. Da sie nicht auch ihrerseits den Betrieb einstellen wolle, müsse sie an einen Ausweg denken, vielleicht an einen Streik, aus dem die Bergleute bezwungen und mit verkürzten Löhnen hervorgehen würden. Endlich war sie auch durch die neue Unterstützungskasse beunruhigt; diese drohte eine Gefahr für die Zukunft zu werden, während ein Streik sie von ihr befreien werde, da sie durch den Ausstand bald geleert sein werde.

Rasseneur hatte sich zu Etienne gesetzt, und beide hörten mit verstörten Mienen zu. Man konnte laut sprechen; es war niemand da außer Frau Rasseneur, die am Schanktisch saß.

»Welch Gedanke!« murmelte der Schankwirt. »Wozu all das? Die Gesellschaft hat kein Interesse an dem Streik, und die Arbeiter noch weniger. Es ist das beste, sich zu verständigen.«

Das war sehr klug gesprochen. Er war stets für einen vernünftigen Ausgleich. Seit der schnellen Volkstümlichkeit seines ehemaligen Mieters übertrieb er noch das Lob auf dies System des mäßigen Fortschritts, indem er sagte, man erlange gar nichts, wenn man alles auf einmal haben wolle. Der Selbstzufriedenheit des wohlgenährten Bierwanstes mengte sich geheimer Neid bei, noch verschärft durch den Rückgang seiner Gastwirtschaft, welche jetzt die Bergleute vom Voreuxschacht seltener besuchten, um zu trinken und ihm zuzuhören. [190] So kam es, daß er manchmal sogar die Gesellschaft verteidigte, indem er den Groll des ehemaligen entlassenen Grubenarbeiters vergaß.

»Du bist also gegen den Streik?« rief Frau Rasseneur hinter ihrem Schankpult.

Als er ein energisches Ja zur Antwort gab, hieß sie ihn schweigen.

»Du hast keinen Mut; laß die Herren reden!«

Etienne saß nachdenklich hinter dem Schoppen, den sie ihm gebracht hatte. Endlich schaute er auf.

»Was der Kamerad da sagt, ist sehr wohl möglich, aber wir werden uns zum Streik entschließen müssen, wenn man uns dazu zwingt. Pluchart hat mir darüber in seinem letzten Briefe sehr vernünftige Ratschläge gegeben. Auch er ist gegen den Streik; denn der Arbeiter leidet darunter geradeso wie der Arbeitgeber, ohne zu etwas Entscheidendem zu gelangen. Allein er erblickt darin eine vortreffliche Gelegenheit, um unsere Leute zum Eintritt in seinen Bund zu stimmen ... Hier ist sein Brief.«

Trostlos wegen des Mißtrauens, dem die Internationale bei den Bergleuten von Montsou begegnete, hoffte Pluchart in der Tat auf einen massenhaften Anschluß in dem Falle, daß ein Konflikt sie nötige, den Kampf mit der Gesellschaft aufzunehmen. Trotz seiner Bemühungen hatte Etienne nicht eine einzige Mitgliedskarte an den Mann bringen können; er ließ übrigens den Hauptteil seines Einflusses der von ihm gegründeten Unterstützungskasse zugute kommen, die eine weit bessere Aufnahme fand. Allein diese Kasse war noch so arm, daß sie bald erschöpft sein mußte, wie Suwarin sagte, und die Ausständigen würden sich dann unabwendbar dem Arbeiterbunde in die Arme werfen, damit ihre Brüder aus allen Ländern ihnen zu Hilfe kämen.

»Wieviel haben Sie in der Kasse?« fragte Rasseneur.

»Kaum dreitausend Franken«, erwiderte Etienne. »Vorgestern hat die Direktion mich rufen lassen. Sie sind sehr höflich; sie erklärten mir wiederholt, daß sie [191] ihre Arbeiter nicht hindern würden, sich einen Reservefonds zu gründen. Aber ich merkte wohl, daß sie die Kontrolle darüber haben möchten ... In allen Fällen haben wir von dieser Seite einen Kampf zu gewärtigen.«

Der Schankwirt ging jetzt auf und ab und pfiff mit geringschätziger Miene vor sich hin. Dreitausend Franken! Was will man damit anfangen? Das gibt nicht für sechs Tage Brot, und wenn man auf Fremde rechne, auf Leute, die in England wohnten, sei es besser, sich gleich hinzulegen und zu verrecken. Nein, der Streik sei eine zu große Dummheit, meinte er.

Zum erstenmal wurden scharfe Worte zwischen diesen beiden Männern gewechselt, die in ihrem gemeinsamen Haß gegen das Kapital sich sonst immer verstanden.

»Was sagst du dazu?« wiederholte Etienne, zu Suwarin gewendet.

Dieser erwiderte in seiner gewohnten verächtlichen Weise:

»Die Streiks sind blöd!«

Inmitten der verdrossenen Stille, die eingetreten war, fügte er sanft hinzu:

»Ich sage nicht nein, wenn es euch Vergnügen macht. Es ruiniert die einen, es tötet die andern, und es wird immerhin einige hinwegfegen ... Allein in diesem Tempo kann es tausend Jahre dauern, bis die Welt erneuert wird. Ihr müßt damit beginnen, den Kerker in die Luft zu sprengen!«

Er zeigte mit seiner feinen Hand nach dem Voreuxschacht, dessen Gebäude man durch die offene Tür sehen konnte. Doch ein unvorhergesehener Zwischenfall unterbrach ihn. Polen, das dicke Hauskaninchen, das sich hinausgewagt hatte, stürzte mit einem Satze herein, vor den Steinwürfen einer Schar Jungens flüchtend; mit eingezogenem Schwanze und hängenden Ohren floh das Tier entsetzt zwischen seine Beine und kratzte flehend daran, damit er es auf seinen Schoß nehme. Als er das Tier auf seine Knie gelegt hatte und [192] beide Hände schützend darüber breitete, versank er wieder in jene Träumerei, in die das Streicheln dieses seidenweichen, warmen Felles ihn jedesmal versetzte.

In diesem Augenblick kam Maheu; er wollte nichts trinken, trotzdem Frau Rasseneur ihm so freundlich zuredete, als wolle sie ihr Bier verschenken und nicht verkaufen. Etienne hatte sich erhoben, und beide brachen auf nach Montsou.

An Zahltagen ging es in Montsou lustig her, ganz wie an Kirmessonntagen. Aus allen Dörfern kamen die Arbeiter in hellen Scharen herbei. Da das Bureau des Kassierers sehr klein war, zogen sie es vor, vor der Tür zu warten; sie standen in Gruppen auf der Straße, und es kamen immer neue Leute hinzu, so daß sie schließlich den Weg verrammelten. Handelsleute benützten die Gelegenheit, schlugen ihre fahrenden Basare auf und verkauften alles, selbst Kochgeschirr und Wurstwaren. Vor allem aber hatten die Weinschenken und Branntweinhäuser gute Einnahmen, denn die Arbeiter tranken vor und nach der Zahlung; die Leichtfertigeren unter ihnen machten dann auch noch im »Vulkan« einen Besuch.

Als Maheu und Etienne durch die Gruppen schritten, merkten sie, daß an diesem Tage eine dumpfe Erbitterung um sich griff. Es herrschte nicht die gewöhnliche Sorglosigkeit, mit der das Geld in Empfang genommen und ein Teil davon gleich in den Schenken ausgegeben wurde. Man ballte die Fäuste, und heftige Reden gingen von Mund zu Mund.

»Ist's denn wirklich wahr?« fragte Maheu Chaval, den er vor Piquettes Herberge traf. »Haben sie wirklich die Schmutzigkeit begangen?«

Chaval antwortete mit einem wütenden Gebrumme, wobei er einen hämischen Blick auf Etienne warf. Seitdem sie in einem neuen Schlag arbeiteten, hatte er sich bei einer andern Gruppe verdungen; ihn verzehrte allmählich der Neid gegen den Kameraden, diesen Neuangekommenen, der den Herrn spielte, und dem – wie er sich ausdrückte – das ganze Dorf die Stiefel leckte. [193] Die Sache verwickelte sich durch den Zwist der Verliebten; Chaval konnte Katharina nicht mehr nach Réquillart führen, ohne sie in abscheulichen Worten zu beschuldigen, daß sie den Mieter ihrer Mutter liebe; dann wieder brachte er, von einer wilden Begierde nach ihr ergriffen, sie schier um mit seinen Liebkosungen.

Maheu richtete jetzt eine zweite Frage an ihn.

»Ist der Voreuxschacht an der Reihe?«

Als der andere sich umdrehte, nachdem er mit dem Kopfe genickt, entschlossen die beiden Männer sich endlich, den Werkhof zu betreten.

Die Kasse war ein kleiner, rechtwinkeliger Raum, durch ein Gitter quer abgeteilt; mehrere Arbeiter warteten auf einer Bank, während der Kassierer, von einem Beamten unterstützt, einem Arbeiter, der mit seiner Mütze in der Hand vor dem Schalter stand, seinen Lohn auszahlte. Oberhalb der Bank war ein gelber Anschlagzettel an der Wand befestigt, der von dem Grau der Wand grell abstach. Vor dem Kassenschalter und dem Anschlagzettel zogen die Arbeiter seit dem Morgen in ununterbrochener Folge vorbei. Sie kamen zu zweien oder dreien, standen eine Weile und gingen dann wortlos weiter, die Achseln zuckend, als habe man ihnen das Rückgrat gebrochen.

Vor dem Anschlagzettel standen eben zwei Bergleute, ein junger mit einem viereckigen Tierschädel und ein alter, ganz magerer, schon dumm im Gesicht. Weder der eine noch der andere konnte lesen; der junge buchstabierte, die Lippen bewegend, der alte begnügte sich blöd dreinzublicken. Viele kamen so herein, nur um zu schauen, ohne die Sache zu verstehen.

»Lies uns das vor«, sagte Maheu seinem Gefährten, weil er im Lesen nicht besonders fest war.

Etienne begann den Zettel zu lesen. Es war eine Kundmachung der Gesellschaft an die Arbeiter sämtlicher Gruben. Sie teilte ihnen mit, daß angesichts der geringen Sorgfalt, mit der die Verzimmerung geschehen, und nachdem sie es müde geworden, fruchtlose Geldstrafen [194] zu verhängen, sie den Entschluß gefaßt habe, für den Kohlenschlag eine neue Zahlungsweise einzuführen. Künftig werde sie die Verschalung gesondert bezahlen, nach dem Kubikmeter Holz, das hinabgeschafft und verwendet werde, wobei die zu einer guten Arbeit erforderliche Mindestmenge zugrunde gelegt werden solle. Natürlich werde der Preis eines Karrens Kohle herabgesetzt werden, von fünfzig Centimes auf vierzig, wobei übrigens die Beschaffenheit und Entfernung der Schläge in Betracht kommen solle. Zugleich wurde der Versuch gemacht, vermittels einer ziemlich unklaren Berechnung festzustellen, daß diese Herabsetzung von zehn Centimes durch den Lohn für die Verzimmerung wettgemacht werde. Die Gesellschaft fügte hinzu, daß sie jedem Zeit lassen wolle, sich von den Vorteilen der neuen Zahlungsweise zu überzeugen und sie daher erst am Montag, dem 1. Dezember, einführen werde.

»Lest nicht so laut!« rief der Kassierer. »Man hört sein eigenes Wort nicht.«

Etienne las den Zettel zu Ende, ohne sich um diese Bemerkung zu kümmern. Seine Stimme bebte, und als er geendigt hatte, fuhren alle fort, starr auf den Zettel zu schauen. Der alte und der junge Bergmann schienen noch auf etwas zu warten, dann gingen auch sie mit eingezogenen Schultern hinaus.

»Herrgott!« brummte Maheu.

Er und sein Gefährte saßen jetzt auf der Bank und verloren sich gesenkten Hauptes in Berechnungen, während der Zug vor dem gelben Zettel fortdauerte. Wollte man sich über sie lustig machen? Niemals würden sie bei der Verschalung die zehn Centimes hereinbringen, die sie bei dem Karren Kohle einbüßten. Höchstens würden sie acht Centimes verdienen, und so betrüge die Gesellschaft sie um zwei Centimes, die Zeit ungerechnet, die eine sorgfältigere Arbeit ihnen rauben werde. Darauf also zielte sie ab: auf eine versteckte Lohnverminderung! Aus der Tasche ihrer Arbeiter holte sie sich Ersparnisse.

[195] »Herrgott noch einmal!« wiederholte Maheu aufblickend. »Wir sind Idioten, wenn wir uns das gefallen lassen.«

Doch jetzt war der Schalter frei, und er trat näher, um seinen Lohn in Empfang zu nehmen. Nur die Vorsteher der Schläge erschienen an der Kasse und teilten dann das Geld unter ihre Leute, wodurch Zeit erspart wurde.

»Maheu und Genossen«, sagte der Beamte; »Filonnièreader, Schlag Nummer sieben.«

Er suchte in den Listen, die man mit Hilfe der Arbeitsbücher zusammenstellte, in denen die Aufseher Tag für Tag die gelieferten Karren verzeichneten. Dann wiederholte er:

»Maheu und Genossen. Filonnièreader, Schlag Nummer sieben ... Hundertfünfunddreißig Franken.«

Der Kassierer zahlte.

»Vergebung, Herr«, stammelte der Häuer betroffen; »sind Sie sicher, daß Sie sich nicht täuschen?«

Er betrachtete das wenige Geld, ohne es vom Tisch zu nehmen. Ein Frösteln überlief ihn und schlich ihm bis ans Herz. Wohl war er auf einen schlechten Halbmonatslohn gefaßt; aber so wenig konnte es nicht sein, oder er müßte schlecht gerechnet haben. Wenn er Zacharias, Etienne und den andern Kameraden, der an Chavals Stelle gekommen war, befriedigt hätte, würden ihm höchstens fünfzig Franken bleiben für seinen Teil, für seinen Vater, für Katharina und Johannes.

»Nein, nein, ich täusche mich nicht«, sagte der Beamte. »Zwei Sonntage und vier Arbeitsruhetage müssen in Abzug gebracht werden; das macht für Euch neun Arbeitstage.«

Maheu verfolgte diese Berechnung und zählte im stillen nach; neun Tage brachten ihm ungefähr dreißig Franken, Katharina achtzehn, Johannes neun. Vater Bonnemort hatte nur drei Tage. Gleichviel, wenn er die zweiundachtzig Franken für Zacharias und die zwei [196] anderen Kameraden hinzunahm, mußte es mehr ausmachen.

»Und vergeßt die Strafen nicht!« schloß der Beamte. »Zwanzig Franken für schlechte Verzimmerung.«

Der Häuer machte eine verzweifelte Gebärde. Zwanzig Franken Strafe, vier Tage Arbeitsruhe! So stimmte die Rechnung. Wenn er bedachte, daß er Halbmonatslöhne bis zu hundertfünfzig Franken heimbrachte, als Vater Bonnemort noch arbeitete und Zacharias noch nicht verheiratet war!

»Nehmt Ihr das Geld endlich?« rief der Kassierer ungeduldig. »Ihr seht doch, daß ein anderer wartet ... Wenn Ihr es nicht wollt, sagt es!«

Als Maheu sich endlich entschloß, mit seiner plumpen, zitternden Hand das Geld zu nehmen, hielt der Beamte ihn zurück.

»Halt, ich habe Euch noch was zu sagen. Ihr seid wohl Toussaint Maheu? ... Der Herr Generalsekretär wünscht mit Euch zu reden. Geht hinein, er ist allein.«

Der Arbeiter begab sich ganz betäubt in das mit altem Mahagoni möblierte, mit grünem, verschossenem Rips überzogene Arbeitskabinett des Generalsekretärs. Dieser, ein großer blasser Herr, sprach über die Papiere seines Schreibpultes hinweg, und ohne sich zu erheben, fast fünf Minuten lang zu ihm. Maheu hörte ihm zu, aber seine Ohren summten dermaßen, daß er ihn nicht verstand. Er begriff nur unvollkommen, daß von seinem Vater die Rede sei, der mit hundertfünfzig Franken pensioniert werden solle, bei einem Lebensalter von fünfzig Jahren und einer Dienstzeit von vierzig Jahren. Dann schien es ihm, als schlage der Generalsekretär einen rauheren Ton an. Es war eine Strafpredigt; man beschuldigte ihn, daß er sich mit Politik befasse; es folgte eine Anspielung auf seinen Mieter und auf die Unterstützungskasse; endlich riet man ihm, daß er als einer der besten Arbeiter der Grube sich nicht in solche Torheiten einlassen solle. Er wollte widersprechen, konnte aber nur einige zusammenhanglose Worte hervorbringen; [197] er drehte seine Mütze zwischen den fieberhaft erregten Fingern und zog sich zurück, wobei er stammelte:

»Gewiß, Herr Sekretär ... Ich versichere, Herr Sekretär ...«

Als er draußen Etienne traf, der seiner harrte, brach er los.

»Ich bin ein Tölpel! Ich hätte ihm antworten sollen! ... Kein Brot zu essen und noch Schmähungen dazu ... Ja, auf dich hat man es abgesehen. Er sagte mir, du habest das ganze Dorf verpestet. Was soll man tun? Den Nacken beugen und sich schön bedanken. Er hat recht; das ist das vernünftigste.«

Maheu schwieg, von Zorn und Furcht ergriffen. Etienne stand nachdenklich mit finsterer Miene da. Abermals durchschritten sie die Gruppen, die den Weg verrammelten. Die Erbitterung wuchs; es war die Erbitterung eines ruhigen Volkes; ein unheilkündendes Murren ohne heftige Gebärden. Die Wut kehrte sich vornehmlich gegen diese verhängnisvolle Lohnzahlung; es war der Aufruhr des Hungers gegen die Arbeitsruhetage und gegen die Strafen. Man erwarb nicht mehr genug, um essen zu können; wie sollte es erst werden, wenn die Löhne noch weiter beschnitten würden? In den Schenken machte sich der Groll in lauten Reden Luft und trocknete die Kehlen aus, so daß das wenige Geld, das man bekommen hatte, auf den Schanktischen zurückblieb.

Auf dem Heimweg wechselten Maheu und Etienne kein Wort. Als ersterer in die Stube trat, bemerkte die mit den Kindern allein anwesende Hausmutter sogleich, daß er leere Hände hatte.

»Du bist aber gut!« rief sie. »Wo bleibt mein Kaffee, mein Zucker, mein Fleisch? Ein Stück Kälbernes hätte dich auch nicht zugrunde gerichtet.«

Er antwortete nicht; eine Aufregung, die er nur mit Mühe niederhielt, schnürte ihm die Kehle zu. Dann schwellte die Verzweiflung das rauhe Gesicht des durch [198] die Bergarbeit abgehärteten Mannes, und Tränen stürzten aus seinen Augen. Er war auf einen Stuhl gesunken, weinte wie ein Kind und warf die fünfzig Franken auf den Tisch.

»Da hast du sie«, stammelte er; »das ist alles, was ich dir bringe ... Das ist unser aller Arbeitslohn.«

Frau Maheu blickte auf Etienne, der in stummer Niedergeschlagenheit verharrte. Da weinte auch sie. Wie sollen neun Personen zwei Wochen lang von fünfzig Franken leben? Ihr Ältester hatte sie verlassen, der Großvater konnte nicht mehr die Beine bewegen: da sei man nicht mehr weit vom Hungertode. Alzire warf sich der Mutter um den Hals, ganz trostlos, weil sie sie weinen hörte. Estelle heulte, Leonore und Heinrich schluchzten.

Im ganzen Dorfe erhob sich alsbald der nämliche Notschrei. Die Männer waren heimgekehrt; jede Familie jammerte angesichts des kärglichen Lohnes. Türen wurden geöffnet, Weiber erschienen auf den Türschwellen und schrien hinaus, als ob ihre Klagen unter den Zimmerdecken der geschlossenen Häuser nicht Platz hätten. Es fiel ein feiner Regen, aber sie fühlten ihn nicht; sie riefen sich gegenseitig an, von Fußsteig zu Fußsteig, und zeigten einander das Geld auf der flachen Hand.

»Schaut! Das haben sie ihm gegeben. Heißt das nicht die Leute zum besten halten?«

»Und erst ich! Das gibt nicht einmal trockenes Brot für zwei Wochen.«

»Und nun gar ich! Zählt das einmal! Ich werde wieder einmal meine Hemden verpfänden müssen.«

Auch die Maheu war hinausgegangen. Eine Gruppe hatte sich um die Levaque gebildet, die am ärgsten schrie. Ihr Trunkenbold von einem Mann war gar nicht heimgekehrt; sie vermutete, daß der ganze Lohn – ob viel oder wenig – im »Vulkan« zerfließen werde. Nur Frau Pierron schien ruhig; ihr schlauer Mann wußte es immer so einzurichten – niemand wußte wie –, daß er [199] mehr Arbeitsstunden verzeichnet bekam als die anderen. Allein die Brulé fand es feig von ihrem Schwiegersohn; sie gehörte zu den schreienden Weibern, mager und aufrecht inmitten der Gruppe, die Faust drohend gegen Montsou ausgestreckt.

»Wenn man bedenkt,« schrie sie – ohne die Familie Hennebeau zu nennen – »daß ich ihre Magd heute morgen in der Kalesche fahren sah! ... Jawohl, die Köchin fuhr in der zweispännigen Kalesche nach Marchiennes, sicherlich um Fische zu kaufen!«

Das verursachte neues Schreien und Toben. Die Köchin in weißer Schürze, die in der Kalesche ihrer Herrenleute zu Markt fuhr, erregte allgemeine Entrüstung. Während die Arbeiter Hunger litten, mußten die Herren Fische haben! Sie werden vielleicht nicht immer Fische haben: auch die armen Leute kommen einmal an die Reihe! Die von Etienne gesäten Gedan ken wuchsen empor und breiteten sich aus. Es war die Ungeduld angesichts des verheißenen goldenen Zeitalters, die Eile, seinen Anteil am Glück zu haben, jenseits dieses Horizonts von Elend, der geschlossen war wie ein Grab. Die Ungerechtigkeit war zu groß; sie würden schließlich ihr Recht fordern, wenn man ihnen das Brot vom Munde nahm. Besonders die Frauen hätten am liebsten sogleich jene ideale Stadt des Fortschritts gestürmt, wo es keine Armen und Elenden mehr geben würde. Es war fast dunkel, und der Regen fiel mit verdoppelter Heftigkeit, als sie noch immer das Dorf mit ihrem Jammer erfüllten inmitten der kreischenden Kinder, die sich in Scharen umhertrieben.

Am Abend desselben Tages wurde in der Schenke »Zum wohlfeilen Schoppen« der Streik beschlossen. Rasseneur sprach nicht mehr dagegen, und auch Suwarin war einverstanden; es sei damit wenigstens der erste Schritt getan, meinte er. Etienne faßte die Lage in einem Satze zusammen: Wenn die Gesellschaft den Streik wolle, solle sie ihn haben.

[200] Fünftes Kapitel

Eine Woche verstrich; man arbeitete argwöhnisch und verdrossen weiter in Erwartung des Konfliktes. Bei den Maheu kündigte sich der nächste Halbmonat noch düsterer an. Frau Maheu wurde denn auch immer verbitterter trotz ihrer sonstigen Mäßigung und Besonnenheit. Ihre Tochter Katharina hatte es sich einfallen lassen, eine Nacht außer dem Hause zuzubringen; am nächsten Morgen war sie matt und krank von diesem Abenteuer heimgekehrt, so daß sie nicht zur Grube gehen konnte. Sie erzählte weinend, es sei nicht ihre Schuld; Chaval habe sie bei sich behalten und ihr mit Prügeln gedroht, wenn sie nicht bleibe. Er sei rasend vor Eifersucht; er wolle sie hindern, zu Etienne zurückzukehren. Die Maheu war wütend. Nachdem sie ihrer Tochter verboten hatte, diesen Unhold wieder aufzusuchen, sprach sie davon, nach Montsou gehen zu wollen, um ihn zu ohrfeigen. Es war aber immerhin ein verlorener Tag, und die Kleine zog es vor, da sie einmal diesen Liebhaber hatte, ihn nicht gegen einen andern zu vertauschen.

Zwei Tage später ereignete sich eine andere Geschichte. Johannes, den man ruhig bei der Arbeit in der Grube glaubte, hatte am Montag und Dienstag Reißaus genommen und sich mit Bebert und Lydia in den Sümpfen und im Walde von Vandame umhergetrieben. Er hatte sie ganz verderbt; man erfuhr nie, welchen Gaunerstreichen, welchen Spielen frühreifer Kinder sie sich hingaben. Johannes erhielt eine ausgiebige Züchtigung, eine gewaltige Tracht Prügel, die seine Mutter ihm auf der Straße vor den entsetzten Kindern des ganzen Dorfes verabreichte. Habe man jemals so etwas gesehen? Ihre Kinder, die seit ihrer Geburt soviel Geld kosteten und jetzt miterwerben sollten! In diesem Schrei lebte die Erinnerung an die eigene mühevolle Jugend, an das ererbte Elend, das aus jedem Kinde ein Werkzeug des Erwerbes machte.

[201] Als an diesem Morgen die Mannsleute und Katharina zur Grube aufbrachen, erhob sich Frau Maheu vom Bett, um Johannes zu sagen:

»Böser Range, wenn du es noch einmal tust, wirst du geschunden!«

Auf dem neuen Platz Maheus ging die Arbeit mühselig vonstatten. Dieser Teil der Filonnièreader wurde immer dünner, so daß die zwischen der Wand und der Decke eingepreßten Häuer sich in dem Schlage die Ellbogen stießen. Auch wurde es sehr feucht; man fürchtete von Stunde zu Stunde das Ersaufen der Ader, einen jener plötzlichen Wasserstürze, die die Felsen sprengen und die Menschen hinwegschwemmen. Erst am vorhergehenden Tage war es geschehen, daß Etienne, als er seine Spitzhacke einsetzte und sie zurückzog, den Wasserstrahl einer Quelle ins Gesicht bekam; der Schlag wurde nasser und infolgedessen ungesunder. Er dachte übrigens nicht an die Möglichkeit von Unfällen; er vergaß sich jetzt mit den Kameraden, unbekümmert um die Gefahr. Man lebte sozusagen mitten in den bösen Dünsten, ohne ihren Druck auf die Augenlider zu verspüren und ohne zu merken, wie sie sich gleich einem Schleier von Spinngewebe an die Wimpern hängten. Wenn zuweilen die Flammen der Lampen eine bläulichblasse Färbung annahmen, dachte man an die schlagenden Wetter; ein Bergmann legte das Ohr an die Wand, um dem leisen Geräusch des Gases zu lauschen, einem Geräusch von Luftblasen, die bei jeder Spalte quirlten. Doch die ewig drohende Gefahr waren die Einstürze; denn abgesehen von der Unzulänglichkeit der Verzimmerungen, die immer allzu hastig gemacht wurden, hatte auch das durchfeuchtete Erdreich keinen Halt.

Dreimal im Lauf des Tages hatte Maheu die Hölzer befestigen lassen müssen. Es war halb drei Uhr; die Männer schickten sich zur Auffahrt an. Auf der Seite liegend, beendigte Etienne eben die Lostrennung eines Blockes, als ein fernes, donnerähnliches Getöse die ganze Grube erschütterte.

[202] »Was ist's?« rief er, die Spitzhacke senkend, um zu lauschen.

Er hatte geglaubt, die Galerie stürze hinter seinem Rücken ein.

Doch schon ließ sich Maheu in dem abschüssigen Schlag hinabgleiten, indem er sagte:

»Es ist ein Einsturz ... Fort! Fort!«

Alle eilten davon, wie fortgerissen vom mächtigen Drang besorgter Brüderlichkeit. Die Lampen tanzten in ihren Fäusten, inmitten der Grabesstille, die eingetreten war. Sie eilten auf den Wegen fort mit gekrümmtem Rücken, als liefen sie auf allen vieren; und ohne ihren Lauf zu verlangsamen, warfen sie einander kurze, hastige Fragen und Antworten zu. Wo denn? Vielleicht in den Schlägen? Nein, es kam von unten, wahrscheinlich bei der Abfuhr. Bei dem Kamin drängten sie sich hinab, fielen einer auf den andern, unbekümmert darum, daß sie sich dabei die Haut abschürften.

Johannes, dem noch von den gestrigen Prügeln der Rücken rot war, war an diesem Tage nicht durchgegangen. Er lief mit nackten Füßen hinter seinem Zug einher, schloß die Lüftungstüren eine nach der andern und stieg zuweilen, wenn er nicht die Begegnung eines Aufsehers fürchtete, auf den letzten Karren, was ihm verboten war, weil man fürchtete, daß er einschlafen könne. Doch sein großes Vergnügen war, jedesmal, wenn der Zug auswich, um einen andern vorbeizulassen, zu Bebert zu schleichen, der an der Spitze des Zuges war und die Zügel hielt. Ohne Lampe huschte er herbei, zwickte den Kameraden bis aufs Blut, ersann allerlei boshafte Streiche mit seinen gelben Haaren, langen Ohren und dem schmalen, von grünen Äuglein erhellten Gesichte, die im Dunkel leuchteten. In seiner krankhaften Frühreife schien er den trüben Verstand und die Geschicklichkeit einer menschlichen Mißgestalt zu haben, die auf der Stufe der Tierheit verblieben war. Am Nachmittag brachte Mouquet das Pferd Bataille, weil dieses an der Reihe war; als das Tier, auf einem [203] Nebengleise stehend, unruhig schnob, sagte Johannes, der sich wieder herangeschlichen hatte:

»Was hat denn die alte Schindmähre, daß sie so plötzlich stehenbleibt? ... Der Rückprall der Karren wird mir noch einmal die Beine brechen.«

Bebert konnte nicht antworten; er mußte Bataille zurückhalten, der freudig anzog, weil er die Annäherung des andern Zuges hörte. Das Pferd hatte seinen Kameraden gewittert, zu dem er vom ersten Tage an eine tiefe Zuneigung gefaßt hatte. Es war wie das liebevolle Mitleid eines alten Philosophen, der einen jungen Freund trösten will, indem er ihm von seiner Ergebung und Geduld mitteilt; denn Trompete wollte sich nicht gewöhnen, zog die Karren mit Unlust, ließ stets den Kopf hängen, wurde stumpfsinnig in dieser ewigen Nacht und sehnte sich nach der Sonne zurück. Darum streckte Bataille, sooft er Trompete begegnete, schnaubend den Kopf vor und beleckte in aufmunternder Liebkosung den Kameraden.

»Die verdammten Schwerenöter schmatzen schon wieder aneinander herum!« wetterte Bebert.

Als Trompete vorüber war, sagte er von Bataille:

»Es ist ein schlaues altes Luder! ... Wenn er so plötzlich stehenbleibt, wittert er gewiß etwas, was ihm nicht recht ist, einen Stein oder ein Loch. Der hat acht auf seine Knochen und will sich nichts zerschlagen ... Ich weiß nicht, was er heute wieder hat da unten neben der Tür. Er stößt sie auf und will nicht weiter ... Hast du etwas gespürt?«

»Nein,« sagte Johannes. »Wasser ist da; es reicht mir bis zu den Knien.«

Der Zug setzte sich in Bewegung. Und als Bataille bei der nächsten Fahrt mit dem Kopfe die Lüftungstür aufgestoßen hatte, weigerte er sich abermals zu gehen und blieb wiehernd und zitternd auf einem Fleck. Endlich nahm er einen Anlauf und rannte in einem Zuge davon.

[204] Johannes, der die Tür schloß, war zurückgeblieben. Er bückte sich, um die Pfütze zu betrachten, in der er watete. Als er die Lampe hob, sah er, daß die Verzimmerung unter der Einwirkung des durchsickernden Wassers einer Quelle nachgegeben hatte. Eben kam ein Häuer hinzu, ein Mann namens Chicot, der heute früher nach Hause wollte, weil sein Weib in den Wochen lag. Auch er blieb stehen und betrachtete den Schaden. In dem Augenblick, als der Kleine sich anschickte, dem Zuge nachzulaufen, ertönte ein furchtbares Krachen: der Einsturz hatte Mann und Knaben verschüttet.

Tiefe Stille trat ein. Nach dem Einsturz stieg dichter Staub auf allen Wegen auf. Geblendet und schier erstickend eilten die Grubenarbeiter von allen Seiten, selbst von den fernsten Schlägen, mit ihren tanzenden Lampen herbei. Als die ersten auf der Stelle ankamen, schrien sie und riefen die Kameraden herbei. Eine zweite Schar aus dem hinteren Schlage stand jenseits des eingestürzten Erdreiches, welches die Galerie verrammelte. Man stellte sogleich fest, daß die Decke in einer Ausdehnung von höchstens zehn Meter niedergestürzt war. Der Schaden war nicht von großer Bedeutung. Allein alle Herzen krampften sich zusammen, als unter dem Schutthaufen hervor Todesröcheln drang.

Bebert, der seinen Zug im Stich gelassen, eilte mit dem Rufe herbei:

»Johannes liegt darunter! Johannes liegt darunter!«

In diesem Augenblick kam Maheu aus dem Kamin zum Vorschein, gefolgt von Zacharias und Etienne. Er war von Wut und Verzweiflung erfaßt und hörte nicht auf zu fluchen:

»Himmelherrgott! Himmelherrgott!«

Katharina, Lydia und die Mouquette, die ebenfalls herbeigelaufen waren, begannen entsetzt zu schluchzen und zu heulen inmitten des furchtbaren Wirrwarrs, das durch die Finsternis noch gesteigert wurde. Man hieß sie schweigen, doch sie heulten bei jedem Röcheln nur noch ärger.

[205] Der Aufseher Richomme war herbeigelaufen, trostlos darüber, daß weder der Ingenieur Negrel noch Dansaert in der Grube war. Das Ohr an das Gestein pressend, lauschte er; schließlich erklärte er, das Gestöhn komme nicht von einem Kinde, ein Mann müsse da unten liegen. Zwanzigmal schon hatte Maheu Johannes' Namen gerufen, doch niemand antwortete. Der Knabe mußte zermalmt sein.

Das Röcheln aber dauerte mit seiner furchtbaren Eintönigkeit fort. Man sprach zu dem Sterbenden, man fragte ihn um seinen Namen: das Röcheln war die einzige Antwort.

»Rasch an die Arbeit!« rief Richomme, indem er das Rettungswerk anordnete. »Wir wollen nachher reden.«

Von beiden Seiten machten sich die Arbeiter mit Spitzhacke und Schaufel an die Hinwegräumung des Schuttes. Chaval arbeitete wortlos neben Maheu und Etienne, während Zacharias die Fortschaffung des Schuttes leitete. Die Stunde der Ausfahrt war gekommen, noch keiner hatte gegessen; aber man ging nicht zur Suppe, solange Kameraden in Gefahr waren. Indes dachte man daran, daß das Dorf beunruhigt sein werde, wenn man niemand heimkehren sehe; man schlug vor, die Weiber heimzusenden. Weder Katharina, noch Mouquette, noch auch Lydia wollten sich entfernen; sie waren wie festgenagelt durch das Bedürfnis, alles zu sehen und zu erfahren, und halfen bei der Fortschaffung des Schuttes. Da übernahm es Levaque oben zu melden, daß ein Einsturz stattgefunden habe, ein geringfügiger Schaden, der sogleich ausgebessert werde. Es war nahezu vier Uhr; die Arbeiter hatten in weniger als einer Stunde das Werk eines Tages vollbracht: die Hälfte des Schuttes wäre schon fortgeschafft gewesen, wenn nicht neues Gestein herabgerollt wäre. Maheu arbeitete mit einer solchen Wut, daß er mit einer furchtbaren Gebärde drohte, wenn jemand sich näherte, um ihn einen Augenblick abzulösen.

[206] »Sachte«, sagte Richomme endlich; »wir sind bald daran; gebt acht, daß ihr sie nicht vollends erschlagt.«

In der Tat wurde das Röcheln immer deutlicher vernehmbar. Dieses Röcheln war's, das die Arbeiter bei ihrem Rettungswerk leitete. Jetzt kam es gleichsam unter den Spitzhacken hervor. Plötzlich hörte es auf.

Alle blickten einander mit Schaudern an; sie hatten den Hauch des Todes im Dunkel verspürt. Schweiß triefend, die Muskeln bis zum Reißen gespannt, arbeiteten sie weiter. Man stieß jetzt auf einen Fuß, und von da ab wurde die Erde mit den Händen entfernt und so die Glieder allmählich freigemacht. Der Kopf hatte nicht gelitten. Man leuchtete dem Manne ins Gesicht, und der Name Chicot machte die Runde. Er war noch warm; ein abstürzendes Felsstück hatte ihm die Wirbelsäule gebrochen.

»Hüllt ihn in eine Decke ein, und legt ihn auf einen Karren«, gebot der Aufseher. »Und dann laßt uns rasch nach dem Jungen suchen!«

Maheu setzte ein letztes Mal die Spitzhacke an und schlug eine Bresche, so daß die Verbindung mit den Männern, die auf der andern Seite den Schutt wegräumten, hergestellt war. Sie schrien auf; sie hatten Johannes gefunden in bewußtlosem Zustande, mit gebrochenen Beinen, aber noch atmend. Der Vater selbst trug den Kleinen in seinen Armen; zwischen den zusammengepreßten Lippen stieß er unablässig Flüche hervor, um seinem Schmerze Luft zu machen, während Katharina und die anderen Weiber wieder zu weinen begannen.

Rasch ordnete sich der Zug. Bebert hatte das Pferd Bataille wieder hergeführt. Man spannte es vor die zwei Karren; in dem ersten lag die Leiche Chicots, von Etienne gehalten; in dem zweiten saß Maheu mit Johannes auf den Knien. Der Knabe lag noch immer bewußtlos unter einem Stück Wollzeug, das man von einer Lüftungstür weggerissen hatte. Man trat langsam den Marsch an. Auf jedem Karren war eine Laterne, die [207] wie ein roter Stern leuchtete. Hinter den Karren folgten die Grubenarbeiter, etwa fünfzig Schatten, in langem Zuge. Die Ermüdung drückte sie nieder, sie konnten sich kaum auf den Beinen halten und glitten in den Pfützen aus, auf der ganzen Gruppe lagerte die düstere Trauer einer von Seuchen heimgesuchten Herde. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie bei dem Aufzug ankamen. Dieser unterirdische Leichenzug, der sich in dichter Finsternis durch die bald rechts, bald links einbiegenden Galerien bewegte, wollte kein Ende nehmen.

Richomme, der vorausgegangen war, hatte den Auftrag gegeben, daß eine leere Aufzugsschale bereit gehalten werde. Pierron hängte sogleich die zwei Karren ein. In dem einen blieb Maheu, mit seinem verwundeten Jungen auf den Knien; in dem andern hatte Etienne Platz genommen, der die Leiche Chicots in seinen Armen hielt, damit sie nicht herausfalle. Als die übrigen Arbeiter in den anderen Kasten untergebracht waren, stiegen die Schalen empor. Man brauchte zwei Minuten zur Auffahrt. Das Wasser tropfte eiskalt hinter dem Holz hervor; die Männer schauten ungeduldig empor; es drängte sie, das Tageslicht zu sehen.

Ein Schlepperjunge, den man zum Doktor Vanderhaghen geschickt, hatte diesen glücklicherweise zu Hause gefunden und hergeführt. Johannes und der Tote wurden nach dem Aufseherzimmer geschafft, wo jahraus, jahrein ein großes Feuer brannte. Man brachte die Kübel warmen Wassers herbei, die zum Waschen der Füße bereitstanden; nachdem man zwei Matratzen auf den Steinplatten ausgebreitet hatte, bettete man den Mann und den Jungen darauf. Nur Maheu und Etienne traten ein. Schlepperinnen, Arbeiter und Gassenjungen, die herbeigeeilt waren, standen draußen in leisem Gespräche beisammen.

Als der Arzt einen Blick auf Chicot geworfen hatte, murmelte er:

»Fertig ... Ihr könnt ihn waschen.«

[208] Zwei Wächter entkleideten und wuschen die vom Kohlenstaub schwarze, vom Arbeitsschweiß beschmutzte Leiche.

»Am Kopfe ist nichts«, fuhr der Arzt fort, der jetzt vor Johannes' Matratze kniete; »auch an der Brust ist keine Beschädigung wahrzunehmen ... Die Beine haben ihr Teil abbekommen.«

Er selbst entkleidete das Kind, machte die Haube los, entfernte den Kittel, zog die Hose und das Hemd ab, all dies mit der Geschicklichkeit einer Amme. Der arme kleine Körper wurde sichtbar, mager wie ein Käfer, besudelt mit schwarzem Staub und gelber Erde, von großen blutigen Flecken bedeckt. Man konnte nichts unterscheiden, man mußte auch ihn waschen. Unter dem Schwamm schien er noch magerer zu werden, und das Fleisch war so fahl, so durchsichtig, daß man die Knochen sah. Es war ein jammervoller Anblick, diese äußerste Entartung einer Klasse von Elenden, dies zuckende Nichts, halb zermalmt von abgestürzten Felsen. Als der Körper gereinigt war, sah man die Wunden an den Schenkeln, zwei rote Flecke auf der weißen Haut.

Johannes war aus der Bewußtlosigkeit erwacht und stieß ein Jammern aus. Mit hängenden Armen am Fuß der Matratze stehend, betrachtete ihn Maheu, und große Tränen rollten aus seinen Augen.

»Du bist der Vater?« fragte der Doktor aufblickend. »Weine nicht; du siehst wohl, daß er nicht tot ist. Hilf mir lieber.«

Er stellte zwei einfache Brüche fest; doch das rechte Bein machte ihm Sorge; man werde es sicherlich entfernen müssen, meinte er.

In diesem Augenblick kamen der Ingenieur Negrel und der Oberaufseher Dansaert, die man endlich benachrichtigt hatte, mit Richomme an. Der erstere hörte mit trostloser Miene die Erzählung des Aufsehers an. »Immer die verwünschten Verzimmerungen!« brach er los. Er hatte es hundertmal wiederholt, daß die Leute [209] dabei zugrunde gehen würden. Und die Kerle redeten noch von einem Streik für den Fall, daß man sie zwingen werde, besser zu verzimmern! Das schlimmste sei, daß die Gesellschaft die Schäden zu bezahlen habe. Herr Hennebeau werde sich freuen.

»Wer ist das?« fragte er Dansaert, der still vor dem Leichnam stand, den man in ein Laken gehüllt hatte.

»Chicot, einer unserer guten Arbeiter. Er hat drei Kinder ... Armer Kerl!«

Der Doktor Vanderhaghen forderte, daß Johannes sogleich zu seinen Eltern gebracht werde. Es schlug sechs Uhr, der Abend senkte sich herab; man werde gut tun, auch die Leiche fortzuschaffen. Der Ingenieur erteilte den Befehl, daß der Leichenwagen bespannt und eine Tragbahre herbeigeschafft werde. Das verwundete Kind wurde auf die Tragbahre gelegt, die Matratze mit dem Toten auf den Leichenwagen geladen.

Vor der Tür standen noch immer Schlepperinnen im Gespräch mit Bergleuten, die aus Neugierde dageblieben waren. Als das Aufseherzimmer geöffnet wurde, trat Stille in der Gruppe ein. Dann bildete sich ein neuer Zug, vorauf der Leichenwagen, dahinter die Tragbahre, dann das Geleit der Menschen. Man verließ den Vorhof der Grube und stieg langsam den Weg zum Dorfe hinan. Die ersten Novemberfröste hatten die endlose Ebene kahl gemacht; die Nacht hüllte sie langsam ein wie in ein Leichentuch, das vom fahlen Himmel niedergeglitten war.

Etienne riet im Flüsterton Maheu, er solle Katharina voraussenden, damit sie die Mutter in schonender Weise auf das Unglück vorbereite. Der Vater, der trostlos der Tragbahre folgte, nickte zustimmend, und das Mädchen lief voraus, denn man war schon dem Ziele nahe. Doch die Ankunft des Leichenwagens, dieses wohlbekannten finsteren Kastens, war schon angekündigt. Entsetzte Weiber stürzten aus den Häusern hervor, einige derselben, von Angst gefoltert, ohne Haube, rannten dem traurigen Zuge entgegen. Ihre Zahl wuchs bald auf [210] dreißig, dann auf fünfzig, alle von dem nämlichen Schrecken erfaßt. Ein Toter? Wer war es? Die von Levaque erzählte Geschichte beruhigte sie zuerst und brachte dann eine alpdruckartige Übertreibung hervor: nicht ein Mann, zehn Männer seien zugrunde gegangen und würden einer nach dem andern durch den Leichenwagen herbeigeführt.

Katharina hatte ihre Mutter von einer bösen Vorahnung erfaßt gefunden; bei den ersten Worten, die das Mädchen stammelte, hatte die Mutter ausgerufen:

»Der Vater ist tot!«

Vergebens widersprach das Mädchen und redete von Johannes. Ohne weiter hören zu wollen, war die Maheu hinausgestürzt; als sie den Leichenwagen vor der Kirche auftauchen sah, erbleichte sie und drohte umzusinken. Auf den Türschwellen standen Weiber stumm vor Schreck und streckten den Hals vor, während andere dem Karren folgten, zitternd bei dem Gedanken, vor welchem Hause der traurige Zug halten werde.

Der Karren kam vorüber, und hinter ihm sah die Maheu ihren Mann der Tragbahre folgen. Als man diese vor ihrer Tür abgesetzt hatte und sie Johannes lebend mit seinen gebrochenen Beinen sah, vollzog sich in ihr ein plötzlicher Umschwung, daß sie schier vor Zorn erstickte und tränenlos stammelte:

»Da hat man's! Jetzt verstümmeln sie uns die Kinder! Beide Beine! Mein Gott, was soll ich mit ihm anfangen?«

»Schweig!« sagte der Doktor Vanderhaghen, der mitgekommen war, um Johannes zu verbinden. »Wäre es dir lieber, wenn er unten geblieben wäre?«

Doch die Maheu geriet immer mehr außer sich, umgeben von Alzire, Leonore und Heinrich, die gleichsam um die Wette weinten. Während sie den Verwundeten hinauftragen half und dem Arzte reichte, was er zum Verband benötigte, fluchte sie dem Schicksal und fragte, wo sie das Geld hernehmen solle, Krüppel zu ernähren. [211] Nicht genug an dem Alten, jetzt verlor auch noch der Kleine seine Füße! Sie hörte nicht auf, während auch im Nachbarhause herzzerreißendes Geschrei ertönte; dort jammerten die Frau und die Kinder Chicots über den leblosen Körper. Es war inzwischen finstere Nacht geworden; die erschöpften Arbeiter aßen endlich ihre Suppe; das Dorf war in düstere Stille versunken, die nur durch den lauten Jammer der Hinterbliebenen des toten Kameraden gestört wurde.

Drei Wochen waren verflossen. Die Amputation konnte vermieden werden; das Gutachten des Arztes lautete dahin, daß Johannes seine Beine behalten, jedoch hinken werde. Nach einer eingehenden Untersuchung entschloß sich die Gesellschaft, eine Unterstützung von fünfzig Franken zu bewilligen. Außerdem hatte sie versprochen, für den kleinen Krüppel, wenn er hergestellt sei, einen Tagesdienst zu suchen. Das bedeutete nichtsdestoweniger eine weitere Verschlimmerung der Notlage der Familie, denn der Vater war dermaßen erschüttert, daß er in schweres Fieber fiel.

Seit Donnerstag ging Maheu wieder zur Grube, und es war heute Sonntag. Am Abend sprach Etienne davon, daß der erste Dezember nahe sei: er hätte wissen mögen, ob die Gesellschaft ihre Drohung zur Tat machen werde. Man blieb bis zehn Uhr im Gespräch beisammen und wartete auf Katharina, die bei Chaval zu verweilen schien. Aber sie kam nicht. Die Maheu schloß in stummer Wut die Tür. Etienne konnte lange nicht einschlafen; ihn beunruhigte dies leere Bett, in dem Alzire so wenig Platz einnahm.

Am folgenden Tage kam Katharina immer noch nicht heim. Erst am zweitnächsten Tage erfuhr bei der Rückkehr aus der Grube das Ehepaar Maheu, daß Chaval Katharina bei sich behielt. Er machte ihr so abscheuliche Szenen, daß sie sich entschloß, zu ihm zu ziehen. Um den Vorwürfen zu entgehen, hatte er plötzlich den Voreuxschacht verlassen und sich in Jean-Bart, der Grube des Herrn Deneulin, anwerben lassen, wohin [212] sie ihm als Schlepperin folgte. Sie wohnten übrigens bei Piquette in Montsou.

Zuerst sprach Maheu davon, daß er den Mann ohrfeigen, seine Tochter aber mit Stößen in den Rücken zurückführen werde. Aber dann machte er eine Gebärde der Entsagung; was nütze es? Das gehe immer so; man könne die Mädchen nicht hindern, sich einem Manne anzuhängen, wenn sie Lust dazu hätten. Das beste sei, ruhig die Hochzeit abzuwarten. Allein die Maheu nahm die Dinge nicht so leicht.

»Habe ich sie etwa geprügelt, als sie diesen Chaval nahm?« rief sie Etienne zu, der sie still und bleich anhörte. »Sie sind ein vernünftiger Mann, antworten Sie! Wir haben ihr ihre Freiheit gelassen, weil – mein Gott! – alle darüber hinwegkommen müssen. Ich selbst war schwanger, als der Vater mich zur Frau nahm. Aber ich bin meinen Eltern nicht durchgegangen; niemals würde ich diese Schmutzigkeit begangen haben, meinen Erwerb einem Manne zuzutragen, der seiner nicht bedurfte ... Das ist ekelhaft! Es wird so weit kommen, daß man keine Kinder mehr hat.«

Da Etienne noch immer nur mit Kopfnicken antwortete, fuhr sie fort:

»Ein Mädchen, das jeden Abend gehen konnte, wohin es wollte! Was steckt denn nur in ihr? Nicht warten zu können, bis ich sie verheiratete, nachdem sie uns aus der Patsche geholfen hätte. Das wäre doch natürlich gewesen: man hat doch eine Tochter, damit sie arbeitet ... Aber wir waren zu gut; wir hätten ihr nicht erlauben sollen, sich mit einem Manne die Zeit zu vertreiben. Man reicht ihnen den kleinen Finger, und sie wollen die ganze Hand.«

Alzire nickte mit dem Kopfe. Leonore und Heinrich, erschreckt durch dies Gewitter, weinten leise, während die Mutter jetzt die Unglücksfälle der Familie aufzählte. Zacharias mußte verheiratet werden; der alte Bonnemort saß mit verkrümmten Beinen auf seinem Sessel; [213] Johannes konnte mit seinen kaum wieder eingerichteten Gliedern vor zehn Tagen die Stube nicht verlassen, und nun der letzte Schlag: die Dirne Katharina geht mit einem Manne durch. Die ganze Familie gerate aus den Fugen; der Vater allein gehe noch zur Grube. Wie sollten sieben Personen – Estelle ungerechnet – von den drei Franken des Vaters leben? Da sei es gleich besser, alle zusammen stürzten sich in den Kanal.

»Es nützt nichts, daß du dich grämst«, sagte Maheu mit dumpfer Stimme. »Wir sind vielleicht noch nicht am Ende unseres Elends angelangt.«

Etienne, der starr auf die Fliesen geschaut hatte, blickte jetzt auf und flüsterte, die Augen in einem Zukunftstraum verloren:

»Es ist Zeit! Es ist Zeit!«

Vierter Teil

Erstes Kapitel

An diesem Montag hatten die Hennebeau Frühstücksgäste: die Grégoire mit ihrer Tochter Cäcilie. Man hatte einen Ausflug vereinbart: nach der Tafel sollte Paul Negrel den Damen die Thomasgrube zeigen, die man mit großem Aufwand neu eingerichtet hatte. Doch war dieser Ausflug nur ein liebenswürdiger Vorwand, von Madame Hennebeau ersonnen, um die Heirat Cäcilies mit Paul zu beschleunigen.

Da war plötzlich an demselben Montag um vier Uhr morgens der Streik ausgebrochen. Als die Gesellschaft am ersten Dezember ihr neues Löhnungssystem eingeführt hatte, blieben die Arbeiter ganz ruhig. Am Schluß des Halbmonats, am Zahltage, hatte kein einziger auch nur die geringste Beschwerde erhoben. Das ganze Personal vom Direktor an bis zum letzten Aufseher glaubte, der Tarif sei angenommen. Es herrschte denn auch seit dem Morgen große Überraschung angesichts dieser Kriegserklärung, die mit einem Geschick und einer Einmütigkeit geschehen war, die auf eine tatkräftige Leitung hinzudeuten schienen.

Um fünf Uhr weckte Dansaert Herrn Hennebeau, um ihm zu melden, daß im Voreuxschacht kein einziger Mann eingefahren sei. Das Dorf der Zweihundertvierzig, durch das er soeben gekommen, lag hinter verschlossenen Türen und Fenstern in tiefem Schlaf. Seit dem Augenblick, als der Direktor mit schlafschweren Augen aus dem Bett gesprungen war, verschlimmerte sich die Lage immer mehr; von Viertelstunde zu Viertelstunde kamen Boten; die Depeschen fielen hageldicht [215] auf sein Schreibpult nieder. Zuerst hoffte er, die Empörung werde sich auf den Voreuxschacht beschränken; allein, die Nachrichten lauteten mit jeder Minute ernster: im Mirouschacht, im Crévecœurschacht, im Magdalenenschacht waren bloß die Roßwärter angefahren; im Siegesschacht, in der Grube Feutry-Cantel war nur ein Drittel der Arbeiter erschienen; der Thomasschacht allein war vollbesetzt und schien außerhalb der Bewegung zu stehen. Bis neun Uhr diktierte er Depeschen, telegraphierte nach allen Seiten, an den Präfekten von Lille, an die Leiter der Gesellschaft, verständigte die Behörden, verlangte Weisungen. Er hatte Negrel entsandt, eine Rundfahrt nach den benachbarten Gruben zu machen und genaue Erkundigungen einzuholen.

Plötzlich erinnerte sich Herr Hennebeau des Frühstücks und schickte sich an, den Kutscher zu den Grégoire zu senden mit der Nachricht, daß der Ausflug verschoben sei, als ein Schwanken seines Willens ihn zurückhielt, ihn, der soeben in wenigen knappen Sätzen das Schlachtfeld militärisch vorbereitet hatte. Er ging zu seiner Frau hinauf, die sich in ihrem Toilettezimmer befand, wo eine Kammerzofe den Haarputz ihrer Herrin beendet hatte.

»Sie streiken?!« sagte sie ruhig, als er sie befragt hatte. »Was geht das uns an? ... Ich denke, wir hören deswegen nicht auf zu essen, nicht wahr?«

Sie beharrte bei ihrer Absicht. Vergebens sagte er ihr, daß das Frühstück gestört werde, daß der Besuch in der Thomasgrube nicht stattfinden könne. Sie hatte auf alles eine Antwort bereit. Warum solle man ein Frühstück verlieren, das schon am Feuer stand? Auf die Besichtigung der Grube könne man ja auch nachher verzichten, wenn dieser Spaziergang nicht ratsam sein solle.

»Übrigens,« fügte sie hinzu, als die Kammerfrau hinausgegangen war, »übrigens weißt du, weshalb ich Gewicht darauf lege, die guten Leute zu empfangen. Diese Ehe sollte dich mehr interessieren als die Dummheiten [216] deiner Arbeiter. Mit einem Worte: ich will es; ärgere mich nicht.«

Von einem leichten Zittern ergriffen, schaute er sie an, und das harte, verschlossene Gesicht dieses Mannes eiserner Disziplin drückte den geheimen Kummer eines gequälten Herzens aus. Sie war mit entblößten Schultern sitzengeblieben, schon überreif, aber schimmernd und noch begehrenswert mit ihren Ceresschultern, über welche der Herbst seinen Goldhauch gebreitet hatte. Einen Augenblick schien ihn das leidenschaftliche Verlangen anzuwandeln, sie zu ergreifen und seinen Kopf an ihre Schultern zu legen, in diesem warmen Gemach, wo der geheime Luxus eines sinnlichen Weibes herrschte und ein sinnverwirrender Moschusduft die Luft sättigte. Doch er wich zurück; seit zehn Jahren waren ihre Schlafzimmer getrennt.

»Es ist gut«, sagte er, als er sie verließ. »Wir wollen nichts abbestellen.«

Herr Hennebeau war in den Ardennen geboren. Der Beginn seiner Laufbahn war hart genug, denn er war als armer Waisenknabe auf das Pariser Pflaster geschleudert worden. Nachdem er unter Not und Mühen die Bergwerksschule durchgemacht hatte, war er mit achtundzwanzig Jahren zu den Grande-Combe-Gruben als Ingenieur des Barbaraschachtes gegangen. Drei Jahre später wurde er Divisionsingenieur im Pas-de-Calais in den Gruben von Marles. Hier heiratete er durch eine jener glücklichen Fügungen, wie sie in der Welt der Bergwerksbeamten nicht selten sind, die Tochter eines reichen Spinnereibesitzers zu Arras. Fünfzehn Jahre lang wohnte das Ehepaar in demselben Provinzstädtchen, ohne daß irgendein Ereignis die Eintönigkeit ihres Lebens störte, selbst die Geburt eines Kindes nicht. Eine wachsende Gereiztheit ließ Frau Hennebeau sich von ihrem Gatten abwenden. Sie war in der Achtung vor dem Gelde erzogen und verachtete diesen Mann, der in harter Arbeit seine bescheidenen Bezüge erwarb und ihr keine jener Befriedigungen der [217] Eitelkeit bot, von denen sie in der Pension geträumt hatte. Er in seiner strengen Rechtlichkeit spekulierte nicht, sondern blieb auf seinem Posten wie ein Soldat. Die Uneinigkeit nahm zu, verschärft durch eines jener sonderbaren Mißverständnisse der Körperlichkeit: er betete seine Frau an, sie aber war von der Sinnlichkeit der Blondinen, und bald schliefen sie abgesondert. Seit jener Zeit hatte sie einen Liebhaber, von dem er nichts wußte. Endlich verließ er das Pas-de-Calais, um in Paris eine Bureaustelle anzutreten, mit dem Gedanken, daß sie ihm hierfür dankbar sein werde. Allein in Paris ward ihre gegenseitige Absonderung eine vollkommene – in diesem Paris, nach dem sie seit ihrer ersten Puppe sich gesehnt hatte, und wo sie nach acht Tagen ihr provinzielles Wesen abgestreift hatte, um mit einem Schlage eine elegante Modedame zu werden, die sich allen kostspieligen Torheiten der Zeit hingab. Die zehn Jahre, die sie dort verbrachte, waren von einer großen Leidenschaft ausgefüllt, von einem allgemein bekannten Verhältnis mit einem Manne, dessen Trennung von ihr fast ihren Tod herbeigeführt hätte. Diesmal konnte der Gatte nicht in Unkenntnis der Dinge bleiben. Nachdem abscheuliche Szenen zwischen ihnen stattgefunden, ergab er sich in sein Schicksal, entwaffnet durch die ruhige Gewissenlosigkeit dieser Frau, die ihr Glück nahm, wo sie es fand. Nach dem Bruch mit ihrem Liebhaber hatte er, als er sie krank vor Kummer gesehen, die Stelle eines Bergwerksdirektors zu Montsou angenommen, in der Hoffnung, daß er sie dort in jenem wüsten, schwarzen Lande wieder zu sich herüberführen könne.

Bei den Hennebeau waren, seitdem sie in Montsou wohnten, die Gereiztheit und die Langeweile der ersten Zeit ihrer Ehe wiedergekehrt. Anfänglich schien sie beruhigt durch die tiefe Stille, durch die Eintönigkeit der endlosen Ebene. Sie vergrub sich wie eine Frau, die mit dem Leben abgeschlossen; sie tat, als sei ihr Herz tot, und schien so völlig losgelöst von der Welt, daß selbst ihre zunehmende Beleibtheit sie nicht betrübte. [218] Dann aber brach unter diesem Gleichmut ein letztes Fieber durch, ein Bedürfnis, noch zu leben, das sie sechs Monate damit einschläferte, daß sie das kleine Haus der Direktion nach ihrem Geschmack einrichtete. Sie sagte, das Haus sei abscheulich, und füllte es mit Teppichen, Nippsachen und einem Luxus in Kunstgegenständen, von dem man weit und breit, selbst in Lille, sprach. Die Gegend brachte sie jetzt in Verzweiflung, diese dummen, endlos sich dehnenden Felder, diese ewig schwarzen Wege, wo es keinen Baum gab, und wo eine gräßliche Bevölkerung wimmelte, die ihr Schrecken und Abscheu einflößte. Es begannen die Klagen über Verbannung; sie beschuldigte ihren Gatten, sie seinen Bezügen von vierzigtausend Franken geopfert zu haben, einem Bettel, der zur Fortführung des Haushalts kaum hinreiche. Er habe es machen müssen wie die andern, einen Anteil fordern, Aktien erlangen, kurz, zu etwas Rechtem kommen. Sie beharrte dabei mit der Grausamkeit einer Erbin, die das Gold ins Haus gebracht. Er mit seiner stets vornehmen Haltung, in die erheuchelte Kälte eines Verwaltungsmenschen sich hüllend, war von dem Verlangen nach diesem Geschöpfe verzehrt, von einer jener späten, heftigen Begierden, die mit dem Alter nur zunehmen. Niemals hatte er sie als Liebhaber besessen; ein Bild verfolgte ihn unablässig: sie einmal so für sich zu haben, wie sie sich einem andern hingegeben habe. Jeden Morgen träumte er davon, sie am Abend zu erobern; wenn sie ihn dann mit ihren kalten Augen ansah; wenn er fühlte, daß alles in ihr sich weigerte, vermied er es, auch nur ihre Hand zu berühren. Es war ein Leiden ohne Möglichkeit der Heilung, verborgen unter der Straffheit seiner Haltung; das Leiden einer zärtlichen Natur, die im stillen daran zugrunde ging, daß sie in der Ehe nicht das Glück gefunden. Als nach Ablauf der sechs Monate das Haus vollständig möbliert war und ihr nichts mehr zu tun gab, fiel Frau Hennebeau der verzehren den Langeweile zum Opfer.

[219] Zu jener Zeit kam Paul Negrel nach Montsou. Seine Mutter, Witwe eines Hauptmanns aus der Provinz, lebte in Avignon von einer mageren Pension und hatte sich die größten Entbehrungen auferlegt, damit ihr Sohn seine technischen Studien beendigen könne. Er verließ die Hochschule mit schlechtem Zeugnis, und sein Oheim, Herr Hennebeau, bot ihm die Stelle eines Ingenieurs im Voreuxschacht an. Seither wurde er als Kind des Hauses behandelt, hatte da sein Zimmer und seine Verpflegung, was ihm gestattete, die Hälfte seiner Bezüge von dreitausend Franken seiner Mutter zu senden. Um diese Wohltat zu bemänteln, sprach Herr Hennebeau von der Verlegenheit, in der ein junger Mann sich befinde, der genötigt sei, sich einen Haushalt einzurichten in einem der Schweizerhäuschen, die für die Grubeningenieure bestimmt waren. Frau Hennebeau hatte sofort die Rolle einer guten Tante angenommen, duzte ihren Neffen, wachte über sein Wohlergehen. Besonders in den ersten Monaten bekundete sie eine mütterliche Sorgfalt, die bei dem geringsten Anlaß von guten Ratschlägen überfloß. Doch blieb sie Weib dabei und gelangte allmählich zu persönlichen Vertraulichkeiten. Dieser starke, praktische Bursche mit skrupellosem Verstand, der in Liebesdingen zu philosophischen Grundsätzen sich bekannte, amüsierte sie durch die Lebhaftigkeit seines Pessimismus, der seinem schmalen Gesichte mit der spitzen Nase einen schneidigen Zug verlieh. Es fügte sich in ganz natürlicher Weise, daß er eines Abends in ihren Armen lag; und sie schien aus Gutmütigkeit sich ihm hinzugeben mit der Versicherung, daß sie kein Herz mehr habe und nur seine Freundin sein wolle. In der Tat war sie nicht eifersüchtig, neckte ihn wegen der Schlepperinnen, die er für ganz abscheulich erklärte, und schmollte fast mit ihm, weil er ihr keinerlei Späße zu erzählen habe, wie sie ja im Leben eines jungen Mannes vorkommen. Dann begeisterte sie sich für den Plan, ihn zu verheiraten; sie träumte davon, sich zu opfern, ihn einer reichen [220] Erbin in die Arme zu legen. Ihre Beziehungen dauerten fort; er war ihr ein Spielzeug zur Erholung, ein Gegenstand der letzten Zärtlichkeiten einer müßigen und reifen Frau.

So waren zwei Jahre verflossen. In einer Nacht hatte Herr Hennebeau den Verdacht, nackte Füße vor seiner Tür vorbeihuschen zu hören. Doch er lehnte sich auf gegen den Gedanken an dieses neue Abenteuer hier in seinem Hause zwischen dieser Mutter und diesem Sohn! Überdies erzählte ihm am nächsten Morgen seine Frau, daß sie Cäcilie Grégoire für ihren Neffen erkoren habe. Sie widmete sich diesem Heiratsplan mit einem solchen Eifer, daß er über seine ungeheuerliche Einbildungskraft errötete. Er war dem jungen Manne dankbar dafür, daß das Haus weniger trübselig war, seitdem er eingezogen.

Aus dem Toilettezimmer seiner Frau kommend, begegnete Herr Hennebeau auf dem Flur seinem Neffen, der eben zurückkehrte. Paul schien die Streikgeschichte spaßig zu finden.

»Nun?« fragte der Oheim.

»Nun, ich habe eine Rundfahrt durch die Dörfer gemacht. Die Leute scheinen ganz vernünftig: aber ich glaube, sie werden Abgesandte zu dir schicken.«

Doch in diesem Augenblick rief die Stimme der Frau Hennebeau aus dem ersten Stock:

»Bist du es, Paul? Komm doch herauf, mir Nachricht zu geben. Ist es nicht drollig, daß diese Leute, die so glücklich sind, die Bösartigen hervorkehren?«

Der Direktor mußte darauf verzichten, mehr zu erfahren, da seine Frau den Boten in Anspruch nahm. Er setzte sich wieder an sein Schreibpult, auf dem sich ein neues Häuflein Depeschen angesammelt hatte.

Als um elf Uhr die Grégoire ankamen, waren sie erstaunt, daß der Kammerdiener Hippolyte, der als Schildwache aufgestellt war, sie hastig ins Haus drängte, nachdem er unruhige Blicke nach beiden Seiten der Straße geworfen hatte. Die Vorhänge des Salons [221] waren geschlossen, und man führte sie geradeaus in das Arbeitskabinett, wo Herr Hennebeau sich entschuldigte, daß er sie so empfange. Die Fenster des Salons gehen auf die Straße, setzte er hinzu, und es sei unnötig, den Schein auf sich zu laden, als fordere man die Leute heraus.

»Wie, Sie wissen nichts?« fuhr er fort, als er ihre Überraschung sah.

Als Herr Grégoire erfuhr, daß der Streik endlich ausgebrochen sei, zuckte er mit ruhiger Miene die Achseln. Es werde nichts sein, meinte er; die Bevölkerung sei sehr rechtschaffen. Frau Grégoire bekräftigte mit einem Nicken ihres Kinns sein Vertrauen in die hundertjährige Ergebenheit der Kohlengräber; während Cäcilie, an diesem Tage sehr lebensfroh und in Jugendschöne prangend, in ihrer Toilette von Kapuzinertuch bei dem Worte »Streik« lächelte, weil es sie an die Verteilung von Almosen in den Arbeiterdörfern erinnerte.

Doch jetzt erschien Frau Hennebeau, gefolgt von Negrel; sie war ganz in schwarze Seide gekleidet.

»Ist das nicht ärgerlich?« rief sie schon an der Tür. »Als ob diese Leute nicht hätten warten können! ... Ich will Ihnen nur gleich sagen, daß Paul sich weigert, uns nach der Thomasgrube zu begleiten.«

»Wir bleiben hier«, sagte Herr Grégoire in verbindlichem Tone. »Es wird uns ein Vergnügen sein.«

Paul hatte sich begnügt, Cäcilie und ihre Mutter zu grüßen. Unmutig wegen dieses geringen Eifers, lenkte ihn die Tante mit einem Blick zu dem jungen Mädchen; als sie die beiden zusammen lachen hörte, hüllte sie sie in einen mütterlichen Blick ein.

Inzwischen las Herr Hennebeau die Depeschen zu Ende und setzte einige Antworten auf. Die Gesellschaft plauderte in seiner Nähe; seine Frau erklärte, daß sie sich mit diesem Arbeitskabinett nicht beschäftigt habe; es habe seine verblaßte rote Papiertapete, seine schwerfälligen Mahagonimöbel, seinen alten Aktenschrank behalten. So verflossen drei Viertelstunden, und man war [222] im Begriff, zu Tisch zu gehen, als der Kammerdiener Herrn Deneulin meldete. Dieser trat mit aufgeregter Miene ein und verneigte sich sodann galant vor Frau Hennebeau.

»Sie sind da!« rief er dann, die Grégoire bemerkend.

Dann wandte er sich lebhaft an den Direktor:

»So ist es denn doch eingetreten? Ich erfuhr es soeben von meinem Ingenieur ... Meine Leute sind heute morgen eingefahren. Aber die Sache kann um sich greifen; ich bin besorgt ... Wie ist's mit Ihnen?«

Er war zu Pferde herbeigeeilt; seine Unruhe verriet sich in seiner lauten Sprache und in seinen hastigen Gebärden, die ihm viel Ähnlichkeit mit einem Reiteroffizier verliehen.

Herr Hennebeau schickte sich an, ihn über die Lage aufzuklären, als Hippolyte die Tür des Speisesaales öffnete. Da unterbrach er sich, um seinem Gaste zu sagen:

»Frühstücken Sie mit uns; beim Nachtisch will ich Ihnen weiter erzählen.«

»Wie es Ihnen beliebt«, antwortete Deneulin, von seiner Sorge dermaßen erfüllt, daß er ohne viele Umstände die Einladung annahm.

Indes war er sich seiner Unhöflichkeit bewußt und wandte sich an Frau Hennebeau, um seine Entschuldigungen vorzubringen. Sie war übrigens sehr liebenswürdig. Nachdem sie ein siebentes Gedeck hatte auflegen lassen, wies sie ihren Gästen die Plätze an: Frau Grégoire und Cäcilie an der Seite ihres Gatten; Herrn Grégoire und Deneulin zu ihrer Rechten und Linken; Paul zwischen Cäcilie und ihrem Vater. Als die Vorspeisen herumgereicht wurden, sagte sie lächelnd:

»Sie verzeihen, ich wollte Ihnen Austern geben ... Am Montag gibt es in Marchiennes immer frische Ostendeaustern, und ich hatte die Absicht, die Köchin in unserem Wagen hineinzusenden ... Allein sie fürchtete mit Steinen beworfen zu werden.«

[223] Ein allgemeines Lachen unterbrach sie. Man fand die Geschichte drollig.

»Still«, sagte Herr Hennebeau gereizt, indem er nach den Fenstern blickte, durch die man auf die Straße sehen konnte. »Die Leute brauchen nicht zu wissen, daß wir heute Gäste haben.«

»Diese Schnitte Wurst werden sie nicht bekommen«, erklärte Herr Grégoire.

Man lachte von neuem, aber etwas leiser. Die Gäste fühlten sich behaglich in diesem mit flämischen Teppichen und alteichenen Schränken ausgestatteten Saal. Draußen war ein eisig kalter Dezembertag, unwirtlich durch scharfen Nordost. Aber kein Hauch drang herein: in dem Saale herrschte Treibhauswärme, durchzogen von dem feinen Duft einer Ananas, die zerschnitten in einem Kristallgefäß lag.

»Man sollte die Vorhänge schließen«, meinte Negrel, den die Angst der Grégoire belustigte.

Die Kammerfrau, die dem Diener bei der Tafel behilflich war, nahm den Vorschlag Pauls für einen Befehl und schloß einen der Vorhänge. Von da an folgten endlose Scherze: Gläser und Gabeln wurden behutsam auf den Tisch gesetzt: jede neue Schüssel wurde freudig begrüßt wie ein Stück, das in einer eroberten Stadt vor Plünderung gerettet worden: aber hinter dieser gezwungenen Heiterkeit lauerte eine geheime Furcht, die sich durch unwillkürliche Blicke nach der Straße verriet, als habe eine Bande von Hungerleidern von außen nach der Tafel gespäht.

Nach den getrüffelten Eiern kamen Forellen. Das Gespräch drehte sich jetzt um die Industriekrise, die seit anderthalb Jahren währte und immer ernster wurde.

»Es war unausbleiblich«, sagte Deneulin; »der allzu große Wohlstand der letzten Jahre mußte uns dahin führen. Denken Sie nur an die enormen Kapitalien, die festgelegt wurden, an die Eisenbahnen, Hafen- und Kanalbauten, an all das Geld, das man in die unsinnigsten Spekulationen steckte. In unserer Gegend allein [224] wurden so viele Zuckerfabriken errichtet, als gäbe es jährlich drei Rübenernten ... Heute wird das Geld knapp; es gilt zu warten, bis die Zinsen der angelegten Millionen hereinkommen; daher die verderbenbringende Stockung aller Geschäfte.«

Herr Hennebeau bezweifelte diese Stockung, aber er gab zu, daß die guten Jahre den Arbeiter verdorben hätten.

»Wenn ich bedenke,« rief er, »daß diese Kerle in unseren Gruben sich bis sechs Franken des Tages machen konnten, das Doppelte dessen, was sie jetzt erwerben. Und sie lebten gut und hatten sogar eine gewisse Neigung zum Luxus ... Heute kommt es ihnen natürlich hart an, zur ehemaligen kärglichen Lebensweise zurückzukehren.«

»Herr Grégoire,« unterbrach Frau Hennebeau, »nehmen Sie noch ein wenig von den Forellen; sie sind köstlich, nicht wahr?«

Der Direktor fuhr fort:

»Aufrichtig gesprochen: Ist es unsere Schuld? Auch wir sind hart betroffen ... Seitdem die Fabriken – eine nach der andern – schließen, haben wir die allergrößte Mühe, uns unseres Kohlenvorrats zu entledigen; angesichts der immer mehr sich verringernden Nachfrage sind wir genötigt, die Herstellungskosten zu vermindern ... Die Arbeiter wollen das nicht einsehen.«

Ein Schweigen trat ein. Der Diener reichte gebratene Rebhühner herum, während die Kammerfrau Wein eingoß.

»In Indien ist eine Hungersnot ausgebrochen«, fuhr Deneulin halblaut fort, als spreche er mit sich selbst. »Amerika hat aufgehört Schmiede- und Gußeisen zu beziehen und dadurch unsern Hochöfen einen harten Schlag versetzt. Ein Stoß aus der Ferne genügt, um die Welt zu erschüttern ... Und das Kaiserreich war so stolz auf die fieberhafte Entwicklung der Industrie!«

Er machte sich an seinen Rebhuhnflügel. Dann setzte er mit lauterer Stimme hinzu:

[225] »Das schlimmste ist, daß man, um die Herstellungskosten zu vermindern, die Produktion wird vermehren müssen: sonst müßten auch die Arbeitslöhne herabgemindert werden, und der Arbeiter würde recht haben mit seiner Behauptung, daß er die Verluste decken müsse.«

Dieses freimütige Geständnis gab Anlaß zu lebhafter Erörterung. Die Damen fanden an diesem Gespräch wenig Vergnügen. Übrigens war jeder mit seinem Teller beschäftigt, um den ersten Hunger zu befriedigen. Jetzt kam der Diener zurück; er schien etwas sagen zu wollen, zögerte jedoch.

»Was gibt es?« fragte Herr Hennebeau. »Sind Depeschen gekommen, so geben Sie her. Ich erwarte Antworten.«

»Nein, gnädiger Herr. Herr Dansaert ist im Flur; aber er fürchtet zu stören.«

Der Direktor entschuldigte sich und ließ den Oberaufseher eintreten. Dieser hielt sich einige Schritte vom Tisch, während alle Gäste sich umwandten, ihn zu betrachten, wie er riesengroß dastand und ganz außer Atem war von den Nachrichten, die er brachte. Die Dörfer blieben ruhig, meldete er, aber es sei entschieden, daß eine Abordnung komme. Sie werde vielleicht schon in wenigen Minuten da sein.

»Es ist gut, ich danke«, sagte Herr Hennebeau. »Ich will jeden Morgen und jeden Abend Bericht haben; hören Sie?«

Als Dansaert fort war, fingen die Scherze wieder an. Man warf sich auf den russischen Salat mit der Bemerkung, es sei keine Sekunde zu verlieren. Die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als Negrel Brot verlangte und die Kammerfrau ihm mit einem so leisen und erschrockenen »Ja, mein Herr!« antwortete, als habe sie eine Bande hinter sich, bereit zu Mord und Schändung.

»Sie können ganz frei reden«, sagte Frau Hennebeau; »sie sind noch nicht da.«

[226] Der Direktor, dem man ein ganzes Bündel Briefe und Depeschen brachte, wollte einen der Briefe laut lesen. Es war ein Brief Pierrons, in dem dieser in respektvollen Ausdrücken bekanntgab, daß er genötigt sei, mit den Kameraden zu streiken, wenn er nicht mißhandelt werden wolle; er fügte hinzu, daß er es nicht ablehnen könne, an der Abordnung teilzunehmen, obgleich er diesen Schritt tadele.

»Und das ist die Freiheit der Arbeit!« rief Herr Hennebeau.

Man kam wieder auf den Streik zu sprechen und befragte ihn um seine Meinung.

»Ach,« erwiderte er, »wir haben ganz andere Arbeitsausstände gesehen! ... Man wird ein, zwei Wochen faulenzen wie das letztemal. Sie wollen in den Wirtshäusern herumliegen. Wenn sie gar zu großen Hunger haben, kehren sie zur Arbeit zurück.«

Deneulin schüttelte den Kopf.

»Ich bin nicht so ruhig«, sagte er. »Diesmal scheinen sie besser organisiert. Haben sie nicht eine Unterstützungskasse?«

»Ja, mit kaum dreitausend Franken darin. Wohin wollen sie damit? Ich habe einen gewissen Etienne Lantier im Verdacht, daß er ihr Führer ist. Er ist ein guter Arbeiter, und es wäre mir unangenehm, müßte ich ihm sein Arbeitsbuch zurückstellen wie seinerzeit dem famosen Rasseneur, der fortfährt, mit seinen Gedanken und seinem Bier die Gegend zu verpesten ... Gleichviel, in acht Tagen fährt die Hälfte der Leute ein, und in vierzehn Tagen sind alle zehntausend Arbeiter wieder in den Gruben.«

Er war überzeugt davon. Seine einzige Sorge war, daß er in Ungnade fallen könne, wenn die Gesellschaft ihn für den Streik verantwortlich mache. Er fühlte seit einiger Zeit, daß er weniger in Gunst stehe. Er legte denn auch den mit russischem Salat gefüllten Löffel hin, den er genommen hatte, und las noch einmal die aus Paris empfangenen Depeschen, gleichsam um jedes [227] Wort dieser Antworten zu ergründen. Man entschuldigte ihn; das Mahl glich allmählich einem Soldatenfrühstück, das auf dem Schlachtfelde vor Eröffnung des Feuers eingenommen wird.

Jetzt mengten sich auch die Damen in die Unterhaltung. Frau Grégoire hatte Mitleid mit den armen Leuten, die jetzt Hunger leiden sollten; Cäcilie machte im Geiste schon einen Rundgang, um Anweisungen auf Brot und Fleisch auszuteilen. Allein Frau Hennebeau war erstaunt, als sie von der Not der Bergleute von Montsou reden hörte. Waren sie denn nicht sehr glücklich? Leute, die auf Kosten der Gesellschaft Wohnung, Heizung und ärztliche Pflege hatten? In ihrer Gleichgültigkeit für diese Herde wußte sie nur die eingelernte Lektion, die sie hersagte, um die Besucher aus Paris in Verwunderung zu versetzen; sie glaubte schließlich daran und war entrüstet über den Undank des Volkes.

Negrel fuhr inzwischen fort, Herrn Grégoire zu erschrecken. Cäcilie mißfiel ihm nicht, und er war bereit, sie zu heiraten, um seiner Tante gefällig zu sein; aber es stellte sich bei ihm kein Liebesfieber ein; er war ein junger Mann von Erfahrung, der sich nicht mehr »verbrannte«, wie er sich ausdrückte. Er gab sich für einen Republikaner aus, was ihn nicht hinderte, seine Arbeiter mit äußerster Strenge zu behandeln und in Gesellschaft der Damen sich über sie lustig zu machen.

»Auch ich teile nicht den Optimismus meines Oheims«, fuhr er fort. »Ich befürchte ernste Unruhen.. Darum rate ich Ihnen auch, Herr Grégoire, die Piolaine zu verriegeln. Man könnte sie ausplündern.«

Herr Grégoire, dessen gütiges Gesicht ein Lächeln erhellte, war eben im Zuge, seine Frau an väterlichen Gesinnungen für die Arbeiter zu überbieten.

»Mich ausplündern?« rief er verblüfft. »Warum denn?«

»Sind Sie nicht Aktionär von Montsou? Sie tun nichts und leben von der Arbeit der andern. Kurz, Sie sind der infame Kapitalist, und das genügt. Seien Sie dessen [228] sicher, daß die siegreiche Revolution Sie zwingt, Ihr Vermögen als gestohlenes Geld wieder herauszugeben!«

Er verlor sogleich die kindliche Ruhe und heitere Sorglosigkeit, in der er lebte.

»Mein Vermögen gestohlenes Geld?« stammelte er. »Hat mein Urahn die Summe, die er ehemals in dem Unternehmen angelegt, nicht durch harte Arbeit erworben? Und haben wir nicht alle Wagnisse dieses Unternehmens geteilt? Mache ich etwa schlechten Gebrauch von den Erträgnissen?«

Frau Hennebeau wurde unruhig, als sie Mutter und Tochter erbleichen sah; sie beeilte sich also, sich einzumengen, und sagte:

»Paul scherzt nur, Herr Grégoire.«

Doch Herr Grégoire war außer sich. Als der Diener eben Krebse herumreichte, nahm er drei, ohne recht zu wissen, was er tat, und begann die Scheren mit den Zähnen zu knacken.

»O gewiß, es gibt Aktionäre, die Mißbrauch treiben. So hat man mir beispielsweise erzählt, daß Minister Anteile an den Gruben von Montsou erhalten haben gleichsam als Trinkgeld für Dienste, die sie der Gesellschaft geleistet hatten. Ganz so wie jener große Herr, den ich nicht nennen will, ein Herzog, der erste unserer Aktionäre, dessen verschwenderische Lebensweise ein wahrer Skandal ist, der für Weiber, Schmausereien und nichtsnutzigen Luxus Millionen hinauswirft ... Aber wir, die wir ein Leben ohne Aufsehen führen wie rechtschaffene Leute, wir, die wir nicht spekulieren, die wir uns begnügen, vernünftig von dem zu leben, was wir haben, und den Armen ihren Teil davon geben ... Ihre Arbeiter müßten rechte Räuber sein, wenn sie uns auch nur eine Stecknadel nehmen wollten.«

Negrel selbst mußte ihn beschwichtigen, übrigens sehr belustigt durch seinen Zorn. Die Krebse waren noch auf der Tafel, man hörte das leise Knacken, während [229] die Unterhaltung sich der Politik zuwandte. Herr Grégoire erklärte, noch vor Aufregung zitternd, er sei trotz allem liberal und bedauere Louis Philippe. Deneulin war für eine starke Regierung; er erklärte, der Kaiser gleite die schiefe Bahn gefährlichen Nachgebens hinab.

»Erinnern Sie sich des Jahres 89!« sagte er. »Der Adel war's, der durch seine Mitschuld, durch seine philosophischen Neigungen die Revolution möglich gemacht hat ... Heute spielt das Bürgertum das nämliche blöde Spiel mit seinem wütenden Liberalismus, seiner Zerstörungswut, seinen Schmeicheleien für das Volk. Ja, ja, Sie machen dem Ungeheuer scharfe Zähne, damit es uns zerfleische. Es wird uns zerfleischen, seien Sie dessen sicher!«

Die Damen hießen ihn schweigen und suchten ein anderes Gespräch anzuknüpfen, indem sie ihn nach seinen Töchtern fragten. Luzie sei in Marchiennes, berichtete er, um mit einer Freundin Gesangsübungen abzuhalten. Jeanne male den Kopf eines alten Bettlers. Doch Herr Deneulin erzählte diese Dinge mit zerstreuter Miene; er ließ kein Auge von dem Direktor, der in das Lesen seiner Depeschen versunken war, so daß er seine Gäste völlig vergaß. Hinter diesen dünnen Blättchen ahnte er Paris, die Weisungen der Verwaltungsräte, die über den Streik entscheiden sollten. Er konnte seine Unruhe nicht meistern und fragte plötzlich:

»Was werden Sie machen?«

Herr Hennebeau schrak zusammen und antwortete ausweichend:

»Wir werden sehen.«

»Natürlich, Sie stehen fest auf den Beinen, Sie können warten«, sagte Deneulin gleichsam laut denkend. »Ich aber werde die Haut lassen, wenn der Streik sich auf Vandame ausdehnt. Was nützt es mir, daß ich die Jean-Bart-Grube neu eingerichtet habe? Mit dieser einzigen Grube kann ich nur bestehen, wenn der Betrieb unausgesetzt fortgeführt wird. Ich sehe schlimme Tage kommen!«

[230] Dies unwillkürliche Geständnis schien die Aufmerksamkeit des Herrn Hennebeau zu erregen. Er hörte ihm zu, und ein Plan keimte in ihm. Wenn der Streik eine böse Wendung nahm, warum sollte er diesen Umstand nicht ausnutzen, den Nachbar zugrunde gehen lassen und dann sein Unternehmen für einen Pappenstiel erwerben? Dies wäre das sicherste Mittel, die Gunst der Verwaltungsräte wiederzugewinnen, die ja schon seit Jahren nach Vandame Verlangen trugen.

»Wenn Jean-Bart Ihnen eine solche Last ist, treten Sie die Grube uns ab«, sagte er lachend.

Doch Deneulin hatte seine Klagen schon bereut und rief:

»Niemals!«

Seine Heftigkeit belustigte die Gesellschaft; man vergaß den Streik, als der Nachtisch erschien. Ein Apfelauflauf wurde mit Lobsprüchen überhäuft; auch die Ananas fand man köstlich, und die Damen besprachen ein Rezept für die Zubereitung dieser Frucht. Das feine Obst, Weintrauben und Birnen, vervollständigte die frohe Laune, in der das reiche Mahl beendet wurde. Alle redeten zugleich in gerührter Stimmung, während der Diener Rheinwein einschenkte anstatt des Champagners, den man schon gewöhnlich fand.

Der Plan einer Heirat zwischen Paul und Cäcilie wurde in der angenehmen Stimmung des Nachtisches bedeutend gefördert. Seine Tante hatte ihm so dringende Blicke zugeworfen, daß der junge Mann sich liebenswürdig zeigte und mit seiner zutunlichen Art die Grégoire wiedergewann, die er vorhin mit seinen Geschichten von der Plünderung erschreckt hatte. Angesichts des engen Einverständnisses zwischen seiner Frau und seinem Neffen fühlte Herr Hennebeau seinen abscheulichen Verdacht wieder erwachen, als habe er in den ausgetauschten Blicken etwas wie Berührung entdeckt. Doch der Gedanke an die Heirat, die hier vor seinen Augen betrieben wurde, beruhigte ihn wieder.

[231] Hippolyte brachte eben den Kaffee, als eine Kammerfrau sehr erschreckt hereinlief und meldete:

»Gnädiger Herr, sie sind da!«

Es waren die Abgesandten. Man hörte Türen zuschlagen und hatte das Gefühl, daß ein Sturm des Schreckens durch die benachbarten Räume fahre.

»Führen Sie sie in den Salon«, sagte Herr Hennebeau.

Die Gäste an der Tafel hatten einander mit Unruhe angeblickt. Stillschweigen war eingetreten. Dann wollten sie ihre Scherze wieder aufnehmen; man steckte den Rest des Zuckers in die Tasche und sprach davon, das Besteck zu verbergen. Allein der Direktor blieb ernst, und das Lachen verstummte; die Stimmen wurden zu einem Flüstern gedämpft, während im Salon die schweren Tritte der Abgesandten den Teppich stampften.

Frau Hennebeau sagte ihrem Gatten im Flüstertone:

»Ich hoffe, du wirst deinen Kaffee trinken.«

»Gewiß«, antwortete er; »sie sollen warten!«

Er war nervös; er lauschte den von außen kommenden Geräuschen, obgleich es den Anschein hatte, als beschäftige er sich nur mit seiner Kaffeeschale.

Paul und Cäcilie hatten sich erhoben; er ließ sie durch das Schlüsselloch schauen. Sie lachten und sprachen leise miteinander.

»Sehen Sie sie?«

»Ja ... Einen Großen und zwei Kleine hinter ihm.«

»Sie sehen abscheulich aus, wie?«

»Nein, ganz artig.«

Plötzlich verließ Herr Hennebeau seinen Sessel, indem er erklärte, der Kaffee sei zu heiß, und er werde ihn später trinken. Als er hinausging, legte er einen Finger an den Mund, wie um der Gesellschaft Vorsicht zu empfehlen. Alle hatten sich wieder gesetzt und saßen stumm an der Tafel, wagten sich nicht zu rühren, horchten mit gespitzten Ohren, unangenehm berührt durch die groben Stimmen dieser Männer.

[232] Zweites Kapitel

In einer bei Rasseneur abgehaltenen Versammlung hatten gestern Etienne und einige Kameraden die Abgesandten ausgewählt, die am folgenden Tage zur Direktion gehen sollten. Als am Abend Frau Maheu erfuhr, daß ihr Mann mit dazugehöre, war sie trostlos und fragte ihn, ob er wolle, daß man sie auf die Straße werfe. Maheu selbst hatte den Auftrag nur mit Widerstreben angenommen. In dem Augenblick, wo es galt zu handeln, verfielen beide – trotzdem sie ihr Elend als Unrecht empfanden – in die Ergebenheit ihres Standes, zitternd vor dem morgigen Tage und doch lieber sich ins Unvermeidliche fügend. In Fragen des praktischen Lebens überließ er sich sonst der Leitung seiner Frau, die stets guten Rat wußte. Aber diesmal geriet er in Zorn, um so mehr, als er im stillen ihre Besorgnisse teilte.

»Laß mich in Frieden«, sagte er, als er zu Bett ging und ihr den Rücken zuwandte. »War es anständig, seine Kameraden im Stiche zu lassen? Ich tue meine Pflicht!«

Dann ging auch sie zu Bett. Nach langem Stillschweigen antwortete sie:

»Du hast recht, geh hin. Aber, mein armer Alter, wir sind verloren.«

Um zwölf Uhr frühstückte man; die Zusammenkunft war für ein Uhr bei Rasseneur bestimmt, von wo man zu Herrn Hennebeau gehen sollte. Man aß Kartoffeln; weil nur ein Stückchen Butter da war, rührte keiner daran. Am Abend wollte man Butterbrot essen.

»Wir rechnen auf dich als Sprecher«, sagte Etienne plötzlich zu Maheu.

Dieser war ganz betroffen.

»O nein, das ist zuviel!« rief Frau Maheu. »Meinetwegen soll er mitgehen, aber ich verbiete ihm, den Führer zu machen. Warum gerade er?«

Etienne erklärte die Sache mit eifervoller Beredsamkeit. Maheu sei der beste Arbeiter der Grube, der beliebteste, [233] geachtetste, der für den vernünftigsten galt. Die Beschwerden der Grubenarbeiter würden in seinem Munde ein entscheidendes Gewicht haben. Anfänglich hieß es, er, Etienne, solle sprechen; aber er war noch zu kurze Zeit in Montsou. Man werde einem Alten aus der Gegend eher Gehör schenken. Kurz, die Kameraden vertrauten ihre Interessen dem Würdigsten an; er dürfe nicht ablehnen, es sei feig.

Frau Maheu machte eine verzweifelte Gebärde.

»Geh, Mann, laß dich totmachen für die andern; mir kann es schließlich auch recht sein.«

»Aber ich werde nicht sprechen können«, stammelte Maheu. »Ich werde Dummheiten reden.«

Etienne, der sehr froh war, ihn endlich bestimmt zu haben, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:

»Du wirst sagen, was du fühlst; so wird es gut sein.«

Vater Bonnemort, dessen Beine jetzt weniger geschwollen waren, hörte zu, während er aß, und nickte nur mit dem Kopf. Stille trat ein. Wenn man Kartoffeln aß, stopften sich die Kinder voll und verhielten sich artig. Nachdem er einen tüchtigen Bissen hinuntergeschluckt hatte, murmelte der Greis:

»Mag man reden, soviel man will, es ist geradeso, wie wenn man nichts gesagt hätte. Ich habe solche Geschichten schon gesehen! Vor vierzig Jahren warf man uns bei der Direktion hinaus, und es gab noch Säbelhiebe dazu. Heute wird man euch vielleicht empfangen, aber man wird euch sowenig antworten wie diese Mauer ... Mein Gott! Sie haben das Geld, sie lachen sich ins Fäustchen.«

Es wurde wieder still. Etienne und Maheu erhoben sich und ließen die Familie in düsterer Stimmung vor den leeren Tellern zurück. Sie holten Levaque und Pierron und begaben sich mit diesen zu Rasseneur, wo die Abgesandten der benachbarten Dörfer in kleinen Gruppen eintrafen. Als die zwanzig Mitglieder der Abordnung beisammen waren, stellte man die Bedingungen fest, welche der Gesellschaft gegenüber geltend [234] gemacht werden sollten. Dann brach man auf nach Montsou. Ein schneidender Nordost fegte über die Heerstraße. Es schlug zwei Uhr, als man ankam.

Zuerst hieß der Diener sie warten und schloß ihnen die Tür vor der Nase zu; als er wiederkam, führte er sie in den Salon, dessen Vorhänge er öffnete. Ein zartes, von Spitzen gedämpftes Licht drang durch die Fenster herein. Als die Grubenarbeiter allein waren, wagten sie nicht sich zu setzen: verlegen standen sie da, alle fein säuberlich mit ihren Tuchwämsern bekleidet, frisch rasiert, mit ihren gelben Haaren und Schnurrbärten. Sie drehten die Mützen zwischen den Fingern und warfen schiefe Blicke auf das Mobiliar, das eine Mischung aller Stile war, wie es der Geschmack für das Altertümliche in Mode gebracht hat: Sessel im Stil Heinrichs II., Stühle im Geschmack Ludwigs XV., ein italienisches Kabinett aus dem siebzehnten Jahrhundert, eine Altardecke am Kamin, Verbrämungen alter Meßgewänder als Aufputz von Türvorhängen. All das Altgold, diese alten Seidenstoffe in matten Farben, all der kapellenartige Luxus hatte in ihnen ein Gefühl achtungsvollen Unbehagens hervorgerufen. Die orientalischen Teppiche schienen ihre Füße zu fesseln. Am meisten aber benahm ihnen den Atem die Wärme, eine gleichmäßige, durch Heißluft hervorgebrachte Wärme, die diese von der Straße kommenden, durchkälteten Leute beengte. So vergingen fünf Minuten; ihre Verlegenheit wuchs immer mehr inmitten dieser Pracht des Reichtums.

Endlich kam Herr Hennebeau in seinem militärisch zugeknöpften Rock mit der Schleife seines Ordens im Knopfloch. Er nahm zuerst das Wort.

»Ah, da seid ihr ja! Ihr lehnt euch auf, wie es scheint ...«

Er unterbrach sich, um mit steifer Höflichkeit hinzuzufügen:

»Setzt euch; es ist mir gerade recht, daß ich Gelegenheit habe, mit euch zu reden.«

[235] Die Arbeiter drehten sich um und suchten Sessel. Einige wagten Platz zu nehmen; andere blieben stehen, eingeschüchtert durch die Seidenstoffe.

Stille trat ein. Herr Hennebeau, der seinen Lehnsessel zum Kamin gerollt hatte, betrachtete sie mit lebhaftem Interesse und suchte sich ihrer Gesichter zu erinnern. Er hatte Pierron erkannt, der sich in der hintersten Reihe zu verbergen trachtete. Seine Augen waren auf Etienne haftengeblieben, der ihm gegenüber saß.

»Was habt ihr mir zu sagen?« fragte er.

Er erwartete, daß der junge Mann das Wort ergreifen werde, und war so überrascht, als er Maheu vortreten sah, daß er nicht umhin konnte hinzuzufügen:

»Wie, Ihr seid es? Ein guter Arbeiter, der sich immer so vernünftig zeigte, ein alter Insasse von Montsou, dessen Familie seit dem ersten Spatenstich in den Gruben arbeitet? Das ist schlimm; es betrübt mich, Euch an der Spitze der Unzufriedenen zu sehen?«

Maheu hörte mit gesenkten Blicken diese Worte an. Dann begann er mit anfänglich zögernder und dumpfer Stimme:

»Herr Direktor, eben weil ich ein ruhiger Mensch bin, dem man nichts vorzuwerfen hat, haben meine Kameraden mich gewählt. Dies mag Ihnen ein Beweis sein, daß es sich nicht um den Aufruhr von Skandalmachern, von unruhigen Köpfen handelt, die Unfrieden stiften wollen. Wir wollen bloß Gerechtigkeit; wir sind es müde, Hunger zu leiden, und es scheint uns, daß es an der Zeit ist, eine Einigung zu treffen, damit wir wenigstens unser tägliches Brot haben.«

Seine Stimme gewann an Sicherheit. Er erhob die Augen und fuhr fort, während er den Direktor anblickte:

»Sie sehen ein, daß wir Ihr neues Lohnsystem nicht annehmen können ... Man wirft uns vor, daß wir schlecht verzimmern. Es ist wahr, wir widmen dieser Arbeit nicht die notwendige Zeit. Wenn wir es täten, würde unser Tageserwerb sich noch mehr vermindern; [236] und da er schon jetzt nicht hinreicht, um uns zu ernähren, so wäre dies für uns das Ende von allem. Zahlen Sie uns besser, und wir werden besser verzimmern, werden dieser Arbeit die nötige Zeit widmen, anstatt unsern ganzen Eifer dem Ausschlag zuzuwenden, weil dies die einzig lohnende Arbeit ist. Es gibt keinen andern Ausweg; eine gute Arbeit muß auch gut bezahlt werden ... Was haben Sie statt dessen ersonnen? Eine Sache, die uns nicht in den Schädel will. Sie vermindern den Preis des Karrens und behaupten diese Verminderung dadurch wettzumachen, daß Sie die Verzimmerung gesondert bezahlen. Wäre dies wahr, dann wären wir nicht minder betrogen; aber uns verdrießt eben, daß es gar nicht wahr ist; die Gesellschaft ersetzt uns gar nichts, sie steckt einfach zwei Centimes bei jedem Karren in die Tasche.«

»Ja, ja, so ist es«, murmelten die übrigen Abgesandten, als sie sahen, daß Herr Hennebeau eine heftige Gebärde machte, wie um Maheu zu unterbrechen.

Maheu schnitt übrigens dem Direktor das Wort ab. Er war jetzt im Zuge, die Worte kamen von selbst. Zuweilen hörte er sich selbst mit Überraschung, als habe ein Fremder aus ihm gesprochen. Es waren Dinge, die sich in der Tiefe seiner Brust angehäuft hatten; Dinge, von denen er gar nicht wußte, daß sie da seien, und die jetzt hervorbrachen, weil sein Herz zu voll war. Er schilderte ihrer aller Elend, die harte Arbeit, das viehische Leben, das Darben von Weib und Kind. Er sprach von den letzten traurigen Lohnzahlungen, von den lächerlichen Halbmonatslöhnen, die, durch die Strafen und Arbeitsruhetage um die Hälfte vermindert, den jammernden Familien heimgebracht wurden. Sei man entschlossen, sie völlig zugrunde zu richten?

»Wir sind also gekommen, Herr Direktor,« schloß er, »um Ihnen zu sagen, daß, wenn schon krepiert sein muß, wir lieben krepieren wollen, ohne zu arbeiten. Das ist weniger ermüdend ... Wir haben die Gruben verlassen und werden nicht eher anfahren, als bis die[237] Gesellschaft unsere Bedingungen annimmt. Sie will den Preis des Karrens herabsetzen und die Verzimmerung besonders bezahlen. Wir wollen, daß die Dinge bleiben, wie sie waren, und wollen überdies, daß man uns fünf Centimes für den Karren mehr bezahle ... Sie müssen sich entscheiden, ob Sie für die Gerechtigkeit und die Arbeit sind oder nicht.«

Unter den Arbeitern wurden einige Stimmen laut.

»Ja, ja ... Er hat unsere Gedanken ausgesprochen ... Wir verlangen nur, was recht ist.«

Andere nickten nur stillschweigend. Das prunkvolle Gemach war verschwunden mit seinen Goldstoffen und Stickereien, mit seiner Anhäufung von Altertümern; sie fühlten selbst den Teppich nicht mehr, den sie mit ihren schweren Stiefeln zertraten.

»Laßt mich doch antworten!« rief Herr Hennebeau endlich verdrossen. »Vor allem ist es nicht wahr, daß die Gesellschaft zwei Centimes bei jedem Karren gewinnt ... Laßt uns einmal rechnen.«

Es folgte nun ein verworrener Streit. Um sie uneinig zu machen, fragte der Direktor Pierron, der sich stotternd hinter den andern versteckte. Levaque hingegen war einer der kecksten, verwirrte die Dinge und behauptete Tatsachen, von denen er nichts verstand. Das Gemurmel der Stimmen verlor sich zwischen den Vorhängen in der Treibhaushitze dieses Gemaches.

»Wenn ihr alle zugleich redet«, sagte Herr Hennebeau, »werden wir uns niemals verständigen.«

Er hatte seine Ruhe, die strenge, aber nicht herbe Höflichkeit eines Leiters wiedergefunden, der seine Weisungen empfangen hat und entschlossen ist, ihnen Geltung zu verschaffen. Seit den ersten Worten ließ er Etienne nicht aus den Augen und richtete es so ein, daß der junge Mann das Schweigen breche, in das er sich eingeschlossen hatte. Er brach denn auch den Streit über die zwei Centimes plötzlich ab und begann die Frage auf breiterer Grundlage zu erörtern.

[238] »Nein, gesteht es nur, ihr hört auf schändliche Hetzer. Es ist eine Pest, die heutzutage alle Arbeiter ergreift und die besten verdirbt ... Oh, es braucht mir keiner zu beichten; ich sehe ja, daß man euch, die ihr ehedem so ruhige Leute waret, ganz verändert hat. Nicht wahr, man hat euch goldene Berge versprochen, man hat euch gesagt, es sei die Zeit gekommen, daß ihr die Herren werdet ... Kurz, man reiht euch in die vielgenannte Internationale ein, in diese Armee von Räubern, die davon träumen, die Gesellschaft umzustürzen ...«

Da unterbrach ihn Etienne.

»Sie irren sich, Herr Direktor. Kein einziger Kohlengräber ist bisher beigetreten. Aber wenn man sie dazu treibt, werden sich sämtliche Gruben anschließen. Es hängt nur von der Gesellschaft ab.«

Seit diesem Augenblick wurde der Kampf zwischen Herrn Hennebeau und ihm fortgeführt, als ob die Kohlenarbeiter gar nicht da seien.

»Die Gesellschaft ist die Vorsehung für ihre Arbeiter, und Sie haben unrecht, ihr zu drohen. Dies Jahr hat sie über dreimalhunderttausend Franken für den Bau von Arbeiterdörfern ausgegeben, die ihr kaum zwei Prozent bringen; ich will nicht von den Ruhegehältern sprechen, die sie bezahlt, noch von den Kohlen, von den Arzneien, die sie unentgeltlich verabfolgt ... Sie scheinen so vernünftig und sind in wenigen Monaten einer unserer geschicktesten Arbeiter geworden. Sie würden besser tun, diese Wahrheiten zu verbreiten, als in Ihr Verderben zu rennen, indem Sie mit Leuten von schlechtem Ruf verkehren. Ja, ich spreche von diesem Rasseneur, den wir entlassen mußten, um unsere Gruben vor der sozialistischen Fäulnis zu bewahren. Man sieht Sie immer bei ihm; er hat Sie sicher dazu gedrängt, diese Unterstützungskasse zu gründen, die wir gern dulden würden, wenn sie nur eine Sparkasse wäre; wir vermuten in ihr aber eine gegen uns gerichtete Waffe, einen Reservefonds zur Deckung der Kriegskosten. [239] Ich muß bei dieser Gelegenheit hinzufügen, daß die Gesellschaft eine Kontrolle über diese Kasse auszuüben wünscht.«

Etienne ließ ihn ruhig sprechen, während er seine Leute betrachtete und seine Lippen von einem nervösen Zittern bewegt wurden. Bei dem letzten Satze lächelte er und antwortete einfach:

»Das ist also eine neue Forderung; denn bisher haben Sie, Herr Direktor, diese Kontrolle nicht gefordert ... Unser Wunsch ist unglücklicherweise der, daß die Gesellschaft sich weniger mit uns beschäftige, und daß sie, anstatt die Rolle der Vorsehung zu spielen, ganz einfach gerecht sei und uns gebe, was uns gebührt, unsern Gewinn, den sie mit uns teilt. Ist es rechtschaffen, bei jeder Krise die Arbeiter Hungers sterben zu lassen, um die Dividenden der Aktionäre sicherzustellen? ... Sie mögen sagen, was Sie wollen, Herr Direktor: das neue Lohnsystem bedeutet eine neue Lohnverminderung, und das empört uns; denn wenn die Gesellschaft Ersparungen machen muß, tut sie sehr unrecht, bloß bei dem Arbeiter zu sparen.«

»Also, da sind wir ja bei dem gewissen Punkt!« rief Herr Hennebeau. »Ich erwartete diese Anklage, daß wir das Volk hungern lassen und uns von seinem Schweiße nähren. Wie können Sie solche Torheiten reden, der Sie wissen sollten, welch großes Risiko die Kapitalien in der Industrie, beispielsweise im Bergwerksbetriebe, laufen? Eine vollständig eingerichtete Grube kostet anderthalb bis zwei Millionen; und wieviel Mühe hat man, ehe man aus einer solchen Summe eine mäßige Verzinsung zieht! Fast die Hälfte der Bergwerksgesellschaften in Frankreich geht zugrunde ... Es ist übrigens blöd, die zu beschuldigen, die Erfolg haben. Wenn ihre Arbeiter leiden, leiden auch sie selbst. Glauben Sie, daß die Gesellschaft in der gegenwärtigen Krise nicht ebensoviel zu verlieren hat wie ihr? Sie ist nicht Herrin des Lohnes; sie muß sich dem Wettbewerb fügen, wenn sie nicht zugrunde gehen will. Haltet euch [240] an die Tatsachen ... Aber ihr wollt nicht hören und nicht begreifen!«

»Doch, wir begreifen,« sagte der junge Mann, »daß es für uns keine Besserung gibt, solange die Dinge so gehen, wie sie gehen, und darum müssen früher oder später die Arbeiter sich entschließen, einen andern Weg zu betreten.«

Dieses Wort, so gemäßigt in der Form, wurde halblaut mit einer solchen Überzeugung gesprochen, durch die eine Drohung hindurchzitterte, daß eine tiefe Stille eintrat. Verlegenheit und Furcht verbreiteten sich in dem stillen Gemach. Die andern Abgeordneten, die nur unvollkommen begriffen, fühlten doch, daß der Kamerad inmitten dieses Wohlstandes ihren Teil forderte, und sie begannen scheele Blicke zu werfen auf die warmen Vorhänge und Teppiche, auf die bequemen Sessel, auf all den Luxus, dessen geringstes Stück hingereicht hätte, ihnen einen Monat lang ihre Suppen zu bezahlen.

Herr Hennebeau hatte eine Weile nachdenklich dagesessen und erhob sich dann, um sie zu verabschieden. Alle folgten seinem Beispiel. Etienne hatte Maheu sacht mit dem Ellbogen angestoßen, und dieser sagte schwerfällig und schwankend:

»Ist das alles, mein Herr, was Sie uns antworten? Wir werden also unsern Kameraden sagen, daß Sie unsere Bedingungen verwerfen.«

»Ich verwerfe gar nichts, lieber Mann«, rief der Direktor. »Ich bin ein bezahlter Angestellter wie ihr und habe hier nicht mehr eigenen Willen als der letzte eurer Handlanger. Man gibt mir Weisungen, und es ist meine Aufgabe, darüber zu wachen, daß sie gebührend durchgeführt werden. Ich sagte euch, was ich euch sagen zu sollen für gut erachtete; aber ich werde mich wohl hüten, eine Entscheidung zu treffen ... Ihr bringt mir eure Forderungen; ich werde sie der Verwaltung vorlegen und euch ihre Antwort übermitteln.«

Er sprach mit der vornehmen Miene eines hohen Beamten, vermied es, sich in diesen Fragen zu ereifern, [241] war von der höflichen Trockenheit eines einfachen Werkzeuges der Autorität. Die Grubenarbeiter betrachteten ihn jetzt mißtrauisch und fragten sich, woher er komme, welches Interesse er daran haben könne zu lügen, und wieviel er wohl stehlen möge, indem er sich so zwischen sie und die wirklichen Herren stelle. Er sei vielleicht ein Ränkeschmied, ein Mann, den man bezahle wie einen Arbeiter, und der hier so fein lebe!

Etienne wagte nochmals sich einzumengen.

»Es ist wirklich zu bedauern, Herr Direktor, daß wir unsere Sache hier nicht austragen können. Wir würden viele Dinge erklären, wir würden Gründe finden, die Ihnen notwendigerweise entgehen ... Wenn wir nur wüßten, wohin wir uns wenden sollen!«

Herr Hennebeau wurde nicht böse; er lächelte sogar.

»Wenn ihr kein Vertrauen zu mir habt, wird die Sache schwieriger ... Ihr müßt dorthin gehen.«

Die Abgesandten waren seiner undeutlichen Gebärde gefolgt, seiner Hand, die er nach einem der Fenster ausstreckte. Wo war das: dorthin? Ohne Zweifel Paris. Aber sie wußten es nicht genau; es wich in eine erschreckende Ferne zurück, in eine unnahbare, ehrfurchtgebietende Gegend, wo der unbekannte Gott thronte, in der Tiefe seines Heiligtums hockend. Niemals würden sie ihn sehen; sie fühlten ihn bloß wie eine Macht, die von fern auf den zehntausend Kohlenarbeitern von Montsou lastete. Wenn der Direktor sprach, war es diese verborgene, orakelsprechende Macht, die er hinter sich hatte.

Tiefe Niedergeschlagenheit kam über sie. Etienne selbst zuckte mit den Achseln, um ihnen zu sagen, es sei das beste, daß sie ihrer Wege gingen; während Herr Hennebeau freundschaftlich Maheu auf die Schulter klopfte und sich nach dem Wohlergehen von Johannes erkundigte.

»Das war euch doch eine grausame Lehre, und dennoch verteidigt ihr die schlechte Verzimmerung! ... Überlegt euch die Sache, Freunde; ihr werdet einsehen, [242] daß ein Streik ein Unglück für alle ist. Ehe eine Woche zu Ende geht, sterbt Ihr Hungers! ... Ich rechne übrigens auf eure Klugheit und bin überzeugt, daß ihr spätestens am Montag wieder einfahrt.«

Alle gingen; sie verließen den Salon mit gebeugtem Rücken, ohne ein Wort zu erwidern. Der Direktor, der ihnen das Geleite gab, sah sich genötigt, die Unterredung zusammenzufassen: auf der einen Seite die Gesellschaft mit ihrem neuen Tarif; auf der andern Seite die Arbeiter mit ihrem Verlangen nach einer Lohnerhöhung um fünf Centimes für jeden Karren. Um ihnen jeden Wahn zu benehmen, glaubte er ihnen sagen zu sollen, daß ihre Bedingungen von der Verwaltung sicherlich zurückgewiesen würden.

»Überlegt euch die Sache, bevor ihr Dummheiten macht«, wiederholte er, beunruhigt durch ihr Schweigen.

Im Hausflur grüßte Pierron sehr untertänig, während Levaque in auffälliger Weise seine Mütze aufsetzte. Maheu wollte zum Abschied noch etwas sagen, als Etienne ihn mit dem Ellbogen anstieß. Dann gingen alle in drohendem Schweigen. Die Haustür fiel geräuschvoll ins Schloß.

Als Herr Hennebeau in den Speisesaal zurückkehrte, fand er seine Gäste unbeweglich und stumm beim Likör. In wenigen Worten unterrichtete er Deneulin, dessen Antlitz sich noch mehr verdüsterte. Während er seinen kalten Kaffee trank, suchte man von andern Dingen zu sprechen. Allein die Grégoire selbst kamen wieder auf den Streik zurück, erstaunt darüber, daß es keine Gesetze gebe, die den Leuten verbieten, ihre Arbeit zu verlassen. Paul beruhigte Cäcilie mit der Versicherung, daß man die Ankunft der Gendarmen erwarte.

Endlich rief Frau Hennebeau den Diener.

»Hippolyte,« befahl sie, »bevor wir in den Salon hinübergehen, öffnen Sie die Fenster, um frische Luft einzulassen.«

[243] Drittes Kapitel

Zwei Wochen waren verflossen; am Montag der dritten Woche zeigten die an die Direktion gesandten Listen eine weitere Verminderung der Anzahl der eingefahrenen Arbeiter. Diesen Morgen zählte man auf die Wiederaufnahme der Arbeit; allein die Hartnäckigkeit der Verwaltung, die nicht nachgeben wollte, erbitterte die Bergarbeiter. Die Gruben le Voreux, Crèvecœur, Mirou, Magdalene waren nicht die einzigen, die feierten; in der Siegesgrube und Feutry-Cantel fuhr jetzt kaum der vierte Teil der Arbeiter ein; auch der Thomasschacht war schon von dem Streik berührt. Der Ausstand wurde nachgerade allgemein.

Bei dem Voreuxschacht lag tiefe Stille auf dem Grubenhof. Es war die tote Fabrik, die Leere und Verlassenheit der großen Werkstätten, wo die Arbeit feiert. Auf den hohen Gestellen standen unter dem grauen Dezemberhimmel einige Karren von trübseligem Aussehen. Der zwischen den dünnen Füßen der Gestelle angehäufte Kohlenvorrat erschöpfte sich, so daß die kahle, schwarze Erde sichtbar wurde, während das Holz unter der Einwirkung der Regengüsse allmählich in Fäulnis überging. Am Landungsplatz des Kanals lag ein halbbeladener Kahn, gleichsam in dem trüben Wasser schlummernd; und auf dem verlassenen Hügel, dessen Schwefelerz trotz des Regens dampfte, streckte ein einsamer Handkarren seine Gabeldeichsel traurig gen Himmel. Doch am trostlosesten sahen die Gebäude aus; das Sichtungswerk mit den geschlossenen Fensterläden, der Fahrstuhl, in dem das Gedröhne der aufsteigenden Karren nicht mehr ertönte, die kalt gewordenen Dampfkessel und der riesige Schlot, der für den spärlichen Rauch viel zu breit war. Die Fördermaschine wurde nur am Morgen geheizt; die Pferdewärter brachten ihren Tieren das Futter; die Aufseher allein arbeiteten in den Gruben als gewöhnliche Arbeiter, um Einstürze zu verhüten; von neun Uhr an dienten die Leitern [244] zum Auf- und Abstieg. Über diesen toten Gebäuden, die in ein Leichentuch von schwarzem Staub gehüllt waren, strömte nur noch der Dampf aus der Pumpe mit zischendem Atem: der letzte Rest von Leben in der Grube, die vom Wasser überflutet wäre, wenn auch die Pumpe stillgestanden hätte.

Das auf der Hochebene gelegene Dorf der Zweihundertvierzig schien tot. Der Präfekt von Lille war herbeigeeilt, Gendarmen streiften auf den Straßen; allein angesichts der ruhigen Haltung der Streikenden hatten sie sich entschlossen heimzukehren. Niemals hatte das Dorf sich so musterhaft betragen. Um nicht in die Schenke zu gehen, schliefen die Männer den ganzen Tag; die Weiber verkürzten ihre Kaffeebesuche und wurden vernünftig, weniger geschwätzig, weniger zänkisch; selbst die Kinder schienen die Lage zu begreifen und benahmen sich so artig, daß sie mit nackten Beinen umherliefen und einander geräuschlos ohrfeigten. Es war die Losung, die von Mund zu Mund ging: man wollte sich klug betragen.

Im Hause Maheus jedoch war ein ununterbrochenes Kommen und Gehen von Leuten. In seiner Eigenschaft als Sekretär hatte Etienne die dreitausend Franken der Unterstützungskasse unter die notleidenden Familien verteilt. Dann waren von verschiedenen Seiten einige hundert Franken gekommen, das Ergebnis von freiwilligen Spenden und Sammlungen. Doch jetzt waren alle Hilfsquellen versiegt, die Grubenarbeiter hatten kein Geld mehr, um den Streik durchzuhalten, und der längst drohende Hunger war da. Der Krämer Maigrat hatte anfänglich einen vierzehntägigen Kredit in Aussicht gestellt, sich aber nach acht Tagen plötzlich eines andern besonnen und die Lieferung von Lebensmitteln eingestellt. In der Regel holte er die Weisungen der Gesellschaft ein; vielleicht wünschte diese sogleich ein Ende zu machen, indem sie die Dörfer aushungerte. Er handelte übrigens als launischer Tyrann, bewilligte oder verweigerte das Brot, je nach dem Gesicht des [245] Mädchens, das die Eltern sandten, um die Vorräte zu holen; und er verschloß seine Tür vornehmlich der Frau Maheu, der er grollte, und die er strafen wollte, weil er Katharina nicht besessen hatte. Um das Maß des Elends vollzumachen, fror es sehr stark; die Weiber sahen voll Angst ihren Kohlenvorrat kleiner werden; es war nicht genug, vor Hunger zu verrecken, man sollte auch vor Kälte sterben.

Bei den Maheu fehlte schon alles. Die Levaque aßen noch; sie lebten von einem Zwanzigfrankenstück, das Bouteloup geliehen hatte. Die Pierron hatten immer Geld; aber um ebenso notleidend zu scheinen wie die andern, weil sie angepumpt zu werden fürchteten, versorgten sie sich auf Kredit bei Maigrat, der seinen ganzen Laden der Frau Pierron hingeworfen hätte, wenn sie sich ihm geneigt erwiesen hätte. Schon am Sonnabend waren viele Familien ohne Nachtessen zu Bett gegangen. Trotz der schrecklichen Tage, die jetzt begannen, war keine Klage zu vernehmen; alle gehorchten ruhigen Mutes der Losung. Das war immerhin ein unbedingtes Vertrauen, eine andächtige Zuversicht, die blinde Hingebung eines Volkes von Gläubigen. Die Kasse war erschöpft, die Gesellschaft schien nicht nachgeben zu wollen, jeder Tag mußte die Lage erschweren, aber sie bewahrten ihre Hoffnung und zeigten eine lächelnde Mißachtung der Tatsachen. Dieser Glaube ersetzte das Brot und hielt den Leib warm.

Wenn die Maheu und die anderen zu schnell ihre klare Wassersuppe verdaut hatten, erlebten sie wie in einem Halbtaumel den Traum von einem schöneren Leben, die Verzückung der Märtyrer, die den wilden Tieren vorgeworfen werden.

Jetzt war Etienne der anerkannte Führer. In den abendlichen Unterhaltungen gab er Prophezeiungen zum besten, das Studium schärfte seinen Geist und erweiterte sein Verständnis für alle Dinge. Er verbrachte ganze Nächte über den Büchern und empfing immer mehr Briefe. Er hatte sogar den »Rächer« abonniert, [246] ein sozialistisches Blatt, das in Belgien erschien. Diese Zeitung, die erste, die in das Dorf kam, hatte ihm bei seinen Kameraden ein ganz außerordentliches Ansehen verschafft. Seine wachsende Volkstümlichkeit erregte ihn von Tag zu Tag mehr. Einen ausgedehnten Briefwechsel unterhalten, mit allen Gegenden der Provinz über das Schicksal der Arbeiter verhandeln, überhaupt ein Mittelpunkt sein, die Welt um sich kreisen sehen: all dies schmeichelte fortwährend der Eitelkeit des ehemaligen Mechanikers, des Kohlenschleppers mit den schwarzen Händen. Er stieg eine Stufe höher, er trat in dies verhaßte Bürgertum ein mit einer Genugtuung, die er sich nicht zu gestehen wagte. Nur ein Unbehagen war ihm geblieben, das Bewußtsein seiner mangelhaften Bildung, das ihn verlegen und schüchtern machte, sobald er sich einem Herrn in städtischem Rocke gegenüber befand. Wohl fuhr er mit heißer Wißbegierde fort, sich selbst zu unterrichten, allein bei dem Mangel an Methode war die Verdauung des Gelesenen eine langsame, und es entstand eine solche Verwirrung in ihm, daß er viele Dinge schrieb, die er nicht begriffen hatte. So geschah es denn, daß er in Stunden der Einsicht eine gewisse Unruhe über seine Berufung empfand, eine gewisse Furcht, nicht der erwartete Mann zu sein. Vielleicht hätte er ein Advokat, ein Gelehrter sein müssen, der die Fähigkeit besaß zu sprechen und zu handeln, ohne die Kameraden bloßzustellen? Allein eine innere Empörung gab ihm bald seine Kühnheit wieder. Nein, nein, kein Advokat, sie sind alle Halunken, nützen ihr Wissen aus, um sich auf Kosten des Volkes zu mästen! Es mochte kommen, wie es wollte: die Arbeiter mußten ihre Sache unter sich ausfechten. Abermals wiegte er sich in seinem Traum, ein Volksführer zu werden; er sah Montsou zu seinen Füßen, Paris in nebelhafter Ferne; konnte man wissen? Vielleicht werde er eines Tages zum Abgeordneten gewählt und in einem reichgeschmückten Saal die Rednertribüne besteigen, um von da das Spießbürgertum [247] zu vernichten mit der ersten Rede, die ein Arbeiter im Parlament hielt.

Seit einigen Tagen war Etienne in Verwirrung. Pluchart schrieb Brief auf Brief und machte sich erbötig, nach Montsou zu kommen, um den Eifer der Streikenden zu schüren. Es handelte sich darum, eine vertrauliche Besprechung zu veranstalten, deren Obmann der Mechaniker werden sollte; hinter diesem Plan barg sich der Gedanke, den Streik auszunutzen und die Bergleute, die sich bis jetzt mißtrauisch gezeigt hatten, für die Internationale zu gewinnen. Etienne fürchtete den Lärm, aber er hätte dennoch Pluchart kommen lassen, wenn nicht Rasseneur sich heftig gegen diese Einmengung ausgesprochen hätte. Trotz seiner Macht mußte der junge Mann Rücksicht auf den Schankwirt nehmen, der unter seinen Kunden treue Anhänger hatte. Er zögerte denn auch noch und wußte nicht recht, was er Pluchart antworten sollte.

Am Montag gegen neun Uhr kam wieder ein neuer Brief von Lille, als Etienne mit der Frau Maheu allein in der Wohnstube war. Maheu, den der Müßiggang krank machte, war angeln gegangen; wenn er das Glück haben sollte, unterhalb der Kanalschleuse einen schönen Fisch zu fangen, werde man ihn verkaufen und Brot dafür einhandeln. Der alte Bonnemort und der kleine Johannes waren fortgegangen, um ihre kranken Beine zu erproben, während die Kleinen mit Alzire unterwegs waren, die stundenlang auf dem Hügel zubrachte, um Kohlenstückchen zu sammeln. Die Maheu saß neben dem dürftigen Feuer, das sie nicht zu unterhalten wagte; sie stillte Estelle an ihrer Brust.

Als der junge Mann den Brief zusammenfaltete, fragte sie ihn:

»Sind's gute Nachrichten? Wird man uns Geld schicken?«

Er schüttelte verneinend den Kopf, worauf sie hinzufügte:

[248] »Ich weiß nicht, was wir diese Woche anfangen sollen. Doch wir wollen uns durchkämpfen. Wenn man das gute Recht für sich hat, verleiht es einem Mut. Wir sind schließlich doch die Stärkeren.«

Sie war jetzt auch für den Streik, nachdem sie die Sache überlegt hatte. Es wäre wohl vernünftiger gewesen, die Gesellschaft zur Gerechtigkeit zu zwingen, ohne die Arbeit zu verlassen. Aber nachdem man sie einmal verlassen, dürfe man sie nicht wieder aufnehmen, bevor man sein Recht errungen. Sie zeigte sich von einer unversöhnlichen Willensstärke. Lieber verrecken, als den Schein des Unrechts auf sich nehmen, wenn man das Recht für sich hatte!

»Möge doch eine tüchtige Cholera ausbrechen,« rief Etienne, »die uns von allen diesen Ausbeutern befreit!«

»Nein, nein«, sagte sie, »man soll niemand den Tod wünschen. Es wäre uns damit auch wenig geholfen, denn es kämen andere. Ich wünsche bloß, daß die Leute von der Gesellschaft vernünftig werden, und erwarte es auch, denn es gibt überall rechtschaffene Leute. Sie wissen, ich bin durchaus nicht für Ihre Politik.«

In der Tat tadelte sie gewöhnlich seine heftigen Worte. Sie fand, daß er ein Kampfhahn sei. Daß man sich seine Arbeit nach Verdienst bezahlen lasse, sei recht, aber was habe man sich mit einer Menge von Dingen zu beschäftigen, mit den Spießbürgern und der Regierung? Was habe man sich in die Angelegenheiten anderer einzumengen, wo man nur Hiebe davontragen könne? Indes bewahrte sie ihm Achtung, weil er sich nicht betrank und regelmäßig seine 45 Franken Pension bezahlt hatte. Wenn ein Mann sich nur anständig betrug, konnte man ihm alles übrige verzeihen.

Da sprach Etienne von der Republik, die jedermann Brot geben werde. Allein Frau Maheu schüttelte den Kopf, sie erinnerte sich des Jahres 48, eines Schreckensjahres, in welchem sie und ihr Mann, jung vermählt, die schlimmste Not zu leiden hatten.

[249] Sie verlor sich in eine Schilderung ihres Ungemachs mit dumpfer Stimme und stieren Augen, während ihre Tochter Estelle auf ihren Knien eingeschlafen war.

»Nicht einen Heller hatten wir«, murmelte sie; »nichts hinter die Zähne zu stecken. In allen Gruben stockte die Arbeit; es war das reine Elend für die armen Leute, ganz wie jetzt.«

Doch in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und sie blieben stumm vor Überraschung, als sie Katharina eintreten sahen. Seit ihrer Flucht mit Chaval war sie nicht mehr im Arbeiterdorf erschienen. Ihre Verwirrung war so groß, daß sie zitternd und stumm dastand und die Tür zu schließen vergaß. Sie hatte darauf gezählt, ihre Mutter allein zu finden. Der Anblick des jungen Mannes ließ sie die Worte vergessen, die sie sich unterwegs zurechtgelegt hatte.

»Was willst du hier?« rief Frau Maheu, ohne sich von ihrem Sessel zu erheben. »Ich will von dir nichts wissen, geh!«

Katharina suchte nach Worten.

»Mama, ich bringe Kaffee und Zucker für die Kinder. Ich habe Überstunden gemacht und habe an die Kinder gedacht.«

Sie zog ein Pfund Kaffee und ein Pfund Zucker aus der Tasche und fand den Mut, diese Dinge auf den Tisch zu legen. Der Streik in dem Voreuxschacht schmerzte sie, während sie im Jean-Bart-Schacht arbeitete. Sie hatte kein anderes Mittel gefunden, ihre Eltern ein wenig zu unterstützen, und brachte Kaffee und Zucker unter dem Vorwand, an die Kleinen gedacht zu haben. Allein ihre Gutherzigkeit entwaffnete ihre Mutter nicht, die ihr erwiderte:

»Anstatt uns Süßigkeiten zu bringen, hättest du besser getan, bei uns zu bleiben, um Brot für uns zu erwerben.«

Die Mutter erleichterte ihr Herz und warf der Tochter alles an den Kopf, was sie seit einem Monat gegen sie wiederholte. Mit einem Mann durchzugehen, mit sechzehn Jahren sich an einen Mann zu hängen, wenn [250] man eine Familie in Not habe: dazu müsse man die letzte der entarteten Töchter sein. Man könne eine Torheit verzeihen, aber eine Mutter könne einen solchen Streich niemals vergessen. Wenn man sie noch in strenger Zucht gehalten hätte! Aber durchaus nicht; sie sei frei wie die Luft gewesen; man verlangte nur, daß sie des Nachts zu Hause sei.

»Was steckt denn in dir in deinem Alter? Sprich!«

Katharina stand unbeweglich neben dem Tisch und hörte gesenkten Hauptes die Vorwürfe ihrer Mutter an. Ein Zittern befiel ihren mageren Körper, und sie suchte nach Worten, um zu antworten.

»Ach, mir macht es wenig Spaß ...« sagte sie. »Er ist schuld an allem. Wenn er will, muß ich doch, nicht? Er ist eben der Stärkere. Weiß man denn jemals, welche Wendung die Dinge nehmen? Nun ist's geschehen, und man kann's nicht ändern. Er oder ein anderer: jetzt ist's gleich. Er wird mich wohl heiraten müssen.«

Sie verteidigte sich ohne Trotz mit der leidenden Ergebung der Mädchen, die frühzeitig den Mann erkennen. War dies nicht das allgemein gültige Gesetz?

Etienne hatte sich inzwischen erhoben und machte sich mit dem erlöschenden Feuer zu schaffen, um die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter nicht zu stören; aber ihre Blicke begegneten sich. Er fand sie bleich, erschöpft, aber dennoch hübsch mit den hellen Augen in dem gebräunten Gesicht. Er empfand ein seltsames Gefühl, sein Groll war geschwunden, er hätte nur gewünscht, daß sie glücklich sei mit diesem Manne, den sie ihm vorgezogen hatte. Es war in ihm ein Bedürfnis, sich noch mit ihr zu beschäftigen, ein Verlangen, nach Montsou zu gehen und den andern zu zwingen, sie rücksichtsvoller zu behandeln. Doch sie sah in dieser Regung der Zärtlichkeit, die sich noch immer anbot, nichts als Mitleid. Er mußte sie sicherlich verachten, da er sie ansah. Ihr Herz zog sich so schmerzhaft zusammen, daß sie kein Wort der Entschuldigung mehr fand.

[251] »Es ist auch besser, daß du schweigst«, sagte die Maheu unversöhnlich. »Wenn du gekommen bist, um dazubleiben, tritt ein; wenn nicht, geh gleich wieder fort und sei froh, daß ich nicht vom Sessel aufstehen kann, sonst hätte ich dir schon einen Fußtritt versetzt.«

Als habe diese Drohung sich plötzlich verwirklicht, empfing Katharina von hinten einen Stoß, dessen Heftigkeit sie vor Überraschung und Schmerz betäubte. Es war Chaval, der mit einem Satz durch die offene Tür hereingesprungen und wie ein bösartiges Tier über sie hergefallen war. Seit einer Weile hatte er sie von außen belauscht.

»Ha, Dirne, ich bin dir gefolgt; ich wußte wohl, daß du hierherkamst, um dich mit ihm gütlich zu tun. Und du bezahlst ihn noch, wie? Du begießt ihn noch mit Kaffee für mein Geld!«

Frau Maheu und Etienne waren dermaßen betroffen, daß sie sich nicht rühren konnten. Mit einer wütenden Gebärde jagte Chaval Katharina nach der Tür.

»Wirst du gehen?« schrie er.

Er hatte Katharina bei den Handknöcheln gefaßt; er schüttelte sie und schleppte sie hinaus. An der Tür wandte er sich abermals nach der Maheu um, die wie festgenagelt auf ihrem Sessel saß. Estelle war eingeschlafen, das Gesichtchen in den Rockfalten der Mutter vergraben.

»Wenn die Tochter nicht da ist, glänzt die Mutter!« schrie Chaval.

Etienne wollte den Kameraden ohrfeigen. Nur die Besorgnis, durch eine Rauferei das ganze Dorf in Aufruhr zu bringen, hatte ihn zurückgehalten, Katharina seinen Händen zu entreißen. Doch jetzt hatte auch ihn die Wut übermannt, und die beiden Männer standen mit blutunterlaufenen Augen einander gegenüber. Ein alter Haß kam zum Ausbruch, eine seit langer Zeit uneingestandene Eifersucht.

»Nimm dich in acht!« stammelte jetzt Etienne mit[252] zusammengekniffenen Lippen. »Ich werde dir die Haut vom Leibe ziehen.«

»Versuch's einmal!« erwiderte Chaval.

Sie schauten einige Sekunden einander so nahe ins Gesicht, daß der heiße Atem ihr Gesicht streifte. Katharina trat bittend dazwischen, faßte ihren Liebhaber bei der Hand und führte ihn hinweg. Sie zog ihn fort und floh mit ihm aus dem Dorf, ohne auch nur den Kopf zu wenden.

»Welch ein Vieh!« brummte Etienne und warf heftig die Tür zu, von einer solchen Wut geschüttelt, daß er sich setzen mußte.

Die Maheu hatte sich nicht vom Platze gerührt. Sie machte bloß eine Handbewegung, dann trat Stille ein, peinlich und drückend infolge all der Dinge, die sie sich nicht sagten. Trotz der Anstrengungen, die er machte, kehrten seine Augen immer wieder zu ihr zurück. Wohl war sie vierzig Jahre alt und unförmig, aber noch viele trugen Verlangen nach ihr; sie war breit und kräftig mit dem langgezogenen Gesicht eines früher hübschen Mädchens.

»So ein Schwein!« sagte sie endlich. »Nur ein schmutziges Schwein kann solch ekelhafte Gedanken haben ... Ich mache mir nichts daraus; er war keiner Antwort wert.«

Dann fügte sie freimütig hinzu, ohne den jungen Mann aus den Augen zu lassen:

»Ich habe gewiß meine Fehler, aber diesen nicht ... Nur zwei Männer haben mich berührt, ein Schlepper einst, als ich erst fünfzehn Jahre zählte, und nachher Maheu. Hätte er mich verlassen wie der andere – ich weiß wahrlich nicht, was aus mir geworden wäre, und ich bin nicht stolz darauf, daß ich seit unserer Ehe mich gut betragen habe; denn man tut das Schlimme oft nur deshalb nicht, weil die Gelegenheit fehlt ... Indes ich sage, wie es ist, und ich kenne Nachbarinnen, die nicht ein Gleiches sagen könnten. Nicht wahr?«

»Ja, das ist wahr«, erwiderte Etienne und stand auf.

[253] Er ging hinaus, während sie sich entschloß das Feuer wieder anzuzünden, nachdem sie die wieder eingeschlafene Estelle auf zwei Sesseln gebettet hatte. Wenn es dem Vater gelingt, einen Fisch zu fangen und zu verkaufen, wird man Suppe kochen.

Draußen senkte sich schon die Nacht herab, eine eiskalte Nacht. Etienne schritt gesenkten Hauptes dahin, von einer dumpfen Traurigkeit erfaßt. Es war nicht mehr der Zorn gegen den Mann, das Mitleid für das arme mißhandelte Mädchen. Die rohe Szene verflüchtigte sich; er versank in das Leid aller, in die Schrecknisse des Elends. Er sah das Arbeiterdorf ohne Brot; er sah, wie die Weiber und Kinder des Abends nichts zu essen hatten; all das Volk, das mit leerem Magen kämpfte. Der Zweifel, der ihn zuweilen packte, erwachte abermals in ihm inmitten der erschreckenden Schwermut der Abenddämmerung und quälte ihn heftiger denn je. Welch furchtbare Verantwortlichkeit lud er auf sich! Sollte er sie noch weiter treiben, zu einem hartnäckigen Widerstand anspornen, jetzt, da er weder Geld noch Kredit mehr hatte? Was wird das Ende sein, wenn keine Hilfe kommt, wenn der Hunger den Mut aller bricht? Plötzlich tauchte vor ihm das Bild des Unglücks auf: sterbende Kinder, schluchzende Mütter, während die Männer bleich und abgehärmt wieder in die Gruben einfuhren. Er ging immer weiter; seine Füße strauchelten über Steine; der Gedanke, daß die Gesellschaft siegen und er das Unglück seiner Kameraden verursachen könne, erfüllte ihn mit unerträglicher Angst.

Als er das Haupt erhob, sah er, daß er sich vor dem Voreuxschacht befand. Die finstere Masse der Gebäude lag schwerfällig im Dunkel. Inmitten des verödeten, von großen, unbeweglichen Schatten erfüllten Werkhofs ähnelte alles einer verlassenen Festung. Wenn die Fördermaschine stillstand, schien die Seele aus diesen Mauern zu entweichen. Zu dieser nächtlichen Stunde war nichts Lebendes mehr da, kein Licht und keine [254] Stimme. Selbst der Dampfstrom der Pumpe klang wie entferntes Röcheln, von dem man nicht wußte, woher es kam inmitten der Todesstille des ganzen Schachtes.

Etienne blickte um sich, und alles Blut strömte ihm nach dem Herzen. Die Arbeiter litten Hunger, aber auch die Gesellschaft sah ihre Millionen zusammenschmelzen. Warum sollte sie die Stärkere sein in diesem Kampfe der Arbeit gegen das Geld? In allen Fällen werde der Sieg ihr teuer zu stehen kommen. Man werde nachher ihre Toten zählen. Er wurde wieder von Kampfwut ergriffen, von einem grausamen Bedürfnis, ein Ende zu machen mit dem Elend – selbst um den Preis des Lebens. Es war besser, das ganze Dorf ging auf einmal zugrunde, als daß man nach und nach vor Hunger verreckte. Er erinnerte sich der Beispiele von Völkern, die ihre Städte in Brand steckten, um den Feind aufzuhalten, jener Geschichten, in denen Mütter ihre Kinder vor der Sklaverei retteten, indem sie ihnen die Köpfe auf dem Straßenpflaster zerschlugen, in denen Männer lieber Hungers starben, als daß sie das Brot der Tyrannen aßen. Alles das begeisterte ihn; eine wilde Freudigkeit folgte der dumpfen Trauer – eine Freudigkeit, die allen Zweifel verscheuchte und ihn wegen seiner flüchtigen Feigheit erröten ließ. In diesem Wiedererwachen seines Glaubens hatte er von neuem Regungen des Stolzes, die ihn aufrichteten; er empfand wieder die Freude, ein Führer zu sein, dem man gehorche bis zur Aufopferung; er träumte von der großen Macht, die er am Tage des Sieges in der Hand haben werde. In seiner Vorstellung sah er eine Szene von großartiger Einfachheit: wie er die Gewalt in die Hände des Volkes zurücklegen werde, nachdem er einen Augenblick der Gebieter gewesen.

Doch plötzlich erwachte er aus seiner Träumerei; Maheu kam und erzählte ihm, er habe eine Forelle gefangen und für drei Franken verkauft. Man werde eine Suppe zur Nacht essen. Er ließ den Kameraden allein nach dem Dorf zurückkehren und sagte, er werde ihm[255] folgen. Doch er ging zu Rasseneur und wartete, bis der einzige Gast, der da war, die Trinkstube verließ. Dann teilte er Rasseneur mit, er wolle an Pluchart schreiben, daß er sogleich kommen möge. Sein Entschluß war gefaßt; er wollte eine vertrauliche Sitzung einberufen; der Sieg schien ihm sicher, wenn die Bergleute von Montsou sich in Massen der Internationale anschlossen.

Viertes Kapitel

In der Schenke »Zur Gemütlichkeit« bei der Witwe Désir fand am Donnerstag nachmittag die vertrauliche Versammlung statt. Entrüstet über den Jammer, den man ihren Kindern, den Bergleuten, verursachte, kam die Witwe aus dem Zorn nicht mehr heraus, besonders seitdem ihre Schenke sich leerte. Nie hatte sie einen weniger durstigen Streik gesehen; die Trunkenbolde sperrten sich zu Hause ein aus Furcht, das Verbot der Nüchternheit zu brechen. Die breite Straße von Montsou, wo es sonst an Feiertagen von Leuten wimmelte, lag jetzt still in trostloser Einsamkeit. Nicht mehr floß das Bier in Strömen von den Schenktischen: das Rinnsal war trocken. Vor der Weinstube des Casimir und vor dem Wirtshause »Zum Fortschritt« sah man nur die bleichen Gesichter der Wirtinnen, die auf die Straße lugten; in Montsou selbst zog die lange Straßenzeile sich menschenleer dahin von der Schenke des Lenfant bis zur Schenke des Tison, vorbei an der Schenke des Piquette und dem Schnapsladen »Zum Kopfabschneider«; bloß im Gasthaus Saint-Eloi, das von Aufsehern besucht wurde, gingen noch einige Schoppen ab.

»Herrgott«, rief die Witwe Désir, indem sie mit beiden Händen auf ihre Schenkel schlug. »Die Gendarmen sind an allem schuld. Ich muß ihnen einen Schabernack spielen, und wenn ich hinterdrein ins Loch gesteckt werde.«

[256] Alle Behörden, alle Dienstgeber waren für die Gendarmen; in ihrem Munde war dies ein Ausdruck allgemeiner Verachtung, mit dem sie die Feinde des Volkes umfing. Das Verlangen Etiennes hatte sie mit Begeisterung aufgenommen; ihr ganzes Haus gehörte den Bergleuten; sie werde den Ballsaal unentgeltlich herleihen und selbst die Einladungen versenden, da das Gesetz es fordere. Übrigens, wenn man dem Gesetz nicht genüge, um so besser.

Am nächsten Tage brachte ihr der junge Mann fünfzig Briefe zur Unterschrift; er hatte diese Briefe von schreibkundigen Nachbarn im Arbeiterdorf vervielfältigen lassen, und man versandte die Briefe nach den Schächten, an die Delegierten des Vereins und an Männer, deren man sicher war. Die vorgegebene Tagesordnung war die Beratung über die Fortsetzung des Streiks; aber in Wirklichkeit erwartete man Pluchart; man rechnete auf eine Rede von ihm, um einen Massenbeitritt zur »Internationale« herbeizuführen.

Am Donnerstag morgen ward Etienne von Unruhe ergriffen, als er seinen ehemaligen Werkmeister nicht ankommen sah, der telegraphisch versprochen hatte, am Mittwoch abend da zu sein. Was ging vor? Etienne war trostlos, sich nicht vor der Sitzung mit ihm besprechen zu können. Um neun Uhr begab er sich nach Montsou, in der Hoffnung, daß der Mechaniker geradewegs dahin gegangen war, ohne beim Voreuxschacht anzuhalten.

»Nein, ich habe Ihren Freund nicht gesehen«, antwortete ihm die Witwe Désir. »Aber alles ist bereit; kommen Sie nachschauen.«

Sie führte ihn in den Ballsaal. Die Ausschmückung war die frühere geblieben; ein Laubgewinde, das an der Decke eine Krone von Buntpapier trug; an den Wänden Wappenschilder von vergoldetem Karton mit den Namen von männlichen und weiblichen Heiligen. Die Erhöhung für die Musiker in einem Winkel des Saales [257] war durch einen Tisch und drei Sessel ersetzt; davor waren mehrere Bänke aufgestellt.

»Sehr gut«, erklärte Etienne.

»Um es Euch nur zu sagen, Ihr seid zu Hause«, fuhr die Witwe fort; »schreit, soviel Ihr wollt ... Die Gendarmen müssen mir über den Leib, wenn sie kommen.«

Jetzt sah Etienne zu seinem Erstaunen Rasseneur und Suwarin eintreten. Als die Witwe die drei Männer in dem großen, leeren Saale allein gelassen hatte, rief er:

»Wie, ihr seid schon da?«

Suwarin, der in der Nacht im Voreuxschacht gearbeitet hatte, weil die Maschinisten sich am Streik nicht beteiligten, war aus bloßer Neugier gekommen. Rasseneur schien seit zwei Tagen in Verlegenheit zu sein; sein dickes, rundes Gesicht hatte das gemütliche Lächeln verloren.

»Pluchart ist nicht angekommen, ich bin sehr unruhig«, sagte Etienne.

Der Schankwirt wandte die Augen ab und brummte zwischen den Zähnen:

»Das nimmt mich nicht wunder; ich erwarte ihn nicht mehr.«

»Wieso?«

Da entschloß er sich, schaute dem andern ins Gesicht und erwiderte freimütig:

»Um es dir frei heraus zu sagen: Auch ich habe ihm einen Brief geschrieben und ihn gebeten, nicht zu kommen ... ja, ich finde, daß wir unsere Angelegenheiten selbst besorgen müssen, ohne uns an Fremde zu wenden.«

Etienne geriet außer sich vor Zorn; dem andern fest in die Augen schauend, rief er ein um das andere Mal:

»Du hast das getan, du hast das getan!«

»Jawohl, ich habe das getan; und doch weißt du, wie sehr ich Pluchart schätze. Es ist ein feiner Kopf, dem man sich anvertrauen darf. Allein, siehst du, ich pfeife auf die Gedanken. Die Politik, die Regierung: sie sind mir schnuppe. Ich wünsche, daß der Bergmann besser [258] behandelt werde. Zwanzig Jahre habe ich in der Grube gearbeitet und so viel Not und Mühsal erduldet, daß ich geschworen habe, Erleichterungen für die armen Teufel zu erringen, die verurteilt sind, noch weiter dort zu leben; und ich habe das Gefühl, daß ihr mit allen euren Geschichten nichts erreichen, vielmehr das Los des Arbeiters noch verschlechtern werdet ... Wenn er durch den Hunger genötigt wird, wieder einzufahren, wird man ihn noch mehr schinden, die Gesellschaft wird ihn mit Hieben traktieren wie einen Hund, den man in sein Loch zurückjagt ... Das will ich verhindern, verstehst du?«

Er erhob die Stimme und streckte den Bauch heraus, fest auf seinen dicken Beinen stehend. Die Sinnesart eines vernünftigen, geduldigen Menschen äußerte sich in klaren Sätzen, die reichlich und ohne Anstrengung hervorsprudelten. Sei es nicht blöd zu glauben, daß man mit einem Schlage die Welt ändern, die Arbeiter an Stelle der Arbeitgeber setzen, das Geld teilen könne, wie man einen Apfel teilt? Es brauche vielleicht Tausende und aber Tausende von Jahren, bis das Wirklichkeit werde. Darum solle man ihn mit solchen Märchen zufrieden lassen. Wolle man sich nicht den Kopf einrennen, so sei es das beste, geradeaus zu gehen und das Schicksal der Arbeiter langsam zu verbessern. Wenn er sich mit der Sache beschäftige, bemühe er sich, die Gesellschaft zu besseren Bedingungen zu bewegen; durch Trotz werde man nur dahin kommen, daß alle Hungers verreckten.

Etienne hatte ihn reden lassen; die Entrüstung schnürte ihm die Kehle zu. Endlich rief er aus:

»Hast du denn kein Blut in den Adern?«

Einen Augenblick war er versucht, ihn zu ohrfeigen. Um der Versuchung zu widerstehen, begann er mit großen Schritten im Saal auf und ab zu gehen; er kühlte seine Wut an den Bänken, durch die er sich gewaltsam einen Weg bahnte.

[259] »Schließt doch wenigstens die Tür«, bemerkte Suwarin. »Es ist nicht notwendig, daß man euch hört.«

Nachdem er selbst die Tür geschlossen hatte, setzte er sich ruhig auf einen der vor dem Präsidententische stehenden Sessel. Er hatte sich eine Zigarette gedreht und betrachtete die beiden andern mit seinem milden, schlauen Blick, die Lippen von einem feinen Lächeln umspielt.

»Wenn du böse wirst, kommen wir nicht weiter«, bemerkte Rasseneur ruhig. »Ich habe zuerst geglaubt, du seiest besonnen und vernünftig. Es war sehr gut, den Kameraden zu empfehlen, daß sie sich ruhig verhalten, sie zu zwingen, daß sie sich nicht aus ihren Häusern rühren, deine Macht zu gebrauchen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Jetzt willst du selbst sie ins Verderben stürzen.«

Bei jedem Lauf zwischen den Bänken kam Etienne zu dem Schankwirt zurück, packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn und schrie ihm seine Antworten ins Gesicht.

»Donner Gottes, ich will ja ruhig bleiben. Ja, ich habe ihnen Disziplin auferlegt; ja, ich rate ihnen noch immer, sich nicht zu rühren. Aber man soll uns nicht zum besten halten! Du hast das Glück, kaltes Blut zu bewahren. Ich glaube manchmal, daß mir der Schädel platzen wird.«

Dies war gewissermaßen eine Beichte. Er verhöhnte sich selbst wegen seiner Wahnvorstellungen, wegen seines frommen Traumes von einer Stadt, wo unter den zu Brüdern gewordenen Menschen die Gerechtigkeit herrschen solle. Fürwahr, ein gutes Mittel, die Arme kreuzen und warten, um zuzusehen, wie die Menschen bis zum Ende aller Tage einander auffressen gleich den Wölfen. Nein, man müsse sich einmengen, sonst werde das Unrecht ewig dauern, und stets würden die Reichen das Blut der Armen trinken. Er könne sich die Dummheit nicht verzeihen, einst gesagt zu haben, daß man die Politik aus der sozialen Frage verbannen müsse. [260] Damals habe er nichts verstanden, seither aber gelesen und studiert. Jetzt seien seine Gedanken gereift, und er rühme sich, ein System zu haben. Allein er erklärte es schlecht, in verworrenen Redensarten, die ein Gemisch aller Systeme darstellten. Obenauf blieb der Gedanke von Karl Marx: das Kapital ist Diebstahl; die Arbeit hat die Pflicht und das Recht, diesen gestohlenen Reichtum zurückzuerobern. In der Praxis hatte er sich anfänglich gleich Proudhon durch den Traum vom wechselseitigen Kredit fangen lassen, von einer riesigen Austauschbank; dann wieder begeisterte er sich für die staatlich unterstützten Arbeitsgenossenschaften, die allmählich die ganze Erde in eine einzige Industriestadt umwandeln sollten. Dies währte bis zu dem Tage, an dem die Schwierigkeit der Kontrolle ihn diesen Plan fallen ließ. Seit kurzer Zeit war er bei dem Kollektivismus angelangt; er forderte, daß alle Arbeitswerkzeuge der Allgemeinheit abgeliefert würden. Allein dieser Plan war noch ganz verschwommen, und er wußte nicht, wie man ihn verwirklichen solle; ihn behinderten die Bedenken seiner Empfindlichkeit und seiner Vernunft; er wagte nicht, sich bis zu den bestimmten Behauptungen der Sektierer zu versteigen. Er sagte bloß, es handle sich vor allem darum, sich der Regierung zu bemächtigen; das weitere werde sich finden.

»Aber was ficht dich an? Warum willst du dich mit den Spießbürgern einlassen?« fuhr er heftig fort, indem er sich vor den Schankwirt hinstellte. »Sagtest du nicht selber, es müsse alles in die Luft fliegen?«

Rasseneur errötete leicht.

»Ja, das habe ich gesagt; und wenn alles in die Luft fliegt, sollst du sehen, daß ich nicht feiger bin als ein anderer. Allein ich bin nicht gesonnen, mit denen zu gehen, die den Trubel vermehren, um für sich eine Stellung zu erobern!«

Jetzt war an Etienne die Reihe zu erröten. Die beiden Männer schrien nicht mehr; von kühler Nebenbuhlerschaft [261] ergriffen, wurden sie in ihren Reden bitter und boshaft. Diese Nebenbuhlerschaft war es im Grunde, welche die verschiedenen Systeme auf die Spitze trieb, den einen zu revolutionären Übertreibungen, den andern zu einer geheuchelten Vorsicht drängte, sie wider Willen über ihre wahren Ideen hinaus fortriß. Suwarin, der ihnen zuhörte, zeigte in seinem Antlitz, das dem eines blonden Mädchens glich, eine stille Verachtung, die vernichtende Verachtung eines Mannes, der bereit ist, sein Leben zu opfern im Dunkel und in der Vergessenheit, ohne dafür auch nur den Ruhm des Märtyrertums zu ernten.

»Also meinetwegen sagst du das?« fragte Etienne. »Du bist neidisch?«

»Neidisch? Weshalb?« entgegnete Rasseneur. »Ich spiele mich nicht auf den großen Mann aus; ich trachte nicht, einen Zweigverein in Montsou zu gründen, um sein Sekretär zu werden.«

Der andere wollte ihn unterbrechen, doch er setzte hinzu:

»Sei doch aufrichtig: dich kümmert nicht die Internationale; du willst nur hier an der Spitze stehen, den Herrn spielen, indem du mit dem famosen Bundesrat des Nordens einen Briefwechsel unterhältst.«

Nach kurzem Stillschweigen nahm Etienne – vor Wut bebend – wieder das Wort.

»Es ist gut ...« sagte er. »Ich glaube, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Stets habe ich dich zu Rate gezogen, denn ich wußte, daß du hier – lange vor mir – gekämpft hast. Doch da du niemand an deiner Seite dulden kannst, werde ich künftig ganz allein handeln.. Ich gebe dir vor allem zu wissen, daß die Sitzung dennoch stattfinden wird, selbst wenn Pluchart nicht kommt, und daß die Kameraden auch gegen deinen Willen beitreten werden.«

»Ei, mit dem Beitritt allein ist's nicht getan«, murmelte der Schankwirt; »man muß sie auch bestimmen, die Mitgliedergebühr zu bezahlen.«

[262] »Keineswegs. Die Internationale bewilligt den im Streik befindlichen Arbeitern einen Aufschub. Wir werden später bezahlen, und sie wird uns sogleich zu Hilfe kommen.«

Da geriet Rasseneur plötzlich in Zorn.

»Wir werden sehen! ...« rief er. »Ich werde an deiner Sitzung teilnehmen und sprechen. Ich werde es nicht zugeben, daß du den Freunden die Köpfe verdrehst; ich werde sie über ihre wahren Interessen aufklären. Wir werden ja sehen, wem sie folgen; mir, den sie seit dreißig Jahren kennen, oder dir, der du in weniger als einem Jahre alles auf den Kopf gestellt hast. Nein, nein, laß mich zufrieden ... Es gilt jetzt, wer von uns beiden den andern unterkriegt.«

Er ging hinaus und schlug heftig die Tür zu, daß die Blumengewinde unter der Saaldecke erzitterten und die Wappenschilder an den Wänden tanzten. Dann versank der große Saal wieder in tiefe Stille.

Suwarin, der am Tisch saß, rauchte still vor sich hin, und seine Miene bewahrte ihre gewohnte Sanftmut. Etienne ging eine Weile wortlos hin und her, dann erleichterte er sein Herz. War es seine Schuld, daß man diesen dicken Taugenichts gegen ihn losließ? Er wehrte sich gegen den Vorwurf, Volkstümlichkeit gesucht zu haben; er wußte nicht einmal, wie all das gekommen war, die Freundschaft der Bevölkerung des Arbeiterdorfes, das Zutrauen der Bergleute, die Macht, die er zur Stunde über sie hatte. Er war entrüstet über die Anschuldigung, aus Ehrgeiz zum Aufruhr gedrängt zu haben; er schlug sich an die Brust und beteuerte seine brüderlichen Gefühle.

Plötzlich blieb er vor Suwarin stehen und rief:

»Hör' einmal: wenn ich wüßte, daß die Sache einem unserer Freunde auch nur einen Tropfen Blut kosten könnte, würde ich lieber sogleich nach Amerika gehen!«

Der Maschinist zuckte mit den Achseln, und ein Lächeln spielte wieder um seine Lippen.

[263] »Blut,« murmelte er, »was hat das zu bedeuten? Die Erde braucht Blut ...«

Etienne beruhigte sich allmählich, nahm einen Sessel und ließ sich am andern Ende des Tisches nieder, den Ellbogen aufstemmend. Dies blonde Gesicht, dessen träumerische Augen zuweilen eine helle Röte annahmen, die ihnen einen Ausdruck der Wildheit gab, beunruhigte ihn und übte eine seltsame Wirkung auf seinen Willen.

»Was würdest du an meiner Stelle tun?« fragte er endlich. »Habe ich nicht recht, daß ich zur Tat dränge? ... Es ist doch das beste, daß wir uns an diesen Bund anlehnen?«

Suwarin blies ein Rauchwölkchen in die Luft, dann antwortete er mit seinem Lieblingsworte:

»Das sind Dummheiten; aber vorläufig ist es gut so.. Übrigens wird deine Internationale sich bald rühren. Er beschäftigt sich damit.«

»Wer?«

»Er!«

Er hatte dieses Wort halblaut ausgesprochen, mit der Miene inbrünstigen Eifers, und dabei seinen Blick nach dem Osten gerichtet. Er sprach vom Meister, von Bakunin, dem Vertilger.

»Er allein vermag den Keulenschlag zu führen,« setzte er hinzu, »während deine Gelehrten mit ihrer Evolution nichts als Feiglinge sind ... Ehe drei Jahre vergehen, wird die Internationale unter seinen Befehlen die alte Welt zertrümmern.«

Etienne spitzte aufmerksam die Ohren. Er brannte vor Wißbegierde, das Wesen dieses Umsturzes zu verstehen, über den der Maschinist nur wenige, unklare Worte fallen ließ, als wolle er seine Geheimnisse für sich behalten.

»Aber erkläre mir doch endlich, was ist euer Ziel?«

»Alles zerstören ... Keine Nationen, keine Regierungen, kein Eigentum, keinen Gott und keinen Kultus.«

»Ich verstehe. Aber wohin führt das?«

[264] »Zur anfänglich formlosen Gemeinschaft, zu einer neuen Welt, zu einem neuen Beginn von allem.«

»Und die Mittel der Durchführung? Wie wollt ihr die Sache anfassen?«

»Mit Feuer, mit Gift, mit dem Dolch. Der Räuber ist der wahre Held, der Volksrächer, der Revolutionär der Tat, ohne aus Büchern geholte Redensarten. Eine Reihe von blutigen Attentaten muß die Mächtigen erschrecken und die Völker erwecken.«

Suwarin wurde furchtbar, wenn er so sprach. Die Begeisterung riß ihn aus dem Sessel, eine geheime Flamme sprühte aus seinen fahlen Augen, die feinen Hände preßten den Tischrand, daß er fast zerbrach. Von Furcht ergriffen, betrachtete ihn der andere und dachte an die Geschichten, die ihm halb und halb an vertraut worden, an die Minen unter dem Palast des Zaren, an die Polizeichefs, die niedergestochen wurden gleich Wildschweinen, an die Geliebte Suwarins, das einzige Weib, dem er zugetan gewesen, und das an einem regnerischen Morgen in Moskau gehängt wurde, während er, unter die Menge verloren, sie ein letztes Mal mit den Augen küßte.

»Nein, nein«, murmelte Etienne mit einer Handbewegung, welche diese abscheulichen Bilder verscheuchte; »wir hierzulande sind noch nicht soweit. Mord und Brand, niemals! Das ist ungeheuerlich, das ist ungerecht; alle Kameraden würden sich erheben, um den Verbrecher zu erwürgen.«

Übrigens begriff er noch immer nicht; seine Vernunft lehnte sich auf gegen diesen düsteren Traum von der Ausrottung der Besitzenden, die hingemäht werden sollten wie ein Roggenfeld. Was werde man nachher anfangen, wie würden die Völker neu erstehen? Er forderte eine Antwort.

»Sage mir dein Programm. Wir wollen wissen, wohin wir gehen.«

Da schloß Suwarin ruhig, mit seinem traumverlorenen Blick:

[265] »Alle Betrachtungen über die Zukunft sind sträflich, denn sie behindern die vollständige Zerstörung und den Lauf der Revolution.«

Darüber lachte Etienne trotz der Kälte, die ihm bei dieser Antwort über den Rücken lief. Er gestand übrigens gern, daß sie ihr Gutes hatten, diese Gedanken, deren erschreckende Einfachheit ihn lockte. Allein er begriff, daß er sein Spiel vollständig dem Rasseneur ausliefere, wenn er seinen Kameraden solche Geschichten erzählen wollte. Es galt, praktisch zu sein.

Die Witwe Désir schlug ihnen vor zu frühstücken. Sie nahmen die Einladung an und gingen in die Gaststube, die an Wochentagen durch eine dünne Bretterwand von dem Tanzsaale geschieden war. Als sie ihren Eierkuchen und Käse gegessen hatten, wollte der Maschinist gehen; als der andere ihn zurückhielt, sagte er:

»Wozu denn? Um eure unnützen Dummheiten anzuhören? Ich habe genug davon. Gute Nacht.«

Er ging mit seiner sanften, entschlossenen Miene, eine Zigarette im Munde.

Etienne fühlte seine Unruhe wachsen. Es war ein Uhr, und es schien gewiß, daß Pluchart sein Wort nicht hielt. Gegen halb zwei Uhr begannen die Abgesandten zu erscheinen; er mußte sie empfangen, weil er bei der Tür achthaben wollte aus Furcht, daß die Gesellschaft ihre Kundschafter senden könne. Er besichtigte jede Einladung und musterte die Leute; viele durften übrigens ohne Einladungskarte eintreten, es genügte, daß er sie kannte. Als es zwei Uhr schlug, sah er Rasseneur kommen, der vor dem Schanktisch seine Pfeife zu Ende rauchte und mit den Leuten plauderte. Diese spöttische Ruhe des Gastwirtes versetzte Etienne vollends in gereizte Stimmung, um so mehr, als Spaßvögel gekommen waren, um ihren Ulk zu treiben, Zacharias, Mouquet und andere. Diese belustigten sich über den Streik; sie fanden es drollig, nicht zu arbeiten. Sie ließen sich an [266] einem Tisch nieder, gaben ihre letzten zwei Sous für einen Schoppen hin, trieben ihren Spaß und verhöhnten ihre Kameraden, diese Überzeugten, die sich in allerlei Ungemach stürzten.

Wieder verfloß eine Viertelstunde. Die Leute im Saale wurden ungeduldig. Etienne gab jetzt alle Hoffnung auf und machte eine entschlossene Gebärde. Eben wollte er in den Saal eintreten, als die Witwe Désir, die den Kopf hinausgesteckt hatte, ausrief:

»Aber da ist ja der Herr, den Sie erwarten!«

Es war in der Tat Pluchart. Er kam in einem Wagen, den ein schwindsüchtiger Klepper zog, und sprang sogleich auf das Pflaster; es war ein schmächtiges, geschniegeltes Männchen, das unter dem schwarzen Überrock den Sonntagsstaat eines wohlgestellten Arbeiters trug. Seit fünf Jahren hatte er nicht mehr gearbeitet und pflegte seine Persönlichkeit, kämmte sich mit besonderer Sorgfalt, war sehr eitel wegen seiner rednerischen Erfolge; doch war ihm von seinem Handwerk her eine gewisse Steifheit der Glieder geblieben, und die Nägel seiner breiten Hände wuchsen nicht mehr, nachdem das Eisen sie weggefressen. Von sehr tätiger Natur, frönte er seinem Ehrgeiz, indem er unaufhörlich die Provinz bereiste, um seine Gedanken zu verbreiten.

»Zürnt mir nicht!« rief er aus, »um allen Fragen und Vorwürfen zuvorzukommen. Gestern morgen Konferenz in Preuilly, abends Sitzung in Valençay. Heute Frühstück in Marchiennes mit Sauvagnat ... Indes ist es mir gelungen, einen Wagen zu bekommen. Ich bin ausgepumpt, Ihr könnt es an meiner Stimme hören. Aber das tut nichts, ich werde dennoch sprechen.«

Er war schon auf der Schwelle des Hauses, als ihm noch etwas einfiel.

»Sapristi! Schier hätte ich die Karten vergessen. Was sollten wir da anfangen?«

Er kehrte zum Wagen zurück, den der Kutscher eben unter den Schuppen führen wollte, und holte unter dem [267] Sitz ein Kästchen aus schwarzem Holz hervor, das er unter dem Arm hineintrug.

Etienne ging strahlenden Gesichtes hinter ihm her, während der betroffene Rasseneur nicht wagte, ihm die Hand zu reichen. Doch Pluchart schüttelte die seine und sagte ihm rasch ein Wort über seinen Brief. Welch ein seltsamer Gedanke! Warum sollte man die Versammlung nicht abhalten? Man soll immer eine Versammlung abhalten, wenn man es kann. Die Witwe Désir bot ihm eine Erfrischung an; allein er lehnte ab; er spreche, ohne zu trinken, sagte er. Aber er habe es eilig, weil er am Abend bis nach Joiselle kommen wolle, um sich dort mit Legoujeux zu verständigen. Jetzt drängten alle in einem Haufen nach dem Saal. Maheu und Levaque, die spät gekommen waren, folgten den übrigen. Die Tür wurde mit dem Schlüssel versperrt, damit man unter sich sei; darüber lachten die Spaßvögel ganz laut.

Etwa hundert Bergleute saßen harrend auf den Bänken in der dumpfen Luft des Saales, wo die Gerüche des letzten Balles von den Dielen aufstiegen. Ein Flüstern lief durch die Menge; die Köpfe wandten sich um, während die Neuangekommenen sich auf die leeren Plätze setzten. Man betrachtete den Herrn aus Lille; sein schwarzer Rock verursachte Überraschung und Unbehagen.

Auf Vorschlag Etiennes wurde sogleich der Vorstand gebildet; er rief die Namen aus, die anderen gaben ihre Zustimmung durch Erheben der Hände. Pluchart wurde zum Präsidenten, Maheu und Etienne wurden zu Beisitzern gewählt. Es fand ein geräuschvolles Sesselrücken statt, der Vorstand nahm seine Plätze ein. Man suchte einen Augenblick den Präsidenten, der hinter dem Tisch verschwunden war, unter den er sein Kästchen geschoben hatte, das er nicht aus der Hand lassen wollte. Als er wieder erschien, schlug er leicht mit der Faust auf den Tisch, um Stille zu verlangen. Dann begann er mit heiserer Stimme:

[268] »Mitbürger! ...«

Eine kleine Tür ging auf, er mußte sich unterbrechen. Es war die Witwe Désir, die auf einem Umweg durch die Küche sechs Schoppen Bier auf einer Platte brachte.

»Lassen Sie sich nicht stören,« flüsterte sie, »wenn man spricht, hat man Durst.«

Maheu nahm ihr die Platte ab, und Pluchart konnte fortfahren. Er sei gerührt von der guten Aufnahme seitens der Arbeiter von Montsou, sagte er. Er entschuldigte seine Verspätung mit der vielen Arbeit und mit Halsweh. Dann erteilte er das Wort dem Bürger Rasseneur, der es verlangt hatte.

Rasseneur hatte schon neben dem Tisch in der Nähe der Bierschoppen Aufstellung genommen. Ein umgelegter Sessel diente ihm als Rednertribüne. Er schien sehr erregt und hustete, bevor er mit lauter Stimme ausrief:

»Kameraden!«

Sein Einfluß auf die Grubenarbeiter kam von der Leichtflüssigkeit seiner Rede, von der Gemütlichkeit, mit der er stundenlang sprach, ohne jemals zu ermüden. Er verzichtete auf Gebärden, blieb schwerfällig und lächelnd, hüllte sie in seine Redensarten ein und betäubte sie, bis alle riefen: »Ja, ja, es ist wahr, du hast recht.« Heute fühlte er jedoch gleich nach den ersten Worten einen dumpfen Widerstand. Er ging denn auch mit Vorsicht zu Werke. Er sprach zuerst gegen die Fortsetzung des Streiks und erwartete Zustimmung, bevor er zum Angriff gegen die Internationale übergehen werde. Gewiß, die Ehre gestatte es nicht, auf die Forderungen der Gesellschaft einzugehen; allein, welches Elend! Welche furchtbare Zukunft, wenn man noch lange im Widerstand verharren müsse! Ohne sich für die Unterwerfung auszusprechen, drückte er den Mut der Leute nieder; er sprach von den hungernden Arbeiterdörfern und fragte, woher die Anhänger des Widerstandes Hilfe erwarteten. Drei oder vier seiner Freunde versuchten ihm beizustimmen, was die eisige Stille der überwiegenden Mehrheit nur um so mehr hervortreten [269] ließ und dazu beitrug, das Mißfallen zu verschärfen, das seine Worte hervorriefen. Als Rasseneur verzweifelte, sie für sich zu gewinnen, geriet er in Zorn und prophezeite ihnen alles Unglück, wenn sie sich die Köpfe verdrehen ließen durch Herausforderungen, die aus der Fremde kommen. Zwei Drittel der Anwesenden erhoben sich verdrossen und wollten ihn am Weitersprechen hindern, weil er sie beschimpfe und wie Kinder behandele, die ihr Benehmen nicht zu regeln wüßten; er aber fuhr fort, in dem Tumult zu reden, wobei er von Zeit zu Zeit einen Schluck Bier nahm; der Kerl sei noch nicht geboren, schrie er, der ihn hindern werde, seine Pflicht zu tun.

Pluchart stand aufrecht hinter dem Tisch; da er keine Glocke hatte, schlug er mit der Faust auf den Tisch und wiederholte immerfort mit seiner heiseren Stimme:

»Mitbürger! Mitbürger! ...«

Endlich trat ein wenig Stille ein, und die von dem Vorsitzenden befragte Versammlung entzog Rasseneur das Wort.

»Du hast leicht lachen, denn du ißt«, brüllte Levaque, indem er Rasseneur drohend die Faust zeigte.

Etienne hatte sich hinter den Rücken des Vorsitzenden zurückgelehnt, um Maheu zu beschwichtigen, der ganz rot und durch die heuchlerischen Reden des Schankwirtes außer sich gebracht war.

»Mitbürger!« sagte Pluchart, »gestattet mir das Wort.«

Tiefe Stille trat ein, und er sprach. Schwer und rauh kamen die Worte aus seiner Kehle hervor, aber er hatte sich auf seinen Kreuz- und Querfahrten daran gewöhnt. Er führte seine Kehlkopfentzündung wie sein Programm im Lande umher. Allmählich ward die Stimme stärker, und er wußte tiefgehende Wirkungen zu erzielen. Seine Arme ausbreitend, seine Sätze mit einem Wiegen der Schultern begleitend, entwickelte er eine Beredsamkeit, die etwas von einer Predigt hatte, eine fromme Art, das Ende der Sätze fallen zu lassen, ein eintöniges Schnarren, das schließlich die Zuhörer überzeugte.

[270] Er sprach über die Größe und die Wohltaten der Internationale; es war die Rede, die er überall hielt, wo er zuerst erschien. Er erklärte den Zweck dieses Bundes, die Befreiung der Arbeiter; er erläuterte den großartigen Aufbau: unten die Gemeinde, darüber die Provinz, noch höher die Nation, ganz auf dem Gipfel die Menschheit. Langsam bewegten sich seine Arme, schienen die Stockwerke aufeinanderzustellen, richteten die ungeheure Kathedrale der künftigen Welt auf. Es werde keine Nationalitäten mehr geben, die Arbeiter der ganzen Welt seien in einem gemeinsamen Bedürfnis nach Gerechtigkeit vereinigt, würden die spießbürgerliche Fäulnis hinwegfegen, endlich die freie Gesellschaft begründen, wo jeder, der nicht arbeite, auch nicht essen werde. Er schrie jetzt, sein Atem ließ das Buntpapier unter der angerauchten Decke erzittern, von welcher der Schall seiner Stimme zurückschlug.

Die Köpfe der Anwesenden waren in eine unruhige Bewegung geraten. Einige riefen:

»Ganz recht; wir sind dabei!«

Er fuhr fort zu reden. Ehe drei Jahre vergingen, werde die ganze Welt erobert sein. Er zählte die bereits eroberten Massen auf; von allen Seiten kämen Beitrittserklärungen. Niemals habe eine neu erstehende Religion so viele Gläubige gefunden. Wenn sie erst einmal die Herren seien, würden sie den Arbeitgebern Gesetze diktieren und allen die Faust an die Gurgel legen.

»Ja, ja, die Herren werden dann in die Gruben einfahren«, hieß es unter den Anwesenden.

Mit einer Handbewegung forderte er Stille. Er ging jetzt an die Besprechung der Streikfrage. Im Prinzip war er gegen die Streiks, sie waren ein zu langsam wirkendes Mittel, das die Leiden des Arbeiters nur noch vermehrte. Allein in Erwartung eines Besseren müsse man sich dazu entschließen, wenn sie unvermeidlich würden, weil sie den Vorteil hätten, das Kapital zu entkräften. In diesem Falle verwies er auf die Internationale wie auf die Vorsehung der streikenden Arbeiter; [271] er führte Beispiele an: Bei dem Streik der Bronzearbeiter in Paris hätten die Arbeitgeber sofort alles bewilligt, als sie zu ihrem Schrecken hörten, daß die Internationale Hilfsgelder sandte; in London hätte sie die Belegschaft einer ganzen Kohlengrube gerettet, indem sie auf ihre Kosten einen Transport Belgier, welche der Eigentümer hatte kommen lassen, nach der Heimat zurücksandte. Bei dem bloßen Beitritt der Arbeiter erzittern die Unternehmer; die Arbeiter treten in die große Armee ein, entschlossen, einer für den an dern eher zu sterben, als Sklaven der kapitalistischen Gesellschaft zu bleiben.

Stürmisches Beifallklatschen unterbrach ihn. Er trocknete sich die Stirn mit dem Taschentuch und lehnte das Glas Bier ab, das Maheu ihm zuschob. Als er fortfahren wollte, wurde er von neuem Beifall unterbrochen.

»Es sitzt«, flüsterte er Etienne zu; »sie haben genug. Jetzt rasch die Karten her!«

Er schlüpfte unter den Tisch und erschien alsbald mit seinem kleinen Kästchen aus schwarzem Holz.

»Mitbürger!« rief er, das Getümmel überschreiend, »hier sind die Mitgliedskarten. Eure Abgesandten mögen näher treten, ich will ihnen die Karten übergeben, und sie werden sie dann unter euch verteilen. Die Zahlung wird später geregelt.«

Rasseneur stürzte herbei und legte nochmals Verwahrung ein. Auch Etienne hatte sich erhoben, wie um eine Rede zu halten. Die höchste Verwirrung trat ein. Levaque fuchtelte mit den Händen wie einer, der bereit ist zu raufen. Maheu hatte sich gleichfalls erhoben und sprach, ohne daß man ein Wort seiner Rede hätte verstehen können.

Plötzlich ging die kleine Tür auf. Die Witwe Désir füllte sie mit ihrem Leibe aus und schrie aus voller Kehle:

»Schweigt, die Gendarmen sind da!«

Der Polizeikommissar des Bezirks kam ein wenig verspätet an, um Protokoll aufzunehmen und die Versammlung [272] aufzulösen. Vier Gendarmen begleiteten ihn. Die Witwe hatte sie fünf Minuten vor der Tür aufgehalten, indem sie ihnen auf ihre Fragen sagte, sie sei hier zu Hause und habe wohl das Recht, Freunde bei sich zu versammeln. Doch man hatte sie beiseitegeschoben, und sie war herbeigeeilt, um ihre Kinder zu benachrichtigen.

»Ihr müßt durch diese Tür fort«, sagte sie; »im Hof steht ein schmutziger Gendarm. Das tut aber nichts; der kleine Holzverschlag öffnet sich auf das Seitengäßchen. Sputet euch!«

Schon pochte der Kommissar mit den Fäusten an die Tür, und weil man nicht öffnete, drohte er die Tür einzustoßen. Ein Spion mußte geplaudert haben, denn er schrie, daß zahlreiche Arbeiter da seien, die keine Einladung hätten.

Der Lärm im Saal wurde immer größer. Man könne nicht so davonlaufen, man habe noch nicht gestimmt, weder für den Beitritt noch für die Fortsetzung des Streiks. Alle redeten auf einmal. Endlich hatte der Vorsitzende den Einfall, daß man durch Zuruf stimmen soll. Einzelne streckten die Arme in die Luft, die Abgesandten erklärten in aller Eile, daß sie im Namen der abwesenden Kameraden beiträten. In dieser Weise wurden die zehntausend Bergleute von Montsou Mitglieder der Internationale.

Mittlerweile hatte die Flucht begonnen. Den Rückzug deckend, hatte die Witwe Désir sich gegen die Tür gestemmt, welche die Flintenkolben der Gendarmen erschütterten. Die Bergleute sprangen über die Bänke und entflohen einer nach dem andern in die Küche. Rasseneur war als einer der ersten verschwunden, Levaque folgte ihm; er vergaß seine Verwünschungen und dachte nur daran, sich ein Glas Bier anbieten zu lassen, um sich zu erfrischen. Etienne hatte sich des kleinen Holzkästchens bemächtigt und wartete mit Pluchart und Maheu, die es als Ehrensache betrachteten, als die letzten fortzugehen. Eben hatten sie den [273] Saal verlassen, da sprang das Schloß, und der Kommissar befand sich der dicken Wirtin gegenüber, deren Leib ihm noch immer den Weg versperrte.

»Was nützt es Euch, daß Ihr bei mir alles zerschlagt?« rief sie. »Ihr seht wohl, daß niemand da ist.«

Der Polizeikommissar, ein bedächtiger Mann, der alle Aufregungen scheute, drohte ihr, sie ins Gefängnis abführen zu lassen. Dann ging er fort, um sein Protokoll aufzusetzen, und nahm seine vier Gendarmen mit, gefolgt von höhnischen Bemerkungen Zacharias' und Mouquets, die, den Streich ihrer Kameraden bewundernd, sich über die bewaffnete Macht belustigten.

Im Seitengäßchen begann Etienne mit dem Kästchen unter dem Arm zu laufen, gefolgt von den übrigen. Plötzlich erinnerte er sich Pierrons und fragte, weshalb man diesen nicht gesehen. Maheu, der neben ihm herlief, erwiderte, daß er krank sei. Er leide an der Furcht sich bloßzustellen. Man wollte Pluchart noch zurückhalten, doch dieser erklärte, daß er augenblicks nach Joiselle weiterreise, wo Legoujeux seine Befehle erwarte. Man rief ihm glückliche Reise zu, ohne im Lauf innezuhalten. Etienne und Maheu lachten, sie waren jetzt des Triumphes sicher; wenn erst die Internationale Hilfsgelder schicke, werde die Gesellschaft sich aufs Bitten verlegen müssen, damit die Arbeiter wieder zur Grube gingen. In dieser Aufwallung der Hoffnung, in diesem Galopp der plumpen Schuhe auf dem Pflaster von Montsou lag noch etwas anderes: eine düstere Wildheit, eine Heftigkeit, deren Echo alle Arbeiterdörfer ringsumher in Fieber versetzen sollte.

[274] Fünftes Kapitel

Wieder verflossen zwei Wochen. Man war in den ersten Tagen des Januar; kalte Nebel lagerten auf der unermeßlichen Ebene. Das Elend war noch schlimmer geworden; in der wachsenden Hungersnot verkümmerten die Arbeiterdörfer immer mehr. Viertausend Franken, welche die Internationale aus London gesandt hatte, genügten knapp, um für vier Tage Brot zu schaffen. Dann war nichts mehr gekommen. Das lange, leere Hoffen beugte alle Gemüter. Auf wen sollte man noch zählen, da die Brüder selbst sie verließen? Von der Welt abgeschnitten, fühlten sie sich völlig verloren mitten im tiefen Winter.

In dem Dorf der Zweihundertvierzig war man am Dienstag mit allen Hilfsmitteln zu Ende. Etienne und die Bevollmächtigten arbeiteten fieberhaft; man eröffnete neue Sammlungen in den benachbarten Städten bis nach Paris; man hielt Vorträge, Beratungen. Doch alle Anstrengungen blieben ohne Erfolg; die öffentliche Meinung, anfänglich gerührt, wurde gleichgültig, als der Streik sich in die Länge zog und einen ruhigen Lauf ohne aufregende Zwischenfälle nahm. Die spärlich fließenden Almosen genügten kaum, um die allerärmsten Familien zu erhalten. Die anderen fristeten ihr Leben, indem sie ihre Schmucksachen verpfändeten, ihren Hausrat Stück um Stück veräußerten. Alles wanderte zu den Trödlern: die Wolle der Matratzen, die Küchengeräte, selbst die Möbel. Einen Augenblick glaubte man sich gerettet; die kleinen Krämer von Montsou, die Maigrat zu erdrücken drohte, hatten Kredit angeboten, um ihm so die Kundschaft abzunehmen; der Gewürzkrämer Verdonck und die beiden Bäcker Carouble und Smelten hielten eine Woche lang offenen Laden; allein ihre Vorräte erschöpften sich, sie mußten bald wieder aufhören. Nur die Gerichtsvollzieher hatten ihre Freude daran; es blieb nichts übrig als eine Schuldenlast, welche die Bergleute lange Zeit bedrücken würde. [275] Man hatte keinen Kredit mehr; man hatte nicht eine alte Schüssel mehr zu verkaufen; man konnte sich in einen Winkel hinlegen und verrecken wie ein räudiger Hund.

Etienne hätte sein Blut hingegeben; er hatte auf sein Sekretärsgehalt verzichtet und war nach Marchiennes gegangen, um seinen Überrock und sein Beinkleid zu verpfänden; er war froh, daß er dadurch der Familie Maheu die Mittel bieten konnte, noch einige Tage den Fleischtopf ans Feuer zu setzen. Nur seine Stiefel behielt er, um gesunde Beine zu haben, wie er sagte. Sein großer Kummer war, daß der Ausstand zu früh gekommen war, als die Unterstützungskasse noch nicht Zeit gehabt hatte, sich zu füllen. Er erblickte darin die einzige Ursache des Unglücks; die Arbeiter würden sicherlich den Sieg über die Arbeitgeber davontragen, wenn sie in der Kasse die nötigen Mittel hätten, den Streik fortzusetzen. Er erinnerte sich der Worte Suwarins, der die Gesellschaft beschuldigte, daß sie zum Streik gedrängt habe, um die ersten Fonds der Unterstützungskasse zum Schwinden zu bringen.

Der Anblick des Dorfes, dieser armen Leute ohne Brot und ohne Holz, raubte ihm seine Ruhe. Er ging lieber fort, um sich in weiten Spaziergängen zu ermüden. Als er eines Abends auf der Heimkehr an Réquillart vorbeikam, sah er eine alte Frau bewußtlos am Wegrande liegen. Ohne Zweifel starb sie Hungers. Er hob sie auf und rief ein Mädchen herbei, das er jenseits der Pfahlhecke bemerkte.

»Du bist's?« sagte er, als er die Mouquette erkannte. »Hilf mir doch; man müßte ihr etwas zu trinken geben.«

Zu Tränen gerührt, eilte die Mouquette heim in die wackelige Hütte, die ihr Vater inmitten der Trümmer bewohnte. Sie kam von dort sogleich mit einem Brot und einem Fläschchen Wacholderbranntwein zurück. Der Branntwein brachte die Alte wieder zur Besinnung; ohne ein Wort zu sprechen, biß sie gierig in das Brot. Es war die Mutter eines Bergmannes; sie wohnte [276] in einem Arbeiterdorf bei Cougny und war hier zusammengesunken auf der Rückkehr von Joiselle, wo sie vergebens versucht hatte, von einer Schwester zehn Sous zu borgen.

Etienne war allein geblieben auf diesem wüsten Feld von Réquillart, dessen eingestürzte Schuppen unter dem Gestrüpp verschwanden.

»Willst du nicht bei uns eintreten, um ein Gläschen zu trinken?« fragte ihn die Mouquette heiteren Tones.

Als er zögerte, fuhr sie fort:

»Hast du denn noch immer Furcht vor mir?«

Er folgte ihr, durch ihr Lachen angelockt. Ihn rührte die Herzlichkeit, mit der sie das Brot hergegeben hatte. Sie wollte ihn nicht in der Stube ihres Vaters empfangen und führte ihn in ihre eigene Kammer, wo sie sogleich zwei Gläschen Branntwein einschenkte. Diese Kammer war sehr sauber; er lobte sie dafür. Es schien übrigens der Familie an nichts zu mangeln: der Vater setzte seinen Dienst als Stallknecht im Voreuxschacht fort; sie selbst war, um nicht die Hände in den Schoß zu legen, Wäscherin geworden, wobei sie täglich dreißig Sous verdiente. Trieb sie auch gern ihren Spaß mit den Männern, so war sie deswegen doch keine Müßiggängerin.

»Warum willst du mich nicht lieben?« fragte sie ihn plötzlich, indem sie ihn artig um den Leib faßte.

Er konnte ein Lachen nicht unterdrücken, so niedlich hatte sie ihre Frage angebracht.

»Ich liebe dich ja«, antwortete er.

»Nein, nicht so, wie ich will ...«

Er betrachtete sie noch immer, wie sie sich an ihn schmiegte, ihn mit ihren zitternden Armen umfing und ihm dabei so liebeheischend in die Augen schaute, daß er davon gerührt wurde. Ihr dickes, rundes Gesicht hatte nichts Schönes; es war gelb, von der Kohle zerstört; aber ihre Augen leuchteten; von ihrer Haut ging ein Reiz, ein Beben aus, das sie ganz rosig und jung erscheinen ließ. Da sie sich ihm so untertänig, so liebeglühend [277] hingab, fand er nicht mehr den Mut, sie zurückzuweisen.

Als er sie verließ, floß sie von Dank über und küßte ihm die Hände.

Etienne schämte sich ein wenig dieses Abenteuers. Man rühmte sich nicht gern, die Mouquette geküßt zu haben. Er schwor sich, es nicht wieder zu tun; aber er bewahrte ihr ein freundliches Angedenken; sie war ein wackeres Mädchen.

Als er nach dem Dorf zurückkehrte, ließen die ernsten Dinge, die er erfuhr, ihn rasch das Abenteuer vergessen. Es lief das Gerücht um, daß die Gesellschaft vielleicht ein Zugeständnis machen werde, wenn die Bevollmächtigten einen neuen Schritt bei dem Direktor versuchen wollten. Einzelne Aufseher hatten dieses Gerücht verbreitet. Die Wahrheit war, daß das Bergwerk in diesem Kampfe mehr litt als die Arbeiter. Von beiden Seiten häufte die Hartnäckigkeit das Elend: während die Arbeiter Hungers starben, ging das Kapital zugrunde. Mit jedem Arbeitsruhetag schwanden Hunderttausende von Franken. Jede Maschine, die stillsteht, ist eine tote Maschine. Das Material und die Arbeitsgeräte verdarben; das festgelegte Kapital schmolz zusammen wie Wasser, das der Sand trinkt. Seitdem der Kohlenvorrat im Werkhof der Gruben sich erschöpfte, sprach die Kundschaft davon, sich nach Belgien zu wenden; darin lag für die Zukunft eine Drohung. Doch was die Gesellschaft hauptsächlich erschreckte, und was sie sorgfältig verheimlichte, das waren die wachsenden Schäden in den Galerien und Schlägen. Die Aufseher genügten nicht, um die Ausbesserungen zu machen, die Verzimmerungen barsten allerorten, jede Stunde erfolgte ein Einsturz. Allerlei Schreckensnachrichten waren schon im Umlauf: zu Crèvecoeur war ein Gang von 300 Meter Länge eingestürzt und verrammelte den Zugang zur Cinq-Paumes-Ader; im Magdalenenschacht zerbröckelte die Maugrétout-Ader und füllte sich mit Wasser. Die [278] Direktion wollte es nicht eingestehen, als zwei Unglücksfälle, die knapp aufeinanderfolgten, sie nötigten, die Wahrheit zu bekennen. Eines Morgens fand man in der Nähe der Besitzung Piolaine den Boden geborsten oberhalb der Nordgalerie von Mirou, die am vorhergehenden Tage eingestürzt war; am nächsten Tage folgte im Voreuxschacht ein Abrutsch, der einen ganzen Winkel des Vorortes erschütterte, so daß zwei Häuser zu versinken drohten.

Etienne und die Bevollmächtigten zögerten, einen Schritt zu tun, bevor sie die Absichten der Verwaltung kannten. Dansaert, den sie befragten, wich der Antwort aus; gewiß, man bedauere das Mißverständnis, man werde alles Mögliche tun, um eine Verständigung herbeizuführen, aber er wußte nichts Bestimmtes zu sagen. Sie beschlossen endlich, sich zu Herrn Hennebeau zu begeben, um das Recht auf ihre Seite zu bringen; denn sie wollten nicht, daß man ihnen später vorwerfe, sie hätten der Gesellschaft die Gelegenheit genommen, ihr Unrecht zu bekennen. Allein sie schworen, in keinem Punkte nachzugeben und an allen ihren Bedingungen festzuhalten, welche die einzig gerechten seien.

Die Begegnung fand am Dienstagmorgen statt, an dem Tage, da im Dorf äußerste Not herrschte. Diese Begegnung war weniger freundschaftlich als die erste. Maheu führte auch diesmal das Wort; er erklärte, die Kameraden hätten sie gesandt, um zu fragen, ob die Herren ihnen nichts Neues zu sagen hätten. Anfänglich spielte Herr Hennebeau den Überraschten; er habe keinerlei Weisung empfangen, sagte er, und die Dinge würden sich auch nicht ändern, solange die Grubenarbeiter in ihrer verdammenswerten Empörung verharrten. Diese herrische Schroffheit brachte zu nächst die unliebsamste Wirkung hervor, aber im weiteren Verlaufe der Unterredung entwickelte der Direktor eine Möglichkeit gegenseitiger Verständigung; die Arbeiter sollten sich dazu verstehen, daß die Verzimmerung [279] besonders gezahlt werde; dagegen würde die Gesellschaft diese Bezahlung um jene zwei Centimes erhöhen, die sie angeblich einstecken wollte. Er fügte hinzu, daß er es übernehme, diesen Vorschlag zu machen, daß zwar noch nichts entschieden sei, er aber hoffe dies Zugeständnis in Paris zu erlangen. Doch die Bevollmächtigten lehnten ab und wiederholten ihre Forderungen: die Beibehaltung des alten Systems und eine Erhöhung von fünf Centimes für den Karren. Da gestand er, daß er die Vollmacht habe, sogleich zu verhandeln, drang in sie, seinen Vorschlag anzunehmen, und sprach von ihren Weibern und Kindern, die Hungers starben. Doch sie sagten nein, immer wieder nein, indem sie zu Boden blickten und die harten Köpfe schüttelten. Man schied in feindseliger Stimmung; Herr Hennebeau schlug heftig die Türen zu. Etienne, Maheu und die anderen gingen fort in der stummen Wut von Besiegten, die man zum Äußersten treibt.

Gegen zwei Uhr versuchten die Weiber des Dorfes einen Schritt bei Maigrat. Sie hatten nur noch die eine Hoffnung, diesen Menschen zu erweichen, ihm noch eine Woche Kredit abzuringen. Es war ein Einfall der Maheu, die oft zuviel auf das gute Herz der Menschen zählte. Sie überredete die Brulé und die Levaque, sie zu begleiten; die Pierron entschuldigte sich; sie könne ihren Mann nicht verlassen, dessen Krankheit nicht heilen wolle. Andere Frauen schlossen sich der Gruppe an; es waren ihrer etwa zwanzig. Als die Bürger von Montsou sie ankommen und düster und elend die ganze Breite der Straße einnehmen sahen, schüttelten sie unruhig die Köpfe. Man verschloß die Türen; eine Dame verbarg ihr Silberzeug. Man begegnete ihnen zum ersten Male in dieser Weise; es war ein böses Zeichen. Wenn die Weiber anfingen, sich auf den Heerstraßen umherzutreiben, dann ging alles drunter und drüber. Bei Maigrat gab es eine heftige Szene. Er hatte sie zuerst eingelassen, hatte Späße mit ihnen gemacht und sich gestellt, als glaube er, sie kämen, ihre Schulden zu [280] zahlen; es sei hübsch, daß sie sich verständigt hätten, ihm alle auf einmal sein Geld zu bringen. Doch als die Maheu das Wort nahm, spielte er den Zornigen. Wollten die Leute ihn zum besten halten? Weiteren Kredit verlangten sie? Wollten sie ihn denn zum Bettler machen? Nein; nicht eine Kartoffel, nicht ein Brotkrümchen mehr! Er schickte sie zu dem Gewürzkrämer Verdonck, zu den Bäckern Carouble und Smelten, da sie jetzt dort einkauften. Die Weiber hörten ihm mit demütiger Scheu zu, entschuldigten sich, suchten in seinen Augen zu lesen, ob er sich rühren lasse. Er begann wieder Späße zu machen, bot der Brulé seinen Laden an, wenn sie ihn zum Liebhaber nehmen wolle. Alle waren von einer solchen Feigheit ergriffen, daß sie über diesen Witz lachten; die Levaque überbot ihn noch, indem sie sich bereit erklärte. Doch er wurde sogleich wieder grob und drängte sie zur Tür; als sie fortfuhren, ihn zu bitten, wurde er gegen eine der Frauen ausfallend. Die anderen riefen, er sei eine Schacherseele; die Maheu erhob in rächerischer Entrüstung die Arme und rief den Tod über ihn; ein solcher Mensch verdiene nicht zu essen, schrie sie.

Die Rückkehr nach dem Dorf war traurig. Als die Männer ihre Frauen mit leeren Händen ankommen sahen, ließen sie die Köpfe hängen. Es war aus; der Tag ging zu Ende, ohne daß sie einen Löffel Suppe hatten. Die anderen Tage zogen in eisiger Finsternis dahin, die kein Hoffnungsstrahl erhellte. Sie hatten es gewollt; niemand sprach davon, sich zu ergeben. Die äußerste Not machte sie noch hartnäckiger; stumm, gleich gehetzten Tieren waren sie entschlossen, lieber in ihren Löchern zu sterben als hervorzukommen. Wer würde gewagt haben, zuerst von Unterwerfung zu reden? Die Kameraden hatten geschworen zusammenzuhalten, und sie würden es tun, wie sie in der Grube zusammenhielten, wenn einer unter den Trümmern lag. So gebührte es sich; sie hatten da unten eine gute Schule, Ergebung zu lernen. Wenn man seit seinem [281] zwölften Lebensjahre gewohnt war, Wasser und Feuer zu schlucken, konnte man sich acht Tage lang den Bauch zusammenschnüren. Ihrer Ergebung gesellte sich der Stolz von Soldaten zu, das Selbstbewußtsein von Männern, die sich ihres Gewerbes rühmen und in ihrem täglichen Kampfe mit dem Tode zum Opfermut gestählt sind.

Der Abend war sehr traurig in der Familie Maheu. Alle saßen schweigend um das spärliche Feuer, das mit dem letzten Rest von rauchendem Kohlenstaub unterhalten wurde. Nachdem sie eine Handvoll nach der andern von der Wolle der Matratzen verkauft, hatten sie vor zwei Tagen ihre Kuckucksuhr für drei Franken hingegeben, und die Stube schien kahl und tot, seitdem das trauliche Ticktack sie nicht mehr erfüllte. Was noch an Zierat übriggeblieben, war eine auf dem Eßschrank stehende Schachtel von rosa Papier, ein ehemaliges Geschenk von Maheu, das seinem Weibe kostbar war wie ein Juwel. Die zwei guten Sessel, die man noch gehabt, waren weg; Vater Bonnemort und die Kinder saßen gedrängt auf einer alten, mit schimmeligem Moose bewachsenen Bank, die man aus dem Garten hereingeschafft hatte. Die fahle Dämmerung schien die Kälte noch zu steigern.

»Was tun?« wiederholte Frau Maheu, die neben dem Ofen hockte.

Etienne betrachtete die an der Wand hängenden Bilder des Kaisers und der Kaiserin. Er hätte sie längst heruntergerissen, wenn die Familie es ihm nicht verwehrt hätte. Die Maheus wollten die Bilder als Zimmerschmuck behalten. Er brummte mit zusammengekniffenen Lippen:

»Wenn man bedenkt, daß man nicht zwei Sous von diesen Kerlen haben kann, die ruhig zusehen, wie wir verrecken.«

»Ich sollte vielleicht die Schachtel verkaufen?« sagte die Frau bleich und zögernd.

[282] Maheu, der mit auf die Brust gesenktem Haupte am Tische saß, richtete sich auf.

»Nein, ich will nicht«, sagte er.

Frau Maheu erhob sich mühsam und machte einen Rundgang im Zimmer. War es möglich, in solches Elend zu geraten? Nicht ein Krümchen mehr im Eßschrank, nichts mehr zu verkaufen; kein Mittel, sich Brot zu verschaffen. Auch das Feuer drohte zu verlöschen! Sie wurde böse auf Alzire, die sie am Morgen nach dem Hügel gesandt hatte, um dort Kohlenstückchen zu sammeln, und die mit leeren Händen zurückgekehrt war, weil – wie sie sagte – die Gesellschaft die Nachlese verboten habe. Was hatte man sich um die Gesellschaft zu kümmern? Bestahl man denn jemand, wenn man diese verlorenen Kohlenstückchen auflas? Die Kleine war trostlos und erzählte, ein Mann habe ihr mit Schlägen gedroht; dann versprach sie, am folgenden Tage wieder hinzugehen und sich prügeln zu lassen.

»Wo treibt der Lump Johannes sich wieder umher?« rief die Mutter. »Er sollte Salat bringen; wir würden ihn roh gegessen haben wie die Tiere. Ihr sollt sehen, er kommt nicht heim. Er ist schon gestern über Nacht ausgeblieben. Ich weiß nicht, was der Kerl treibt, aber mir scheint immer, daß er vollgefressen ist.«

»Vielleicht bettelt er Sous auf der Straße!« bemerkte Etienne.

Da geriet sie außer sich und streckte drohend die Fäuste in die Luft.

»Wenn ich das wüßte! ... Meine Kinder betteln! Lieber möchte ich sie umbringen und hernach mich selbst!«

Maheu sank wieder auf seinen Sessel neben dem Tisch. Leonore und Heinrich, erstaunt darüber, daß man nicht aß, begannen zu winseln, während der alte Bonnemort still dasaß und philosophisch die Zunge im Munde wälzte, um seinen Hunger zu täuschen. Niemand sprach mehr; alle saßen wie niedergedrückt unter der Bürde ihres Leidens; der Großvater hustend, [283] schwarz speiend, von seiner Gicht wieder gepackt, die in Wassersucht auszuarten drohte; der Vater asthmatisch, die Knie vom Wasser geschwollen; die Mutter und die Kinder von ihren Erbübeln, den Skrofeln und der Blutarmut, heimgesucht. Die Leute im Dorf fielen schon wie die Fliegen. Man mußte doch etwas finden, um zur Nacht zu essen. Was tun, wohin gehen? Mein Gott!

In dem Dunkel, das die Stube immer verfinsterte, entschloß sich endlich Etienne, dem das Herz zu brechen drohte, zu handeln.

»Wartet auf mich«, sagte er. »Ich will irgendwo schauen.«

Er ging hinaus. Er dachte an die Mouquette. Sie mußte ein Brot haben und würde es ihm gern geben. Es verdroß ihn, unter einem solchen Zwang nach der verfallenen Hütte in Réquillart zurückzukehren. Dies Mädchen mit der Miene einer verliebten Magd würde ihm die Hände küssen.

»Auch ich will schauen«, sagte jetzt Frau Maheu. »Es ist zu dumm!«

Sie öffnete hinter dem jungen Mann wieder die Tür und warf sie heftig zu; die anderen blieben unbeweglich und stumm zurück im spärlichen Licht eines Kerzenstümpfchens, das Alzire angezündet hatte. Draußen blieb sie einen Augenblick nachdenklich stehen; dann trat sie bei der Levaque ein.

»Ich lieh dir neulich ein Brot, vielleicht gibst du es mir heute zurück.«

Doch sie unterbrach sich; was sie sah, war nicht sehr ermutigend; dieses Haus verriet noch mehr Elend als das ihrige.

Frau Levaque schaute mit stieren Augen in ihr erloschenes Feuer; während Levaque, dem einige Nagelschmiede einen Rausch beigebracht hatten, mit leerem Magen auf dem Tisch schlief. Bouteloup stand an die Wand gelehnt und rieb sich mechanisch die Schultern wie ein gutmütiger Junge, dessen Ersparnisse man aufgezehrt [284] hat, und der nun erstaunt ist, sich den Leib zusammenschnüren zu müssen.

»Ein Brot? Ach, meine Gute, ich wollte ein zweites von dir borgen«, antwortete die Levaque.

Als ihr Mann im Schlaf ein schmerzliches Grunzen vernehmen ließ, drückte sie ihm das Gesicht auf den Tisch.

»Still, Schwein!« rief sie. »Wenn es dir die Gedärme verbrennt, um so besser! Anstatt dich volltrichtern zu lassen, hättest du besser getan, von einem deiner Freunde zwanzig Sous zu pumpen.«

In diesem Tone fuhr sie fort, fluchte und wetterte inmitten der Unsauberkeit ihres Hauswesens, das sie schon seit langer Zeit so vernachlässigte, daß ein unerträglicher Geruch von den Fliesen ausströmte. Ihretwegen könne alles aus den Fugen gehen, meinte sie. Ihr Sohn, dieser Halunke Bebert, sei gleichfalls seit dem Morgen verschwunden; man sei eine Last los, wenn er nicht wiederkomme. Dann sagte sie, sie gehe schlafen. Im Bett sei es wenigstens warm. Darauf stieß sie Bouteloup an.

»Vorwärts, laß uns hinaufgehen! Das Feuer ist erloschen; wozu sollen wir die Kerze anzünden? Etwa um die leeren Teller besser zu sehen? ... Kommst du endlich, Louis? Ich sage dir, wir gehen schlafen. Man kriecht im Bett zusammen; das ist immerhin eine Erleichterung. Dieser verdammte Trunkenbold mag meinethalben hier vor Kälte krepieren.«

Als Frau Maheu wieder draußen war, schritt sie quer durch die Gärten, um sich zur Pierron zu begeben. Sie vernahm Gelächter. Als sie anklopfte, trat sogleich Stille ein. Es dauerte eine volle Minute, bis man ihr öffnete.

»Du bist's?« rief die Pierron, eine lebhafte Überraschung heuchelnd. »Ich dachte, es sei der Arzt.«

Ohne sie zu Wort kommen zu lassen, zeigte sie auf ihren Mann, der vor einem großen Kohlenfeuer saß.

»Es geht ihm schlecht«, sagte sie. »Es geht ihm noch [285] immer schlecht. Das Gesicht hat eine gute Farbe; im Bauch sitzt das Leiden. Er muß es immer gut warm haben; was wir noch besitzen, geht in Kohle auf.«

Pierron sah in der Tat fett und gesund aus und hatte eine blühende Gesichtsfarbe. Vergebens schnaufte er, um sich krank zu stellen. Als die Maheu eintrat, verspürte sie einen starken Geruch von Kaninchenbraten. Man hatte sicher die Schüssel versteckt. Auf dem Tisch lagen Brosamen; in der Mitte stand eine Flasche Wein, die man vergessen hatte.

»Die Mutter ist nach Montsou gegangen, um ein Brot zu beschaffen«, setzte die Pierron hinzu. »Wir können ihre Rückkehr kaum noch erwarten.«

Doch sie unterbrach sich. Sie war den Blicken der Nachbarin gefolgt und bemerkte gleichfalls die Flasche. Sie faßte sich sogleich und erzählte die Geschichte: Ja, da sei Wein; die Besitzer der Piolaine hätten die Flasche für ihren Mann gebracht, dem der Arzt Bordeauxwein verordnet habe. Sie erschöpfte sich in Danksagungen. Es seien wackere Leute! Besonders das Fräulein; gar nicht stolz, suche sie die Häuser der Arbeiter auf, um Almosen zu verteilen.

»Ich weiß, ich kenne sie«, sagte die Maheu.

Ihr Herz zog sich zusammen, als sie daran dachte, daß das Gute immer zu denen komme, die es weniger benötigten. Das sei immer so; diese Besitzer der Piolaine hätten Wasser in den Fluß getragen. Wie sei es möglich, daß sie sie nicht im Dorfe gesehen habe? Vielleicht würde sie doch etwas von ihnen erlangt haben.

»Ich bin gekommen,« gestand sie endlich, »um zu sehen, ob auch bei euch Schmalhans Küchenmeister ist, wie bei uns. Hast du nicht Nudeln vorrätig, um mir davon zu leihen?«

Die Pierron tat sehr verzweifelt.

»Nichts, meine Teure, nicht das kleinste Fädchen ... Daß die Mutter nicht kommt, beweist, daß sie nichts erhalten hat. Wir werden ohne Nachtessen schlafen gehen.«

[286] In diesem Augenblick hörte man ein Weinen, das aus dem Keller kam. Die Pierron geriet in Zorn und pochte mit der Faust an die Kellertür. Sie habe diese Straßenläuferin Lydia einsperren müssen, erzählte sie, um sie dafür zu strafen, daß sie erst um fünf Uhr heimgekommen, nachdem sie den ganzen Tag herumgestrichen. Sie sei nicht mehr zu bändigen; sie verschwinde jeden Augenblick.

Die Maheu stand da und konnte sich nicht entschließen wegzugehen. Bei dem großen Feuer empfand sie ein schmerzliches Behagen; der Gedanke, daß man hier zu essen hatte, peinigte noch mehr ihren leeren Magen. Augenscheinlich hatten sie die Alte weggeschickt und die Kleine eingesperrt, um ungestört ihren Kaninchenbraten zu essen. Ach, man konnte sagen, was man wollte: eine Frau, die einen lasterhaften Lebenswandel führt, bringt ihrem Hause immer Glück.

»Gute Nacht!« sagte sie plötzlich.

Draußen hatte die Nacht sich herabgesenkt; der Mond war von Wolken bedeckt und warf nur einen fahlen Schein auf die Erde. Anstatt wieder durch die Gärten zu gehen, nahm Frau Maheu ihren Weg über die Straße; sie war in trostloser Stimmung und hatte nicht den Mut heimzukehren. Die Haustüren längs der Häuserzeile rochen förmlich nach Hungersnot und klangen hohl. Was nützte es, da anzuklopfen? Not und Elend überall. Seit Wochen aß man kaum noch; selbst der Zwiebelgeruch war verschwunden, dieser scharfe Geruch, der in der Landschaft schon von weitem das Dorf ankündigte. Jetzt gab es nur einen Geruch wie von alten, feuchten Kellerlöchern, in denen kein Leben ist. Die Geräusche verstummten: die erstickten Tränen, die verhaltenen Flüche, und in der tiefen Stille, die sich immer mehr ausbreitete, hörte man den Schlaf des Hungers kommen, die Vernichtung der Leiber, die unter dem Alpdruck der leeren Bäuche quer über den Betten lagen.

[287] Als sie an der Kirche vorüberkam, sah sie einen Schatten rasch dahingleiten. Eine Hoffnung ließ sie die Schritte beschleunigen, denn sie hatte den Pfarrer von Montsou erkannt, den Abbé Joire, der am Sonntag in der Kapelle des Dorfes die Messe laß. Ohne Zweifel kam er aus der Sakristei, wo er etwas zu ordnen haben mochte. In gebückter Haltung eilte er dahin, mit der Miene eines wohlgenährten sanften Herrn, der mit aller Welt in Frieden leben will. Wenn er seinen Weg zur Nachtzeit machte, so geschah es wohl, um sich nicht unter den Grubenarbeitern bloßzustellen. Man sagte übrigens, daß er eine Beförderung erhalten habe, und wollte ihn auch schon mit seinem Nachfolger, einem mageren, glutäugigen Abbé gesehen haben.

»Herr Pfarrer! Herr Pfarrer!« stammelte die Maheu.

Aber er blieb nicht stehen.

»Guten Abend, liebe Frau«, sagte er.

Sie stand jetzt vor ihrem Hause; ihre Beine trugen sie nicht länger, und sie trat ein.

Niemand hatte sich von seinem Platz gerührt. Maheu saß noch immer in tiefer Niedergeschlagenheit am Rande des Tisches. Der alte Bonnemort und die Kinder rückten auf ihrer Bank enger zusammen, um weniger zu frieren. Niemand hatte ein Wort gesprochen; die Kerze war so tief herabgebrannt, daß sie bald auch kein Licht mehr geben würde. Als die Tür aufging, wandten die Kinder den Kopf; aber als sie sahen, daß die Mutter nichts mitbrachte, schauten sie wieder zur Erde und schluckten ihre Tränen still hinunter, aus Furcht gescholten zu werden. Die Maheu sank auf ihren früheren Platz neben dem erlöschenden Feuer nieder. Man befragte sie nicht; die Stille dauerte fort. Alle hatten begriffen; es war unnötig, sich noch die Mühe des Sprechens zu machen; sie verharrten in mutloser Erwartung der letzten Hilfe, die Etienne vielleicht irgendwo auftreiben werde. Die Minuten flossen dahin; sie zählten schließlich nicht mehr auf ihn.

[288] Als Etienne wieder erschien, brachte er in einem Abwischlappen ein halbes Dutzend kalter, gebratener Kartoffeln.

»Das ist alles, was ich gefunden habe«, sagte er.

Auch bei der Mouquette fehlte das Brot; sie hatte ihm ihr eigenes Essen gewaltsam in den Lappen gewickelt und ihn herzhaft abgeküßt.

Die Maheu bot ihm seinen Teil an. Aber er lehnte dankend ab; er habe schon gegessen, versicherte er.

Er log; mit verdüsterter Miene betrachtete er die Kinder, die sich auf die Nahrung stürzten. Auch die Eltern verzichteten, um den Kindern mehr davon zu lassen; allein der Alte verschlang gierig das Ganze; man mußte ihm gewaltsam eine Kartoffel für Alzire wegnehmen.

Etienne erzählte, er habe Neuigkeiten erfahren. Ergrimmt über die Hartnäckigkeit der Ausständigen, spreche die Gesellschaft davon, den Arbeitern die Arbeitsbücher zurückzustellen. Sie wollte entschieden den Krieg. Ein noch ernsteres Gerücht war im Umlauf; sie rühmte sich, eine große Anzahl Arbeiter zum Einfahren bestimmt zu haben; der Siegesschacht und Feutry-Cantel sollten schon am nächsten Tage ihre volle Belegschaft haben; auch im Magdalenenschacht und in der Mirouzeche würde ein Drittel der Arbeiter einfahren. Die Maheu waren außer sich.

»Herrgott!« schrie der Vater. »Wenn es Verräter gibt, werden wir mit ihnen abrechnen.«

Fortgerissen von Zorn und Kummer schrie er:

»Morgen abend Zusammenkunft im Walde! Man hindert uns, beim ›Gemütlichen‹ uns zu versammeln; wir werden also im Walde zu Hause sein.«

Dieser Schrei hatte den alten Bonnemort erweckt, der, nachdem er die kalten Kartoffeln hinuntergewürgt, eingeschlummert war. Es war der alte Ruf zur Vereinigung, das Stelldichein der Grubenarbeiter von ehemals, wenn sie über den Widerstand gegen die Soldaten des Königs berieten.

[289] »Ja, ja, nach Vandame! Ich bin dabei, wenn man hingeht«, brummte er.

Die Maheu machte eine energische Gebärde und fügte hinzu:

»Wir alle gehen. Es muß ein Ende haben mit den Ungerechtigkeiten und Verrätereien.«

Etienne bestimmte, die Versammlung solle in sämtlichen Arbeiterdörfern für morgen abend angesagt werden. Das Feuer war inzwischen erloschen wie bei der Levaque, und auch die Kerze ging plötzlich aus. Es war weder Kohle noch Petroleum da; man suchte tastend sein Nachtlager auf in der großen Kälte. Die Kleinen weinten.

Sechstes Kapitel

Johannes war geheilt und konnte wieder gehen; doch seine Knochen waren so schlecht zusammengewachsen, daß er auf beiden Beinen hinkte, und man mußte ihn sehen, wie er in wackeligem Entengang ebenso schnell wie früher mit der Geschicklichkeit eines bösartigen, diebischen Tieres dahineilte.

Diesen Abend stand Johannes bei Anbruch der Dämmerung auf der Straße nach Réquillart auf der Lauer; begleitet von seinen unzertrennlichen Genossen Bebert und Lydia. Auf einem wüsten Felde hatte er sich hinter einem Pfahlzaun verborgen, einer kleinen Gewürzkrämerei gegenüber, die an der Krümmung eines Pfades stand. Eine alte, fast blinde Frau hatte hier einige Säcke Linsen und Erbsen, ganz schwarz vom Staub, zum Verkauf ausgestellt. Johannes schielte mit seinen kleinen Äuglein nach einem alten geräucherten Stockfisch, der, über und über mit Fliegenschmutz bedeckt, vor der Tür hing. Zweimal schon hatte er Bebert ausgesandt, daß er den Fisch herunterhole; aber jedesmal zeigten sich Leute an der Wegkrümmung. Es sei doch [290] ärgerlich, meinte er, daß man in seinen Geschäften gestört werde.

Jetzt erschien ein Herr zu Pferde bei der Wegkrümmung, und die Kinder warfen sich neben dem Zaun platt auf die Erde, als sie Herrn Hennebeau erkannten. Seit dem Streik konnte man ihn oft so auf den Straßen einsam durch die aufrührerischen Dörfer streifend und ruhigen Mutes sich von den in der Gegend herrschenden Zuständen überzeugen sehen. Niemals flog ein Stein an seinen Ohren vorbei; er begegnete nur schweigsamen Leuten, die langsam den Hut zogen; am häufigsten stieß er auf Liebespärchen, die unbekümmert um die Politik in den Winkeln standen. Im Trab ritt er vorüber, das Haupt emporgerichtet, um niemand zu stören. Er sah sehr wohl die drei Kinder in einem Haufen beisammen, die Jungen mit dem Mädchen. Selbst die Kinder suchten sich schon dieses elende Leben zu erheitern! Mit Tränen in den Augen verschwand er steif im Sattel, den Rock militärisch zugeknöpft.

»Verdammt! Wird das heute kein Ende nehmen?« fluchte Johannes ... »Geh, Bebert, zerre den Fisch am Schwanz.«

Doch jetzt kamen wieder zwei Männer, und der Kleine unterdrückte einen Fluch, als er die Stimme seines Bruders Zacharias erkannte, der Mouquet erzählte, wie er ein Vierzigsousstück in einem Rock seines Weibes eingenäht gefunden hatte. Beide lachten vor Vergnügen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Mouquet schlug für den nächsten Tag eine große Kolbenspielpartie vor; man solle um zwei Uhr von Rasseneurs Schenke aufbrechen und nach Montoire bei Marchiennes gehen. Zacharias nahm den Vorschlag an. Man solle sie mit dem Streik in Frieden lassen, sagten sie; wenn man nicht arbeite, wolle man sich wenigstens ein Vergnügen gönnen. Damit bogen sie in die Wegkrümmung ein, als Etienne, der vom Kanal her kam, sie anhielt, um mit ihnen zu sprechen.

[291] »Wollen denn die Kerle hier übernachten?« sagte Johannes außer sich. »Es wird schon dunkel, und die Alte wird die Bude zumachen.«

Jetzt kam noch ein Grubenarbeiter, der nach Réquillart ging. Etienne entfernte sich mit ihm; als sie bei dem Pfahlzaun vorüberkamen, hörte der Knabe sie von der Versammlung im Walde sprechen. Man hatte die Zusammenkunft auf den nächsten Tag verschieben müssen aus Furcht, in einem Tage nicht alle Arbeiterdörfer verständigen zu können.

»Die große Geschichte wird morgen losgehen«, flüsterte Johannes seinen Kameraden zu. »Wir müssen dabei sein. Nachmittags wollen wir uns auf die Strümpfe machen.«

Als die Straße endlich frei war, schickte er Bebert wieder aus.

»Zerre nur keck an dem Schwanz! ... Aber nimm dich in acht, denn die Alte hat einen Besen.«

Glücklicherweise war schon finstere Nacht. Bebert machte einen Satz in die Höhe und riß den Fisch her unter. Er rannte davon, seine Beute schwingend wie einen fliegenden Drachen; seine Genossen liefen hinterdrein. Die Krämerin kam erstaunt aus ihrer Bude hervor; sie begriff nicht, was geschehen war, und sah die Davoneilenden nicht, die sich im Dunkel der Nacht verloren.

Diese drei Taugenichtse wurden nachgerade der Schrecken der ganzen Gegend. Sie hatten nach und nach von dem Lande Besitz ergriffen wie eine wilde Horde. Zuerst hatten sie sich mit dem Werkhof des Voreuxschachtes begnügt und sich im Kohlenlager umhergewälzt, von wo sie schwarz hervorkamen wie die Neger. Dann spielten sie Versteck zwischen den Holzstößen, wie in einem Urwald. Dann hatten sie von dem Hügel Besitz ergriffen; sie glitten die kahlen Stellen hinab, die noch heiß waren von Erdbränden. Sie schlüpften in das Gestrüpp, das die ehemaligen Gruben überwucherte, blieben da ganze Tage verborgen [292] und gaben sich ruhig ihren Spielen hin. Allmählich dehnten sie ihre Eroberungen immer weiter aus, prügelten sich blutig zwischen den Kohlenziegelhaufen und rannten in den Feldern umher, wo sie allerlei Pflanzen ohne Brot aßen; sie durchsuchten die Uferböschungen des Kanals, um Sumpffische zu fangen, die sie roh verschlangen; sie wagten sich kilometerweit fort und drangen bis zu dem Walde Vandame vor, wo sie sich im Frühjahr mit Erdbeeren, im Sommer mit Haselnüssen und Heidelbeeren vollstopften. Bald gehörte ihnen die ganze ungeheure Ebene.

Doch was sie unaufhörlich auf den Straßen zwischen Montsou und Marchiennes umhertrieb, war ein wachsendes Bedürfnis zu stehlen, dem sie mit den gierigen Augen junger Wölfe nachgingen. Johannes blieb der Führer, jagte seine Truppe auf jede Beute los, plünderte die Zwiebelfelder, die Weingärten, die Schaufenster der Kaufläden. Für alle diese Missetaten beschuldigte man in der Gegend die streikenden Grubenarbeiter; man sprach von einer großen, organisierten Räuberbande. Eines Tages zwang er sogar Lydia, ihre Mutter zu bestehlen; er hatte sich von ihr zwei Dutzend Zuckerstücke bringen lassen, die Frau Pierron in einem gläsernen Pokal auf einem Fensterbrettchen aufbewahrte; die Kleine, die dafür halbtotgeprügelt wurde, verriet ihn nicht, so zitterte sie vor seiner Rohheit! Das schlimmste war, daß er bei all diesen Diebstählen den Löwenanteil für sich behielt. Auch Bebert mußte ihm die Beute abliefern und war froh, wenn der Häuptling ihn nicht ohrfeigte.

Seit einiger Zeit trieb Johannes Mißbrauch mit seiner Macht; er prügelte Lydia, wie man sein rechtmäßiges Weib prügelt, und nutzte die Leichtgläubigkeit Beberts aus, ihn in allerlei unangenehme Abenteuer zu verwickeln, weil es ihm Spaß machte, den dicken Jungen, der stärker war als er und ihn mit einem Faustschlage hätte zu Boden strecken können, wie einen Packesel umherzujagen. Er verachtete alle[293] beide, behandelte sie wie seine Sklaven, erzählte ihnen, daß er eine Prinzessin zur Geliebten habe, vor der zu erscheinen sie unwürdig seien. In der Tat geschah es seit acht Tagen, daß er an irgendeiner Straßenecke, bei irgendeiner Wegkrümmung plötzlich verschwand, nachdem er ihnen mit schrecklicher Miene befohlen hatte, nach dem Dorfe zurückzukehren. Vor allem aber sackte er die Beute ein.

So geschah es auch heute.

»Gib her«, sagte er, seinem Kameraden den geräucherten Fisch entreißend, nachdem alle drei bei einer Wegkrümmung nahe bei Réquillart stehengeblieben waren.

Bebert protestierte.

»Ich will etwas davon haben«, sagte er; »ich habe ihn doch genommen.«

»Wie, was?« schrie Johannes. »Du bekommst davon, wenn ich dir gebe; heute gewiß nicht, aber morgen, wenn etwas übrigbleibt.«

Er schnauzte auch Lydia an und stellte die beiden nebeneinander hin wie Soldaten, die das Gewehr schultern. Dann stellte er sich hinter sie und schrie sie an:

»Jetzt werdet ihr fünf Minuten so stehenbleiben, ohne euch umzudrehen ... Wenn ihr wagt, euch umzudrehen, werdet ihr von wilden Tieren gefressen ... Nachher geht ihr geradeswegs nach Hause, und wenn Bebert unterwegs Lydia zu berühren wagt, werde ich es erfahren, und dann gibt es Hiebe.«

Damit verschwand er im Dunkel mit einer solchen Leichtigkeit, daß man selbst das Geräusch seiner nackten Füße nicht hörte. Die beiden Kinder blieben fünf Minuten unbeweglich stehen, ohne sich umzudrehen, aus Furcht, von unbekannter Hand geohrfeigt zu werden. Aus ihrem gemeinsamen Schrecken war allmählich eine tiefe Zuneigung zueinander entstanden. Er dachte daran, sie kräftig in seine Arme zu schließen, wie er es von anderen sah; sie hätte wohl eingewilligt. Aber sie wagten nicht, dem Führer ungehorsam zu sein. Obgleich [294] die Nacht stockfinster war, schritten sie nebeneinander hin, ohne sich zu umarmen, zärtlich und verzweifelt zugleich, in der Überzeugung, daß der Anführer sie von rückwärts ohrfeigen werde, wenn sie sich zu berühren wagten.

Zur nämlichen Stunde war Etienne nach Réquillart gekommen. Am vorhergegangenen Tage hatte die Mouquette ihn flehentlich gebeten wiederzukommen, und er kam, wenn er sich auch schämte. Er kam übrigens in der Absicht, mit ihr zu brechen. Er wollte ihr erklären, daß sie ihn nicht länger verfolgen solle. Man lebe nicht in froher Zeit, und es sei unanständig, sich dem Vergnügen hinzugeben, wenn alle Welt Hungers sterbe. Weil er sie nicht zu Hause fand, beschloß er, sie zu erwarten, und spähte nach den vorüberkommenden Schatten.

Unter dem eingestürzten Turm gähnte halb verschüttet der alte Schacht. Ein aufrecht stehender Balken, der einen Rest des Daches trug, glich einem Galgen. Zwischen der geborstenen Vermauerung waren zwei Bäume aufgesprossen, eine Esche und eine Platane, die aus dem Schlunde der Erde hervorgewachsen schienen. Es war ein verlassener, wüster Winkel, der Rand eines Abgrundes, von Gras und Gestrüpp überwuchert, mit alten Hölzern verlegt, mit Schlehen- und Weißdornsträuchern bestanden, wo im Frühjahr die Grasmücken ihre Nester bauten.

Hinter einem Busch verborgen wartete Etienne geduldig, als er zwischen den Zweigen ein anhaltendes Rascheln vernahm. Er glaubte, es sei eine scheue Blindschleiche. Doch zu seinem Erstaunen sah er ein Zündhölzchen aufflammen, und maßlos war seine Verblüffung, als er Johannes erkannte, der eine Kerze anzündete und alsbald unter der Erde verschwand. Von einer lebhaften Neugier ergriffen, näherte sich Etienne dem Loch: das Kind war verschwunden, ein schwacher Lichtschein kam vom zweiten Leiterabsatz herauf. Er zögerte einen Augenblick; dann ließ er sich hinabrutschen, [295] an den Wurzeln sich festhaltend; ihm war, als falle er die fünfhundertvierundzwanzig Meter hinab; endlich fühlte er eine Leitersprosse unter den Füßen. Vorsichtig stieg er hinab. Johannes mußte nichts gehört haben; Etienne sah unter sich das Licht immer tiefer versinken, während der Schatten des Kleinen, unheimlich und kolossal, sich tanzend fortbewegte, dem Wackeln seiner kranken Beine folgend. Er hüpfte mit der Behendigkeit eines Affen, hielt sich mit den Händen, mit den Füßen, mit dem Kinn fest, wenn die Leitersprossen fehlten.

»Verdammte Kröte!« fluchte Etienne, dem der Atem ausblieb. »Wo zum Teufel geht er denn hin?«

Schon zweimal war er in Gefahr abzustürzen. Seine Füße glitten auf dem feuchten Holze aus. Wenn er wenigstens eine Kerze gehabt hätte wie der Junge; aber er stieß sich jeden Augenblick; er war nur von dem fahlen Lichtschein geleitet, der unter ihm forteilte. Es war wohl schon die zwanzigste Leiter, und der Abstieg dauerte noch fort. Jetzt begann er sie zu zählen; einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Es ging noch immer tiefer hinab. In der erstickenden Hitze summte ihm der Kopf; er glaubte in einen Glutofen hinabzusinken. Endlich gelangte er zu einer Galerie, wo er Johannes mit seinem Licht in einem Seitengang verschwinden sah. Dreißig Leitern: das machte ungefähr zweihundertzehn Meter.

»Wird er mich noch lange herumführen?« dachte er. »Sicherlich ist's der Stall, wo er sich vergräbt.«

Doch der Gang, der zum Stalle führte, war auf der linken Seite durch einen Einsturz verlegt. Die Reise begann von neuem und war jetzt noch schwieriger und gefährlicher als zuvor. Fledermäuse flogen scheu durch die Gänge oder klebten an dem Gewölbe. Er mußte sich sputen, um das Licht nicht aus den Augen zu verlieren; er betrat also die nämliche Galerie. Allein wo das Kind leicht mit der Geschmeidigkeit einer Schlange [296] durchkam, rieb er sich die Haut von den Gliedern. Die Galerie verengte sich – gleich allen alten Gängen – mit jedem Tage mehr unter dem unaufhörlichen Druck des Erdreiches; an manchen Stellen war es nur noch ein Schlauch, der auch bald verschwinden mußte. Bei der Verengung barsten die Hölzer, und Etienne war bei jedem Schritte in Gefahr aufgespießt zu werden. Mit großer Vorsicht drang er vor auf den Knien oder auf dem Bauche, immer die tastenden Hände voraus. Plötzlich fühlte er eine Schar Ratten über seinen Körper dahinlaufen.

»Donner Gottes! Sind wir endlich zur Stelle?« brummte er erschöpft und atemlos.

Er war am Ziele angelangt. In einer Entfernung von einem Kilometer erweiterte sich der Schlauch, und er gelangte in einen Abschnitt, wo die Galerie wunderbar erhalten war. Es war der hintere Teil der ehemaligen Abfuhrgalerie, die, quer in das Gestein gehauen, einer großen, natürlichen Grotte glich. Doch Etienne mußte jetzt haltmachen; er sah aus der Ferne, wie der Junge seine Kerze zwischen zwei Steinen niederstellte und es sich bequem machte, ruhig und erleichtert, wie ein Mensch, der froh ist, zu Hause zu sein. Eine vollständige Einrichtung verwandelte diesen Winkel der Galerie in eine bequeme Behausung. In einem Winkel lag auf der Erde ein Haufen Heu, das ein weiches Lager bildete; aus alten Hölzern war eine Art Tisch zurechtgemacht; darauf lagen vor allem: Brot, Äpfel, mehrere angebrochene Schnapsflaschen. Es war eine wahre Räuberhöhle voll Beute, die seit Wochen aufgehäuft worden, darunter sogar unnütze Dinge wie Seife und Stiefelwichse, Dinge, die nur um des Diebstahls willen gestohlen worden.

»Du hältst wohl die Welt zum besten?« rief Etienne, nachdem er sich einen Augenblick verschnauft hatte. »Du kommst da herunter, um zu schwelgen, während wir oben Hungers sterben?«

[297] Johannes zitterte am ganzen Leibe und glaubte versinken zu müssen. Doch als er den jungen Mann erkannte, beruhigte er sich bald.

»Willst du mit mir essen?« fragte er schließlich. »Ein Stück gebratenen Schellfisch ... Du sollst gleich sehen.«

Er hatte seinen Fisch nicht aus der Hand gelegt und begann den Fliegenschmutz abzukratzen mit einem schönen neuen Messer, einem jener kleinen Dolchmesser in Beinschale, auf das irgendein Wort eingelegt ist. Auf diesem war »Aus Liebe« zu lesen.

»Du hast da ein schönes Messer«, bemerkte Etienne.

»Es ist ein Geschenk von Lydia«, erwiderte Johannes, der sich hütete hinzuzufügen, daß Lydia es auf sein Geheiß einem fahrenden Krämer in Montsou entwendet hatte.

Während er fortfuhr, den Fisch abzukratzen, setzte er in stolzem Ton hinzu:

»Man ist bei mir gut aufgehoben, nicht wahr? ... Es ist etwas wärmer als da oben und riecht viel besser.«

Etienne hatte sich gesetzt und hörte ihm neugierig zu. Sein Zorn war geschwunden; ein Interesse erfaßte ihn für dies verlotterte Kind, das in seinen Lastern so unerschocken und findig war. In der Tat fühlte er sich wohl in der Tiefe dieser Höhle; die Hitze war nicht mehr so stark; die gleiche Temperatur herrschte hier in allen Jahreszeiten, während oben der Dezemberfrost die Haut der Armen zum Platzen brachte. Wenn die Galerien alt wurden, reinigten sie sich von den schädlichen Gasen; man verspürte jetzt nur noch den Geruch der alten ausgegorenen Hölzer, einen feinen Äthergeruch, wie verschärft durch einen Stich von Gewürznelke. Diese Hölzer boten jetzt übrigens einen ergötzlichen Anblick; sie hatten die blaßgelbe Farbe des Marmors, waren ausgezackt, gleichsam mit weißen Spitzen besetzt; ein schneeiges, flockiges Wachstum schien sie mit einer Verzierung von Seide und Perlen zu bekleiden. Andere wieder starrten von Pilzen, [298] Weiße Falter, Fliegen und Spinnen flogen umher, eine farblose Tierwelt, die niemals die Sonne gesehen.

»Hast du denn keine Furcht?« fragte Etienne.

Johannes blickte ihn erstaunt an.

»Furcht? Wovor? Ich bin doch allein.«

Endlich war der Schellfisch abgekratzt. Johannes zündete eine kleines Holzfeuer an, breitete die Glut aus und ließ den Fisch braten. Dann schnitt er ein Brot in zwei Teile. Es war ein furchtbar gesalzenes Essen, aber für gute Magen sehr köstlich.

Etienne hatte seinen Teil genommen.

»Es nimmt mich nicht mehr wunder, daß du fett wirst, während wir abmagern«, sagte er. »Es ist doch unanständig von dir, dich so zu mästen, ohne an die andern zu denken.«

»Warum sind die andern so dumm?«

»Übrigens hast du ganz recht, dich zu verbergen; wenn dein Vater erführe, daß du stiehlst, würde er dir das Fell über die Ohren ziehen.«

»Die Spießbürger bestehlen uns wohl nicht? Du sagst es doch selbst immer. Dies Brot, das ich bei Maigrat stibitzte, ist sicher ein Brot, das er uns schuldete.«

Der junge Mann sagte nichts; er hatte den Mund voll und war verlegen. Er betrachtete den Jungen mit seinem breiten Mund, seinen grünen Augen, seinen großen Ohren, in seiner Entartung einer Mißgeburt gleich, mit trübem Verstande und der Verschlagenheit eines Wilden, der allmählich vertiert. Die Grube, die ihn hervorgebracht, hatte ihm auch den Garaus gemacht, indem sie ihm die Beine zerschlug.

»Bringst du auch Lydia manchmal hierher?« fragte Etienne weiter.

»Die Kleine? Fällt mir nicht ein!« erwiderte Johannes mit einem verächtlichen Lachen. – »Die Weiber sind geschwätzig.«

Er lachte wieder in unermeßlicher Verachtung gegen Lydia und Bebert. Niemals habe man so alberne Kinder gesehen, meinte er. Wenn er sich erinnerte, wie sie alle [299] seine Lügen ruhig hinnahmen und mit leeren Händen ihrer Wege gingen, während er hier sich mit gebratenem Fisch gütlich tat, mußte er sich vor Lachen die Seiten halten. Er schloß seine Betrachtungen, indem er mit dem Ernst eines kleinen Philosophen bemerkte:

»Es ist besser allein zu sein; da verträgt man sich immer.«

Etienne hatte sein Brot verzehrt und trank einen Schluck Wacholderbranntwein. Einen Augenblick hatte er sich gefragt, ob es nicht Johannes' Gastfreundschaft mit Undank lohnen hieße, wenn er den Jungen beim Ohr ans Tageslicht führe und ihm das fernere Stehlen verbiete unter der Drohung, seinem Vater alles zu sagen. Indem er jedoch diesen tief verborgenen Schlupfwinkel betrachtete, kam er auf einen Einfall: wer weiß, ob er seiner nicht für seine Kameraden oder für sich selbst bedürfe, falls die Dinge da oben eine schlimme Wendung nehmen sollten? Er ließ daher den Knaben schwören, nicht mehr über Nacht auszubleiben, wie es manchmal geschah, wenn er zu lange auf seinem Heulager verweilte. Dann nahm er ein Endchen Kerze und ging voraus, während der andere sein Hauswesen in Ordnung brachte.

Die Mouquette erwartete ihn in verzweifelter Stimmung, trotz der großen Kälte auf einem Balken sitzend. Als sie ihn erblickte, warf sie sich ihm an den Hals; ihr war, als habe er ihr ein Messer ins Herz gestoßen, als er ihr seinen Entschluß mitteilte, sie nicht mehr aufzusuchen. Mein Gott, warum denn? Liebte sie ihn nicht genug? Weil er fürchtete, daß er der Versuchung, bei ihr einzutreten, nachgeben könne, zog er sie auf die Straße und erklärte ihr in schonender Weise, daß sie ihn in den Augen der Kameraden bloßstelle, daß sie der Sache der Politik schade. Sie war erstaunt. Wie konnte das der Politik schaden? Sie kam schließlich auf den Gedanken, daß er sich vielleicht ihrer schäme; sie wäre übrigens nicht verletzt, fände es vielmehr natürlich; und sie machte ihm den Vorschlag, daß er [300] sie vor den Leuten ohrfeige, damit es den Anschein habe, als wollten sie miteinander brechen. Aber er solle sie doch von Zeit zu Zeit besuchen, und sei es auch nur auf wenige Augenblicke. Schier außer sich, flehte sie ihn an; sie versprach, sich zu verbergen, ihn nur fünf Minuten bei sich zu halten. Wenngleich er sehr gerührt war von ihren Bitten, weigerte er sich. Es müsse sein, sagte er. Als er sie verließ, willigte er aber ein, sie noch einmal zu küssen. Schritt für Schritt waren sie bei den ersten Häusern von Montsou angelangt, und sie lagen im vollen Mondlichte einander in den Armen, als eine Weibsperson an ihnen vorüberging.

»Wer ist das?« fragte Etienne unruhig.

»Es ist Katharina«, sagte die Mouquette. »Sie kommt von der Jean-Bart-Grube nach Hause.«

Die Weibsperson ging jetzt gesenkten Hauptes mit müden Schritten weiter. Der junge Mann blickte ihr nach, trostlos, daß sie ihn gesehen, von Gewissensbissen gefoltert. Lebte sie nicht mit einem Manne? Hatte sie ihm nicht das nämliche Leid verursacht auf dem Wege nach Réquillart, als sie sich jenem Manne gab? Aber trotz alledem kränkte es ihn, ihr Gleiches mit Gleichem vergolten zu haben.

»Du magst mich nicht, weil du eine andere liebst«, sagte die Mouquette, als sie schieden.

Am folgenden Tage herrschte prächtiges Wetter; es war ein klarer Frosthimmel, einer jener schönen Wintertage, an denen die hartgefrorene Erde unter den Schritten klingt wie Kristall. Johannes hatte sich um ein Uhr entfernt; er mußte Bebert hinter der Kirche erwarten, und sie mußten ohne Lydia aufbrechen, die von ihrer Mutter wieder im Keller eingesperrt war. Man hatte sie soeben herausgeholt und ihr einen Korb auf den Arm gehängt mit dem Bedeuten, daß sie ihn mit Löwenzahn gefüllt heimbringen müsse, wenn sie nicht wieder auf eine ganze Nacht mit den Ratten eingesperrt sein wolle. Von Angst ergriffen, wollte sie sogleich fort, um den Salat zu sammeln. Doch Johannes brachte sie [301] davon ab; man werde später sehen, meinte er. Auf Polen, das dicke Kaninchen des Rasseneur, hatte er es schon lange abgesehen. Als er bei dem »wohlfeilen Trunk« vorüberkam, lief das Kaninchen gerade auf die Straße heraus. Mit einem Satz hatte er es bei den Ohren erfaßt und schob es sogleich in den Korb der Kleinen. Dann rannten alle drei davon. Es wird ein schöner Spaß, das Tier wie einen Hund bis zum Walde zu jagen.

Doch sie blieben stehen, um Zacharias und Mouquet zuzusehen, die, nachdem sie mit zwei anderen Kameraden einen Schoppen getrunken hatten, ihre große Kolbenspielpartie begannen. Der Einsatz, eine neue Mütze und ein rotes Halstuch, war bei Rasseneur hinterlegt worden. Der erste Gang, vom Voreuxschacht bis zum Pachthof Paillot, eine Strecke von nahezu drei Kilometer, wurde unter den vier Spielern versteigert; Zacharias erstand ihn; er wettete auf sieben Schläge, während Mouquet acht forderte. Man setzte die Kugel, ein eiförmiges Stück Buchsholz, mit der Spitze nach oben auf das Pflaster. Alle hielten ihre »Kolben« bereit, Schlegel mit schiefgestellter Metallscheibe und langem, mit einer Schnur fest umsponnenem Stiel. Um zwei Uhr begann das Spiel. Zacharias erwies sich als sehr stark; mit seinem ersten Zug, der aus drei Schlägen bestand, schleuderte er die Kugel mehr als vierhundert Meter weit über die Rübenfelder; denn es war verboten, in den Dörfern und auf den Straßen, wo Leute sich aufhielten, dies gefährliche Spiel zu treiben. Mouquet, der ebenfalls einen kräftigen Arm hatte, schleuderte den Ball mit einem einzigen Hieb hundertfünfzig Meter zurück. Das Spiel dauerte fort; das eine Lager trieb den Ball vorwärts, das andere Lager trieb ihn zurück, immer im Laufschritt, über die hartgefrorenen Felder.

Johannes, Lydia und Bebert waren eine Weile hinter den Spielern hergelaufen, entzückt über ihre prächtigen Schläge. Dann erinnerten sie sich des Kaninchens; sie ließen das Spiel im Stich, schüttelten den Korb, um [302] zu sehen, ob das Tier noch da sei, und holten es hervor, um zu sehen, wie schnell es laufen könne. Das Kaninchen rannte davon, die Kinder hinterdrein; es war eine Hetze, die eine volle Stunde dauerte; das Tier wurde gejagt, durch Zurufe erschreckt, und man suchte es abzufangen, was hundertmal mißlang. Wäre Polen nicht trächtig gewesen, sie hätten es nimmer eingeholt.

Johannes hatte einen Einfall. Er holte eine Schnur aus der Tasche und band sie an die linke Hinterpfote des Kaninchens. Das gab vielen Spaß; das Tier lief schwerfällig vor den drei Rangen einher mit so erbärmlich-drolligem Hinken, daß seine Peiniger sich vor Lachen die Seiten hielten. Dann legten sie ihm die Schnur um den Hals, damit es so laufe. Als das Tier müde wurde, zogen sie es auf Bauch und Rücken nach wie einen kleinen Karren. Es währte schon über eine Stunde, und das arme Tier keuchte zum Erbarmen, als sie es hastig wieder in den Korb schoben, weil sie nahe beim Walde von Cruchot wieder unter die Ballspieler gerieten.

Es schlug fünf Uhr; der Abend dämmerte. Noch ein Spiel galt es bis zum Walde von Vandame: dieses sollte entscheiden, wer die Mütze und das Halstuch gewinne. Zacharias scherzte mit spöttischer Gleichgültigkeit über die Politik; es werde drollig sein, meinte er, mit dem Spiel mitten unter die im Walde versammelten Kameraden zu geraten. Johannes tat, als wolle er sich nur im Freien umhertreiben; doch hatte er seit seinem Aufbruch vom Dorf den Wald als Ziel in Aussicht genommen. Er drohte Lydia mit Schlägen, als diese, von Furcht und Gewissensbissen ergriffen, davon sprach, nach dem Voreuxschacht zurückzukehren, um Löwenzahn zu sammeln. Sie sollten nicht mit bei der Versammlung sein? Er für sein Teil wolle hören, was die Alten redeten. Er drängte auch Bebert vorwärts und schlug vor, sie wollten sich den kurzen Weg bis zum Walde damit vertreiben, daß sie Polen losmachten und mit Steinwürfen verfolgten. Seine Absicht war, das [303] Tier zu töten: ihn erfaßte die Gier, es fortzutragen und in seiner Höhle zu Réquillart zu verzehren. Das Kaninchen begann mit hängenden Ohren wieder zu laufen; ein Steinwurf schlug ihm am Rücken eine Wunde, ein zweiter Steinwurf riß ihm den Schwanz weg; und trotz des wachsenden Dunkels wäre das Tier schließlich getötet worden, wenn die Rangen nicht Etienne und Maheu, die mitten in einer Lichtung standen, erblickt hätten. Sie stürzten sich mit wilder Hast auf das Tier und schoben es wieder in den Korb. Fast in derselben Minute führten Zacharias, Mouquet und die zwei anderen ihren letzten Kolbenhieb und schleuderten die Kugel nach dem Wald, wo sie wenige Meter von der Lichtung niederfiel. Alle waren beim Ort des Stelldicheins angelangt.

Seit Anbruch der Dämmerung sah man in der ganzen Gegend auf den Straßen und Pfaden der kahlen Ebene ein Wandern, ein Dahinströmen stiller Schatten, die einzeln und in Gruppen dem rötlich dunkelnden Walde zustrebten. Jedes Dorf leerte sich; selbst die Frauen und Kinder gingen dahin, als gelte es einen Spaziergang unter dem weiten, klaren Himmel. Es ward jetzt dunkel auf den Wegen; man sah nicht mehr die sich fortbewegende Masse, die nach dem nämlichen Ziel strebte; man fühlte sie nur, wie sie in ihrer unbestimmten Sehnsucht daherzog. Zwischen Hecken und Büschen war ein leichtes Rascheln vernehmbar, ein undeutliches Geräusch von Stimmen der Nacht.

Herr Hennebeau, der eben zu dieser Stunde heimwärts ritt, horchte auf, als er diese verschwommenen Geräusche hörte. Er war zahlreichen Paaren begegnet, einer langen Reihe von Spaziergängern, die den schönen Winterabend im Freien zubringen wollten. Es waren wieder Verliebte, die Mund auf Mund dahinwandelten. Es waren die gewöhnlichen Begegnungen, Mädchen und Burschen, die sich die einzige Freude, die nichts kostete, gönnten. Und diese Schwachköpfe, die das einzige Glück, das Glück der Liebe, im Übermaß genießen [304] konnten, beklagten sich noch über das Leben! Gern hätte er gehungert wie sie, wenn er das Leben von vorn hätte beginnen können mit einer Frau, die sich ihm geschenkt hätte mit der Vollkraft ihres Herzens. Für sein Unglück gab es keinen Trost; er beneidete diese Elenden. Gesenkten Hauptes kehrte er langsam heim, verzweifelt über dieses anhaltende Geräusch, das sich in der finstern Landschaft verlor, wo er nichts als Küsse hörte.

Siebentes Kapitel

Es war auf der Damenwiese, einer weiten Lichtung, die ein Holzschlag erschlossen hatte. Sie streckte sich an einem sanften Abhang dahin, eingeschlossen von hohem Gehölz, prächtigen Buchen, deren gerade, regelmäßig gewachsene Stämme sie gleich weißen Säulen, mit grünen Flechten belegt, umgaben; am Boden lagen gefällte Baumriesen im Gras, während links ein Haufen Scheitholz aufgeschichtet stand. Mit zunehmender Dunkelheit wurde die Kälte schneidender; das gefrorene Moos krachte unter den Schritten. Schwarze Nacht lagerte auf der Erde; die hohen Äste hoben sich scharf von dem bleichen Nachthimmel ab, an dem der Vollmond heraufzog, um die Sterne zu verdunkeln.

Annähernd dreitausend Bergleute hatten dem Ruf Folge geleistet; es war eine wimmelnde Masse, Männer, Weiber, Kinder, die allmählich die Lichtung füllten und selbst weithin unter den Bäumen standen; und es kamen noch immer Nachzügler, die Flut von Köpfen breitete sich – in Schatten getaucht – bis zu den benachbarten Schlägen aus. Aus dieser Flut stieg inmitten des unbeweglichen, winterstarren Forstes ein Grollen auf, einem Sturmwinde gleich.

Obenan, den Abhang beherrschend, stand Etienne mit Maheu und Rasseneur. Ein Streit war zwischen ihnen ausgebrochen; man hörte ihre Stimmen in heftigen Ausbrüchen. [305] Neben ihnen standen einige Männer und hörten ihren Streit mit an: Levaque, mit geballten Fäusten, Pierron, den übrigen den Rücken kehrend und sehr unruhig, weil er heute nicht ein Fieber vorgeschützt hatte; dann der Vater Bonnemort und der alte Mouquet, die auf einem Baumstumpf tief nachdenklich beisammensaßen. Weiter hinten die Spötter: Zacharias, Mouquet und andere, die nur gekommen waren, um ihren Spaß zu haben; Frauen standen in Gruppen beisammen, ernst wie in der Kirche. Frau Maheu nickte stumm zu den Flüchen der Levaque. Philomene hustete; seit Beginn des Winters hatte das Lungenleiden sie wieder heimgesucht. Nur die Mouquette lachte aus vollem Halse, erheitert durch die Art und Weise, wie Mutter Brulé ihre Tochter behandelte, eine Entartete, die sie aus dem Hause schickte, um sich inzwischen mit Kaninchenbraten gütlich zu tun, eine Verkaufte, die durch die Feigheiten ihres Mannes fett geworden. Johannes hatte auf dem Holzstoß Aufstellung genommen, Lydia heraufgezogen und Bebert genötigt, ihnen zu folgen. Die drei standen höher als alle andern.

Den Streit hatte Rasseneur angefangen, indem er forderte, daß ein Vorstand gewählt werde, wie er bei Versammlungen üblich sei. Er hatte die Niederlage noch nicht verwunden, die er in der Versammlung beim »Gemütlichen« erlitten hatte; er hatte geschworen, Rache zu nehmen, denn er schmeichelte sich, seine frühere Autorität wiederzugewinnen, wenn er nicht den Bevollmächtigten, sondern der Masse der Bergleute gegenüberstünde. Etienne war entrüstet; er hatte es lächerlich gefunden, daß man in diesem Wald einen Vorstand wählen solle. Da man sie hetze wie die Wölfe, müßten sie als Revolutionäre, als Wilde handeln.

Als er sah, daß der Streit kein Ende nehmen wollte, bemächtigte er sich mit einem Schlage der Menge; er stieg auf einen Baumstumpf und rief:

»Kameraden! Kameraden!«

[306] Der wüste Lärm dieses Volkes erstarb in einem langen Seufzer, während Maheu die Einreden Rasseneurs dämpfte. Etienne fuhr mit lauter Stimme fort:

»Kameraden! Da man uns verbietet zu sprechen, da man Gendarmen gegen uns aussendet, als ob wir Räuber wären, müssen wir uns hier verständigen. Hier sind wir frei, hier sind wir zu Hause; niemand wird uns hier Schweigen gebieten, sowenig wie den Vögeln und den wilden Tieren.«

Ein Sturm von Ausrufen war der Widerhall dieser Worte:

»Ja, ja, der Wald gehört uns; man hat das Recht, hier zu reden. Sprich!«

Etienne stand einen Augenblick unbeweglich auf dem Baumstumpf. Der Mond stand noch tief und beleuchtete nur die Baumkronen; die Menge blieb im Dunkel und wurde allmählich wieder still. Etienne, der, die andern überragend, auf der Höhe des Abhangs stand, glich einem dunklen Felsblock.

Langsam erhob er einen Arm und begann zu sprechen; aber seine Stimme grollte nicht mehr; er hatte den kühlen Ton eines Abgesandten des Volkes angenommen, der seinen Rechenschaftsbericht erstattet. Er brachte jene Rede an, die der Polizeikommissar in der Schenke »Zur Gemütlichkeit« ihm abgeschnitten hatte; er gab eine kurze geschichtliche Darstellung des Arbeitsausstandes, wobei er sich einer fast wissenschaftlichen Beredsamkeit bediente: Tatsachen, nichts als Tatsachen. Er sprach zuerst von seinem Widerstreben gegen den Streik; die Bergleute hätten den Ausstand nicht gewollt; die Gesellschaft mit ihrem neuen Lohntarif für die Verzimmerung habe sie herausgefordert. Er erinnerte an den ersten Schritt, den die Bevollmächtigten bei dem Direktor getan hatten; an das Übelwollen der Gesellschaft bei jener Gelegenheit und an ihr verspätetes Zugeständnis bei dem zweiten Schritt: die zehn Centimes, die sie zurückgab, nachdem sie den Versuch gemacht, sie zu stehlen. Darum sei es soweit gekommen; [307] und er führte Ziffern auf, um die Erschöpfung der Unterstützungskasse darzulegen, gab die Verwendung der gesandten Gelder an, entschuldigte in einigen Redensarten die Internationale, Pluchart und die andern, daß sie inmitten ihrer Sorgen, die Welt zu erobern, nicht mehr für sie tun könnten. Die Lage werde von Tag zu Tag schwieriger, die Gesellschaft sende die Arbeitsbücher zurück und drohe, belgische Arbeiter anzuwerben; überdies schüchtere sie die Schwachen ein; sie habe eine gewisse Anzahl von Bergleuten bewogen einzufahren. Er behielt die eintönige Stimme bei, gleichsam um auf diese schlimmen Dinge Nachdruck zu legen; er sprach von dem siegreichen Hunger, von der toten Hoffnung, von dem Kampf, der bei dem letzten Aufflackern des Mutes angelangt sei. Dann schloß er plötzlich, ohne den Ton zu erhöhen:

»Unter solchen Umständen, Kameraden, habt ihr heute abend einen Entschluß zu fassen. Wollt ihr den Streik fortsetzen? Und in diesem Falle: Was wollt ihr tun, um die Gesellschaft zu besiegen?«

Tiefe Stille senkte sich von dem gestirnten Himmel herab. Die in der Finsternis der Nacht unsichtbare Menge schwieg unter dem Eindruck dieser Worte, die ihr das Herz schwer machten; man vernahm nur ihr trostloses Seufzen, das durch die Bäume lief.

Doch Etienne hatte mit veränderter Stimme wieder das Wort ergriffen. Es sprach nicht mehr der Sekretär der Vereinigung, sondern der Anführer, der Apostel, der die Wahrheit verkündete. Werden sich wortbrüchige Feiglinge finden? fragte er. Sollte man vergeblich einen Monat gelitten haben? Sollte man gesenkten Hauptes zu den Gruben zurückkehren? Sollte das Elend wieder beginnen? Sei es nicht besser, gleich zu sterben und den Versuch zu machen, die Tyrannei des Kapitals zu brechen, das den Arbeiter zwingt zu hungern? Sich immer wieder dem Hunger beugen bis zu dem Augenblick, wo der Hunger abermals selbst die Ruhigsten zur Empörung zwingt: war das nicht ein[308] törichtes Spiel, das nicht länger dauern könnte? Er schilderte, wie die Arbeiter ausgebeutet würden, wie sie allein das Ungemach der Krisen, die äußersten Entbehrungen, zu ertragen hätten, sobald der Wettbewerb zur Verminderung der Herstellungskosten zwänge. Nein, der Preis der Verzimmerung sei nicht annehmbar; es sei nur eine verhüllte Art der Ersparnis, man wolle jedem Manne täglich eine Arbeitsstunde stehlen. Es sei zuviel diesmal; die Zeit sei gekommen, wo die zum Äußersten getriebenen Armen und Elenden sich endlich Gerechtigkeit verschaffen müßten.

Er stand da mit hoch erhobenem Arm. Bei dem Worte »Gerechtigkeit« ging es wie ein Zittern durch die Menge, sie brach in Händeklatschen aus, das wie das Geräusch welker Blätter klang. Einzelne Stimmen riefen:

»Gerechtigkeit! ... Die Zeit der Gerechtigkeit ist gekommen!«

Etienne erhitzte sich allmählich. Er besaß nicht die leicht dahinfließende Beredsamkeit Rasseneurs. Oft fehlten ihm die Worte; er mußte seinen Satz drehen und wenden und half sich mit einem Ruck der Schultern heraus. Allein bei diesen fortwährenden Stockungen fand er Bilder von wohltuender Kraft, welche die Zuhörerschaft packten, während seine Gebärden, die eingezogenen und wieder ausgestreckten Arme mit den drohenden Fäusten, die vorspringende, gleichsam zum Beißen bereite Kinnlade, gleichfalls eine außerordentliche Wirkung auf die Kameraden ausübten. Alle sagten: er sei nicht groß, wisse sich aber Gehör zu verschaffen.

»Die Lohnzahlung ist eine neue Form der Sklaverei«, hob er mit noch mehr vibrierender Stimme wieder an. »Die Grube muß dem Bergmann gehören, wie das Meer dem Fischer, die Erde dem Bauern gehört ... Hört ihr: die Grube gehört euch, euch allen, die ihr sie seit einem Jahrhundert mit soviel Blut und Elend bezahlt habt!«

[309] Er ging kühn an die Erörterung dunkler Rechtsfragen, einer Reihe von Sondergesetzen, in die er sich verlor. Die Erde und das Erdreich gehörten der Nation, nur ein abscheuliches Vorrecht sichere ihre ausschließliche Nutznießung den Gesellschaften. Das Volk der Bergleute brauche also nur sein Eigentum wiederzuverlangen. Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf das ganze Land jenseits des Waldes. In diesem Augenblick stieg der Mond hinter den Zweigen herauf und warf sein volles Licht auf ihn. Als die noch im Schatten stehende Menge ihn so, von weißem Licht übergossen, erblickte, wie er mit offenen Händen den Reichtum verteilte, brach sie von neuem in anhaltendes Händeklatschen aus.

»Ja, ja, er hat recht; bravo!«

Dann redete er von seiner Lieblingsidee: der Zuerkennung von Arbeitsgeräten an die Gesamtheit, wie er die Sache in einer Redensart wiederholte, die einen köstlichen Reiz für ihn hatte. Nachdem er von der tiefbewegten Brüderlichkeit der Neubekehrten, von dem Bedürfnis, die Lohnverhältnisse umzugestalten, gesprochen hatte, gelangte er jetzt zu dem politischen Gedanken, den Lohn überhaupt abzuschaffen. Vor allem stellte er den Satz auf, die Freiheit könne nur durch die Zerstörung des Staates erlangt werden. Wenn erst das Volk sich der Regierung bemächtigt habe, würden die Umgestaltungen beginnen; die Rückkehr zur einfachen Gemeinschaft, eine vollkommene bürgerliche, politische und wirtschaftliche Gleichheit, gewährleistet durch die individuelle Unabhängigkeit; endlich unentgeltlicher Fachunterricht, von der Gesamtheit bezahlt. All dies erfordere einen vollständigen Umsturz der alten, verfaulten Gesellschaft; er bekämpfte die Ehe, das Erbrecht; die ungerechten Satzungen der toten Jahrhunderte stürzte er nieder mit einer weitausholenden Bewegung seines Armes; es war immer die nämliche, die des Mähers, der die reife Saat abschneidet; mit der andern Hand richtete er wieder auf; er baute [310] die künftige Menschheit auf, ein Gebäude von Wahrheit und Gerechtigkeit, in der Morgendämmerung des zwanzigsten Jahrhunderts emporwachsend. Bei dieser ungeheuren Anspannung des Gehirns kam der Verstand ins Schwanken, und es blieb nichts als die fixe Idee des Schwärmers übrig. Die Bedenken seiner gesunden Vernunft waren geschwunden; nichts schien ihm leichter als die Verwirklichung dieser neuen Welt; er hatte alles vorausgesehen; er sprach davon wie von einer Maschine, die er in zwei Stunden aufstellen wolle; weder Blut noch Feuer schrecke ihn ab.

»Wir sind an der Reihe!« Mit diesem letzten Rufe schloß er. »Unser ist die Macht, unser ist der Reichtum!«

Die mächtigen Zurufe aus der Tiefe des Waldes brandeten zu ihm herauf. Der Mond bestrahlte jetzt die ganze Lichtung und beleuchtete das lebhaft bewegte Wogen der Köpfe bis in die verschwommenen Fernen der Schläge zwischen den großen grauen Stämmen. Man sah in der eisigen Luft dieser Winternacht wütende Gesichter, leuchtende Augen, offene Mäuler von Männern, Weibern und Kindern, ausgehungert und nun losgelassen zur Plünderung des alten Gutes, dessen man sie beraubt hatte. Sie fühlten die Kälte nicht mehr; die flammenden Worte hatten sie bis ins Innere erhitzt. Eine religiöse Verzückung erhob sie über die Erde; es war wie das Hoffnungsfieber der ersten Christen, die der nahen Herrschaft der Gerechtigkeit harrten. Viele dunkle Sätze waren ihrem Verständnis entgangen; sie begriffen nichts von diesen technischen und abstrakten Erörterungen; allein die Unklarheit erweiterte noch das Gefilde der Verheißungen, riß sie wie in einer Verblendung fort. Welcher Traum! Sie würden die Herren sein, nicht mehr leiden, endlich genießen!

»Jawohl, er hat recht! Donner Gottes, wir sind an der Reihe! Tod den Ausbeutern!«

Die Weiber waren in Verzückung; die Maheu hatte ihre Ruhe verloren und war wie von Fanatismus ergriffen; [311] die Levaque heulte, die alte Brulé war außer sich und fuchtelte mit ihren Hexenarmen herum; Philomene war von einem Hustenanfall geschüttelt; die Mouquette war in solche Aufregung, daß sie dem Redner zärtliche Worte zurief. Unter den Männern hatte der für die Sache völlig gewonnene Maheu einen Zornesruf ausgestoßen; Pierron zitterte nur, während Levaque sehr redselig geworden war; die Spötter, Zacharias und Mouquet, versuchten die Geschichte ins Spaßige zu ziehen; sie fühlten sich im Grunde sehr unbehaglich und waren erstaunt, daß der Kamerad solange reden könne, ohne einen Schluck zu trinken. Johannes auf dem Holzstoß machte den größten Lärm, ermunterte Lydia und Bebert und schwang den Korb, worin das Kaninchen lag.

Die Zurufe der Menge hatten sich erneuert. Etienne genoß den Rausch seiner Volkstümlichkeit. Seine Macht war Wirklichkeit geworden; er gebot über dreitausend Männer; ein Wort von ihm genügte, um ihre Herzen höher schlagen zu machen. Wenn Suwarin die Versammlung seiner Anwesenheit gewürdigt hätte, würde er seinen eigenen Gedanken zugestimmt haben, soweit er sie wiedererkannt hätte, zufrieden mit den Fortschritten seines Jüngers und befriedigt von dem Programm, mit Ausnahme des auf den Unterricht bezüglichen Artikels, der nur ein Rest von blöder Gefühlsduselei war; denn die heilige und gesunde Unwissenheit sollte das Bad sein, in welchem die Männer ihre Kraft stählten. Rasseneur zuckte verächtlich und wütend mit den Achseln.

»Laß mich reden!« rief er Etienne zu.

Dieser sprang von dem Baumstumpf herunter.

»Sprich; wir wollen sehen, ob sie dich anhören.«

Schon war Rasseneur auf den Baumstumpf gestiegen und forderte mit einer Handbewegung Stille. Allein der Lärm dauerte fort; sein Name machte die Runde in der Menge von den ersten Reihen, die ihn erkannt hatten, bis zu den letzten, die weit hinten unter den Buchen [312] standen; man weigerte sich ihn anzuhören; er war ein gestürzter Götze, dessen bloßer Anblick seine ehemaligen Getreuen in Wut versetzte. Seine leichte Beredsamkeit, seine einschmeichelnden Worte, welche diese Leute so lange Zeit entzückt hatten, wurden jetzt als Lauheit bezeichnet, nur gut, um Feiglinge einzuschläfern. Vergebens sprach er in den Lärm hinein; vergebens versuchte er jene Beschwichtigungsrede zu halten, die er überall vorbrachte: von der Unmöglichkeit, mit Gesetzen die Welt zu ändern, von der Notwendigkeit, daß die gesellschaftliche Entwicklung sich langsam vollziehe; man verhöhnte ihn, man hieß ihn schweigen; seine Niederlage war schlimmer als in der Schenke »Zur Gemütlichkeit«, sie war nicht wieder gutzumachen. Man warf schließlich Hände voll gefrorenen Mooses nach ihm; ein Weib rief aus:

»Nieder mit dem Verräter!«

Er erklärte ihnen, daß die Grube nicht den Grubenarbeitern gehören könne wie der Webstuhl dem Weber; er sagte, es sei ihm lieber, wenn der Arbeiter an dem Ertrag beteiligt, gleichsam ein Angehöriger des Hauses werde.

»Nieder mit dem Verräter!« wiederholten tausend Stimmen. Einzelne Steine flogen an seinen Ohren vorbei.

Da erbleichte er, und die Verzweiflung füllte seine Augen mit Tränen. Er sah seine Existenz vernichtet; zwanzig Jahre ehrgeiziger Kameradschaft verschwanden unter der Undankbarkeit der Menge; im Herzen getroffen und unfähig fortzufahren, stieg er von dem Baumstumpf herunter.

»Das macht dich lachen«, stammelte er dem triumphierenden Etienne zu. »Es ist gut ... Ich wünsche, daß dir ein Gleiches geschehe ... Und es wird dir ein Gleiches geschehen, hörst du?«

Er streckte den Arm weit nach ihm aus, wie um ihm die volle Verantwortlichkeit für alles Unglück zuzuweisen, das er voraussah. Dann entfernte er sich allein durch die stumme und weiße Winterlandschaft.

[313] Jetzt ertönte neues Geschrei, und man war erstaunt, Vater Bonnemort zu sehen, der den Baumstumpf erstiegen hatte und zu der lärmenden Menge sprach. Bisher hatten Mouquet und er geschwiegen, in ihren Gedanken an alte Zeiten versunken. Ohne Zweifel wich er jetzt einem jener plötzlichen Anfälle von Geschwätzigkeit, die in ihm zuweilen die Vergangenheit so heftig aufrührten, daß Erinnerungen in ihm aufstiegen und stundenlang von seinen Lippen flossen. Tiefe Stille war eingetreten, und man lauschte dem Greise, der weiß wie ein Gespenst im Mondlicht vor ihnen stand; als er Dinge erzählte, die ohne unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gegenstand der Versammlung waren, lange Geschichten, die niemand verstehen konnte, nahm die Betroffenheit noch zu. Er sprach von seiner Jugend, von seinen zwei Oheimen, die in der Voreuxgrube ihren Tod fanden, dann von der Brustkrankheit, die sein Weib hinweggerafft hatte. Doch hielt er seinen Gedanken fest: es sei niemals gut gegangen, und es werde niemals gut gehen. So hätten sich einmal ihrer fünfhundert im Walde versammelt, weil der König die Arbeitsstunden nicht vermindern wollte. Da brach der Alte ab und begann die Geschichte eines andern Streiks: er hatte so viele gesehen! Die Sache endete immer unter den Bäumen hier auf der Damenwiese, weiterhin im Köhlerwald oder noch weiter beim Wolfssprung. Einmal fror es, ein andermal war es heiß. Eines Abends hatte es so stark geregnet, daß man heimgekehrt war, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Schließlich kamen die Soldaten des Königs, und es setzte Flintenschüsse.

»Wir erhoben die Hände wie jetzt; wir schworen, nicht einzufahren; ich habe geschworen, ja, ich habe geschworen!«

Die Menge horchte erstaunt, von Unbehagen ergriffen, als Etienne, der diese Szene verfolgt hatte, auf den Baumstumpf sprang und den Greis an seiner Seite behielt. Er hatte unter den in der ersten Reihe stehenden [314] Freunden Chaval erkannt. Der Gedanke, daß auch Katharina da sein müsse, hatte ihn von neuem angefeuert, das Bedürfnis in ihm erweckt, in ihrer Gegenwart die Beifallskundgebungen der Menge zu empfangen.

»Kameraden, ihr habt gehört, da ist einer unserer Alten: Ihr habt vernommen, was er gelitten hat, und was unsere Kinder leiden werden, wenn wir mit den Dieben und Henkern nicht aufräumen.«

Er wurde furchtbar; niemals hatte er mit solcher Heftigkeit gesprochen. Mit einem Arm hielt er den alten Bonnemort fest wie ein Banner des Elends und der Trauer, das zur Rache aufruft. In hastig hervorgestoßenen Sätzen ging er bis zum ersten der Maheu zurück; er schilderte diese ganze Familie, wie sie vom Bergwerk abgenützt, von der Gesellschaft aufgezehrt und nach hundertjähriger Arbeit hungriger war denn je; und dieser ausgehungerten Arbeiterfamilie stellte er die von Geld strotzende Verwaltung gegenüber, die ganze Bande von Aktionären, die gleich Dirnen seit einem Jahrhundert ausgehalten wurden, nichts arbeiteten, sich nur ihres Leibes freuten. War das nicht entsetzlich? Ein ganzes Volk – vom Vater auf den Sohn – ging in den Gruben zugrunde, um Ministern Trinkgelder zu bezahlen, um ganzen Geschlechtern großer Herren und Spießbürger die Mittel zu verschaffen, Feste zu geben oder hinter dem Ofen sitzend sich zu mästen! Er hatte die Krankheiten der Grubenarbeiter studiert und zählte sie alle auf mit greulichen Einzelheiten: die Blutarmut, die Skrofeln, die Bronchitis, das erstickende Asthma, die lähmenden Rheumatismen. Man warf die Elenden den Maschinen als Futter hin, man pferchte sie gleich dem Vieh in den Dörfern zusammen; die großen Gesellschaften verzehrten sie allmählich, regelten die Sklaverei und drohten, alle Arbeiter einer Bettlerhorde einzureihen, Millionen Arme, um tausend Faulenzer zu bereichern. Doch der Grubenarbeiter war nicht mehr der Unwissende von ehemals, das im Innern des Erdreichs [315] zerquälte Tier. Eine Armee wuchs aus den Tiefen der Gruben hervor, eine Ernte von Männern, die einst an einem sonnenhellen Tage die Erde erschüttern werde. Man werde dann sehen, ob man es wage, nach vierzigjährigem Dienste eine Pension von hundertfünfzig Franken einem sechzigjährigen Greise anzubieten, der Kohle spie, und dessen Beine vom Wasser angeschwollen waren. Ja, die Arbeit werde das Kapital zur Rechenschaft ziehen, diesen unpersönlichen, dem Arbeiter unbekannten Gott, der irgendwo im geheimnisvollen Dunkel seines Heiligtums hockte, von wo er den Hungerleidern, die ihn nährten, das Blut aussog. Man werde ihn aufsuchen, ihm ins Gesicht schauen beim Licht der Feuersbrünste, es im Blut ersäufen, dieses unflätige Schwein, diesen ungeheuerlichen, mit Menschenfleisch gemästeten Götzen.

Er schwieg, aber sein Arm blieb ins Leere ausgestreckt, gleichsam um den Feind zu zeigen in weiter Ferne, er wußte nicht wo, von einem Ende der Erde zum andern. Das Geschrei der Menge war jetzt so laut, daß die Bürger von Montsou es hörten und nach der Richtung von Vandame blickten, von Unruhe ergriffen bei dem Gedanken an irgendeinen furchtbaren Einsturz. Nachtvögel flatterten in dem Gehölz auf und flogen unter dem unermeßlichen, klaren Himmel dahin.

Etienne wollte jetzt schließen.

»Kameraden, was ist euer Beschluß? ... Stimmt ihr für die Fortsetzung des Ausstandes?«

»Ja, ja!« schrien die Stimmen.

»Und welche Maßregeln beschließt ihr? ... Unsere Niederlage ist sicher, wenn sich morgen Feiglinge finden, die einfahren.«

»Tod den Feiglingen!« erbrauste es mit der Gewalt eines Sturmwindes.

»Ihr beschließt also, sie an die Pflicht, an den geschworenen Eid zu mahnen ... Wir könnten folgendes tun: bei den Gruben erscheinen, die Verräter durch unsere Anwesenheit zurückzujagen, der Gesellschaft[316] zeigen, daß wir alle einig sind, und daß wir eher sterben als nachgeben.«

»Ja, ja, zu den Gruben! Zu den Gruben!«

Etienne hatte, seitdem er sprach, Katharina mit den Augen gesucht unter den bleichen Köpfen, die vor ihm wogten. Sie war nicht da. Doch sah er noch immer Chaval, der die Achseln zuckte, um den Spötter zu spielen, von Eifersucht verzehrt und bereit, für ein wenig solcher Volkstümlichkeit sich zu verkaufen.

»Wenn es Spione unter uns gibt, Kameraden,« fuhr Etienne fort, »dann mögen sie sich in acht nehmen; man kennt sie ... Ja, ich sehe Bergleute aus Vandame, welche die Grube nicht verlassen haben ...«

»Meinst du mich?« fragte Chaval in herausforderndem Ton.

»Dich oder einen andern ... Da du dich gemeldet hast, solltest du begreifen, daß diejenigen, die essen, nichts bei jenen zu tun haben, die hungern. Du arbeitest im Jean-Bart-Schacht ...«

Eine spöttische Stimme unterbrach den Redner:

»Der arbeitet? ... Er hat ein Weib, das für ihn arbeitet.«

Chaval ward rot vor Wut.

»Himmelherrgott!« schrie er. »Ist es denn verboten zu arbeiten?«

»Ja!« rief Etienne. »Wenn die Kameraden für das Wohl aller Not leiden, ist es verboten, sich als Egoist und Heuchler auf die Seite der Arbeitgeber zu stellen. Wäre der Streik allgemein, dann wären hier längst die Herren ... Kein einziger Mensch von Vandame hätte anfahren sollen, als Montsou in den Ausstand trat. Es wäre ein Hauptstreich, wenn die Arbeit in der ganzen Umgebung feierte, bei Herrn Deneulin ebenso wie hier ... Hörst du? In den Schlägen von Jean-Bart gibt es nur Verräter; ihr alle seid Verräter!«

Die Menge rings um Chaval nahm eine drohende Haltung an; Fäuste wurden in die Höhe gestreckt; man hörte den Ruf: »Schlagt ihn tot!« Chaval erbleichte; [317] doch in seiner wütenden Begierde, über Etienne zu triumphieren, hatte er einen Einfall, der ihn wieder aufrichtete.

»Hört mich doch!« rief er. »Kommt morgen nach Jean-Bart, und ihr werdet sehen, ob ich arbeite! ... Wir halten mit euch, und man hat uns gesandt, um euch dies zu sagen. Man muß die Feuer auslöschen; auch die Maschinisten müssen in den Ausstand eintreten. Wenn die Pumpen stillstehen: um so besser! Das Wasser wird die Gruben ersäufen, und alles wird zu Ende sein.«

Man klatschte ihm wütend Beifall; Etiennne war überflügelt. Die Redner auf dem Baumstumpf lösten einander ab, gestikulierten in dem Lärm, machten unsinnige Vorschläge. Es war der wahnwitzig gewordene Glaube, die Ungeduld einer religiösen Sekte, die, des Hoffens auf das erwartete Wunder überdrüssig, sich entschloß, es endlich herauszufordern. Durch den Hunger irrsinnig gemacht, war es allen diesen Köpfen rot vor den Augen; sie träumten von Feuer und Blut, aus dem das allgemeine Glück hervorsproß. Der stille Mond tauchte diese wogende Menge in seine Lichtflut; der tiefe Wald umhüllte mit seinem Schweigen diesen ungeheuren Mordschrei. Das gefrorene Moos krachte unter den Füßen, während die Buchen, aufrecht in ihrer Kraft, mit den zarten Verästelungen ihrer Zweige, schwarz unter dem weißen Himmel, die erbärmlichen Wesen, die sich zu ihren Füßen bewegten, weder sahen noch hörten.

Jetzt entstand ein Gedränge, und die Maheu gelangte in die Nähe ihres Mannes; beide waren um ihre gesunde Vernunft gekommen; fortgerissen von der allmählichen Erbitterung, die seit Monaten in ihnen arbeitete, stimmten sie Levaque zu, der, die anderen überbietend, die Köpfe der Ingenieure forderte. Pierron war verschwunden; Bonnemort und Mouquet redeten zugleich undeutlich und sehr heftig, was niemand verstand. Zacharias trieb allerlei Ulk und forderte, daß die Kirchen der [318] Erde gleichgemacht würden; Mouquet schlug mit dem Ballschlegel auf die Erde, nur um den Lärm zu vergrößern. Die Weiber wüteten: die Levaque war – die Fäuste in die Hüften gestemmt – mit Philomene in heftigen Streit geraten, weil diese angeblich gelacht hatte; die Mouquette sagte, man müsse die Gendarmen mit Fußtritten niedermachen; die Brulé, die soeben Lydia geohrfeigt, weil sie das Mädchen ohne Korb und ohne Salat gefunden, fuhr fort, Schläge ins Leere zu führen gegen alle Besitzenden, die sie hier bei der Hand hätte haben wollen. Johannes war einen Augenblick betroffen, weil Bebert von einem Jungen erfuhr, daß Frau Rasseneur sie gesehen habe, wie sie Polen stahlen; aber nachdem er beschlossen hatte zurückzukehren, um vor der Tür der Schenke »Zum wohlfeilen Trank« das Tier unbemerkt wieder loszulassen, schrie er noch stärker, öffnete sein neues Messer und schwang die Klinge, ganz stolz, sie glänzen lassen zu können.

»Kameraden, Kameraden!« wiederholte Etienne erschöpft und sich heiser schreiend, um einen Augenblick Stille zu erlangen, damit man sich endgültig verständigen könne.

Endlich hörte man ihn.

»Kameraden, morgen früh in Jean-Bart! Ist's abgemacht?«

»Ja, ja, in Jean-Bart! Tod den Verrätern!«

Der Sturm dieser dreitausend Stimmen erfüllte den Himmel und erstarb in der klaren Helle des Mondes.

Fünfter Teil

Erstes Kapitel

Um vier Uhr war der Mond untergegangen, und es herrschte stockfinstere Nacht. Alles schlief noch im Hause Deneulins; das aus Ziegeln erbaute alte Haus lag stumm und düster mit verschlossenen Türen und Fenstern am Ende eines großen, verwahrlosten Gartens, der es von der Jean-Bart-Grube trennte. An der andern Seite des Hauses vorbei lief die einsame Straße nach Vandame, einem großen Flecken, der in einer Entfernung von etwa drei Kilometer hinter dem Walde verborgen lag.

Deneulin, der einen Teil des vorhergegangenen Tages in der Grube zugebracht hatte, lag der Mauer zugewandt und schnarchte, als er träumte, daß man ihn rufe. Er erwachte schließlich, hörte wirklich eine Stimme und eilte zum Fenster, um zu öffnen. Einer seiner Aufseher stand im Garten.

»Was gibt es?« fragte er.

»Herr, eine Revolte; die Hälfte der Leute will nicht arbeiten und hindert die andere Hälfte einzufahren.«

Deneulin verstand ihn nicht recht; sein schlaftrunkener Kopf summte; die kalte Luft drang wie ein eisiges Sturzbad auf ihn ein.

»Zwingen Sie sie einzufahren!« stammelte er.

»Wir unterhandeln seit einer Stunde vergebens, und so sind wir denn auf den Gedanken gekommen, Sie aufzusuchen, gnädiger Herr. Sie allein können sie zur Vernunft bringen.«

»Gut, ich komme.«

Er kleidete sich in aller Eile an. Sein Kopf war jetzt klar; er war sehr unruhig geworden. Man hätte das[320] Haus plündern können, weder die Köchin noch der Hausdiener hatten sich gerührt. Doch jetzt vernahm er von der andern Seite des Flurs her ein Geflüster ängstlicher Stimmen. Als er hinausging, öffnete sich die Tür seiner Töchter, und beide erschienen, in weiße Schlafröcke gehüllt, die sie in aller Eile umgeworfen hatten.

»Was geht vor, Vater?«

Luzie, die ältere, war schon zweiundzwanzig Jahre, groß, braun, mit stolzer Miene; Johanna, die jüngere, zählte kaum neunzehn Jahre, war klein, mit goldblondem Haar und von einer einschmeichelnden Anmut.

»Nichts Ernstes«, antwortete der Vater, um sie zu beruhigen. »Es scheint, daß Skandalmacher in der Grube einigen Lärm verursachen. Ich will einmal nachschauen.«

Doch sie widersetzten sich seinem Vorhaben; sie wollten ihn nicht fortlassen, ohne daß er etwas Warmes genommen habe. Er werde sonst heimkehren mit krankem Magen wie immer. Er wehrte sich und gab sein Ehrenwort, daß er Eile habe.

»Höre«, sagte Johanna und hängte sich an seinen Hals. »Du wirst ein Gläschen Rum trinken und zwei Stück Zwieback essen; sonst bleibe ich da an deinem Halse, und du mußt mich mitnehmen.«

Er mußte sich fügen, obgleich er versicherte, daß der Zwieback ihm zu schwer im Magen liege. Schon stiegen sie vor ihm hinab, jede mit ihrem Leuchter. Im Speisezimmer beeilten sie sich, ihn zu bedienen; die eine goß den Rum ein, die andere lief in die Küche, um ein Paket Zwieback zu holen. Sie hatten ihre Mutter früh verloren und sich daher selbst erzogen, allerdings sehr schlecht, vom Vater verhätschelt, die Ältere von dem Traum geplagt, Opernsängerin zu werden, die Jüngere von einer Leidenschaft für die Malerei erfaßt. Doch als infolge geschäftlicher Verlegenheiten der Haushalt eingeschränkt werden mußte, waren diese Mädchen, die so außergewöhnliche Neigungen zu haben schienen, plötzlich sehr kluge und schlaue Haushälterinnen geworden, [321] die den kleinsten Fehler in den Rechnungen der Köchin entdeckten. Trotz ihres freien künstlerischen Wesens hielten sie die Schnüre des Geldbeutels fest in der Hand, kargten selbst mit den Sous, stritten mit den Lieferanten, besserten unablässig ihre Toiletten aus, und so gelang es ihnen, trotz der wachsenden Verarmung des Hauses einen Schein des Wohllebens zu bewahren.

»Iß, Papa«, wiederholte Luzie.

Als sie bemerkte, daß er wieder in stilles, sorgenvolles Nachdenken versank, wurde sie von Angst ergriffen.

»Die Sache ist also ernst, weil du solche Miene machst! ... Wir bleiben bei dir. Man wird ohne uns zur Frühstücktafel fahren.«

Sie sprach von einem Ausflug, der für diesen Morgen geplant war. Frau Hennebeau sollte mit ihrer Kalesche zuerst Cäcilie bei den Grégoire abholen, nachher Luzie und Johanna aufnehmen, und alle zusammen wollten nach Marchiennes fahren und bei der Gemahlin des Direktors der Eisenwerke frühstücken. Man wollte die Gelegenheit benutzen, um die Werkstätten, Hochöfen und Kokereien zu besichtigen.

»Gewiß, wir bleiben zu Hause«, erklärte Johanna ihrerseits.

Allein der Vater wurde böse.

»Welch ein Einfall! Ich wiederhole euch, es ist nichts ... Seid so gut, schlüpft wieder in eure Betten und kleidet euch für neun Uhr an, wie es verabredet wurde.«

Er küßte sie und eilte davon. Man hörte den Schall seiner Schritte, die sich auf dem hartgefrorenen Boden des Gartens allmählich verloren.

Johanna verkorkte sorgfältig die Rumflasche, während Luzie den Zwieback unter Verschluß tat. Der Raum hatte die kühle Sauberkeit solcher Speisezimmer, wo die Tafel kärglich bestellt ist. Da die Schwestern schon so früh heruntergekommen waren, hielten sie Umschau, ob auch gestern abend alles in Ordnung gebracht [322] sei. Sie fanden ein Tafeltuch; der Diener konnte eines Verweises sicher sein. Endlich gingen sie wieder hinauf.

Während Deneulin, um den Weg abzukürzen, die geraden Pfade seines Gemüsegartens durchschritt, dachte er an sein gefährdetes Vermögen, an diesen Anteil von Montsou, an diese Million, die er zu Geld gemacht hatte, in der Hoffnung, sie zu verzehnfachen, und die jetzt so stark aufs Spiel gesetzt war. Es war eine ununterbrochene Reihe von ungünstigen Umständen eingetreten, unvorhergesehene große Ausbesserungen, verderbliche Ausbeutungsbedingungen, dann das Unglück der industriellen Krise gerade in dem Augenblick, wo das Unternehmen einen Ertrag zu liefern begann. Wenn der Streik auch bei ihm ausbrach, lag er am Boden. Er stieß eine kleine Tür auf: man erkannte die Grubenbauten in der finsteren Nacht an dem noch tieferen Schatten, der durch einige Laternen nur wenig erhellt war.

Jean-Bart hatte nicht die Bedeutung des Voreux, doch war es infolge des Neubaus eine »ganz hübsche Grube« geworden, wie die Ingenieure sich ausdrückten. Man hatte sich nicht damit begnügt, den Schach um anderthalb Meter zu verbreitern und auf siebenhundertacht Meter zu vertiefen; man hatte ihn auch mit einer neuen Maschine, neuen Schalen, neuem Material versehen, alles nach den letzten Errungenschaften der Wissenschaft. Die Bauten zeigten sogar eine gewisse Eleganz; der Sichtungsschuppen trug ein zierlich geformtes Vordach, der Schachtturm war mit einer Uhr versehen; das Maschinenhaus und der Aufnahmeraum hatten ein rundes Dach nach Art der im Renaissancestil erbauten Kapellen, und der Schlot, aus schwarzen und roten Ziegeln erbaut, glich einer Mosaikspirale.

An diesem Morgen war Chaval um drei Uhr als erster angelangt. Er machte sich sogleich daran, die Kameraden zu verführen; man müsse dem Beispiel jener von Montsou folgen und eine Preisaufbesserung von fünf [323] Centimes für jede Karre fordern. Die vierhundert Arbeiter, die einfahren sollten, strömten aus der Baracke alsbald unter großem Geschrei und mit heftigen Bewegungen nach dem Aufnahmesaal. Die arbeiten wollten, standen barfüßig da mit ihrer Lampe, Schaufel oder Spitzhacke unter dem Arm, während die anderen in Holzschuhen und mit dem Überrock auf den Schultern, um sich gegen die Kälte zu schützen, den Zugang zum Schacht verstellten; die Aufseher schrien sich heiser in dem Bemühen, Ordnung zu machen, sie zur Vernunft zu bringen und denen, die einfahren wollten, Bahn zu schaffen.

Doch Chaval geriet in Wut, als er Katharina in Hose und Kittel erblickte, den Kopf mit der blauen Haube bekleidet. Er hatte, als er aufstand, ihr in rauher Weise befohlen, zu Bett zu bleiben. Verzweifelt wegen dieser Arbeitsruhe, war sie ihm dennoch gefolgt; denn er gab ihr niemals Geld, sie mußte oft für sich und für ihn zahlen. Was sollte aus ihr werden, wenn sie kein Geld mehr erwarb? Angst ergriff sie; die Angst, in einem Freudenhause zu Marchiennes zu enden wie alle Schlepperinnen, die kein Brot und kein Obdach hatten.

»Zum Teufel! Was hast du hier zu suchen?«

Sie habe kein Geld und wolle arbeiten, brachte sie stotternd hervor.

»Dirne, du willst dich mir widersetzen? ... Fort, nach Hause, wenn du nicht mit Fußtritten hinausbefördert werden willst!«

Sie wich scheu zurück, ging aber nicht; sie wollte sehen, welche Wendung die Dinge nehmen würden.

Deneulin kam über die Treppe des Sichtungsschuppens bei der Grube an. Trotz des schwachen Lichtes der Laternen erfaßte er mit einem raschen Blick die ganze Lage, er sah die in Schatten getauchte Menge, in der er jedes Gesicht kannte, die Häuer, die Verlader, die Handlanger, die Schlepperinnen. In dem neuen, noch sauberen Schacht ruhte die Arbeit. Die unter Druck stehende Maschine ließ ein leises Zischen des [324] Dampfes vernehmen; die Schalen hingen an den unbeweglichen Seilen; die auf halbem Wege im Stich gelassenen Karren standen auf dem auf Eisenplatten gefügten Fußboden umher. Man hatte kaum achtzig Lampen geholt, die anderen brannten in der Lampenkammer. Ein Wort von ihm werde sicherlich genügen, und die Arbeit werde aufgenommen, sagte sich Herr Deneulin.

»Was geht denn vor, Kinder?« fragte er mit lauter Stimme. »Was verdrießt euch? Erklärt es mir, wir werden uns verständigen.«

Gewöhnlich zeigte er sich seinen Leuten gegenüber väterlich-wohlwollend, wenngleich er viel Arbeit forderte. Gebieterisch und schroff in seinem Auftreten, suchte er sie zuerst durch geräuschvolle Leutseligkeit zu gewinnen; er war bei ihnen im ganzen beliebt, denn sie achteten in ihm vornehmlich den Mann von Mut, der immer mit ihnen in den Schlägen war, der erste bei Gefahr, wenn ein Unglücksfall die Grube in Schrecken versetzte. Zweimal schon hatte man ihn nach schlagenden Wettern an einem Seil hinabgelassen, wenn selbst die Kühnsten sich nicht in die Grube wagten.

Jetzt nahm er wieder das Wort.

»Ihr laßt mich doch nicht bereuen, daß ich mich für euch verbürgt habe?« sagte er. »Ihr wißt, daß ich es abgelehnt habe, einen Gendarmerieposten hier aufzunehmen, wie mir angeboten wurde ... Sprecht ruhig, ich höre euch.«

Jetzt schwiegen alle verlegen und entfernten sich von ihm; endlich sagte Chaval:

»Herr Deneulin, wir können nicht weiterarbeiten; wir müssen fünf Centimes mehr für die Karre haben.«

Er schien überrascht.

»Wie? Fünf Centimes? Aus welchem Anlaß erhebt ihr diese Forderung? Ich beklage mich nicht über eure Verzimmerungen; ich will euch keinen neuen Tarif auferlegen wie die Verwaltung von Montsou.«

[325] »Das ist möglich; aber die Kameraden von Montsou sind dennoch in ihrem Recht. Sie weisen den Tarif zurück und fordern eine Erhöhung um fünf Centimes, weil man bei den gegenwärtigen Preisen unmöglich sauber arbeiten kann ... Wir wollen fünf Centimes mehr: nicht wahr, Leute?«

Man hörte Zustimmungsrufe, der Lärm hub wieder an, und die Arme fuchtelten heftig umher. Allmählich kamen alle näher und umstanden ihn in engem Kreise.

Eine Flamme entzündete sich in den Augen Deneulins; als ein Mann der mit starker Hand zu regieren liebte, preßte er die Fäuste zusammen aus Furcht, daß er der Versuchung nachgeben könne, einen dieser Arbeiter an der Gurgel zu packen. Doch er zog es vor, mit ihnen zu unterhandeln, sich an ihre Vernunft zu wenden.

»Ihr wollt fünf Centimes, und ich gebe zu, daß die Arbeit es wert ist. Allein ich kann sie euch nicht geben. Wenn ich sie euch gebe, bin ich ganz einfach geliefert ... Vor allem muß ich selbst leben können, wenn ihr leben wollt. Und ich bin an der äußersten Grenze angelangt; die geringste Vermehrung der Herstellungskosten müßte meinen Sturz zur Folge haben. Bei dem letzten Streik vor zwei Jahren habe ich noch nachgegeben, weil ich es konnte. Indes hatte jene Lohnerhöhung für mich schlimme Folgen; ich habe seither zu kämpfen. Heute würde ich lieber die ganze Bude im Stich lassen, denn ich wüßte im nächsten Monat nicht mehr, womit ich euch bezahlen soll.«

Chaval lachte hämisch dem Herrn ins Gesicht, der ihnen so freimütig seine Verhältnisse darlegte; die anderen schauten zur Erde; sie waren eigensinnig und wollten nicht begreifen, daß ein Arbeitgeber nicht Millionen an seinen Arbeitern verdiene.

Deneulin drang weiter in sie. Er erklärte ihnen seinen Kampf gegen Montsou, das stets auf der Lauer sei und bereit, ihn zu verschlingen. Es sei ein wilder Wettbewerb, der ihn zu Ersparnissen zwinge, um so mehr, [326] als die große Tiefe der Jean-Bart-Grube die Kosten der Förderung erhöhe – ein ungünstiger Umstand, der durch die größere Dichtigkeit des Kohlenlagers kaum wettgemacht werde. Er drohte ihnen mit der Zukunft; was hätten sie davon, wenn sie ihn zwängen, die Grube zu verkaufen? Sie gerieten unter das Joch der Gesellschaft. Er throne nicht so weit oben in einem unbekannten Heiligtum; er sei nicht einer jener Aktionäre, die Direktoren bezahlten, um den Arbeiter zu rupfen, und die der Arbeiter niemals gesehen habe. Er sei ein Arbeitgeber und wage noch etwas anderes als sein Geld: er wage seine Intelligenz, seine Gesundheit, sein Leben. Die Arbeitseinstellung sei ganz einfach der Tod; denn er habe keinen Vorrat und müsse doch die Bestellungen ausführen. Anderseits dürfe das im Betriebe angelegte Kapital nicht brachliegen. Wie solle er seinen Verpflichtungen nachkommen? Wer werde die Summen verzinsen, die seine Freunde ihm anvertraut hätten? Es sei der Bankerott.

»Ja, so ist es, gute Leute«, schloß er. »Ich möchte euch überzeugen. Man kann von einem Manne nicht verlangen, daß er sich selbst abschlachtet, nicht wahr? Wenn ich euch die fünf Centimes bewillige oder euch in den Streik gehen lasse, ist es geradeso, als wenn ich mir den Hals abschneide.«

Er schwieg. Es entstand ein Gemurmel unter den Arbeitern; ein Teil schien zu schwanken. Mehrere kehrten zur Einfahrt des Schachtes zurück.

»Man soll doch jedem seine Freiheit lassen!« rief ein Aufseher ... »Wer will arbeiten?«

Katharina war als eine der ersten vorgetreten; doch Chaval stieß sie wütend zurück und schrie:

»Wir alle sind einig! Ein Schurke, wer seine Kameraden im Stich läßt!«

Nunmehr schien ein Ausgleich unmöglich. Das Geschrei begann von neuem, und man drängte die Leute vom Schachte weg auf die Gefahr hin, sie an den Wänden zu zerdrücken. Einen Augenblick versuchte der [327] verzweifelte Direktor allein den Kampf gegen diese Menge aufzunehmen und sie durch seine Heftigkeit zu bezwingen; allein es war eine nutzlose Torheit, er mußte weichen. Er blieb einige Minuten im Bureau des Aufnahmebeamten erschöpft auf einem Sessel sitzen, dermaßen außer sich wegen seiner Ohnmacht, daß er keinen Gedanken fassen konnte. Endlich beruhigte er sich; er befahl einem Aufseher, ihm Chaval zu holen; als dieser sich zu einer Unterredung bereit erklärte, verabschiedete er mit einer Handbewegung die Leute.

»Laßt uns allein!«

Der Plan Deneulins war zu erfahren, was der Bursche eigentlich wollte. Nach den ersten Worten war ihm klar, daß er es mit einem eitlen, von Neid verzehrten Burschen zu tun habe. Da suchte er ihm durch Schmeichelworte beizukommen; er stellte sich erstaunt darüber, daß ein so wohlverdienter Arbeiter wie er in solcher Weise seine Zukunft verscherze. Er ließ durchblicken, daß er schon längst seine Augen auf Chaval geworfen habe, um diesen rasch aufrücken zu lassen. Schließlich machte er ihm rundheraus den Vorschlag, ihn später zum Aufseher zu ernennen. Chaval hörte ihn stillschweigend an mit anfangs geballten, später allmählich sich öffnenden Fäusten. In seinem Schädel gärte es heftig; wenn er hartnäckig auf Streik bestand, konnte er nur Stellvertreter Etiennes sein; hier eröffnete sich ihm ein anderer Pfad: er konnte Oberhaupt werden. Heiß stieg ihm der Stolz ins Gesicht und betäubte ihn. Die Bande der Streikenden, die er seit dem Morgen erwartete, konnte jetzt kaum mehr kommen, irgendein Hindernis mußte sie aufhalten, vielleicht Gendarmen. Nichtsdestoweniger schüttelte er den Kopf, spielte den Unkäuflichen, warf sich stolz in die Brust. Ohne dem Herrn etwas von dem Stelldichein zu sagen, das er mit den Streikenden von Montsou verabredet hatte, versprach er schließlich, die Kameraden zu beschwichtigen und sie zur Einfahrt zu bereden.

Deneulin blieb verborgen; auch die Aufseher hielten [328] sich abseits. Eine Stunde lang hörten sie Chaval im Aufnahmesaale von einem Karren herab reden. Ein Teil der Arbeiter beschimpfte ihn; ihrer hundertzwanzig gingen erbittert davon; sie beharrten in dem Entschluß, zu dem er sie vorhin beredet hatte. Sieben Uhr war vorüber; der Tag war angebrochen, ein klarer, kalter Wintertag. Plötzlich kam die Grube wieder in Bewegung, die unterbrochene Arbeit begann von neuem. Der Kolben der Maschine senkte sich, die Kabel rollten auf und ab. Inmitten des Getöses der Signale begann die Einfahrt; die Schalen füllten sich, versanken, stiegen wieder herauf; der Schacht verschlang seine Ration von Häuern, Schlepperinnen, Handlangern, während die Jungens die Karren mit donnerndem Getöse fortschoben.

»Donner Gottes! was treibst du da?« rief Chaval Katharina zu, die wartete, bis sie an die Reihe komme. »Wirst du einfahren und nicht länger Maulaffen feilhalten!«

Als Frau Hennebeau um neun Uhr mit Cäcilie in ihrer Kalesche ankam, fand sie Luzie und Johanna bereit, sehr elegant trotz ihrer zwanzigmal ausgebesserten Toiletten. Doch Deneulin war erstaunt, als er Negrel erblickte, der die Kalesche zu Pferde begleitet hatte. Wie? Gehörten denn auch Herren zur Partie? Da erklärte Frau Hennebeau in ihrer mütterlichen Weise, daß man sie erschreckt habe, die Straßen seien voll verdächtiger Gestalten, und sie habe deshalb einen Verteidiger mitnehmen wollen. Negrel lachte und beruhigte die Damen; es sei nichts zu befürchten von diesen Schreiern, unter denen kein einziger den Mut habe, einen Stein nach einem Fenster zu schleudern. Noch froh über seinen Erfolg, erzählte Deneulin, wie er in Jean-Bart den Aufstand unterdrückt habe. Jetzt sei er beruhigt. Während die Fräulein in den Wagen stiegen, der auf der nach Vandame führenden Straße hielt, freuten sich alle des herrlichen Tages und ahnten nichts von dem immer stärker anwachsenden Erzittern der [329] fernen Landschaft, nichts von dem heranziehenden Volk, dessen Anstürmen sie hätten hören können, wenn sie das Ohr an die Erde gedrückt hätten.

»Also abgemacht«, wiederholte Madame Hennebeau. »Heute abend holen Sie die Damen ab und essen bei uns. Auch Frau Grégoire hat mir versprochen, Cäcilie abzuholen.«

»Rechnen Sie auf mich«, antwortete Deneulin.

Die Kalesche fuhr in der Richtung nach Vandame; Johanna und Luzie hatten sich zum Wagen hinausgeneigt, um noch einmal ihrem Vater zuzulächeln, der am Rande der Straße stehengeblieben war, während Negrel galant hinter dem Wagen dahintrabte.

Man kam durch den Wald und schlug den von Vandame nach Marchiennes führenden Weg ein. Als man sich dem Tartaret näherte, fragte Johanna Frau Hennebeau, ob sie die »grüne Halde« kenne; diese mußte bekennen, daß sie, obgleich sie seit fünf Jahren in der Gegend wohne, niemals nach dieser Richtung gekommen sei. Da machte man einen Umweg. Der am Waldessaum gelegene Landstrich war von vulkanischer Unfruchtbarkeit, weil seit Jahrhunderten ein Kohlenbrand im Innern des Erdreiches wütete. Der Ursprung dieses Feuers verlor sich in sagenhaft ferne Zeiten; die Bergleute der Gegend erzählten darüber eine Geschichte. Das Feuer des Himmels war aus den Eingeweiden der Erde über dieses Sodom gekommen, wo die Schlepperinnen sich abscheulichen Lastern hingaben, so daß sie nicht Zeit hatten emporzusteigen und noch heute in der Tiefe dieser Hölle brannten. Die dunkelroten, verkalkten Felsen waren mit Alaun bedeckt wie mit Aussatz; am Rande der Sprünge zeigte sich Schwefel, einer gelben Blume gleich. Die Kühnen, die des Nachts wagten, einen Blick in diese Schlünde zu werfen, versicherten, dort Flammen gesehen zu haben, die sündigen Seelen, die in der unterirdischen Glut brieten. Irrlichter huschten knapp am Boden dahin, heiße Dünste brachen unablässig hervor und führten den Gestank der Teufelsküche [330] mit sich. Gleich einem Wunder ewigen Lenzes erhob sich inmitten dieses verwünschten Landstriches die »grüne Halde« mit ihrem ewig grünen Rasen, ihren Buchen, deren Laub sich unaufhörlich erneuerte, ihren Feldern, wo es in einem Jahre drei Ernten gab. Es war ein natürliches Treibhaus, durch den Brand der tiefen Schichten unablässig geheizt. Der Schnee war hier niemals von Dauer. Dieser riesige Strauß von Grün – neben den entlaubten Bäumen des Waldes – entfaltete sich an diesem Dezembertag, ohne daß der Frost auch nur seine Ränder gerötet hätte.

Bald rollte die Kalesche wieder in der Ebene dahin. Negrel scherzte über die Legende und erklärte, wie infolge der Gärung des Kohlenstaubes sehr häufig ein Grubenbrand entstehe, der ohne Ende fortdauere, wenn man ihn nicht zu bewältigen vermöge. Er nannte eine belgische Grube, die man ersäufte, indem man einen Fluß in den Schacht leitete. Doch er schwieg jetzt still; seit einer Weile begegneten dem Wagen jeden Augenblick Rotten von Bergleuten. Sie zogen schweigend mit hämischen Blicken vorüber, den Luxus musternd, der sie auszuweichen nötigte. Ihre Menge wuchs immer mehr an; die Pferde mußten im Schritt über die kleine Scarpebrücke gehen. Was bereitete sich vor, daß all das Volk sich auf den Heerstraßen umhertrieb? Die Damen erschraken; Negrel begann irgendeinen Aufruhr zu wittern; alle atmeten auf, als sie endlich in Marchiennes ankamen. Unter der Sonne, die sie auszulöschen schienen, ließen die Batterien der Koksöfen und die Türme der Hochöfen ihre Rauchwolken aufsteigen, deren ewiger Ruß wie schwarzer Regen sich aus der Luft niedersenkte.

[331] Zweites Kapitel

In der Jean-Bart-Grube schob Katharina seit einer Stunde die Karren bis zur Ablösungsstelle; sie war dermaßen in Schweiß gebadet, daß sie einen Augenblick innehalten mußte, um sich das Gesicht abzutrocknen.

Chaval, der mit den Kameraden seiner Gruppe im Schlage arbeitete, war erstaunt, als er das Rollen der Karren nicht mehr hörte. Die Lampen brannten schlecht, der Kohlenstaub hinderte ihn zu sehen.

»Was gibt es?« schrie er.

Als sie ihm geantwortet hatte, daß sie schier zerfließe, und daß ihr das Herz aus dem Leibe zu fallen drohe, erwiderte er wütend:

»Dummes Vieh, mach' es wie wir und wirf das Hemd ab!«

Es war siebenhundertacht Meter tief im Norden, in dem ersten Teile der Désirée-Ader, drei Kilometer von der Einfahrt entfernt. Wenn die Bergleute von diesem Teil der Grube sprachen, erbleichten sie und dämpften die Stimme, als hätten sie von der Hölle gesprochen; sie schüttelten zumeist nur die Köpfe und zogen es vor, nicht von den glühenden Höllentiefen zu reden. In dem Maße, wie die Galerien sich nach Norden ausdehnten, näherten sie sich dem Gebiet des unterirdischen Brandes, der weiter oben die Felsen verkalkte. An der Stelle, wo man angelangt war, hatten die Schläge eine Durchschnittstemperatur von fünfundvierzig Grad. Man befand sich mitten in der verwünschten Gegend, unter den Flammen, die jeder, der durch die Ebene kam, in den Schlünden sehen konnte, die Schwefel und abscheuliche Dämpfe spien.

Katharina, die schon ihren Kittel abgelegt hatte, zögerte einen Augenblick, dann zog sie auch das Beinkleid aus. Mit nackten Armen und nackten Schultern, das Hemd nach Art eines Kittels mittels einer Schnur um die Hüften befestigend, machte sie sich wieder an die Arbeit.

[332] »Es wird so besser gehen«, sagte sie laut.

In ihre Beklemmung mengte sich eine unbestimmte Angst. Seit den fünf Tagen, da sie hier arbeiteten, dachte sie an die Geschichten, mit denen man sie in ihrer Kindheit erschreckt hatte, an die Schlepperinnen von ehemals, die unter der Erde brannten zur Strafe für Dinge, die man nicht zu wiederholen wagte. Sie war jetzt allerdings zu groß, um an solche Dummheiten zu glauben; und doch, was hätte sie getan, wenn plötzlich aus der Kohlenwand ein Mädchen hervorgekommen wäre, rot wie ein Ofen und mit zwei glühenden Kohlen an Stelle der Augen? Dieser Gedanke vermehrte noch ihren Schweiß.

Bei der Ablösungsstelle, achtzig Meter vom Schlage, übernahm eine andere Schlepperin den Karren und rollte ihn achtzig Meter weiter, bis zur schiefen Ebene, wo der Übernehmer ihn mit den von den höheren Gängen ankommenden zugleich an die Oberfläche schaffte.

»Du machst dir's aber bequem«, sagte dieses Weib, eine magere Witwe von dreißig Jahren, als sie Katharina sah. »Ich tu es nicht; die Jungens ärgern mich mit ihren unflätigen Reden.«

»Ich kümmere mich wenig um die Mannsleute; ich leide zu stark durch die Hitze«, antwortete das Mädchen.

Nach zwei Fahrten glaubte Katharina von neuem ersticken zu müssen.

»Schläfst du denn?« rief Chaval heftig, sobald er ihre Bewegungen nicht mehr hörte. »Wer hat mir ein solches Faultier an den Hals gehängt? Willst du wohl deinen Karren füllen und schieben?«

Katharina stützte sich auf ihre Schaufel. Unwohlsein erfaßte sie, während sie mit blöder Miene und ohne zu gehorchen die anderen betrachtete. Sie sah sie nur undeutlich bei dem rötlichen Schein der Lampen, ganz nackt wie die Tiere, so schwarz, so schmutzig von Schweiß und Kohle, daß ihre Nacktheit ihr nicht anstößig schien. Es war, als verrichteten Affen mit gestrecktem Rücken ihr finsteres Werk; ein höllisches Bild [333] von geröteten Gliedern, die sich unter dumpfen Schlägen und Ächzen erschöpften.

Katharina hatte sich mühselig wieder entschlossen, ihren Karren zu füllen, und schob ihn fort. Die Galerie war zu breit, als daß sie auf beiden Seiten an die Hölzer hätte anstoßen können. Ihre nackten Füße krümmten sich in dem Geleise, wo sie einen Stützpunkt suchten, während sie langsam, die Arme vorgestreckt, den Leib vorgebeugt, sich fortbewegte. Der Schweiß rann von ihrem ganzen Körper in großen Tropfen. Sie hatte noch nicht den dritten Teil der Strecke zurückgelegt und war schon in Schweiß gebadet, geblendet, mit schwarzem Schmutz bedeckt.

Was hatte sie denn heute? Niemals hatte sie sich so matt gefühlt. Es mußte an der verschlechterten Luft liegen. In diesem fernen Gang war keine Lüftung. Man roch alle Arten Dämpfe, die mit leisem Brodeln aufstiegen, manchmal so reichlich, daß die Lampen zu erlöschen drohten; von den schlagenden Wettern nicht zu reden, die jahraus, jahrein den Arbeitern um die Nase wehten. Sie kannte diese schlechte Luft sehr gut, diese tote Luft, wie die Grubenarbeiter sie nennen; unten erstickende, schwere Gase, oben leichte Gase, die sich entzünden und in einem einzigen Donnerschlage alle Werkplätze einer Grube, Hunderte von Menschen vernichten. Seit ihrer Kindheit hatte sie davon so viel verschluckt, daß sie sich wunderte, wie sie diese Luft heute so schwer ertrug, daß ihr die Ohren sausten und der Hals brannte.

Sie fiel jetzt auf die Knie. Die auf dem Karren zwischen den Kohlen stehende Lampe schien erlöschen zu wollen. In dem Wirrsal ihrer Gedanken erhielt sich nur der Wunsch, den Docht der Lampe emporzuschrauben. Zweimal wollte sie die Lampe untersuchen, und beide Male, als sie dieselbe vor sich auf den Boden hinstellte, sah sie die Flamme kleiner werden, als sei auch ihr der Atem ausgegangen. Plötzlich erlosch die Lampe. Alles versank in Finsternis, ein Mühlstein [334] kreiste in ihrem Schädel, ihr Herz hörte auf zu schlagen, gelähmt durch die ungeheure Mattigkeit, die ihre Glieder einschläferte. Sie lehnte sich zurück und lag in der erstickenden Luft wie tot am Boden.

»Ich glaube gar, sie faulenzt wieder«, grollte die Stimme Chavals von neuem.

Er lauschte von der Höhe des Schlages und hörte das Rollen der Räder nicht.

»He, Katharina, verdammte Blindschleiche!«

Seine Stimme verlor sich in der Ferne, in der finsteren Galerie; kein Laut antwortete.

»Soll ich dir auf die Beine helfen?« schrie er wieder.

Nichts bewegte sich; die nämliche Totenstille. Er stieg wütend herab und lief mit seiner Lampe so heftig dahin, daß er beinahe über den Körper der Schlepperin strauchelte, die querüber auf dem Wege lag. Er staunt betrachtete er sie. Was hatte sie denn? Das war doch nicht etwa Verstellung, um sich ein Schläfchen zu gönnen? Doch als er die Lampe senkte, um ihr ins Gesicht zu leuchten, drohte sie zu erlöschen. Er hob sie in die Höhe, senkte sie wieder und begriff endlich: es mußte Stickluft sein. Seine Heftigkeit wich, und seine Zuneigung erwachte angesichts der in Gefahr befindlichen Genossin. Er schrie, man solle ihm sein Hemd bringen; er hatte das ohnmächtige Mädchen mit beiden Armen umfangen und hob sie so hoch, wie er konnte. Als man ihm seine und ihre Kleider über die Schultern geworfen hatte, eilte er davon, mit der einen Hand seine Last, mit der andern die beiden Lampen tragend. Die tiefen Galerien dehnten sich dahin: er rannte rechts, er rannte links, um die eisige Luft zu erreichen, die der Ventilator in die Grube strömen ließ. Ein Geplätscher, wie von einer Quelle, ließ ihn plötzlich stillhalten; es war eine Wasserader, die den Felsen durchbrochen hatte. Chaval hatte den Kreuzweg einer großen Abfuhrgalerie erreicht, die ehemals zum Gaston-Marie-Schacht gehört hatte. Die Lüftung wehte hier mit der Macht eines Sturmwindes; es war so kühl, daß er von einem Frösteln [335] geschüttelt wurde, als er seine Geliebte zu Boden setzte, die noch immer bewußtlos war.

»Katharina, hör'! ... Mach' keine Dummheiten ... Halte dich ein wenig, damit ich das Hemd ins Wasser tauchen kann.«

Er erschrak, als er sie so ohnmächtig sah; indes konnte er sein Hemd in die Quelle tauchen und wusch ihr das Gesicht damit. Der schmächtige Körper war wie tot und begraben hier tief unter der Erde. Dann lief ein Frösteln über ihre Glieder, sie schlug die Augen auf und stammelte:

»Mich friert.«

»Ach, das ist mir lieber!« rief Chaval erleichtert.

Er kleidete sie an. Sie war noch völlig betäubt, begriff nicht, wo sie sich befand, noch auch, weshalb sie nackt war. Als sie sich endlich erinnerte, überkam sie ein Gefühl der Scham.

Niemals hatte sie ihn so freundlich gesehen. Gewöhnlich tauschte sie für ein gutes Wort zwei Grobheiten ein. Es wäre so schön gewesen, in Eintracht zu leben. In ihrer Mattigkeit kam eine Regung der Zärtlichkeit über sie. Sie lächelte ihm zu und flüsterte:

»Küsse mich!«

Er küßte sie und setzte sich neben sie, um zu warten, bis sie wieder gehen könne.

»Sieh,« fuhr sie fort, »es war nicht recht von dir, daß du vorhin schriest. Ich konnte nicht weiter, wahrhaftig nicht! Ihr habt im Schlage weniger unter der Hitze zu leiden; aber wenn du wüßtest, wie man in dem Gange gebraten wird!«

»Gewiß wäre es unter den Bäumen angenehmer«, antwortete er. »Für dich ist's schlimm, auf diesem Werkplatz zu arbeiten, mein armes Mädchen, das merke ich wohl.«

Sie war sehr gerührt, als sie ihn so einsichtig sah, daß sie die Tapfere spielte.

»Es ist nur heute«, sagte sie; »ich bin so schwach, und die Luft ist so schlecht ... Aber du sollst gleich sehen, ob [336] ich eine Blindschleiche bin. Wenn man arbeiten muß, arbeitet man, nicht wahr? Ich würde lieber verenden als die Arbeit im Stich lassen.«

Ein Schweigen trat ein. Er hatte den Arm um ihren Leib gelegt und drückte sie an seine Brust, damit sie, keine Erkältung davontrage. Obgleich sie sich schon stark genug fühlte, zum Werkplatz zurückzukehren, vergaß sie sich doch mit Wonne an seiner Seite.

»Ich wünschte nur, daß du freundlicher seiest«, fuhr sie leiser fort. »Man ist so glücklich, wenn man sich ein wenig liebt.«

Sie begann still zu weinen.

»Aber ich liebe dich; ich habe dich zu mir genommen«, schrie er.

Sie antwortete nur mit einem Kopfschütteln. Die Männer nahmen oft Besitz von den Weibern, bloß um sie zu haben, unbekümmert darum, ob das Weib auch glücklich sei. Ihre Tränen flossen heißer; sie war jetzt trostlos, wenn sie daran dachte, welch schönes Leben sie führen würde, wenn sie einen andern Burschen gefunden hätte. Einen andern? In ihrer tiefen Bewegung tauchte das Bild dieses andern vor ihr auf. Doch das war vorüber; sie hatte nur noch den Wunsch, mit diesem da zu leben, wenn er sie nur weniger rauh behandeln wolle.

»Suche wenigstens von Zeit zu Zeit so zu sein wie jetzt«, sagte sie.

Ein Schluchzen unterbrach ihre Worte; er küßte sie von neuem.

»Sei nicht dumm«, sagte er. »Ich verspreche dir, daß ich artig sein will. Ich bin nicht schlimmer als jeder andere, glaub' mir!«

Sie schaute ihn an und lächelte wieder unter Tränen. Vielleicht hatte er recht, und es gab keine glücklichen Frauen. Dann – obgleich sie seinem Versprechen nicht traute – überließ sie sich der Freude, ihn liebenswürdig zu sehen. Mein Gott, wenn es von Dauer sein könnte! Sie hatten sich wieder umarmt und wurden durch [337] Schritte aufgeschreckt. Drei Kameraden, die sie hatten vorübereilen sehen, kamen näher, um zu erfahren, was es gebe.

Alle machten sich auf den Weg. Es war bald zehn Uhr, und man nahm sein Frühstück in einem kühlen Winkel, ehe man nach dem Schlag zurückkehrte, um dort zu schwitzen. Sie hatte eben ihren »Ziegel« verzehrt und einen Schluck Kaffee dazu aus der Feldflasche getrunken, als ein Lärm, der von den entfernten Schlägen herkam, sie in Unruhe versetzte. Was gab's denn? Vielleicht wieder einen Unglücksfall? Sie erhoben sich und eilten hin. Jeden Augenblick kreuzten Häuer und Schlepperinnen ihren Weg; niemand wußte etwas, und alle schrien; es mußte ein großes Unglück sein. Allmählich geriet die ganze Zeche in Aufruhr; entsetzte Schatten strömten aus den Galerien hervor, die Laternen zogen hüpfend durch die Finsternis dahin. Wo war's? Warum sagte man es nicht?

Plötzlich kam ein Aufseher vorüber und schrie:

»Man durchschneidet die Kabel! Man durchschneidet die Kabel!«

Da fuhr allen der Schreck in die Glieder. Es entstand ein wütendes Laufen durch die dunklen Galerien. Alle hatten den Kopf verloren. Weshalb durchschnitt man die Kabel? Wer durchschnitt sie, während noch Leute in der Grube waren? Das schien ihnen ungeheuer.

Doch jetzt kam ein anderer Aufseher, dessen Geschrei sich in den Galerien verlor.

»Die Arbeiter von Montsou durchschneiden die Kabel! Alle Leute hinaus!«

Als Chaval begriffen hatte, hielt er Katharina jäh zurück. Der Gedanke, daß er oben den Arbeitern begegnen werde, lähmte ihm die Beine. So war sie denn doch eingetroffen, diese Bande, die er in den Händen der Gendarmen glaubte! Einen Augenblick dachte er daran, umzukehren und durch den Gaston-Marie-Schacht aufzusteigen; allein der Fahrstuhl war dort nicht mehr in Betrieb. Er fluchte, zögerte, suchte seine Furcht zu verbergen [338] und wiederholte, es sei albern, so zu laufen. Man werde sie doch nicht in der Grube lassen.

Abermals ertönte die Stimme des Aufsehers, jetzt wieder näher:

»Alle hinaus! Zu den Leitern! Zu den Leitern!«

Chaval wurde von den Kameraden mitgerissen. Er drängte Katharina vor sich her, beschuldigte sie, nicht schnell genug zu laufen. Sollten sie allein in der Grube bleiben, um Hungers zu sterben? Die Räuber von Montsou seien imstande, die Leitern zu zerstören, noch ehe alle Arbeiter draußen waren. Dieser gräßliche Gedanke brachte alle völlig aus der Fassung; es entstand ein wütendes Rennen die Galerien entlang; jeder suchte dem andern zuvorzukommen. Einige Männer schrien, die Leitern seien zerbrochen, niemand gelange mehr ins Freie. Als sie in entsetzten Gruppen in dem Aufzugssaal ankamen, entstand eine Stockung; alle stürzten nach dem Schacht, arges Gedränge herrschte vor der schmalen Pforte, die zu den Leitern führte; ein alter Stallknecht, der vorsichtshalber die Pferde nach dem Stall zurückgeführt hatte, sah mit verächtlicher Sorglosigkeit dieses Treiben mit an, er war gewohnt, Nächte in der Grube zuzubringen, und war sicher, daß man ihn schließlich hinaufbefördern werde.

»Spute dich, steige vor mir hinauf«, rief Chaval Katharina zu; »so kann ich dich wenigstens festhalten, wenn du fällst.«

Atemlos und völlig erschöpft durch diesen drei Kilometer weiten Lauf, der sie wieder mit Schweiß bedeckt hatte, ließ sie sich von der Menge fortschieben, ohne die Sache zu begreifen. Er faßte sie am Arm mit solcher Gewalt, als wollte er ihn zerquetschen; sie stieß einen Wehruf aus, und Tränen stürzten ihr aus den Augen. Schon hatte er sein Versprechen vergessen; sie würde niemals glücklich werden.

»Vorwärts!« brüllte er.

Doch sie hatte zu große Furcht vor ihm. Wenn sie vor ihm hinaufstiege, würde er sie die ganze Zeit mißhandeln. [339] Darum widersetzte sie sich, während die tolle Menge der Kameraden beide zur Seite stieß. Wasser fiel in schweren Tropfen herab, der Fußboden, durch das Getrappel der Menge erschüttert, zitterte über der mit schmutzigem Wasser gefüllten Senkgrube, die eine Tiefe von zehn Meter hatte. Gerade im Jean-Bart war vor zwei Jahren das Unglück geschehen, daß ein Kabel riß und die Schale in die Senkgrube stürzte, wo zwei Arbeiter ertranken. Dieses Unglücksfalles erinnerten sich jetzt alle; wenn man auf dem Bretterboden in allzu großer Menge sich ansammelte, könnten alle in der Senkgrube ihren Tod finden.

»Verwünschter Dickschädel!« schrie Chaval. »Krepiere also! Ich bin dich dann los.«

Er ging voraus, und sie folgte ihm.

Von der Tiefe der Grube bis zur Erdoberfläche führten hundertzwei Leitern von je sieben Meter Länge. Jede Leiter stand auf einem schmalen Absatz, der die Breite des Schachtes hatte, in dem ein viereckiges Loch knapp so viel Raum ließ, daß man die Schultern durchschieben konnte. Es war wie ein glatter Kamin von siebenhundert Meter Höhe; ein feuchter, finsterer, endloser Schlauch, wo Leiter auf Leiter stand, fast gerade, in regelmäßigen Stockwerken. Ein kräftiger Mann brauchte fünfundzwanzig Minuten, um diese Riesensäule zu ersteigen. Dieser Schacht diente übrigens nur zum Aufstieg, wenn ein Unglücksfall sich ereignete.

Anfänglich stieg Katharina munter hinan. Ihre Füße waren daran gewöhnt, über die kleinen Kohlenstücke zu schreiten, die auf den Wegen lagen; sie litten denn auch nicht durch die viereckigen Leitersprossen, die mit Eisen belegt waren, um nicht abgenützt zu werden. Ihre abgehärteten Hände faßten mutig die dicken Pfosten der Leitern. Sie fand sogar Zerstreuung daran und vergaß ihren Kummer bei diesem unvorhergesehenen Aufstieg, dieser langen Schlange von Menschen, die sich hinaufwand, drei auf jeder Leiter, so daß die ersten oben sein mußten, wenn die letzten noch über der Senkgrube [340] standen. Man war aber noch nicht soweit. Die ersten mochten kaum ein Drittel des Schachtes zurückgelegt haben. Niemand sprach mehr; die Füße stapften mit dumpfen Geräusch dahin, während die Lampen – gleich irrenden Sternen – in immer wachsender Linie aufstiegen.

Katharina hörte hinter sich einen Jungen die Leitern zählen. Dies brachte sie auf den Gedanken, ebenfalls zu zählen. Man hatte fünfzehn erstiegen und gelangte jetzt zu einem Absatz. In demselben Augenblick stieß sie an die Füße Chavals. Er fluchte und schrie ihr zu, sie solle besser aufpassen. Die ganze Säule blieb stehen und wurde unbeweglich. Was war's? Was ging vor? Jeder fand seine Stimme wieder, um zu fragen und zu erschrecken. Die Angst stieg immer drückender aus der Tiefe herauf; das unbekannte Hindernis dort oben schnürte allen immer mehr die Kehle zu. Jemand verkündete, man müsse wieder hinabsteigen, die Leitern seien gebrochen. Dann wieder ging eine andere Erklärung von Mund zu Mund: ein Häuer sei von einer Leitersprosse abgeruscht. Man wußte nichts Genaues; in dem Geschrei war nichts zu hören. Sollte man denn auf den Leitern übernachten? Endlich wurde, ohne daß man Aufklärung bekommen, der Aufstieg fortgesetzt mit derselben langsamen und mühseligen Bewegung, dem dumpfen Geräusch der Tritte und dem Tanz der Lampen. Die zerbrochenen Leitern mußten höher sein.

Bei der zweiunddreißigsten Leiter – man war eben bei einem dritten Absatz vorbeigekommen – fühlte Katharina ihre Beine und Arme steif werden. Zuerst hatte sie ein leichtes Prickeln der Haut gefühlt. Sie verlor jetzt das Gefühl für Eisen und Holz unter den Füßen und in den Händen. Ein immer mehr anwachsender, brennender Schmerz wütete in ihren Muskeln. In der Betäubung, die sich ihrer bemächtigte, erinnerte sie sich der Geschichten des Großvaters Bonnemort aus der Zeit, als es noch keine Aufzüge gab und kleine Mädchen von zehn Jahren die Kohle auf ihren Schultern [341] hinaufschafften auf den Leitern, die an der kahlen Wand aufgestellt waren. Wenn eine ausglitt oder ein Stück Kohle aus einem Korbe fiel, stürzten gleich drei, vier Kinder ab. Die Krämpfe in ihren Gliedern wurden unerträglich; sie verzweifelte daran, hinaufzugelangen.

Es traten neue Stockungen ein, und diese gestatteten ihr, sich ein wenig zu verschnaufen. Allein das Entsetzen, das jedesmal von oben herabwehte, vollendete ihre Betäubung. Der Atem der Menschen über ihr und unter ihr floß zusammen, ein Schwindelgefühl ging von diesem endlosen Aufstieg aus, dessen Übelkeit sie ebenso durchrüttelte wie die anderen. Sie er stickte fast, betäubt von der Finsternis, verzweifelt über das fortwährende Anstoßen an die Mauern des engen Schlundes. Sie fröstelte auch infolge der Feuchtigkeit; ihr Körper war in Schweiß gebadet, und die Nässe drang in eiskalten Tropfen auf sie ein. Der Regen fiel so dicht, daß er die Lampen auszulöschen drohte.

Chaval fragte zweimal Katharina, ohne eine Antwort zu erhalten. Was trieb sie denn da unter ihm? Hatte sie ihre Zunge fallen lassen? Sie konnte ihm doch sagen, ob sie sich noch halte. Der Aufstieg währte schon eine halbe Stunde, ging aber so langsam vor sich, daß man erst auf der neunundfünfzigsten Leiter war. Noch dreiundvierzig waren übrig. Katharina stammelte endlich, daß sie sich noch halte. Er hätte sie wieder eine Blindschleiche genannt, wenn sie ihm ihre Müdigkeit gestanden hätte. Das Eisen der Sprossen schien jetzt die Füße einzuschneiden; ihr war, als säge man sie bis auf die Knochen durch. Jedesmal, wenn sie die Hände nach den Pfosten ausstreckte, war sie darauf gefaßt, sie abgleiten zu sehen; sie waren dermaßen zerschunden und steif, daß sie die Finger nicht schließen konnte; sie glaubte abstürzen zu müssen; ihr war, als seien ihre Schultern losgerissen, ihre Knie aus den Gelenken geraten. Sie litt besonders durch die geringe Neigung der Leitern, die fast senkrecht standen, so daß sie genötigt war, sich durch die Kraft der Handknöchel emporzuziehen,[342] wobei der Leib an das Holz gepreßt war. Das Keuchen der Menge verdeckte jetzt das Stapfen der Tritte; ein ungeheures Röcheln, zehnfach verstärkt durch die engen Wände des Schlundes, erhob sich aus der Tiefe und erstarb an der Erdoberfläche. Jetzt ward ein Ächzen hörbar, Worte flogen von Mund zu Mund: ein Junge hatte sich an der Kante eines Absatzes den Schädel eingerannt.

Katharina stieg immer höher. Der Regen hatte aufgehört, Nebel verdichtete die Kellerluft, die durch den Geruch alten Eisens und feuchten Holzes verdorben war. Hartnäckig fuhr sie fort, im stillen zu zählen: einundachtzig, zweiundachtzig, dreiundachtzig; noch neunzehn. Diese immer wiederholten Ziffern allein waren es, die sie mit ihrem gleichmäßigen Takt aufrechthielten. Sie hatte nicht mehr das Bewußtsein ihrer Bewegungen. Wenn sie die Blicke erhob, sah sie die Lampen spiralförmig kreisen. Ihr Blut fieberte; sie fühlte, daß sie sterbe, daß der leiseste Hauch genügen werde, um sie hinabzuschleudern. Das schlimmste war, daß die nach ihr kommenden Leute jetzt drängten und die ganze Säule aufwärts stürmte, getrieben von der wachsenden Verzweiflung über ihre Ermüdung und von dem wütenden Bedürfnis, die Sonne wiederzusehen. Die ersten waren jetzt aus dem Schacht, es gab also keine zerbrochenen Leitern; doch der Gedanke, daß man sie zerbrechen könne, um die letzten an der Ausfahrt zu hindern, während die anderen sich schon oben erholen konnten, machte sie vollends toll. Als wieder eine Stockung eintrat, wurden wilde Flüche ausgestoßen, alle fuhren fort aufzusteigen, einander stoßend, über Leiber hinwegschreitend, damit man um jeden Preis ins Freie gelange.

Da stürzte Katharina. Sie hatte einen verzweifelten Hilferuf nach Chaval ausgestoßen. Er hörte nicht; er rang mit einem Kameraden, um vor ihm hinaufzugelangen. Sie wurde fortgerissen und getreten. In ihrer Ohnmacht hatte sie einen Traum: ihr schien, sie sei[343] eine der kleinen Schlepperinnen von ehemals, und ein Stück Kohle, das über ihr aus einem Korbe gefallen, habe sie in die Tiefe des Schachtes hinabgeschleudert wie einen Sperling, den ein Kieselstein getroffen. Nur fünf Leitern waren noch zu ersteigen. Der Aufstieg hatte fast eine Stunde gedauert. Niemals erfuhr sie, wie sie ans Tageslicht gelangt war, von Schultern getragen, durch die Enge des Schlotes festgehalten. Plötzlich befand sie sich in der blendenden Sonnenhelle inmitten einer schreienden, wütenden Menge.

Drittes Kapitel

Schon mit Tagesanbruch war eine fiebernde Bewegung durch die Arbeiterdörfer gegangen, jene Bewegung, die jetzt auf allen Wegen in der ganzen Landschaft immer mehr anschwoll. Allein der verabredete Aufbruch konnte nicht stattfinden; es verbreitete sich die Nachricht, daß Dragoner und Gendarmen durch die Ebene zögen. Man erzählte, sie seien während der Nacht aus Douai angekommen; man beschuldigte Rasseneur, die Kameraden verraten zu haben, indem er Herrn Hennebeau von ihren Absichten verständigte; eine Schlepperin versicherte, sie habe gesehen, wie ein Diener die Depesche zum Telegraphenamt trug. Die Arbeiter ballten drohend die Fäuste und lauerten beim fahlen Lichte der Morgendämmerung hinter ihren Fensterläden, ob die Soldaten kämen.

Gegen halb acht Uhr – die Sonne ging eben auf – kam ein anderes Gerücht in Umlauf, das die Ungeduldigen beruhigte. Es handle sich bloß um einen militärischen Übungsmarsch, wie ihn seit dem Ausbruch des Streiks der Kommandierende General auf Wunsch des Präfekten von Lilie wiederholt vornehmen ließ. Die Streikenden verabscheuten diesen Beamten, dem sie vorwarfen, sie durch das Versprechen einer versöhnenden [344] Vermittlung getäuscht zu haben, die sich darauf beschränke, daß er alle acht Tage die Truppen durch Montsou marschieren lasse, um die Arbeiter in Schach zu halten. Wenn die Dragoner und Gendarmen, nachdem sie in hellem Trab über die hartgefrorenen Straßen der Dörfer geritten waren, wieder ruhig den Weg nach Marchiennes einschlugen, lachten die Arbeiter über diesen einfältigen Präfekten mit seinen Soldaten, die Reißaus nahmen, wenn die Dinge sich einmal hitziger gestalteten. Bis neun Uhr hielten sie an sich, blieben ruhig vor ihren Häusern auf dem Straßenpflaster stehen und blickten den letzten Gendarmen nach. Die Bürger von Montsou schliefen noch in ihren großen Betten. Frau Hennebeau verließ zu Wagen das Direktionsgebäude; Herr Hennebeau saß ohne Zweifel bei der Arbeit, denn das Haus lag still und geschlossen wie ausgestorben da. Keine der Gruben war militärisch bewacht; es war der verhängnisvolle Mangel an Vorsicht in der Stunde der Gefahr, die natürliche Dummheit bei Katastrophen; alles Fehler, die eine Regierung begehen kann, wenn es gilt, Tatsachen mit Klugheit zu erfassen. Es schlug neun Uhr, als die Bergleute endlich den Weg nach Vandame einschlugen, um sich zu dem Stelldichein zu begeben, das man am vorhergehenden Tage im Walde beschlossen hatte.

Etienne begriff sogleich, daß er in Jean-Bart kaum die dreitausend Kameraden beisammen haben werde, auf die er zählte. Viele glaubten, die Kundgebung sei verschoben worden, und das schlimmste war, daß zwei oder drei Züge, die schon unterwegs waren, die gute Sache zu gefährden drohten, wenn er sich nicht an ihre Spitze stellte. Nahe an hundert Mann, die vor der Morgendämmerung aufgebrochen, mußten unter die Buchen des Waldes flüchten, um die andern zu erwarten. Suwarin, den der junge Mann zu Rate zog, zuckte nur mit den Achseln: zehn entschlossene Burschen taugen mehr als eine ganze Menge, meinte er. Er vertiefte sich wieder in das Buch, das aufgeschlagen [345] vor ihm lag; er wollte nicht mittun. Alles drohe wieder in Gefühlsausbrüchen zu zerflattern, während es so einfach gewesen wäre, Montsou in Brand zu stecken. Als Etienne das Haus verließ, bemerkte er Rasseneur, der ganz blaß am eisernen Ofen saß, während sein Weib, das in dem ewigen schwarzen Kleid noch länger schien, in scharfen, wenn auch höflichen Worten auf ihn einsprach.

Maheu war der Ansicht, man müsse Wort halten. Eine solche Verabredung sei heilig. Allein die Nacht hatte das Fieber aller besänftigt; er fürchtete jetzt ein Unglück und erklärte, man habe die Pflicht, sich am Ort der Versammlung einzufinden, um die Kameraden in ihrem guten Recht zu unterstützen. Frau Maheu nickte zustimmend. Etienne wiederholte selbstgefällig, man müsse revolutionär vorgehen, ohne jemandes Leben anzutasten. Vor dem Aufbruch wies er seinen Brotanteil zurück, den man ihm gestern samt einer Flasche Wacholderbranntwein gegeben hatte; aber er trank drei Gläschen nacheinander: das sei gegen die Kälte, meinte er. Er nahm sogar in der Feldflasche einen Schnapsvorrat mit. Alzire sollte die Kinder bewachen. Der alte Bonnemort blieb zu Bett; er war am gestrigen Tage zuviel herumgelaufen, und darum taten ihm die Beine weh.

Aus Vorsicht gingen nicht alle zusammen. Johannes war schon längst verschwunden. Maheu und sein Weib eilten auf Seitenwegen in die Richtung von Montsou, während Etienne seinen Weg nach dem Walde nahm, um dort die Kameraden zu treffen. Unterwegs holte er eine Schar Weiber ein, unter denen er die Brulé und die Levaque erkannte; sie aßen Kastanien, welche die Mouquette gebracht hatte, und verschlangen auch die Schalen der Frucht, »damit das Zeug besser im Magen halte«. Im Walde fand Etienne niemand; die Kameraden waren schon in Jean-Bart. Da begann er zu laufen und traf gerade in dem Augenblick ein, als Levaque mit etwa hundert Leuten in den Werkhof eindrang. [346] Von allen Seiten kamen Grubenarbeiter; Maheu und sein Weib auf der Heerstraße, die Weiber querfeldein, alle in regellosen Haufen ohne Führer, ohne Waffen, strömend wie Wasser, das die Hänge hinabläuft. Etienne bemerkte Johannes, der einen Brückensteg erklommen hatte und sich dort festsetzte, als sei er im Theater. Er beschleunigte seinen Lauf und betrat mit den ersten den Werkhof. Es waren erst etwa dreihundert Leute da.

Eine Stockung trat ein, als Deneulin oben auf der Treppe erschien, die zum Aufnahmesaal führte.

»Was wollt ihr?« fragte er mit lauter Stimme.

Nachdem er die Kalesche hatte verschwinden sehen, aus der seine Töchter ihm noch zugelächelt hatten, war er – von einer unbestimmten Unruhe ergriffen – nach der Grube zurückgekehrt. Er fand jedoch alles in Ordnung; die Leute waren eingefahren; die Förderung war im Gange. Er beruhigte sich wieder und plauderte eben mit dem Oberaufseher, als man ihm meldete, daß die Streikenden nahten. Er eilte zu einem Fenster des Sichtungsschuppens und empfand angesichts dieser wachsenden Menge, die den Werkhof überflutete, sogleich ein Gefühl der Ohnmacht. Wie sollte er diese auf allen Seiten offenen Gebäude verteidigen? Er hätte kaum zwanzig seiner Arbeiter um sich scharen können. Er war verloren.

»Was wollt ihr?« wiederholte er, bleich vor verhaltener Wut, in letzter Anstrengung, dem Unglück mutig die Stirn zu bieten.

In der Menge entstand ein Drängen und Gemurre. Schließlich trat Etienne vor und sagte:

»Mein Herr, wir sind nicht gekommen, um Ihnen ein Leid zuzufügen. Allein die Arbeit muß überall eingestellt werden.«

Deneulin nannte ihn rundheraus einen Schwachkopf.

»Glauben Sie mir Gutes zu tun, wenn Sie die Arbeit bei mir hindern? Das ist geradeso, als wenn Sie dicht hinter mir eine Flinte abschössen ... Ja, meine Leute [347] sind in der Grube und werden nicht ausfahren – oder ihr müßtet vorher mich selbst umbringen.«

Diese rauhen Worte verursachten Geschrei. Maheu mußte Levaque zurückhalten, der in drohender Haltung hervorstürzte, während Etienne noch immer unterhandelte und Deneulin von der Gesetzmäßigkeit ihres revolutionären Vorgehens zu überzeugen suchte. Allein dieser antwortete mit dem Recht auf Arbeit. Er lehnte es übrigens ab, sich über diese Dummheiten zu äußern; er wollte Herr sein im eigenen Hause. Er machte sich nur Vorwürfe darüber, daß er nicht vier Gendarmen hätte, um dieses ganze Lumpenpack hinwegzufegen.

»Ja, das ist mein Fehler; ich verdiene, was mir geschieht. Kerlen eures Schlages gegenüber gibt es nur eins: die Gewalt. Die Regierung bildet sich ein, euch durch Zugeständnisse zu gewinnen. Ihr werdet sie aber einfach zu Boden werfen, wenn sie euch Waffen geliefert hat.«

Etienne bebte vor Wut, hielt aber noch an sich.

»Herr,« sagte er mit gedämpfter Stimme, »ich bitte Sie, den Befehl zu geben, daß Ihre Arbeiter heraufgeholt werden; ich kann sonst für meine Kameraden nicht einstehen. Sie können dadurch einem Unglück vorbeugen.«

»Nein, lassen Sie mich in Frieden! Ich kenne Sie gar nicht! Sie gehören nicht zu meiner Grube, Sie haben mit mir nicht zu unterhandeln ... Nur Räuber durchstreifen so das Land, um Häuser zu plündern.«

Lautes Geschrei übertönte jetzt seine Stimme; besonders die Weiber beschimpften ihn. Er aber fuhr fort, ihnen Trotz zu bieten, und fühlte eine Erleichterung in dem Freimut, womit er sein Herz ausschüttete. Da das Verderben sicher war, fand er es feige, sich auf nutzlose Plattheiten zu verlegen. Doch ihre Zahl nahm immer noch zu; nahezu fünfhundert Leute drängten jetzt zur Tür, und er war in Gefahr niedergetreten zu werden, als sein Oberaufseher ihn heftig zurückriß.

[348] »Um des Himmels willen, Herr! ... Das gibt Blutvergießen. Wozu ist es gut, Menschen für nichts und wieder nichts töten zu lassen?«

Er wehrte sich noch; er protestierte mit einem letzten Schrei, den er der Menge zuschleuderte.

»Banditen, ihr werdet sehen, wenn wir erst wieder die Stärkeren sind!«

Man führte ihn hingweg; ein Ansturm hatte die er stender Schar auf die Treppe gedrängt, deren Geländer verbogen wurde. Die Weiber stießen am meisten, schrien und trieben die Männer an. Die Tür gab nach; sie war ohne Schloß, bloß durch einen Schieber verriegelt. Doch die Treppe war zu schmal; die Menge stand eng zusammengedrängt, und es hätte lange gewährt, bis sie eingedrungen, wenn die Nachhut nicht auf den Einfall gekommen wäre, durch die anderen Öffnungen einzudringen. In weniger als fünf Minuten gehörte ihnen die ganze Grube; sie überfluteten die drei Stockwerke unter wütendem Schreien, fortgerissen von dem Taumel des Sieges über diesen Besitzer, der sich ihnen widersetzt hatte.

Maheu, der als einer der ersten vorgedrungen war, sagte entsetzt zu Etienne:

»Sie sollen ihn nicht töten!«

Dieser lief schon herbei; als er begriffen, daß Deneulin sich in der Aufseherstube verrammelt hatte, antwortete er:

»Was denn? Wäre es unsere Schuld? So ein Tollkopf!«

Indes war auch er von Besorgnis erfüllt und noch zu ruhig, um der Zornesaufwallung nachzugeben. Er litt auch in seinem Stolz als Anführer, sobald er sah, wie die Bande sich seiner Autorität entzog und außer Rand und Band geriet weit über das Maß der kühlen Vollstreckung des Volkswillens hinaus, wie er sie sich gedacht hatte. Vergebens forderte er Kaltblütigkeit; vergebens schrie er, man dürfe nicht durch Handlungen unnützer Zerstörung den Feinden recht geben.

[349] »Zu den Heizkesseln!« heulte die Brulé. »Laßt uns die Feuer auslöschen!«

Levaque, der eine Feile gefunden hatte, schwang diese wie einen Dolch und übertönte den Tumult mit einem furchtbaren Schrei:

»Wir durchschneiden die Kabel! Wir durchschneiden die Kabel!«

Bald wiederholten alle diesen Ruf; bloß Etienne und Maheu fuhren fort zu widersprechen; sie verloren den Kopf und schrien in den Tumult hinein, ohne sich Gehör zu verschaffen. Endlich konnte Etienne sich vernehmlich machen:

»Aber es sind Leute in der Grube, Kameraden!«

Der Lärm verstärkte sich noch; auf allen Seiten wurde geschrien:

»Um so schlimmer! Sie hätten nicht einfahren sollen! Es geschieht ihnen recht, den Verrätern! ... Ja, ja, sie sollen dort bleiben! ... Übrigens sind ja die Leitern da!«

Als der Gedanke an die Leitern sie noch hartnäckiger gemacht hatte, begriff Etienne, daß er nachgeben müsse. In der Furcht vor einem noch größeren Unglück eilte er zur Maschine; er wollte die Schalen heraufkommen lassen, damit die durchgesägten Kabel nicht auf sie niederfielen und sie mit ihrem Gewicht zerschmetterten. Der Maschinist war verschwunden, ebenso wie die wenigen oben beschäftigten Arbeiter. Etienne bemächtigte sich des Kolbens und handhabte ihn, während Levaque und zwei andere das gußeiserne Gebälk erklommen, das die Räder trug. Kaum waren die Schalen verankert, als man das Kreischen der Feile hörte, die das stählerne Kabel durchsägte. Tiefe Stille trat ein; das Geräusch der Feile schien die ganze Grube zu füllen; alle hoben den Kopf, schauten und hörten, von großer Bewegung ergriffen. Maheu, der in der ersten Reihe stand, wurde von grausamer Freude erfüllt, als ob die Zähne der Feile sie alle von dem Unglück befreiten.

[350] Die Brulé war inzwischen über die Treppe der Baracke verschwunden und schrie unablässig:

»Löscht die Feuer aus! Zu den Kesseln! Zu den Kesseln!«

Eine Schar von Weibern folgte ihr. Frau Maheu eilte hinzu, um sie zu hindern, alles zu zerstören, gleichwie ihr Mann die Kameraden hatte zur Vernunft bringen wollen. Sie war die Besonnenste unter allen; man könne sein Recht fordern, ohne Schaden zu stiften, meinte sie. Als sie das Heizhaus betrat, hatten die Weiber schon die zwei Heizer verjagt; die Brulé hockte mit einer großen Schaufel vor einem der Öfen und leerte ihn, die weißglühenden Kohlen auf die Ziegel des Vorplatzes schleudernd, wo sie mit schwarzem Rauche weiterbrannten. Es waren zehn Öfen für die fünf Dampfkessel da. Alle Weiber stürzten sich mit wilder Wut auf das Zerstörungswerk; die Levaque schwang ihre Schaufel mit beiden Händen, die Mouquette schürzte ihren Rock auf, damit er nicht Feuer fange; sie standen blutrot im Widerschein des Brandes, schweißtriefend, mit wirrem Haar, wie beim Hexensabbat. Der Kohlenhaufen ward höher und höher; die Decke des weiten Raumes barst unter der furchtbaren Hitze.

»Genug!« rief die Maheu. »Die Bude geht in Flammen auf!«

»Um so besser!« antwortete die Brulé. »Es ist dann wenigstens ganze Arbeit ... Donner Gottes! Ich sagte ihnen, daß ich sie den Tod meines Mannes entgelten lassen will!«

In diesem Augenblick hörte man die schrille Stimme Johannes'.

»Aufgepaßt! Ich lösche die Feuer aus!«

Er war als einer der ersten eingedrungen und durch die Menge gehumpelt, entzückt über diesen Wirrwarr und überall suchend, was er Böses verüben könne; er kam auf den Gedanken, die Ventile zu öffnen, um den Dampf ausströmen zu lassen. Die fünf Kessel leerten[351] sich mit sturmartigem Brausen und Zischen, daß einem die Ohren gellten. Alles war in Dampf gehüllt, die Kohle verblaßte, die Weiber schienen nur noch Schatten mit verschwommenen Bewegungen. Der Knabe allein war sichtbar; er hatte die Galerie erstiegen, und man bemerkte ihn hinter den weißen Dampfwolken, wie er – das breite Maul bis zu den Ohren gespalten – vergnügt grinste, weil es ihm gelungen, diesen Orkan zu entfesseln.

Es dauerte nahezu eine Viertelstunde. Man hatte einige Kübel Wasser auf die Kohlenhaufen geschüttet, um sie vollends auszulöschen; damit war die Feuersgefahr beseitigt. Aber die Wut der Menge war nicht gedämpft, vielmehr neu aufgestachelt. Mit Hämmern bewaffnete Männer stiegen hinunter, die Weiber ergriffen Eisenstangen, und man sprach davon, die Maschinen zu zerschlagen, die Grube vollends zu zerstören.

Etienne, den man benachrichtigt hatte, eilte mit Maheu herbei. Fortgerissen von diesem glühenden Rachefieber, war auch er berauscht. Er kämpfte indes, er beschwor sie ruhig zu sein, da nunmehr die durchschnittenen Kabel, die ausgelöschten Feuer, die leeren Dampfkessel die Fortsetzung der Arbeit unmöglich machten. Man hörte wieder nicht auf ihn und war im Begriff ihn zu überschreien, als draußen vor einer kleinen Tür, wo der Leiternschacht mündete, ein großer Tumult entstand.

»Nieder mit den Verrätern! ... Die schändlichen Feiglinge! ... Nieder mit ihnen! ...«

Die ersten Arbeiter stiegen aus der Grube. Sie standen blinzelnd da, geblendet von der Tageshelle. Dann zogen sie ab, suchten die Straße zu erreichen und zu entkommen.

»Nieder mit den Feiglingen! Nieder mit den falschen Brüdern!«

Die ganze Schar der Ausständigen war herbeigeeilt. In weniger als fünf Minuten war nicht ein Mann mehr in den Gebäuden; die Fünfhundert von Montsou stellten sich in zwei Reihen auf und zwangen die Arbeiter[352] von Vandame, diese Verräter, die eingefahren waren, zwischen ihnen durchzuziehen. Bei jedem neuen Arbeiter, der mit zerfetzten Kleidern und geschwärztem Gesicht bei der Pforte des Schlotes erschien, erneuerten sich die Schmährufe, und grausame Scherze empfingen ihn. Es drohte ein Hagel von Faustschlägen, während der Zug der armen Teufel fortdauerte, die zitternd die Beschimpfungen ruhig ertrugen und nach den erwarteten Hieben froh waren, wenn sie die Grube endlich hinter sich hatten und laufen konnten.

»Ei, zum Teufel! Wie viele sind denn da drinnen?« fragte Etienne.

Er war erstaunt, noch immer Leute hervorkommen zu sehen, und es ärgerte ihn, daß es sich nicht um einige Arbeiter handelte, die durch den Hunger genötigt und durch die Aufseher eingeschüchtert eingefahren waren. Man hatte ihn also im Walde belegen: die ganze Belegschaft von Jean-Bart war eingefahren. Doch als er Chaval auf der Schwelle erblickte, stürzte er mit einem Schrei hinzu.

»Donner Gottes über dich! Zu diesem Stelldichein also hast du uns gerufen?«

Verwünschungen wurden laut, man drängte sich heran, um sich auf den Verräter zu werfen. Wie: er hatte gestern mit ihnen geschworen, und jetzt fand man ihn mit den andern in der Grube! Wollte er sich über sie lustig machen?

»Faßt ihn! In den Schacht mit ihm!«

Chaval war schreckensbleich geworden und stammelte irgendwelche Erklärungen. Allein Etienne schnitt ihm das Wort ab; er war außer sich, von Wut ergriffen.

»Du wolltest mittun, du wirst mittun ... Vorwärts, marsch, Halunke!«

Doch ein anderer Schrei übertönte seine Stimme. Katharina war zum Vorschein gekommen, geblendet von der hellen Sonne, betroffen, mitten unter diese Wilden geraten zu sein. Ihre Beine waren wie zerschlagen, nachdem sie die hundertzwei Leitern erstiegen [353] hatte, und ihre Handflächen bluteten. Sie wollte sich einen Augenblick verschnaufen, als die Maheu, sie erblickend, mit erhobener Hand auf sie losstürzte.

»Du auch, Dirne? ... Wenn deine Mutter Hungers stirbt, verrätst du sie wegen dieses Lumpen?«

Maheu hielt den Arm zurück und verhinderte so den Backenstreich. Aber er schüttelte seine Tochter und machte ihr – dem Beispiele seines Weibes folgend – wütende Vorwürfe wegen ihres Betragens. Beide hatten den Kopf verloren und schrien stärker als die Kameraden.

Der Anblick Katharinas hatte Etienne vollends erbittert.

»Vorwärts! Zu den anderen Gruben! Und du kommst mit uns, schmutziges Schwein!«

Chaval hatte knapp Zeit, seine Holzschuhe aus der Baracke zu holen und eine Wolljacke über seine frierenden Schultern zu werfen. Alle zerrten ihn fort und zwangen ihn, in ihrer Mitte zu laufen. Auch Katharina – die völlig den Kopf verloren hatte – zog eilig ihre Holzschuhe an, knöpfte die alte Männerjacke zu, die sie seit dem Eintritt der Kälte trug, und lief hinter ihrem Freund her; sie wollte ihn nicht verlassen; denn sie war überzeugt, daß man ihn umbringen wolle.

In zwei Minuten leerte sich Jean-Bart. Johannes, der ein Horn gefunden hatte, blies aus Leibeskräften hinein und entlockte ihm rauhe Töne, als gelte es eine Ochsenherde zu sammeln. Die Weiber, die Brulé, die Levaque, die Mouquette, rafften ihre Röcke, um besser laufen zu können, während Levaque eine Hacke schwang wie ein Tambourmajor seinen Stab. Andere Kameraden stießen zur Bande, die jetzt an tausend Köpfe zählte und sich, ohne jede Ordnung, wie ein aus den Ufern getretener Strom über die Straße ergoß. Der Weg, der aus dem Werk hinausführte, war zu schmal; die Pfahlhecken wurden niedergebrochen.

»Zu den Gruben! Nieder mit den Verrätern! Keine Arbeit mehr!«

[354] Jean-Bart versank plötzlich in tiefe Stille. Kein Mensch, kein Laut. Deneulin verließ das Aufseherzimmer und machte sich allein – jede Begleitung abwehrend – an die Untersuchung der Grube. Er war bleich, sehr ruhig. Zuerst blieb er vor dem Aufzugsschachte stehen, hob die Augen und betrachtete die durchschnittenen Kabel; die Enden des stählernen Seiles hingen herab; der Biß der Feile hatte eine frische Wunde zurückgelassen, die aus dem Schwarz der Schmierfette hervorschimmerte. Dann ging er zur Maschine hinauf, betrachtete die Kurbelstange, die unbeweglich war wie das Gelenk eines von der Lähmung getroffenen kolossalen Gliedes, betastete das schon erkaltete Metall, wobei er zusammenschauerte, als habe er einen Toten berührt. Dann stieg er zu den Kesseln hinab, ging langsam an den erloschenen Öfen vorbei, die weit gähnend und mit Wasser übergossen dastanden, stieß mit dem Fuß an die Röhren, die einen hohlen Klang gaben. Es war zu Ende; sein Ruin war eine ausgemachte Sache. Selbst wenn er die Kabel ausbessern, die Feuer wieder anzünden ließ: wo würde er Arbeiter finden? Noch zwei Wochen Streik, und er war bankrott. In dieser Gewißheit seines Unglücks empfand er keinen Haß mehr gegen die Räuber von Montsou; er fühlte die Mitschuld aller, den allgemeinen, hundertjährigen Fehler. Es waren Tiere, ohne Zweifel; aber Tiere, die nicht lesen konnten und Hungers starben.

Viertes Kapitel

Unter dem fahlen Winterhimmel zog der Trupp durch die in das weiße Winterkleid gehüllte flache Ebene und ergoß sich von der Straße über die Rübenfelder.

Bei dem »Ochsengabel« genannten Feld nahm Etienne die Führung in die Hand. Er gab Weisungen aus und ordnete den Zug. Johannes galoppierte voran und entlockte [355] dem Horn greuliche Klänge. In den ersten Reihen marschierten die Weiber, einige mit Stöcken bewaffnet, die Maheu mit wildflammenden Augen, welche die verheißene Stadt der Gerechtigkeit zu suchen schienen; die Brulé, die Levaque, die Mouquette schritten tüchtig aus unter ihren Lumpen gleich Soldaten, die in den Krieg ziehen. Wenn es zu einem Zusammenstoß komme, werde man ja sehen, ob die Gendarmen es wagten, auf Weiber einzuhauen. Ihnen folgten die Männer, mit Eisenstangen bewaffnet, von der Hacke Levaques überragt, deren Schneide in der Sonne glänzte. In der Mitte marschierte Etienne, der Chaval nicht aus den Augen ließ und ihn zwang, vor ihm zu gehen, während hinter ihm Maheu schritt, mit düsterer Miene von Zeit zu Zeit auf seine Tochter Katharina blickend, die einzige Weibsperson unter den Männern, die in ihrer Hartnäckigkeit neben ihrem Liebsten blieb, damit ihm kein Leid geschehe.

Nun erscholl ein neuer Schrei:

»Brot! Brot! Brot!«

Es war Mittag; der Hunger der sechs Streikwochen erwachte in den leeren Bäuchen, noch vermehrt durch diesen Lauf über Stock und Stein. Die wenigen Brotrinden vom Morgen und die Kastanien der Mouquette waren längst verdaut; die Magen schrien, und diese Qual verstärkte noch die Wut gegen die Verräter.

»Zu den Gruben! Keine Arbeit mehr! Brot! Brot!«

Etienne, der am Morgen im Dorfe abgelehnt hatte, seinen Teil zu essen, hatte ein unerträgliches Gefühl des Reißens in der Brust. Er beklagte sich nicht, aber er griff von Zeit zu Zeit mechanisch nach seiner Feldflasche und nahm einen Schluck Wacholderbranntwein; er fror so arg, daß er es für nötig hielt, um sein Vorhaben zu Ende zu führen. Seine Wangen erhitzten sich; eine Flamme loderte in seinen Augen. Indes bewahrte er seine Besonnenheit, er wollte unnütze Zerstörungen vermeiden.

[356] Als man die nach Joiselle führende Straße erreichte, zog ein Häuer von Vandame, der sich der Bande angeschlossen hatte, aus Rache gegen seinen Herrn die Kameraden nach rechts und heulte:

»Nach Gaston-Marie! Man muß die Pumpe stillegen! Jean-Bart muß ersäuft werden!«

Schon machte die Menge kehrt trotz der Zureden Etiennes, der sie bat, das Leerpumpen der Grube nicht zu hindern. Wozu sollte man die Galerien zerstören? Dieser Gedanke empörte sein Arbeitergewissen trotz seiner augenblicklichen Erbitterung. Auch Maheu fand es ungerecht, an einer Maschine Vergeltung zu üben. Doch der Häuer stieß seinen Racheschrei weiter aus, und Etienne mußte ihn überschreien.

»Nach Mirou!« rief er. »Dort gibt es noch Verräter in den Gruben!«

Mit einer Handbewegung hatte er die Bande auf den Weg nach links zurückgetrieben, während Johannes sich wieder an die Spitze stellte und stärker in das Horn blies. Es entstand ein großes Durcheinander. Gaston-Marie war zunächst gerettet.

Die vier Kilometer, die sie von Mirou trennten, wurden im Laufschritt, mit dem man die schier endlose Fläche durchmaß, in einer halben Stunde zurückgelegt. Der Kanal durchschnitt die Ebene wie ein langes Band von Eis. Nur die kahlen Bäume an den Ufern des Kanals, durch den Frost in riesige Kandelaber verwandelt, unterbrachen die Eintönigkeit der Ebene, die sich am fernen Horizont verlor wie in einem Meere. Montsou und Marchiennes lagen hinter einer Erdfalte verborgen.

Sie kamen eben bei der Grube an, als sie einen Aufseher auf einem Brückensteg des Sichtungsschuppens bemerkten, der dort Aufstellung genommen hatte, um sie zu empfangen. Alle kannten den Vater Quandieu sehr wohl, den ältesten der Aufseher von Montsou, einen Greis, ganz weiß an Haut und Haaren, wohl [357] gegen siebzig Jahre alt, ein wahres Wunder von Gesundheit unter den Bergleuten.

»Was wollt ihr hier, Tagediebe?« schrie er.

Die Bande blieb stehen. Man hatte es nicht mehr mit einem Herrn, sondern mit einem Kameraden zu tun; angesichts dieses alten Arbeiters hielt eine gewisse Achtung sie zurück.

»Es sind Arbeiter in der Grube«, sagte Etienne. »Laß sie heraufholen.«

»Jawohl, es sind Arbeiter in der Grube«, entgegnete der Vater Quandieu; »es sind wohl an die sechs Dutzend unten: die übrigen hatten Angst vor euch Bösewichtern. Doch ich sage euch: kein einziger wird ausfahren, oder ihr bekommt es mit mir zu tun!«

Es erklangen Rufe aus der Menge; die Männer drängten, die Weiber gingen vor. Der Aufseher verließ rasch den Brückensteg und verrammelte das Tor.

Maheu suchte zu vermitteln.

»Höre, Alter, das ist unser Recht. Wie können wir erreichen, daß der Streik allgemein wird, wenn wir die Kameraden nicht zwingen, zu uns zu halten?«

Der Alte blieb einen Augenblick stumm. Seine Unwissenheit in Sachen der Internationale war augenscheinlich groß. Endlich antwortete er:

»Es ist euer Recht, ich leugne es nicht. Aber ich kenne nichts als meinen Auftrag ... Ich bin hier allein. Die Leute haben bis drei Uhr in der Grube zu bleiben, und sie bleiben bis drei Uhr dort.«

Die letzten Worte gingen in lauten Beschimpfungen unter. Man bedrohte ihn mit Fäusten; die Weiber schrien ihm in die Ohren; ihr warmer Hauch streifte sein Gesicht. Aber er blieb standhaft, das Haupt erhoben, mit seinem Geißbart und seinen Haaren weiß wie Schnee; der Mut verlieh seiner Stimme eine solche Kraft, daß sie den Tumult beherrschte und deutlich zu vernehmen war.

»Bei Gott, ihr kommt nicht hinein! ... So wahr die Sonne uns bescheint, ich will lieber verrecken als an[358] die Kabel rühren lassen! ... Drängt nicht weiter vor, oder ich stürze mich vor euren Augen in den Schacht.«

Ein Zittern fuhr durch die Menge, und sie wich zurück. Der Alte fuhr fort:

»Wer ist ein solcher Saukerl, das nicht zu verstehen? ... Ich bin nur ein Arbeiter wie ihr. Man hat mir befohlen, die Grube zu behüten, und ich behüte sie.«

Die Kameraden betrachteten ihn bewegt; was er sagte, fand Widerhall in ihnen: es war der soldatische Gehorsam, die Brüderlichkeit, die Gelassenheit in der Gefahr. Er glaubte, sie schwankten noch, und wiederholte:

»Ich springe vor euch in den Schacht!«

Es ging wie ein gewaltiger Stoß durch die Schar. Alle hatten den Rücken gewandt, und der Lauf begann wieder auf der geraden Straße, die sich zwischen den Feldern ins Unendliche dehnte.

»Zum Magdalenenschacht! Nach Crèvecoeur! Keine Arbeit mehr! Brot! Brot!«

Doch während des Laufes war in der Mitte ein Gedränge entstanden. Chaval hatte die Verwirrung benützen wollen, um zu entkommen. Etienne hatte ihn beim Arm gefaßt und drohte ihm die Knochen im Leibe zu zerschlagen, wenn er an Verrat denke. Der andere wehrte sich und widersprach wütend:

»Warum all das? Ist man nicht mehr frei? ... Ich friere seit einer Stunde; ich muß mich waschen. Laß mich frei!«

Er litt in der Tat durch die Kohle, die der Schweiß an seinen Leib geklebt hatte, und seine gestrickte Wolljacke schützte ihn nur wenig gegen die Kälte.

»Vorwärts, oder du wirst von uns gewaschen!« antwortete Etienne. »Warum hast du die Blutrünstigsten zu überbieten gesucht?«

Man lief immer noch auf der Straße fort. Etienne wandte sich nach Katharina um, die tapfer aushielt. Er war trostlos, sie in seiner Nähe zu wissen, so elend und fröstelnd in ihrer abgetragenen Männerjacke und[359] ihrem schmutzbedeckten Beinkleid. Sie mußte todmüde sein, aber sie lief mit.

»Du kannst gehen«, sagte er endlich.

Katharina schien nicht zu hören. Als ihre Blicke die Etiennes kreuzten, flammte ein Vorwurf in ihren Augen auf. Sie blieb nicht zurück. Warum wollte er, daß sie ihren Mann verlasse? Chaval war nicht gut zu ihr, gewiß; er prügelte sie sogar manchmal. Aber er war ihr Mann, und sie war wütend, daß mehr als tausend Menschen sich gegen einen kehrten. Sie hätte ihn verteidigen mögen, nicht aus Liebe, aber aus Stolz.

»Geh fort!« wiederholte Maheu heftig.

Dieser Befehl ihres Vaters ließ sie einen Augenblick ihren Lauf verlangsamen. Sie zitterte. Tränen quollen aus ihren Augen. Dann kam sie – trotz ihrer Furcht – doch wieder zurück, nahm ihren früheren Platz wieder ein und lief mit. Fortan kümmerte man sich nicht um sie.

Die Bande überschritt die Straße nach Joiselle, folgte einen Augenblick jener nach Cron und stieg dann gegen Cougny hinan. In dieser Richtung sah man Fabrikschlote am Horizont; Holzschuppen, Werkstätten aus Ziegeln erbaut, mit breiten, staubigen Fenstern, reihten sich zu beiden Seiten der Straße aneinander. Man kam an den niedrigen Häusern zweier Arbeiterdörfer vorbei, des Dorfes der Hundertachtzig und des Dorfes der Sechsundsiebzig. Auf den Ruf des Hornes, auf das Geschrei der Bande kamen Familien heraus, Männer, Weiber, Kinder, liefen mit und schlossen sich dem Zuge der Kameraden an. Als die Bande vor der Magdalenengrube ankam, zählte sie wohl gegen fünfzehnhundert Köpfe. Die Straße fiel hier sanft ab; die tosende Flut der Streikenden mußte die Runde um den Abbauhügel machen, ehe sie den Grubenhof überfluten konnte.

In diesem Augenblick war es erst zwei Uhr. Allein die Aufseher, von dem Herannahen der Streikenden verständigt, hatten die Ausfahrt beschleunigt. Als die Bande eintraf, war der Aufstieg beendigt, die letzten[360] zwanzig Leute verließen die Schale. Sie liefen davon, man verfolgte sie mit Steinwürfen. Zwei wurden geprügelt, ein anderer ließ einen Rockärmel in den Händen seiner Verfolger. Diese Jagd auf Menschen rettete das Material, man berührte weder die Kabel noch die Kessel. Die Flut entfernte sich schon und wälzte sich nach der nächsten Grube.

Die Grube Crèvecoeur war kaum fünfhundert Meter von der Magdalenengrube entfernt. Auch hier kam die Bande gerade zur Ausfahrt an. Eine Schlepperin wurde abgefangen und von den Weibern gepeitscht. Die jungen Schlepper erhielten Maulschellen; einzelne Häuer bekamen während des Laufens Rippenstöße und Faustschläge auf die Nase. Inmitten dieser Grausamkeiten, in diesem Bedürfnis nach Rache, dessen Tollheit alle Köpfe verdrehte, dauerte das Schreien an, forderte man den Tod der Verräter; es war der Haß der schlechtbezahlten Arbeit, das Geheul der Hungerleider. Man begann die Kabel zu durchschneiden, allein die Feile griff nicht an; es dauerte zu lange, man stürmte weiter, immer weiter. Bei den Kesseln wurde ein Ventil zerschlagen; das Wasser, das in vollen Kübeln in die Öfen geschleudert wurde, brachte die gußeisernen Roste zum Bersten.

Als man wieder im Freien war, sprach man davon, nach Sankt-Thomas zu marschieren. In dieser Grube herrschte gute Manneszucht; sie war vom Streik unberührt; mehr als siebenhundert Mann mußten eingefahren sein. Darüber war die Bande erbittert; man war entschlossen, die Leute mit Knüttelhieben zu empfangen in Schlachtordnung, um zu sehen, wer Sieger bleiben würde. Allein es ging das Gerücht, daß in Sankt-Thomas Gendarmen seien – die Gendarmen, über die man sich am Morgen lustig gemacht hatte. Woher wußte man es? Niemand vermochte es zu sagen. Gleichviel, sie bekamen Angst und entschieden sich für Feutry-Cantel. Der Taumel riß sie wieder fort: mit dem lauten Geklapper ihrer Holzschuhe stürmten sie in hellen Haufen [361] auf der Landstraße dahin. Nach Feutry-Cantel! Nach Feutry-Cantel! Dort gab es wohl an die vierhundert Feiglinge: Das wird Spaß geben! Von hier etwa drei Kilometer entfernt lag die Grube hinter einer Erdfalte verborgen nahe beim Scarpefluß. Schon stieg man die Anhöhe der Gipsbrüche jenseits der Straße nach Beaugnies hinan, als eine Stimme – man wußte nicht, wessen Stimme – ausrief, die Gendarmen seien vielleicht in Feutry-Cantel. Von einem Ende des Zuges bis zum andern wiederholte man, die Gendarmen seien in Feutry-Cantel. Ein Zögern verlangsamte den Marsch; der Schreck ergriff die Leute allmählich in der totenstillen Gegend, die sie seit Stunden durchstreiften. Warum waren sie noch nicht auf Militär gestoßen? Die Straflosigkeit ihres Treibens verwirrte sie, sie fühlten die Vergeltung kommen.

Eine neue Losung – man wußte nicht, woher sie kam – trieb die Bande plötzlich nach einer andern Grube.

»Nach der Siegesgrube! Nach der Siegesgrube!«

Gab es denn keine Dragoner und Gendarmen auf der Siegesgrube? Man wußte es nicht. Alle schienen beruhigt. Sie machten kehrt, stiegen nach Beaumont hinab und gingen querfeldein, um die Straße nach Joiselle rascher zu erreichen. Das Geleise der Eisenbahn verlegte ihnen den Weg; sie zogen hinüber, nachdem sie die Schranken umgeworfen hatten. Sie näherten sich Montsou; das leicht gewellte Land senkte sich, Rübenfelder dehnten sich aus bis zu den schwarzen Häusern von Marchiennes.

Es galt jetzt einen Marsch von gut fünf Kilometer. Sie wurden von einer solchen Wut fortgetrieben, daß sie die tödliche Müdigkeit, ihre völlig erschöpften, fast gebrochenen Beine nicht fühlten. Der Zug wurde immer länger, verstärkt durch die Kameraden, die man unterwegs in allen Arbeiterdörfern an sich zog. Als sie auf der Magachebrücke den Kanal überschritten hatten und vor der Siegesgrube erschienen, zählten sie wohl zweitausend [362] Köpfe. Aber drei Uhr war vorüber, die Leute waren ausgefahren, kein Mann war mehr in der Grube. Ihre Enttäuschung machte sich in leeren Drohungen Luft; sie mußten sich begnügen, die eben ankommenden Erdarbeiter mit Ziegelsteinen zu bewerfen. In regellose Rotten sich auflösend, ergriff die Bande Besitz von dem Werk. In ihrer Wut darüber, daß es keine Gesichter zu ohrfeigen gab, fielen sie über die Sachen her. Der Jahre hindurch erduldete Hunger hatte eine tolle Gier nach Zerstörung in ihnen gezüchtet.

Etienne bemerkte hinter einem Schuppen einige Arbeiter, die einen Kohlenkarren beladen wollten.

»Wollt ihr euch von hinnen trollen!« rief er ihnen zu. »Nicht ein Stück Kohle kommt hinaus!«

Auf seinen Befehl eilten etwa hundert Ausständige herbei; die Arbeiter hatten knapp Zeit, sich zu entfernen. Einige Männer spannten die Pferde aus, die – in die Flanken gestochen – wild davonrannten. Andere stürzten den Karren um und zerbrachen die Deichsel.

Levaque fiel mit seiner Hacke über die Gestelle her, um die Brückenstege zu vernichten. Doch sie widerstanden seiner Zerstörungswut, und so kam er auf den Gedanken, die Schienen aufzureißen, das Geleise von dem einen Ende des Werkhofes bis zum andern zu zerstören. Bald warf sich die ganze Bande auf diese Arbeit. Mit einer Eisenstange bewaffnet, deren er sich wie eines Hebels bediente, riß Maheu die gußeisernen Laschen los. Inzwischen führte die Brulé die Weiber in die Lampenkammer; mit ihren Stöcken richteten sie eine greuliche Verwüstung an; bald lagen sämtliche Lampen in Scherben am Boden. Auch die Maheu hatte alle Besonnenheit verloren und schlug ebenso wütend drein wie die Levaque. Sie wateten ordentlich im Öl; die Mouquette wischte ihre Hände in ihren Röcken ab und lachte, weil sie so schmutzig war. Johannes machte sich den Spaß, den Inhalt einer Lampe in ihren Nacken zu leeren.

[363] Allein alle diese Verwüstungen befriedigten sie nicht. Sie schrien noch lauter, und der Lärm wurde von dem unaufhörlichen Ruf übertönt:

»Brot! Brot! Brot!«

In der Siegesgrube war ein ehemaliger Aufseher, der eine Kantine hielt. Er war ohne Zweifel entflohen, denn sein Laden war verlassen. Als die Weiber zurückkehrten und die Männer das Geleise zerstört hatten, erstürmten sie die Kantine. Man fand kein Brot; es war nichts anderes da als zwei Stück rohes Fleisch und ein Sack Kartoffeln. Allein während der Plünderung entdeckte man etwa fünfzig Flaschen Wacholderbranntwein, die verschwanden wie ein Tropfen Wasser im Sande.

Etienne konnte seine leere Feldflasche neu füllen. Ein schlimmer Rausch, der Rausch der Hungernden, hatte allmählich seine Augen entzündet, und er fletschte die Zähne zwischen den fahlen Lippen. Plötzlich bemerkte er, daß Chaval inmitten des Tumultes entflohen war. Er fluchte und sandte einige Leute nach dem Flüchtigen; man fand ihn mit Katharina hinter den Holzstößen versteckt.

»Ha, Saukerl! Du fürchtest, daß man hinter deine Schliche kommt?« schrie Etienne. »Im Walde warst du es selbst, der den Streik der Maschinisten forderte, damit die Pumpen stillstehen, und jetzt nimmst du Reißaus ... Gut, wir kehren nach Gaston-Marie zurück; du sollst die Pumpe zerschlagen. Jawohl, Verräter, du sollst sie zerschlagen!«

Er war betrunken; er selbst jagte seine Leute gegen diese Pumpe, die er einige Stunden früher gerettet hatte.

»Nach Gaston-Marie! Nach Gaston-Marie!«

Alle riefen Beifall und eilten herbei, während Chaval, den man bei den Schultern gefaßt hatte und heftig vorwärts trieb, noch immer verlangte, daß man ihm gestatte, sich zu waschen.

»So geh doch deiner Wege!« rief Maheu Katharina zu, die ebenfalls wieder mitlief.

[364] Doch jetzt wich sie nicht einmal zurück; sie sah ihren Vater flammend an und setzte ihren Lauf fort.

Wieder durcheilte die Bande die flache Ebene. Sie flutete zurück auf den langen, geraden Straßen über die weitgestreckten Felder. Es war vier Uhr; die am Horizont niedergehende Sonne warf auf den festgefrorenen Boden die langen Schatten dieser Bande, die unter wütenden Gebärden dahinstürmte.

Man umging Montsou, erreichte weiter oben die Straße nach Joiselle und zog unter den Mauern der Piolaine vorbei. Die Grégoire waren eben fortgegangen, weil sie einen Besuch bei dem Notar zu machen hatten, ehe sie zu den Hennebeau essen gingen, wo sie Cäcilie finden sollten. Die Besitzung schien zu schlafen mit ihrer verödeten Lindenallee und ihrem winterlich kahlen Gemüse- und Obstgarten. Nichts regte sich in dem Hause, dessen geschlossene Fenster von der inneren Wärme feucht waren; in der tiefen Stille ahnte man Gemütlichkeit und Wohlergehen, man spürte die Behaglichkeit der guten Betten und der guten Tafel, des geregelten Glückes, in dem das Leben der Besitzer dahinfloß.

Die Bande warf – ohne stehenzubleiben – finstere Blicke über die schützenden Mauern, die von Glasscherben starrten. Von neuem begann der Ruf:

»Brot! Brot! Brot!«

Nur die Hunde antworteten mit wütendem Gebell, ein paar große dänische Hunde mit rotem Haar, die sich aufrichteten und das Maul aufrissen. Im Hause selbst war niemand anwesend als die zwei Mägde, die Köchin Melanie und das Stubenmädchen Honorine, die auf den furchtbaren Schrei herbeigeeilt waren, sich zitternd hinter den Vorhängen eines der geschlossenen Fenster verbargen und mit schreckensbleichen Gesichtern diese Wilden vorüberziehen sahen. Sie sanken in die Knie und hielten sich schon für tot, als sie einen Stein gegen das Haus fliegen hörten, der die Scheibe eines benachbarten Fensters zerschlug. Es war nur ein [365] Spaß Johannes'; er hatte sich aus einem Stück Seil eine Schleuder gemacht und den Grégoire damit im Vorübergehen einen guten Tag gesagt. Jetzt stieß er wieder in sein Horn, und die Bande verlor sich in der Ferne mit dem dröhnenden Ruf:

»Brot! Brot! Brot!«

Man kam nach Gaston-Marie in noch größerer Zahl; es waren jetzt über zweitausendfünfhundert Tobsüchtige, die alles zerbrachen, alles hinwegfegten mit der Macht eines reißenden Stromes. Gendarmen waren eine Stunde früher da gewesen und waren, durch Bauern irregeführt, in der Richtung nach Sankt-Thomas weitergezogen, ohne in der Eile die Vorsicht zu üben, zur Bewachung der Grube einen Posten von einigen Mann zurückzulassen. In weniger als einer Viertelstunde waren die Feuer gelöscht, die Kessel geleert, die Gebäude verwüstet. Doch besonders auf die Pumpe hatte man es abgesehen. Es genügte nicht, daß sie mit dem letzten Atemzuge des Dampfes stehenblieb; man stürzte sich auf sie wie auf eine lebende Person, die man töten wollte.

»Du hast den ersten Streich zu führen«, wiederholte Etienne, indem er Chaval einen Hammer in die Hand drückte. »Vorwärts! Du hast geschworen wie die anderen.«

Chaval wich zitternd zurück; in dem Gedränge fiel der Hammer nieder, während die Kameraden – ohne länger zu warten – die Pumpe mit Eisenstangen, mit Ziegeln bearbeiteten, mit allem, was ihnen in die Hände fiel. Einige zerbrachen sogar ihre Stöcke an der Maschine. Die Schrauben sprangen ab, die stählernen und kupfernen Bestandteile kamen aus den Fugen wie ausgerissene menschliche Glieder. Ein mit einer Spitzhacke geführter wuchtiger Hieb zertrümmerte den gußeisernen Körper der Maschine, und das Wasser floß heraus mit einem Gurgeln, das dem letzten Röcheln eines Sterbenden glich.

[366] Dies war das Ende; die Bande war jetzt wieder draußen, toll hinter Etienne her drängend, der Cliaval noch immer nicht loslassen wollte.

»Tod dem Verräter! In den Schacht mit ihm!«

Der Erbärmliche war leichenfahl und stammelte – mit dem blöden Eigensinn einer fixen Idee – immer wieder sein Verlangen, sich zu waschen.

»Wart', da ist der Zuber, wenn du nichts anderes willst«, sagte die Levaque.

Es war eine Lache da, ein Abfluß des Pumpwassers. Eine dicke, weiße Eiskruste lag darüber. Man drängte ihn hin, zerbrach die Eisdecke und zwang ihn, seinen Kopf in das eiskalte Wasser zu stecken.

»Tauche doch unter!« schrie die Brulé. »Zum Teufel, tauche doch unter, wenn du kein Vollbad nehmen willst! ... Und jetzt sauf einmal; ja, ja, sauf wie das Vieh, mit dem Maul in der Tränke!«

Er mußte trinken, auf allen vieren liegend. Darob erhob sich grausames Lachen in der Menge. Ein Weib zog ihn bei den Ohren, ein anderes warf ihm eine Handvoll Schmutz ins Gesicht, den sie von der Straße aufgelesen hatte. Seine alte Trikotjacke hing jetzt in Fetzen von seinem Leibe. Stieren Auges stolperte er dahin und versuchte von Zeit zu Zeit zu entfliehen.

Maheu hatte ihn gestoßen; auch Frau Maheu gehörte zu jenen, die wütend über ihn hergefallen waren; sie befriedigten ihren alten Groll gegen diesen Menschen; selbst die Mouquette, die sonst die gute Freundin ihrer ehemaligen Liebhaber blieb, war wütend auf ihn, nannte ihn einen Taugenichts.

Etienne hieß sie schweigen.

»Genug! Es ist nicht nötig, daß sich alle einmengen ... Wenn du willst, machen wir die Sache miteinander ab.«

Seine Fäuste schlossen sich; seine Augen leuchteten in mörderischem Feuer; der Rausch verwandelte sich bei ihm in Mordlust.

[367] »Bist du bereit? Einer von uns beiden muß auf dem Platze bleiben ... Gebt ihm ein Messer; ich habe das meine.«

Katharina schaute ihn an; sie war erschöpft, entsetzt.

Sie erinnerte sich seiner Vertraulichkeiten, seiner Mordgier, wenn er getrunken hatte; nach dem dritten Glase war er vergiftet; es war die traurige, scheußliche Erbschaft seiner trunksüchtigen Eltern. Plötzlich stürzte sie sich auf ihn und ohrfeigte ihn mit beiden Händen, wobei sie mit vor Entrüstung heiserer Stimme schrie:

»Feigling! Feigling! Feigling! ... Ist's noch nicht genug der Scheußlichkeiten? Willst du ihn, der sich kaum mehr auf den Beinen hält, auch noch töten?«

Sie wandte sich an ihre Eltern und an alle anderen.

»Ihr seid Feiglinge! Feiglinge! ... Tötet doch mich mit ihm zugleich! Ich springe euch ins Gesicht, wenn ihr ihn anrührt! Feiglinge!«

Sie hatte sich vor ihren Mann hingestellt und verteidigte ihn, der Schläge und ihres Jammerlebens vergessend, gehoben in dem Gedanken, daß sie ihm gehörte, da er sie in seinen Besitz genommen hatte, und daß es eine Schande für sie sei, wenn er so gedemütigt wurde.

Etienne war unter den Streichen des Mädchens bleich geworden. In der ersten Aufwallung wollte er sie niederstrecken. Nachdem er sich das Gesicht getrocknet hatte wie einer, der nach seinem Rausch nüchtern wird, sagte er zu Chaval inmitten der tiefen Stille:

»Sie hat recht, es ist genug ... Mach, daß du fortkommst!«

Chaval lief sogleich davon und Katharina hinter ihm drein. Die Menge blickte ihnen betroffen nach und sah sie hinter einer Krümmung des Weges verschwinden. Nur Frau Maheu murmelte:

»Sie haben unrecht; man hätte ihn da behalten sollen; er wird sicherlich irgendeinen Verrat üben.«

[368] Doch die Bande hatte sich wieder in Marsch gesetzt. Es war nahezu fünf Uhr. Die tief am Saume des Horizontes stehende blutrote Sonne tauchte die ungeheure Ebene in Feuerglut. Ein fahrender Krämer, der vorüberkam, teilte ihnen mit, daß die Dragoner in der Richtung gegen Crèvecoeur weitergeritten seien. Da machten sie kehrt, und die Weisung lief durch die Reihen.

»Nach Montsou! Zur Direktion! ... Brot! Brot! Brot!«

Fünftes Kapitel

Herr Hennebeau war an das Fenster seines Kabinetts getreten, um die Kalesche abfahren zu sehen, die seine Frau zum Frühstück nach Marchiennes führte.

Er hatte eine Weile Negrel nachgeblickt, der neben dem Wagenschlage ritt; dann hatte er ruhig wieder an seinem Schreibtisch Platz genommen. Das Haus schien leer, wenn seine Frau und sein Neffe es nicht mit ihren geräuschvollen Dasein belebten. Der Kutscher lenkte heute die Kalesche der Hausfrau; Rose, das neue Kammermädchen, hatte Urlaub bis fünf Uhr; so war niemand zu Hause als Hippolyte, der Kammerdiener, der sich in Pantoffeln durch die Zimmer schleppte, und die Köchin, die seit Tagesanbruch alle Hände voll zu tun hatte, um das Essen zu bereiten, das ihre Herrschaft des Abends gab. Herr Hennebeau hoffte denn auch in der tiefen Stille des leeren Hauses den ganzen Tag tüchtig arbeiten zu können.

Obgleich Hippolyte den Auftrag bekommen hatte, niemand vorzulassen, erlaubte er sich dennoch gegen neun Uhr Herrn Dansaert anzumelden, der Neuigkeiten brachte. Da erst erfuhr der Direktor von der gestrigen Versammlung im Walde. Die Einzelheiten, die jener berichtete, lauteten so genau, daß der Direktor, während er ihm zuhörte, an die Liebschaft des Oberaufsehers mit Frau Pierron dachte, die so bekannt war, daß wöchentlich zwei, drei Briefe diese Ausschweifungen [369] meldeten. Augenscheinlich hatte Pierron geplaudert. Der Direktor benutzte die Gelegenheit, um merken zu lassen, daß er bereits alles wisse, und begnügte sich, Vorsicht zu empfehlen, damit kein Ärgernis entstehe. Erschreckt durch diese Vorwürfe, die mitten in seinen Bericht fielen, leugnete Dansaert, stammelte Entschuldigungen, während seine große Nase durch plötzliches Erröten zum Verräter wurde. Er beharrte übrigens nicht weiter bei der Sache und war froh, so leichten Kaufes darüber hinweggekommen zu sein; denn gewöhnlich zeigte sich der Direktor von der unerbittlichen Strenge eines sittenreinen Mannes. Die Unterredung bewegte sich wieder um den Streik; die Versammlung im Walde wurde als eine Großtuerei von Schreihälsen behandelt; es drohe keine ernste Gefahr. Auf alle Fälle würden die Arbeiterdörfer sich einige Tage still verhalten unter dem Eindruck der Militärstreifen am Morgen.

Als Herr Hennebeau wieder allein war, war er geneigt, eine Depesche an den Präfekten abzusenden. Nur das Bedenken, unnötigerweise einen Beweis seiner Unruhe zu geben, hielt ihn zurück. Er konnte sich schon nicht verzeihen, so wenig Voraussicht gezeigt zu haben, daß er überall sagte, ja sogar der Verwaltung schrieb, der Streik werde höchstens zwei Wochen dauern. Jetzt währte der Ausstand – zu seiner großen Überraschung – schon fast zwei Monate; er war trostlos, fühlte sich mit jedem Tage kleiner, bloßgestellt, genötigt, irgendeinen Kapitalstreich zu ersinnen, wenn er sich bei den Verwaltungsräten wieder in Gunst setzen wollte. Er hatte eben Weisungen verlangt für den Fall, daß es Unruhen geben solle. Die Antwort verzögerte sich; er erwartete sie mit der Nachmittagspost. Er sagte sich, daß es dann noch Zeit sei, Telegramme abzusenden, um die Gruben militärisch zu besetzen, wenn dies die Ansicht der Herren Verwaltungsräte sei. Nach seinem Dafürhalten werde es Kampf, Blutvergießen, Tote und Verwundete bedeuten. Eine solche Verantwortlichkeit verwirrte ihn trotz seiner Willenskraft.

[370] Bis elf Uhr arbeitete der Direktor ruhig in dem stillen Haus, wo kein anderes Geräusch zu vernehmen war als das, welches Hippolyte in den Gemächern des ersten Stockwerkes mit der Zimmerbürste verursachte. Dann kamen – knapp nacheinander – zwei Depeschen; die erste kündete ihm den Überfall der Bande von Montsou auf die Jean-Bart-Grube; die zweite meldete das Durchschneiden der Kabel, das Auslöschen der Feuer, die ganze Verwüstung. Er begriff die Sache nicht. Was hatten die Streikenden bei Deneulin zu suchen, anstatt sich an eine Grube der Gesellschaft zu halten? Übrigens konnten sie seinethalben Vandame verwüsten; das förderte nur seine Erweiterungspläne. Mittags frühstückte er allein in dem großen Speisezimmer, lautlos bedient von Hippolyte, der in seinen Pantoffeln ab und zu ging. Diese Einsamkeit vergrößerte nur noch seine bange Sorge; er fühlte Kälte im Herzen, als ein Aufseher hereingeführt wurde, der ihm den Marsch der Bande nach Mirou erzählte. Unmittelbar darauf, er trank eben seinen Kaffee, erfuhr er aus einer Depesche, daß auch die Gruben Magdalene und Crèvecoeur bedroht seien. Da wurde seine Ratlosigkeit vollständig. Er erwartete Post um zwei Uhr; sollte er sogleich Truppen verlangen? Oder war es besser, sich in Geduld zu fassen, nichts zu tun, bevor er die Absichten der Verwaltung kannte? Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, denn er wollte ein Schriftstück lesen, das für den Präfekten bestimmt war, und das Negrel gestern abend auf sein Ersuchen aufgesetzt hatte. Allein er konnte es nicht finden und dachte, der junge Mann habe es vielleicht in seinem Zimmer gelassen, wo er des Nachts oft zu schreiben pflegte. Ohne einen Entschluß zu fassen, von dem Gedanken an dies Schreiben verfolgt, eilte er in das Zimmer hinauf, um es dort zu suchen.

Als Herr Hennebeau eintrat, war er überrascht, daß das Zimmer nicht in Ordnung gebracht war; die Schuld lag sicher in einem Vergessen oder in einer Lässigkeit Hippolytes. In dem Gemach herrschte feuchte Wärme, [371] die eingeschlossene Wärme einer ganzen Nacht, noch vermehrt durch die offen gebliebene Dampfheizung; ein durchdringender Wohlgeruch kam ihm entgegen, ohne Zweifel von riechenden Wassern, mit denen das Waschbecken gefüllt war. Große Unordnung herrschte in dem Gemach; Kleider lagen umhergestreut, feuchte Handtücher waren über die Sessellehnen geworfen; das Bett stand weit offen, ein Laken war herausgerissen und hing bis zum Teppich herunter. Übrigens hatte er anfänglich für all das nur einen zerstreuten Blick; er wandte sich zu dem mit Papieren bedeckten Tisch und suchte das unauffindbare Schreiben. Zweimal prüfte er die Papiere einzeln: es war nicht dabei. Wohin zum Teufel hatte der Tollkopf Negrel es gesteckt?

Als Herr Hennebau in die Mitte des Zimmers zurückkehrte und auf jedes Möbelstück einen Blick warf, bemerkte er in dem offenen Bett einen hellen Punkt. Er trat mechanisch näher und streckte die Hand aus. Zwischen zwei Falten des Bettlakens lag ein kleines Goldfläschchen. Er erkannte sogleich das kleine Ätherfläschchen, das seine Frau stets bei sich trug. Er konnte sich die Gegenwart dieses Fläschchens nicht erklären; wie konnte es in Pauls Bett geraten sein? Plötzlich erbleichte er furchtbar. Seine Frau hatte hier geweilt.

»Um Vergebung,« murmelte Hippolyte, die Tür öffnend, »ich habe den gnädigen Herrn heraufkommen sehen ...«

Der Diener war eingetreten und stand angesichts der in dem Gemache herrschenden Unordnung betroffen da.

»Mein Gott! Es ist wahr, das Zimmer ist nicht aufgeräumt. Rose ist fort und hat mir das ganze Hauswesen auf dem Hals gelassen.«

Herr Hennebeau hatte das Fläschchen in seiner Hand verborgen und preßte es mit solcher Gewalt, daß er es beinahe zerbrach.

»Was wollen Sie?« fragte er den Diener.

»Gnädiger Herr, es ist wieder ein Mann da ... Er kommt aus Crèvecoeur und bringt einen Brief.«

[372] »Gut; lassen Sie mich allein. Er soll warten.«

Als er den Riegel vorgeschoben hatte, öffnete er die Hand wieder und betrachtete das Fläschchen, das sich in seiner Handfläche rot abgezeichnet hatte. Plötzlich sah und begriff er: dies geschah in seinem Hause seit Monaten. Er erinnerte sich seines ehemaligen Verdachtes, des schlürfenden Geräusches nackter Füße vor den Türen zu nachtschlafener Zeit.

Er war auf einen Sessel gesunken, und starren Auges verharrte er lange Minuten regungslos. Ein Geräusch störte ihn auf; man pochte an die Tür, man versuchte zu öffnen. Er erkannte die Stimme des Dieners.

»Gnädiger Herr! ... Ach, gnädiger Herr haben sich eingeschlossen ...«

»Was gibt es denn wieder?«

»Die Sache scheint dringend; die Arbeiter zerschlagen alles. Es sind wieder zwei Männer unten. Auch Depeschen sind gekommen.«

»Laßt mich in Ruhe! Ich komme sogleich!«

Der Gedanke, daß Hippolyte selbst das Fläschchen hätte finden können, wenn er am Morgen das Zimmer aufgeräumt hätte, machte sein Blut zu Eis erstarren.

Ein Glockenzeichen aus der Ferne ließ ihn erbeben. Er kannte dieses Zeichen; es wurde auf seinen Befehl gegeben, wenn der Postbote ankam. Er erhob sich und rief in seiner Erbitterung, die sich gegen seinen Willen in rohen Worten Luft machte:

»Ich pfeife auf ihre Depeschen und ihre Briefe!«

Die Wut hatte sich jetzt seiner bemächtigt. Dies Weib war eine Verworfene. Er suchte nach rohen Worten, er ohrfeigte damit gleichsam ihr Bild. Der plötzliche Einfall der Ehe zwischen Paul und Cäcilie, den sie mit einem so ruhigen Lächeln verfolgte, erbitterte ihn vollends. Auf dem Grunde dieser Sinnlichkeit gab es also keine Leidenschaft, keine Eifersucht mehr? Paul war ihr nur noch ein Spielzeug, eine Erholung, die sie sich gönnte wie einen gewohnten Nachtisch? Er maß ihr alle Schuld bei; er entschuldigte diesen Knaben, den sie [373] genommen hatte, wie man in die erste grüne Frucht beißt, die man am Wege gestohlen.

Jetzt klopfte man schüchtern an die Tür, und Hippolyte erlaubte sich durch das Schlüsselloch zu flüstern:

»Gnädiger Herr, die Post ... Auch ist Herr Dansaert wieder da und meldet, daß gemordet wird ...«

»Gut, ich komme schon. Hol' Euch der Teufel!«

Was soll er mit ihnen anfangen, wenn sie von Marchiennes heimkehren? Er wird sie davonjagen wie stinkende Tiere, die er unter seinem Dach nicht länger dulden will. Er wird einen Knüttel gegen sie schwingen und ihnen zurufen, ihr Gift anderswohin zu tragen. In seiner ohnmächtigen Wut stürzte er sich auf das Bett und hieb mit den Fäusten darauf ein.

Doch plötzlich glaubte er Hippolytes Schritte zu hören, der wieder heraufkam. Ein Gefühl der Scham ließ ihn innehalten. Er stand eine Weile keuchend da, trocknete seine Stirn, suchte sein stürmisch pochendes Herz zu beruhigen. Vor einem Spiegel stehend, betrachtete er sein Gesicht, das so verstört war, daß er es nicht erkannte. Nachdem er in einer äußersten Anstrengung seines Willens sich allmählich beruhigt hatte, ging er hinunter.

Unten harrten fünf Boten außer Dansaert. Sie überbrachten ihm immer ernster lautende Nachrichten über den Zug der Streikenden durch die Gruben; der Oberaufseher erzählte ihm lang und breit, was in der Mirougrube geschehen, und wie sie durch die tapfere Haltung des Vaters Quandieu gerettet wurde. Er hörte ihnen zu und nickte mit dem Kopf; aber er verstand sie nicht, seine Gedanken waren oben in dem Zimmer. Endlich entließ er sie mit der Erklärung, daß er seine Maßnahmen treffen werde. Als er wieder allein vor seinem Schreibpult saß, schien er mit offenen Augen zu schlafen, das Haupt auf die Hände gestützt. Die Post lag vor ihm; er entschloß sich endlich, den erwarteten Brief hervorzusuchen, die Antwort der Verwaltungsräte. Anfänglich hüpften die Zeilen vor seinen Augen; aber [374] schließlich begriff er, daß die Herren Aufruhr wünschten; sie geboten ihm nicht, es zum Äußersten kommen zu lassen, aber sie ließen durchblicken, daß die Unruhen das Ende des Streiks beschleunigen müßten, indem sie das Einschreiten der bewaffneten Macht herbeiführen würden. Da zögerte er nicht länger; er sandte Depeschen nach allen Seiten, an den Präfekten von Lilie, die Truppenabteilung von Douai, die Gendarmerie von Marchiennes: Es brachte ihm Erleichterung, er konnte sich einschließen; ja, er setzte das Gerücht in Umlauf, daß er die Gicht habe. So blieb er den ganzen Nachmittag in seinem Arbeitszimmer verborgen, empfing niemand und begnügte sich, die Depeschen und Briefe zu lesen, die immer zahlreicher einliefen. So konnte er aus der Ferne den Zug der Bande verfolgen, vom Magdalenenschacht nach Crèvecoeur, von Crèvecoeur nach der Siegesgrube, von dort nach Gaston-Marie. Von anderer Seite meldete man ihm die Ratlosigkeit der Gendarmen und Dragoner, die sich unterwegs verirrt hatten und den angegriffenen Gruben immer den Rücken kehrten. Seinethalben konnten sie morden und alles zerstören; er hatte den Kopf zwischen die Hände begraben, die Finger vor den Augen, und versenkte sich in die tiefe Stille des leeren Hauses, in dem er nichts anderes hörte als von Zeit zu Zeit das Geräusch der Schüsseln der Köchin, die mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt war.

Die Abenddämmerung verdunkelte bereits das Zimmer, es war fünf Uhr, als ein Lärm Herrn Hennebeau, der wie betäubt über seinen Papieren brütete, plötzlich auffahren ließ. Er glaubte, die beiden Elenden seien zurückgekehrt. Allein der Lärm wurde immer größer, und ein furchtbarer Schrei erscholl in dem Augenblick, als er ans Fenster trat.

»Brot! Brot! Brot!«

Es waren die Streikenden, die Montsou besetzten, während die Gendarmen nach der Voreuxgrube galoppierten, weil es hieß, daß diese angegriffen sei.

[375] Zwei Kilometer von den letzten Häusern von Montsou, ein wenig unterhalb der Wegkreuzung, wo die Heerstraße und der Weg nach Vandame sich schnitten, hatten Frau Hennebeau und die Fräulein die Bande vorbeiziehen sehen. Sie hatten in Marchiennes den Tag sehr fröhlich zugebracht; es gab ein sehr angenehmes Frühstück bei dem Direktor des Eisenwerkes; ihm folgte ein interessanter Besuch in den Werkstätten und in einer benachbarten Glasfabrik; damit wurde der Nachmittag ausgefüllt; als man endlich in der Dämmerung des klaren Wintertages den Heimweg antrat, hatte Cäcilie den Einfall, daß man in einem Pachthof eine Schale Milch trinken solle. Die Damen verließen die Kalesche, und Negrel sprang galant aus dem Sattel, während die Bäuerin, ganz verlegen über diesen vornehmen Besuch, dienstwillig herbeieilte, um ein Tafeltuch aufzulegen. Allein Luzie und Johanna wollten die Kuh melken sehen; man ging also mit den Schalen in den Kuhstall; man lachte viel darüber, daß man in der Streu versank.

Frau Hennebeau – mit der Miene liebenswürdiger Mütterlichkeit – nippte an der Milchschale, als ein seltsam dumpfer Lärm, der von außen kam, sie beunruhigte.

»Was ist denn?« fragte sie.

Der Stall, am Weg erbaut, hatte ein breites Tor, weil er zugleich als Heuboden diente. Die Mädchen streckten die Köpfe zum Tor hinaus und waren nicht wenig erstaunt, als sie links eine dunkle, heulende Masse auf der Straße von Vandame heranziehen sahen.

»Teufel!« brummte Negrel, der ebenfalls hinausgegangen war,»sollten unsere Schreihälse schließlich bösartig werden?«

»Es sind vielleicht wieder die Bergleute«, sagte die Bäuerin. »Sie sind schon zweimal vorübergezogen. Die Dinge scheinen schief zu gehen; sie sind die Herren im Lande.«

Sie hatte jedes Wort mit Vorsicht ausgesprochen und beobachtete die Wirkung ihrer Worte auf den Gesichtern; [376] als sie den Schrecken aller sah, die tiefe Angst, in welche die Gesellschaft durch diese Begegnung versetzt wurde, beeilte sie sich hinzuzufügen:

»Die erbärmlichen Lumpenkerle!«

Als Negrel sah, daß es zu spät sei, in den Wagen zu steigen und Montsou wieder zu erreichen, befahl er dem Kutscher, die Kalesche rasch auf den Hof der Bauernwirtschaft zu bringen, wo das Gespann hinter einem Schuppen verborgen blieb. Ebenda band er sein Reitpferd an, das bisher ein Junge am Zügel gehalten hatte. Als er zurückkam, fand er seine Tante und die Mädchen außer sich vor Schrecken und bereit, der Bäuerin zu folgen, die ihnen vorschlug, in ihrer Wohnung Zuflucht zu suchen. Allein er war der Ansicht, daß man hier mehr in Sicherheit sei, und daß niemand sie auf diesem Heuboden suchen werde. Indes schloß das Tor sehr schlecht und hatte solche Risse, daß man durch die wurmstichigen Bretter und Pfosten die Straße sehen konnte.

»Mut! Mut!« sagte er,»wir werden unser Leben teuer verkaufen.«

Dieser Scherz vermehrte noch die Furcht. Der Lärm wurde immer größer; man sah noch nichts; über die leere Straße schien ein Sturmwind zu wehen, jenen plötzlich aufspringenden Winden gleich, die heftigen Ungewittern vorangehen.

»Nein, nein, ich will nicht schauen«, sagte Cäcilie und verkroch sich hinter das Heu.

Frau Hennebeau war sehr bleich; von einer Wut erfaßt gegen diese Leute, die ihr ein Vergnügen verdarben, hielt sie sich im Hintergrunde, mißtrauisch und angewidert ausspähend, während Luzie und Johanna – trotz ihrer Furcht – durch die Spalten des Tores nach der Straße lugten, um nichts von dem heraufziehenden Schauspiel zu verlieren.

Das donnerähnliche Rollen näherte sich, die Erde erzitterte; vorauf lief Johannes, immer in sein Horn blasend.

[377] »Nehmen Sie Ihre Riechfläschchen, meine Damen, der Schweiß des Volkes zieht vorüber«, sagte Negrel, der trotz seiner republikanischen Überzeugungen es liebte, vor den Damen den Pöbel zu verspotten.

Doch sein Witzwort ging in einem Orkan von Schreien und Gesten unter. Die Weiber waren heran gekommen, nahezu tausend Weiber mit wirren Haaren, in Lumpen gehüllt, welche die nackte Haut sehen ließen. Einige hielten ihr kleines Kind auf den Armen und schwangen es wie ein Banner der Trauer und der Rache. Andere – die jüngeren – schwangen Stöcke; während die älteren – scheußliche Gestalten – so laut heulten, daß die Sehnen ihrer fleischlosen Hälse zu reißen drohten. Dann kamen die Männer, zweitausend Wütende, Häuer, Handlanger, eine dichte Masse, die so gedrängt heranrückte, daß man die zerrissenen Beinkleider, die zerfetzten Jacken nicht unterscheiden konnte, weil sie in der nämlichen erdfarbenen Einförmigkeit untergingen. Die Augen glühten; man sah bloß die schwarzen Mundöffnungen, welche die Marseillaise sangen, deren Strophen sich in einem wirren Geheul verloren, begleitet von dem Geklapper der Holzschuhe auf dem hartgefrorenen Boden. Über den Köpfen wurde zwischen den hochgestreckten Eisenstangen eine Hacke aufrecht getragen; und diese einzige Hacke, gleichsam die Standarte, glänzte unter dem hellen Himmel wie das Beil einer Guillotine.

»Welch furchtbare Gesichter!« stammelte Frau Hennebeau.

Negrel brummte zwischen den Zähnen:

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur einen von ihnen erkenne! Woher kommen denn die Banditen?«

In der Tat: die Wut, der Hunger, die zwei Leidensmonate, dieser tolle Zug durch die Gruben – sie hatten die sonst so ruhigen Gesichter der Bergleute von Montsou verlängert wie die Kinnladen wilder Tiere. In diesem Augenblick ging die Sonne unter; die letzten [378] Strahlen – von einer dunklen Purpurfarbe – tauchten die Ebene in einen blutroten Schein. Die Straße schien einen Strom von Blut fortzuwälzen; die Weiber, die Männer stürmten vorbei und schienen von Blut zu triefen wie Metzger bei der Arbeit.

»Herrlich!« flüsterten Luzie und Johanna, in ihrem künstlerischen Geschmack von diesem furchtbaren Schauspiel ergriffen.

Sie erschraken aber doch und flüchteten zu Frau Hennebeau, die sich an eine Tränke gelehnt hatte. Der Gedanke, daß ein Blick von draußen durch die Planken genügte, um sie dem Tode auszuliefern, ließ sie erstarren. Auch Negrel, sonst sehr tapfer, fühlte sein Blut aus den Wangen entweichen; er ward von Furcht ergriffen, die mächtiger war als sein Wille, von Entsetzen, wie es zuweilen über uns kommt, wir wissen nicht woher. Cäcilie hockte im Heu und wagte sich nicht zu rühren. Die anderen konnten die Augen nicht wegwenden und schauten gegen ihren Willen auf die Straße hinaus.

Es war das blutigrote Gespenst der Revolution, die sie alle hinwegfegen werde an einem blutigen Abend dieses zur Neige gehenden Jahrhunderts. Ja, eines Abends wird das losgelassene, zügellose Volk so über die Straße rennen und vom Blut der Bürger triefen, abgeschlagene Köpfe herumtragen, das Gold der ausgeleerten Schränke verstreuen. Die Weiber werden heulen, die Männer gleich den Wölfen die Kinnladen weit aufreißen, um alles zu zerfleischen. Ja, es werden dieselben Menschen in Lumpen sein, dasselbe Geklapper von plumpen Holzschuhen, dieselbe greuliche Menge mit schmutziger Haut, verpestetem Atem, die alte Welt hinwegfegend mit ihrem barbarischen, alles überflutenden Drängen und Jagen. Brände werden aufflammen, in den Städten wird kein Stein auf dem andern bleiben, man wird zu dem wilden Leben in den Wäldern zurückkehren nach der großen Brunst, nach der großen Schwelgerei, in der die Armen in einer Nacht [379] die Weiber der Reichen ergreifen und den Wein der Reichen austrinken. Es wird nichts mehr geben, keinen Sou von den Reichtümern, keinen Titel von errungenen Stellungen bis zu dem Tage, wo vielleicht eine neue Erde erblüht.

Ein ungeheurer Schrei erhob sich und übertönte die Marseillaise:

»Brot! Brot! Brot!«

Luzie und Johanna schmiegten sich in ihrem Entsetzen an Frau Hennebeau, während Negrel sich vor sie hinstellte, wie um sie mit seinem Leibe zu schützen. Sollte denn noch an diesem Abend die alte Welt aus den Fugen gehen?

Alles verschwand allmählich; der Strom wälzte sich auf Montsou zu die schmalen Wege entlang, zwischen den niedrigen, bunt getünchten Häusern. Man ließ den Wagen wieder aus dem Hofe fahren, allein der Kutscher wollte nicht dafür bürgen, daß er seine Herrin und die Fräulein ohne Hindernis heimbringe, wenn die Streikenden die Straße besetzt hielten. Das schlimmste war, es gab keinen andern Weg.

»Wir müssen aber heimkehren, das Essen erwartet uns«, sagte Frau Hennebeau außer sich vor Angst. »Diese schmutzige Halunken rumoren schon wieder an einem Tage, an dem ich Gäste habe. Solchem Gesindel soll man Gutes tun.«

Luzie und Johanna zogen Cäcilie aus dem Heu hervor; diese wehrte sich in der Meinung, der Zug der Wilden dauere noch immer an, und wiederholte, sie wolle nichts sehen. Schließlich nahmen alle von neuem ihre Plätze im Wagen ein. Negrel, der wieder zu Pferde gestiegen war, hatte den Einfall, man solle durch die Gäßchen von Réquillart zurückkehren.

»Fahren Sie langsam«, empfahl er dem Kutscher, »denn der Weg ist sehr schlecht. Wenn Gruppen der Bande Sie hindern sollten, dort in die Heerstraße einzulenken, halten Sie hinter der alten Grube, und wir kehren zu Fuß durch die kleine Gartentür zurück,[380] während Sie Wagen und Pferde irgendwo unter dem Schuppen einer Herberge unterbringen.«

Sie fuhren ab. Die Bande war schon fern und ergoß sich nach Montsou. Die Bevölkerung des Ortes war in Schrecken und Aufregung, seitdem sie die Gendarmen und Dragoner zweimal hatte durchziehen sehen. Furchtbare Geschichten waren im Umlauf; man sprach von geschriebenen Maueranschlägen, die den Bürgern drohten, daß ihnen der Bauch aufgeschlitzt werde. Niemand hatte diese Maueranschläge gelesen, und dennoch wußte man ganze Sätze daraus wörtlich anzuführen. Besonders beim Notar war die Angst bis zum Gipfelpunkt gestiegen; er hatte mit der Post einen unterschriftslosen Brief erhalten, worin man ihm mitteilte, daß in seinem Keller ein Faß Pulver vergraben sei, das ihn in die Luft sprenge, wenn er sich nicht für das Volk erkläre.

Die Grégoire, die bei dem Notar zu Besuche waren, sprachen eben über diesen Brief, in dem sie den Streich eines Spaßvogels erblicken zu sollen glaubten, als der Einzug der Bande das Haus in höchsten Schrecken versetzte. Die Grégoire lächelten nur. Sie schoben ein wenig den Vorhang weg, schauten hinaus und erklärten, es bestehe keinerlei Gefahr, alles werde harmlos enden. Es schlug fünf Uhr; sie hatten gerade noch Zeit zu warten, bis die Straße frei sein werde, um zu den Hennebeau hinüberzugehen, wo sie essen sollten und Cäcilie sie sicherlich schon erwartete. Allein niemand in Montsou schien ihre Vertrauensseligkeit zu teilen; entsetzte Leute rannten durch die Straßen, Türen und Fenster wurden eilig geschlossen. Sie sahen Maigrat hastig seinen Laden schließen und mit Eisenstangen verwahren; er war so bleich und zitterte dermaßen, daß seine kleine, schwächliche Frau genötigt war, die Schlosser vorzulegen.

Die Bande hatte vor dem Hause des Direktors haltgemacht, und es ertönte der Schrei:

»Brot! Brot! Bot!«

[381] Herr Hennebeau stand am Fenster, als Hippolyte eintrat, um die Fensterläden zu schließen, damit die Scheiben nicht eingeschlagen wurden. Er schloß auch die im Erdgeschoß, dann ging er in den ersten Stock hinauf; man hörte das Kreischen der Riegel und das Zuschlagen der Fensterläden. Unglücklicherweise konnte man nicht auch das breite Fenster der unterirdisch gelegenen Küche schließen; man konnte von der Straße die helllodernden Feuer unter den Schüsseln und unter dem Spieße erblicken.

Herr Hennebeau, der die Vorgänge sehen wollte, stieg mechanisch in den zweiten Stock hinauf nach dem Zimmer Pauls. Dies war am besten gelegen; es gestattete einen Ausblick auf die Straße bis zu den Werkhöfen der Gesellschaft. Herr Hennebeau stand hinter den Vorhängen verborgen und überschaute von da die Menge. Allein dieses Zimmer hatte ihn von neuem in Erregung gebracht, wenngleich der Toilettetisch jetzt gesäubert und in Ordnung gebracht war und das Bett hinter den sorgfältig geschlossenen Vorhängen ein kühles, nüchternes Aussehen hatte. Seine große Wut am Nachmittag, die wilde Schlacht, die er in der tiefen Stille seiner Einsamkeit dem Bett geliefert: sie endeten jetzt in einer unermeßlichen Müdigkeit. Sein Wesen war jetzt wie dieses Zimmer, abgekühlt, rein gefegt von dem Unflat des Morgens, zurückgekehrt zur gewohnten vornehmen Haltung. Was konnte ein Skandal nützen? Hatte sich bei ihm etwas geändert? Seine Frau hatte ganz einfach einen Liebhaber mehr; daß sie ihn in der Familie gewählt hatte, war kaum ein erschwerender Umstand; es war vielleicht besser so; sie wahrte wenigstens den Schein. Er bemitleidete sich selbst, wenn er sich seiner unsinnigen Eifersucht erinnerte. Wie lächerlich war es, dieses Bett mit Faustschlägen zu bearbeiten! Er hatte einen andern Mann geduldet, folglich werde er auch diesen dulden. Man werde ihn ein klein wenig mehr verachten: das war alles. Eine furchtbare Bitternis kam über ihn, das Gefühl der Nutzlosigkeit [382] von allem, der ewige Schmerz des Daseins, die Scham vor sich selbst, weil er diese Frau noch immer anbetete und nach ihr verlangte, des Schmutzes ungeachtet, in den er sie versinken sah.

Unter dem Fenster brach das Geheul mit erneuter Heftigkeit los.

»Brot! Brot! Brot!«

»Tröpfe!« murmelte Herr Hennebeau zwischen den Zähnen.

Er hörte, wie sie ihn beschimpften wegen seiner fetten Bezüge, wie sie ihn einen dickwanstigen Tagedieb nannten, ein schmutziges Schwein, das sich mit feinen Sachen den Magen verdarb, während der Arbeiter Hungers starb. Die Weiber hatten die Küche entdeckt, und jetzt folgte ein Sturm von Schmähungen gegen den bratenden Fasan und gegen die Soßen, deren fetter Geruch ihnen den leeren Magen umdrehte. Diese schmutzigen Spießbürger! Man werde sie schon mit Champagner und Trüffeln mästen, daß ihnen die Därme platzten!

»Brot! Brot! Brot!«

»Tröpfe!« wiederholte Herr Hennebeau, »bin ich etwa glücklich?«

Zorn erfaßte ihn gegen diese Leute, die nicht begriffen. Gern hätte er ihnen seine fetten Bezüge überlassen für ihre dicke Haut und für die Leichtigkeit, mit der sie sich liebten und dann sorglos wieder auseinandergingen. Er würde alles hingegeben haben: seine Erziehung, seinen Wohlstand, seinen Luxus, seine Direktorengewalt, wenn er nur einen Tag der letzte dieser Elenden, die ihm gehorchten, hätte sein können, Halunke genug, sein Weib zu ohrfeigen und sein Vergnügen bei den Nachbarinnen zu suchen. Er wünschte sich auch, Hunger zu leiden, einen leeren Bauch zu haben, den Magen von Krämpfen zusammengezogen, die das Gehirn erschüttern und schwindelig machen: vielleicht würde dies sein ewiges Weh getötet haben. Ach, als Tier leben zu können, nichts zu besitzen, mit der häßlichsten [383] und schmutzigsten Schlepperin durch die Getreidefelder zu streifen und sich Frieden zu holen!

»Brot! Brot! Brot!«

Da verlor er die Geduld und schrie in den Lärm hinein.

»Brot? Ihr Tröpfe! Ist denn das alles?«

Er hatte zu essen und stöhnte dennoch unter seinem ewigen Leid. Sein zerstörtes Eheleben, sein ganzes verwüstetes Dasein, es stieg ihm wie Todesröcheln in der Kehle empor. Wenn man auch Brot hatte, so war damit noch nicht alles erreicht. Wer war der Tölpel, der das irdische Glück in der Teilung des Reichtums suchte? Diese Hohlköpfe von Revolutionären konnten die Gesellschaft umstürzen und eine neue aufbauen; sie würden aber der Menschheit keine neue Freude bieten, ihr kein einziges Weh nehmen können, indem sie jedem seinen Brotanteil beschnitten. Ja, sie würden das Unglück der Erde nur ausbreiten, daß schließlich selbst die Hunde verzweifelt heulten, weil man sie aus der ruhigen Zufriedenheit der Instinkte gerissen und zur Schmerzenshöhe der unbefriedigten Leidenschaften hob. Nein, das einzige Glück ist, nichts zu sein, oder, wenn man schon etwas ist, Baum zu sein, Stein zu sein, noch weniger: das Sandkorn, das nicht bluten kann unter dem Tritt der Menschen.

In dieser Verbitterung traten Herrn Hennebeau Tränen in die Augen und rannen heiß über seine Wangen. Die Straße lag schon in Dunkel gehüllt, als Steine gegen die Stirnwand des Hauses zu fliegen begannen. Ohne Zorn gegen diese Hungrigen und nur durch die brennende Wunde seines Herzens wütend gemacht, fuhr er fort unter Tränen zu stammeln:

»Diese Tröpfe! Diese Tröpfe!«

Doch der Schrei beherrschte alles; ein Geheul erhob sich mit Sturmesgewalt:

»Brot! Brot! Brot!«

[384] Sechstes Kapitel

Ernüchtert durch die Maulschellen Katharinas, war Etienne an der Spitze der Kameraden geblieben. Doch während er sie mit heiserer Stimme befehligte und auf Montsou lenkte, machte sich in seinem Innern ein andere Stimme vernehmbar, die Stimme der Vernunft, die erstaunt fragte, warum das alles vor sich ging. Er hatte nichts von alledem gewollt; wie konnte es geschehen, daß er, der zu dem Zwecke nach Jean-Bart gezogen war, um mit Überlegung zu handeln und ein Unglück zu verhüten, von Gewalttat zu Gewalttat schreitend den Tag mit der Belagerung des Direktionshauses beschloß?

Doch er hatte soeben Halt! gerufen. Er hatte anfänglich nur die Absicht gehabt, die Werkhöfe zu schützen, wo die Bande alles hatte zerstören wollen. Jetzt, da die ersten Steine gegen das Haus flogen, sann er darüber nach, gegen welche Beute er die Bande loslassen solle, um größeres Unglück zu verhüten. Er konnte nichts ausfindig machen. Wie er so allein und machtlos auf der Straße stand, rief ihn jemand, ein Mann, der auf der Schwelle der Tisonschen Schenke stand, deren Besitzerin sich beeilte, die Fensterläden zu schließen, so daß nur die Tür offen blieb.

»Ja, ich bin's, höre!«

Es war Rasseneur. An dreißig Männer und Weiber, fast sämtlich aus dem Dorfe der Zweihundertvierzig, die am Morgen zu Hause geblieben und am Abend nach Montsou gekommen waren, um Nachrichten einzuholen, hatten beim Herannahen der Streikenden diese Schenke besetzt. Zacharias saß mit Philomene an einem Tisch, weiterhin Pierron mit seiner Frau, den Rücken zur Tür, ihre Gesichter verbergend. Übrigens trank niemand; man hatte hier bloß Zuflucht gesucht.

Etienne erkannte Rasseneur und wandte sich ab, als dieser hinzufügte:

[385] »Mein Anblick ist dir unbequem, nicht wahr? Ich hatte dich gewarnt; jetzt beginnen die Verdrießlichkeiten. Ihr könnt jetzt Brot verlangen, man wird euch Blei geben.«

Da wandte Etienne sich wieder um und sagte:

»Unbequem sind mir die Feiglinge, die mit gekreuzten Armen zusehen, wie wir unsere Haut zu Markte tragen.«

»Willst du denn plündern da drüben?« fragte Rasseneur.

»Ich will bei meinen Kameraden bleiben bis zum Ende und will, wenn es sein muß, mit ihnen zugrunde gehen.«

In verzweifelter Stimmung kehrte Etienne unter die Menge zurück, bereit mit ihr zu sterben. Auf der Straße sah er drei Kinder Steine werfen; er versetzte ihnen kräftige Fußtritte und rief, um auch den Kameraden Einhalt zu gebieten, daß es zu nichts führe, Fensterscheiben zu zerschlagen.

Bebert und Lydia, die sich zu Johannes gesellt hatten, lernten von diesem die Schleuder handhaben. Jeder schleuderte einen Kiesel, und es galt eine Wette, wer den größten Schaden verursache. Lydia hatte einen ungeschickten Wurf getan und ein Weib in der Menge getroffen; die beiden Jungen hinter ihr hielten sich die Seiten vor Lachen. Bonnemort und Mouquet saßen auf einer Bank und schauten ihnen zu. Die angeschwollenen Beine trugen Bonnemort so mühsam, daß er sich nur schwer hatte hierherschleppen können; man erfuhr nicht, welche Neugier ihn geführt hatte, denn er hatte wieder sein erdfahles, verschlossenes Gesicht wie an den Tagen, da man kein Wort aus ihm herausbringen konnte.

Niemand gehorchte mehr Etienne. Trotz seiner Weisungen dauerte der Steinhagel fort, und er war erstaunt und erschreckt beim Anblick dieser Tiere, denen er den Maulkorb abgenommen; sie waren so schwer in Bewegung zu bringen und waren nachher so furchtbar, von [386] einer so wilden Beharrlichkeit in ihrer Wut. Es war das alte flämische Blut, dick und ruhig, das Monate brauchte, um sich zu erwärmen, und sich dann in furchtbare Ausschreitungen stürzte und nichts hören wollte, bis das Tier sich an Grausamkeiten berauscht hatte. In seiner südlichen Heimat flammte die Menge rascher auf, aber sie tat weniger. Er mußte mit Levaque raufen, um ihm die Hacke zu entreißen; er wußte nicht, wie er die Maheu zurückhalten solle, die mit beiden Händen Kieselsteine schleuderten. Besonders die Weiber erschreckten ihn, die Levaque, die Mouquette und die anderen, die von einer mörderischen Wut besessen waren, die Zähne fletschten und mit den Fingernägeln drohten, ein wahres Hundegebell anstimmten, immer aufgestachelt von der Brulé, die mit ihrer langen, hageren Gestalt sie überragte und beherrschte.

Da trat ein plötzlicher Stillstand ein; eine kurze Überraschung bewirkte jenen Augenblick der Ruhe, den Etienne mit seinen Bitten nicht hatte erreichen können. Es waren die Grégoire, die sich entschlossen hatten, vom Notar Abschied zu nehmen und sich quer über die Straße zum Direktor zu begeben; sie schienen so ruhig, sie sahen so ganz danach aus, als glaubten sie nur an einen Spaß ihrer braven Grubenarbeiter, deren Ergebenheit sie seit einem Jahrhundert nährte, daß die Streikenden in der Tat erstaunt innehielten, um die braven alten Leute nicht zu treffen, die unvermutet auf der Straße auftauchten. Sie ließen ihnen Zeit, in den Garten einzutreten, die Auffahrt hinaufzugehen und an der verrammelten Tür zu läuten, die man ihnen nicht sonderlich rasch öffnete. Die Kammerfrau, Rose, kam eben von ihrem Ausgang heim und lachte den wütenden Arbeitern, die sie sämtlich kannte, ins Gesicht, da sie von Montsou war. Sie bearbeitete ihrerseits die Tür mit Faustschlägen, bis Hippolyte kam und sie zur Hälfte öffnete. Es war Zeit; die Grégoire verschwanden eben im Hause, als der Steinhagel von neuem anging. [387] Die Bande hatte sich von ihrem Erstaunen wieder erholt und brüllte stärker als früher:

»Tod den Bürgern! Es lebe die Internationale!«

Rose schien das Abenteuer Spaß zu machen; sie lachte noch im Hause und wiederholte dem entsetzten Kammerdiener:

»Sie sind nicht bösartig; ich kenne sie.«

Herr Grégoire hängte mit gewohnter Bedächtigkeit seinen Hut an den Nagel. Während er seiner Frau den Mantel ablegen half, sagte er:

»Sie sind im Grunde nicht schlecht; wenn sie genug geschrien haben, essen sie mit um so besserem Appetit zur Nacht.«

In diesem Augenblick kam Herr Hennebeau vom zweiten Stock herunter. Er hatte die Szene mit angesehen und wollte seine Gäste mit der gewohnten kühlen Höflichkeit empfangen. Nur die Blässe seines Gesichtes verriet den Schmerz, der ihn durchrüttelt hatte. Der Mann in ihm war gebändigt; es blieb nichts übrig als der vornehme Beamte, der entschlossen war, seine Pflicht zu erfüllen.

»Die Damen sind noch nicht zurück«, sagte er zu seinen Gästen.

Zum erstenmal wurden jetzt die Grégoire von Unruhe erfaßt. Cäcilie noch nicht zurück! Wie wird sie heimkehren, wenn dieser Spaß der Arbeiter noch länger andauert?

»Ich habe daran gedacht, das Haus frei zu machen«, fügte Herr Hennebeau hinzu. »Unglücklicherweise bin ich nur allein zu Hause und weiß nicht, wohin ich meinen Diener senden soll, daß er mir Soldaten unter Führung eines Korporals bringe, die mir dies Gelichter hinwegfegen.«

Rose erlaubte sich von neuem die schüchterne Bemerkung:

»Gnädiger Herr, diese Leute sind nicht bösartig.«

[388] Der Direktor schüttelte den Kopf, während der Lärm draußen anwuchs und man die dumpfen Schläge der Steine gegen die Mauer des Hauses hörte.

»Ich grolle den Leuten nicht, ich entschuldige sie sogar; man muß so dumm sein wie sie, um zu glauben, daß wir sie unglücklich machen wollen. Allein, ich habe für Ruhe einzustehen ... Es ist merkwürdig, daß Gendarmen auf der Straße sind, wie man mir sagt, und daß ich seit heute morgen keinen einzigen bekommen konnte.«

Er unterbrach sich, trat vor Frau Grégoire zur Seite und sagte:

»Ich bitte Sie, Gnädigste, bleiben Sie nicht da; treten Sie in den Salon ein.«

Doch die Köchin, die verzweifelt aus der Küche heraufkam, hielt sie noch einige Minuten auf. Sie erklärte die Verantwortlichkeit für das Essen nicht übernehmen zu können, weil sie von dem Pastetenbäcker in Marchiennes Zutaten erwartete. Sie hatte die Sachen für vier Uhr bestellt; augenscheinlich hatte der Pastetenbäcker aus Furcht vor diesen Banditen sich unterwegs verirrt; vielleicht auch hatte man seine Tragkörbe geplündert.

»Ein wenig Geduld«, sagte Herr Hennebeau. »Noch ist nichts verloren; der Pastetenbäcker kann noch immer kommen.«

Als er zu Frau Grégoire zurückkehrte, um ihr die Salontür zu öffnen, war er sehr überrascht, auf einem Bänkchen im Flur einen Mann zu sehen, den er bisher im wachsenden Dunkel gar nicht bemerkt hatte.

»Sie sind's, Maigrat! Was gibt es denn?«

Maigrat hatte sich erhoben, und man sah sein bleiches, vom Schrecken verstörtes Gesicht. Er hatte nicht mehr das stramme Auftreten eines ruhigen, dicken Mannes: er erklärte untertänig, daß er zu dem Herrn Direktor geschlichen sei, um von ihm Schutz und Hilfe zu erbitten, wenn die Räuber seinen Kramladen angreifen sollten.

[389] »Sie sehen, daß ich selbst bedroht bin und niemand habe«, sagte Herr Hennebeau. »Sie hätten besser getan, zu Hause zu bleiben und Ihre Waren zu hüten.«

»Ich habe die Eisenstangen vorgelegt und meine Frau zu Hause gelassen.«

Der Direktor verlor die Geduld und machte kein Hehl aus seiner Verachtung. Eine schöne Wacht, diese schwächliche, infolge der Prügel abgemagerte Frau.

»Kurz, ich kann nichts machen; suchen Sie sich zu wehren, wie Sie können. Ich rate Ihnen sogleich heimzukehren, denn die Kerle fordern schon wieder Brot. Hören Sie?«

In der Tat hatte der Lärm wieder eingesetzt, und Maigrat glaubte aus dem Geschrei seinen Namen herauszuhören. Es war unmöglich heimzukehren; sie würden ihn in Stücke zerrissen haben. Anderseits quälte ihn der Gedanke an seinen Ruin. Er preßte sein Gesicht an die Glasscheiben der Tür, schwitzend, zitternd nach dem Unglück spähend, während die Grégoire sich entschlossen, in den Salon zu gehen.

Herr Hennebeau bemühte sich ruhig zu scheinen und seine Hausherrenpflichten zu erfüllen. Allein er bat seine Gäste vergebens, Platz zu nehmen. Das verschlossene, verrammelte Zimmer, wo zwei Lampen brannten, obgleich es noch nicht völlig finster war, füllte sich mit Entsetzen bei jedem neuen Geheul, das von der Straße hereintönte. Das Wutgeschrei der Menge wurde von den Teppichen und Vorhängen gedämpft, so daß es noch beunruhigender, wie eine unbestimmte und furchtbare Drohung klang. Man versuchte ein Gespräch zu führen, das immer wieder auf diesen unbegreiflichen Aufruhr gelenkt wurde. Herr Hennebeau war wütend, nichts vorausgesehen zu haben; seine Polizei war so schlecht, daß er besonders auf Rasseneur erzürnt war, dessen abscheulichen Einfluß er zu erkennen glaubte. Übrigens würden die Gendarmen kommen; es sei unmöglich, daß man ihn so verlasse. Die Grégoire dachten nur an ihre [390] Tochter; die liebe Kleine erschrak so leicht; vielleicht war die Kutsche angesichts der Gefahr nach Marchiennes zurückgekehrt. Noch gut eine Viertelstunde dauerte dieses Harren, immer peinlicher durch das Geheul von der Straße, durch das Aufschlagen der Steine an die geschlossenen Fensterläden, das klang wie Trommelschlag. Die Lage war unerträglich geworden; Herr Hennebeau sagte, er selbst wolle hinausgehen, die Schreihälse verjagen und dem Wagen entgegengehen. Da lief Hippolyte schreiend herein.

»Gnädiger Herr! Gnädiger Herr! man mordet die gnädige Frau!«

Der Wagen hatte wegen der drohenden Gruppen nicht durch das Gäßchen von Réquillart kommen können. Negrel hatte an seinem Gedanken festgehalten: die hundert Meter, die sie noch vom Hause trennten, zu Fuß zurückzulegen, dann an die kleine Pforte zu klopfen, die in den Garten führte; der Gärtner werde sie hören oder sonst jemand da sein. Anfänglich ging die Sache ganz gut; Frau Hennebeau und die Fräulein klopften schon an das Pförtchen, als einzelne Weiber, die von der Sache Wind bekommen hatten, sich in das Gäßchen stürzten. Nun ging alles schief. Das Pförtchen wurde nicht geöffnet, Negrel hatte vergebens versucht, es mit der Schulter einzurennen. Die Flut der Weiber ward immer größer, er fürchtete niedergetreten zu werden, und faßte den verzweifelten Entschluß, die Damen nach dem Haupteingang zu drängen, um mitten durch die Belagerer hindurch die Auffahrt zu erreichen. Allein bei diesem Versuch kam es zu einem Gedränge; man ließ sie nicht mehr los; eine heulende Bande trieb sie vor sich her, während die Menge von rechts und von links zusammenströmte, ohne die Sache zu begreifen, nur erstaunt über diese Damen in Toilette, die mitten in das Getümmel geraten waren. In diesem Augenblick war die Verwirrung so groß, daß einer jener Zufälle eintrat, die für immer unerklärlich bleiben. Luzie und [391] Johanna, die bis zur Einfahrt vorgedrungen waren, schlüpften durch die Tür, welche die Kammerfrau halb geöffnet hatte, und es gelang auch Frau Hennebeau, ihnen zu folgen; hinter ihnen trat auch Negrel ins Haus und schob die Riegel vor, in der Überzeugung, daß er Cäcilie zuerst habe eintreten sehen. Sie war nicht mehr da; sie war unterwegs verschwunden, von einer solchen Furcht fortgerissen, daß sie dem Hause den Rücken gekehrt und sich selbst in die größte Gefahr gestürzt hatte.

Sogleich ertönte das Geschrei:

»Es lebe die Internationale! Tod den Bürgern!«

Da ihr Antlitz verschleiert war, wurde sie von einigen, die ferner standen, für Frau Hennebeau gehalten. Andere wieder nannten sie eine Freundin der Direktorin, die junge Gattin eines benachbarten Fabrikherrn, den seine Arbeiter verabscheuten. Es war übrigens gleich; ihr seidenes Kleid, ihr Pelzmantel, ihr Federhut erbitterten die Menge. Sie duftete nach wohlriechenden Essenzen; sie hatte eine Uhr und die feine Haut einer Müßiggängerin.

»Wart'!« schrie die Brulé. »Man wird dir Spitzen an den Hals legen!«

»Uns stehlen sie das, diese Dirnen!« sagte die Levaque. »Sie hüllen sich in Pelzwerk, während wir erfrieren ... Man entkleide sie, damit sie das Leben kennenlerne!«

Sogleich lief die Mouquette herbei.

»Ja, ja; gepeitscht muß sie werden!«

In ihrem wilden Wetteifer drängten die Weiber sich heran, streckten ihre Fäuste aus, wollten jede für sich ein Stück von diesem Reichtum haben. Sie sei gewiß nicht schöner als andere Weiber, hieß es in der Menge. Es gebe viele, die unter ihrem Flittertand verfault seien. Die Ungerechtigkeit dauere lang genug; man werde sie alle zwingen, sich so zu kleiden wie die Arbeiterinnen – diese Mädchen, die es wagten, fünfzig Sous für das Waschen eines Unterrockes auszugeben!

[392] Von diesen Furien umzingelt, zitterte die arme Cäcilie; ihre Beine versagten ihr den Dienst, und sie stammelte ein um das andere Mal:

»Meine Damen, ich bitte Sie, tun Sie mir doch nichts zuleide.«

Doch plötzlich stieß sie einen lauten Schrei aus: kalte Hände hatten sie am Halse gefaßt. Es war der alte Bonnemort, in dessen Nähe die Menge sie gedrängt hatte, und der sie jetzt mit den Fäusten packte. Er schien berauscht vom Hunger, verdummt durch langes Elend, plötzlich herausgeschleudert aus seiner Ergebenheit, die ein halbes Jahrhundert gewährt hatte, ohne daß man wissen konnte, ob der Drang nach Vergeltung ihn trieb. Nachdem er in seinem Leben ein Dutzend Kameraden vom Tode gerettet hatte, wobei er seine eigenen Knochen in schlagenden Wettern und bei Einstürzen einsetzte, gab er jetzt einem unheimlichen Instinkt nach, dem Zauber, den der weiße Hals dieses Mädchens auf ihn übte. Da er heute seinen stummen Tag hatte, preßte er nur die Finger zusammen mit der ruhigen Miene eines alten siechen Tieres, das seine Erinnerungen wiederkäut.

Als man im Hause des Direktors das Ereignis gewahr wurde, öffneten Herr Hennebeau und Negrel mutig die Tür, um Cäcilie zu Hilfe zu eilen. Allein die Menge drängte jetzt gegen das Gartengitter, und es war schwer hinauszukommen. Es entspann sich ein Kampf, während die Eheleute Grégoire entsetzt auf der Auffahrt erschienen.

»Laßt sie los, Alter! Es ist das Fräulein von der Piolaine«, rief die Maheu dem Großvater zu, die Cäcilie erkannte, deren Schleier von einem Weibe herabgerissen war.

Etienne, erbittert über diese an einem Kinde geübte Vergeltung, bemühte sich, die Bande zu bestimmen, daß sie ihre Beute loslasse. Er hatte einen plötzlichen Einfall. Die Hacke schwingend, die er Levaque aus den Händen gerissen hatte, schrie er:

[393] »Zu Maigrat! Dort gibt es Brot! Laßt uns Maigrats Laden stürmen!«

Er führte mit voller Kraft den ersten Axthieb gegen die Ladentür. Einige Kameraden folgten ihm: Levaque, Maheu und andere. Doch die Weiber ließen nicht locker; aus den Händen Bonnemorts war Cäcilie wie der in die Krallen der Brulé geraten. Von Johannes geführt, waren Lydia und Bebert auf allen vieren herangekrochen. Schon zerrten sie an ihren Kleidern, daß diese zu reißen drohten, als ein Reiter erschien, sein Tier antrieb und alle, die nicht rasch genug zur Seite sprangen, mit seiner Reitpeitsche bearbeitete.

»Ihr Hundepack! Jetzt wollt ihr gar unsere Töchter mißhandeln!«

Es war Deneulin, der zum Essen kam. Er sprang rasch vom Pferde, faßte Cäcilie mit der einen Hand um den Leib, während er mit der andern Hand sein Pferd so geschickt führte, daß ihm das Tier als eine lebende Schutzwand diente; so durchquerte er die Menge, die vor den Pferdehufen scheu zurückwich. Am Gartengitter dauerte das Ringen fort; er drängte sich aber dennoch durch, wobei es manchen unsanften Tritt abgab. Diese unverhoffte Unterstützung befreite Negrel und Hennebeau, die inmitten der Flüche und Hiebe in großer Gefahr schwebten. Während Negrel endlich die ohnmächtige Cäcilie ins Haus trug, empfing Deneulin, der mit seinem großen Körper den Direktor deckte, auf der Auffahrt einen Steinwurf, der ihm fast die Schulter ausrenkte.

»Recht so«, schrie er; »zerschlagt mir die Knochen im Leibe, nachdem ihr meine Maschinen zertrümmert habt!«

Er warf rasch die Tür zu; ein Hagel von Kieseln traf prasselnd das Holz.

»Welch tolles Volk!« rief er. »Noch zwei Sekunden, und sie spalteten mir den Schädel wie einen leeren Kürbis. Dieses Lumpenpack ist taub für jedes vernünftige Wort; es bleibt nichts anderes übrig, als es zu zertreten.«

[394] Im Salon weinten die Grégoire, als sie Cäcilie das Bewußtsein wiedererlangen sahen. Es war ihr kein Leid geschehen, sie hatte nicht die geringste Schramme; nur ihr Schleier war verloren. Aber ihr Schrecken wuchs, als sie ihre Köchin Melanie erkannten, die ihnen erzählte, wie arg die Piolaine mitgenommen worden. Die Köchin war während der Verwirrung unbemerkt mit durch das Pförtchen hereingeschlüpft. Wahnsinnig vor Entsetzen, war sie herbeigeeilt. Der einzige Stein Johannes', der eine Fensterscheibe zertrümmert hatte, wurde in ihrer Darstellung zu einer Kanonade, welche die Mauern in Trümmern legte. Da verwirrten sich die Vorstellungen des Herrn Grégoire; man erwürge seine Tochter, man schleife sein Haus; es sei also doch wahr, daß diese Grubenarbeiter ihm grollten, weil er als rechtschaffener Mann von ihrer Arbeit lebe?

Die Kammerfrau, die ein Handtuch und Kölnisch Wasser gebracht hatte, wiederholte immer wieder:

»Es ist so drollig, diese Leute sind nicht schlimm.«

Frau Hennebeau saß sehr bleich da und konnte sich von ihrem Schrecken, von ihrer Aufregung nicht erholen; ein Lächeln erschien auf ihren Lippen erst, als Negrel beglückwünscht wurde. Die Eltern Cäcilies dankten dem jungen Manne besonders; die Ehe mit Cäcilie war jetzt eine abgemachte Sache. Herr Hennebeau beobachtete im stillen; seine Augen wandten sich von seiner Frau zu diesem Liebhaber, dem er am Morgen den Tod geschworen hatte, dann zu diesem Mädchen, das ihn sicherlich bald von ihm befreien werde. Er hatte keine Eile; eine einzige Besorgnis blieb ihm: daß seine Frau noch tiefer sinken könne.

»Und ihr, meine lieben Kinder?« wandte Herr Deneulin sich an seine Töchter. »Ist euch nichts gebrochen?«

Luzie und Johanna hatten wohl große Angst ausgestanden, waren aber im übrigen froh, Augenzeugen dieses Schauspiels gewesen zu sein, und lachten jetzt vergnügt.

[395] »Sapristi!« fuhr der Vater fort; »das ist ein schöner Tag! ... Wenn ihr eine Mitgift wollt, müßt ihr sie euch selbst erwerben, und macht euch darauf gefaßt, auch mich ernähren zu müssen!«

So scherzte er; aber seine Stimme zitterte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als seine Töchter sich ihm in die Arme warfen.

Herr Hennebeau hatte dies Geständnis des Ruins gehört, und ein plötzlich aufleuchtender Gedanke er hellte sein Antlitz. Vandame sollte jetzt wirklich in den Besitz von Montsou übergehen; das war die erhoffte Entschädigung, der Schachzug, der ihn bei den Verwaltungsräten wieder in Gunst setzen sollte.

Die Gesellschaft gewann allmählich ihre Ruhe wieder; es senkte sich ein matter Friede auf den Salon mit dem ruhigen Licht der beiden Lampen und den Tapeten und Vorhängen, die alle Geräusche von außen dämpften. Was geschah denn draußen? Die Schreier schwiegen; die Steine bombardierten nicht mehr die Mauer des Hauses, und man hörte nur mächtige dumpfe Schläge, wie sie zuweilen in den Wäldern weithin tönen. Man wollte wissen, was es sei, und kehrte nach dem Flur zurück, um durch die Glasscheiben der Tür einen Blick auf die Straße zu wagen. Selbst die Frauen und Fräulein gingen nach dem ersten Stock hinauf, um hinter den Fensterläden verborgen Ausblick zu halten.

»Sehen Sie den Halunken Rasseneur dort drüben auf der Schwelle jenes Wirtshauses?« sagte Herr Hennebeau zu Herrn Deneulin. »Ich ahnte, daß er die Hand im Spiel habe.«

Indes war es nicht Rasseneur, sondern Etienne, der mit Axthieben die Ladentür Maigrats einschlug. Er rief die Kameraden herbei. Gehörten denn die Waren da drinnen nicht den Bergleuten? Hatten diese nicht das Recht, ihre Habe zurückzunehmen von dem Dieb, der sie seit so langer Zeit ausbeutete und sie auf einen Befehl der Gesellschaft aushungerte? Allmählich ließen alle von dem Direktionshause ab und liefen herbei, um [396] den benachbarten Laden zu plündern. Der Ruf »Brot! Brot! Brot!« ertönte von neuem. Hinter dieser Tür werde man Brot finden. Die Hungerwut trieb sie an, als könnten sie nicht länger warten, ohne auf der Straße den Geist aufzugeben. Sie drängten mit solcher Gewalt gegen die Tür, daß Etienne jemand mit der Axt zu verletzen fürchtete.

Mittlerweile hatte Maigrat, nachdem er den Flur des Direktionshauses verlassen, in der Küche Zuflucht gesucht; aber dort hörte er nichts und träumte von scheußlichen Anschlägen gegen seinen Laden. Er ging also wieder hinaus und verbarg sich hinter dem Brunnen; da hörte er denn die Tür seines Ladens krachen und das Geschrei der Plünderer, in das sein Name sich mengte. Es war also kein bloßer Traum, kein Alpdruck; wenn er nicht sah, so hörte er jetzt, mit summenden Ohren konnte er den Angriff verfolgen. Jeder Streich traf ihn ins Herz; jetzt mußte eine Angel gewichen sein; noch fünf Minuten, und der Laden war ihnen preisgegeben. Das malte sich in seinem Schädel in lebendigen Schreckbildern: die Räuber, die hereinstürzten, dann die gesprengten Schubfächer, die aufgerissenen Säcke; alles wurde weggefressen, weggesoffen, das Haus selbst geschleift; nichts blieb übrig, nicht einmal ein Stab, mit dem er von Dorf zu Dorf betteln gehen konnte. Nein, er wollte nicht zugeben, daß sie ihn völlig zugrunde richteten; lieber wollte er die Haut dabei lassen. Wie er da stand, bemerkte er an einem Fenster der Seitenwand seines Hauses das bleiche, verstörte, schmale Gesicht seiner Frau; mit der stummen Miene eines armen, geprügelten Wesens sah sie ohne Zweifel die Schläge kommen. Hinter dem Hause stand ein Schuppen, so daß man aus dem Garten des Direktionshauses, wenn man die Scheidewand erklomm, auf das Dach steigen und von da das Haus erreichen konnte. Der Gedanke, auf diesem Wege heimzukehren, quälte ihn jetzt, und er machte sich selbst Vorwürfe, sein Haus verlassen zu haben. Vielleicht hatte er noch Zeit, den Laden mit [397] Möbelstücken zu verrammeln; er ersann sogar andere kühne Verteidigungsmittel, siedendes Öl, brennendes Petroleum, das er von der Höhe auf die Belagerer hinabgießen wollte. Allein seine Habgier kämpfte mit seiner Furcht; er röchelte in seiner Feigheit, die er zu bekämpfen suchte. Bei einem heftigeren Schlag der Hacke entschloß er sich plötzlich. Der Geiz siegte; er und sein Weib wollten die Säcke mit ihren Leibern decken und lieber zugrunde gehen, als auch nur einen Laib Brot hergeben.

Fast augenblicklich erhob sich ein Geschrei.

»Schaut, schaut ... Der Kater ist dort oben! ... Los auf den Kater! Los auf den Kater!«

Die Bande hatte Maigrat auf dem Dach des Schuppens entdeckt. In fieberhafter Gier hatte er trotz seiner Schwerfälligkeit die Zwischenmauer flink erklommen; jetzt lag er platt auf dem Ziegeldach und suchte das Fenster zu erreichen. Allein das Dach fiel zu steil ab; sein Bauch war ihm hinderlich, und er riß sich die Fingernägel aus. Dennoch wäre er bis zum Fenster emporgeklettert, wenn ihn nicht die Angst erfaßt hätte, mit Steinen beworfen zu werden. Denn die Menge unten, die er nicht mehr sah, schrie weiter:

»Los auf den Kater! Los auf den Kater!«

Plötzlich ließen seine beiden Hände zugleich die Ziegel los; er rollte hinab wie eine Kugel, über die Dachrinne hinweg, und fiel quer auf die Zwischenmauer, aber so unglücklich, daß er von da auf die Straße hinabstürzte, wo er sich an einem Prellstein den Schädel spaltete, daß das Gehirn hervorquoll. Er war tot. Sein Weib stand bleich und verstört am Fenster und schaute noch immer zu.

Das Ereignis hatte zuerst allgemeine Verblüffung hervorgerufen. Etienne hielt inne, und die Axt entglitt seinen Fäusten. Maheu, Levaque und alle anderen vergaßen den Laden und schauten nach der Mauer, an der ein dünner Blutfaden herabfloß. Das Geschrei hatte [398] aufgehört; tiefe Stille herrschte in der wachsenden Dunkelheit.

Doch bald ging das Geheul von neuem los. Die Weiber waren herbeigeeilt, wie berauscht vom Anblick des Blutes.

»Es gibt doch noch einen guten Gott! Ha, Schwein, jetzt ist's aus mit dir!«

Sie umringten den noch warmen Leichnam; sie beschimpften ihn unter Hohngelächter, nannten seinen zerschmetterten Kopf eine schmutzige Fratze und schrien den lang verhaltenen Groll ihres elenden Daseins dem Toten ins Angesicht.

»Ich schulde dir sechzig Franken; jetzt bist du bezahlt, Dieb!« sagte die Maheu, eine der Wütendsten. »Du wirst mir keinen Kredit mehr verweigern ... Wart', wart', ich muß dich noch mehr mästen!«

Mit ihren zehn Fingern kratzte sie die Erde auf; sie nahm davon zwei Hände voll und füllte ihm damit gewaltsam den Mund.

»Da, friß! ... Friß, nachdem du uns aufgefressen hast!«

Die Beschimpfungen erneuerten sich, während der Tote, auf dem Rücken liegend, unbeweglich mit seinen starren Augen nach dem Himmel schaute, von dem die Nacht sich herabsenkte. Es hatte ihm kein Glück gebracht, die armen Leute auszuhungern.

Etienne schwang von neuem seine Hacke. Allein das Unbehagen wollte nicht weichen. Dieser Leichnam war jetzt ein Hindernis auf der Straße und ein Schutz für den Laden. Viele waren zurückgewichen. Maheu verharrte in ernstem Schweigen, als er plötzlich eine Stimme vernahm, die ihm ins Ohr flüsterte, er solle flüchten. Als er sich umwandte, erkannte er Katharina, noch immer in ihre alte Mannsjacke gehüllt, schwarz und keuchend. Er drängte sie zurück, wollte sie nicht hören und drohte ihr mit Schlägen. Sie machte eine verzweifelte Gebärde, zögerte einen Augenblick und eilte dann zu Etienne.

»Flüchte! Rette dich! Die Gendarmen kommen!«

[399] Auch er jagte sie fort und beschimpfte sie; denn er fühlte noch die Schmach von ihren Backenstreichen. Aber sie wich nicht; sie zwang ihn, die Hacke wegzuwerfen; sie faßte ihn mit beiden Armen und zog ihn fort mit unwiderstehlicher Gewalt.

»Ich sage dir, die Gendarmen sind da! ... So höre mich doch! Chaval hat sie aufgesucht und führt sie hierher, wenn du es wissen willst. Mich hat es angeekelt, und darum bin ich gekommen ... Lauf! Ich will nicht, daß sie dich fassen.«

Sie führte ihn fort gerade in dem Augenblick, als schwerer Galopp in der Ferne die Straße erschütterte. Sogleich ertönte ein Schrei: »Die Gendarmen! Die Gendarmen!« Es folgte eine so tolle Flucht, daß die Straße in zwei Minuten frei und leer war, wie von einem Orkan rein gefegt. Nur Maigrats Leiche bildete einen dunklen Fleck auf der weißen Erde. Vor der Schenke Tisons war niemand geblieben als Rasseneur, der erleichtert, froh aufatmend dem leichten Sieg der Säbel zujubelte, während in dem verlassenen, verödeten Montsou, in der Stille der verschlossenen Häuser die Bürger sich nicht zu rühren wagten, in Angstschweiß gebadet und mit den Zähnen klappernd. Die Ebene war in dichte Nacht gehüllt, nur die Hochöfen und die Koksöfen flammten unter dem düsteren Himmel. Der donnernde Galopp der Gendarmen kam immer näher; sie tauchten in dunkler Masse auf, ohne daß man sie unterscheiden konnte. Hinter ihnen, ihrem Schutze anvertraut, kam endlich der Karren des Pastetenbäckers von Marchiennes; ein Junge sprang herab und brachte die von der Köchin der Frau Hennebeau bestellten Zutaten zu den Pasteten.

Sechster Teil

Erstes Kapitel

Es verfloß noch die erste Hälfte des Monats Februar; finstere Kälte verlängerte den harten, für die Armen und Elenden so erbarmungslosen Winter. Die Obrigkeit war wieder erschienen: der Präfekt von Lilie, ein Staatsanwalt, ein General. Die Gendarmen hatten nicht genügt: es war Militär gekommen, ein ganzes Regiment, dessen Leute von Beaugnies bis Marchiennes kampierten. Militärposten bewachten die Gruben; vor jeder Maschine standen Soldaten. Das Haus des Direktors, die Werkhöfe der Gesellschaft, selbst die Häuser einiger Bürger starrten von Bajonetten. Man hörte auf dem Straßenpflaster nur noch den Tritt der Patrouillen. Auf dem Hügel von Voreux stand unablässig eine Schildwache. Wie in Feindesland ertönte alle zwei Stunden das Feldgeschrei:

»Wer da? Was ist die Losung?«

Die Arbeit war nirgends wieder aufgenommen worden; im Gegenteil, der Streik hatte sich noch verschärft: Crèvecoeur, Mirou, Magdalene stellten die Förderung ein, wie die Voreuxgrube es getan hatte; in Feutry-Cantel und auf der Siegesgrube fuhren mit jedem Morgen weniger Leute ein; in Sankt-Thomas, das bisher vom Streik unberührt geblieben, begannen die Leute auszubleiben. Es bestand eine stumme Hartnäckigkeit angesichts dieser Machtentfaltung, über welche die Grubenarbeiter erbittert waren. Die Arbeiterdörfer lagen verödet inmitten der Rübenfelder. Kein Arbeiter regte sich: man begegnete nur selten einem vereinzelten; der ging dann mißtrauischen Blickes und gesenkten [401] Hauptes an den Rothosen vorüber. In dieser tiefen, dumpfen Stille lag die erheuchelte Sanftmut, der erzwungene und geduldige Gehorsam eingeschlossener Tiere, die kein Auge von dem Tierbändiger lassen und bereit sind, ihm in den Nacken zu springen, wenn er den Rücken kehrt. Die Gesellschaft, die der Ausstand zugrunde richtete, sprach davon, Arbeiter aus der Borinagegegend an der belgischen Grenze anzuwerben. Allein sie wagte es nicht, und so dauerte der Kampf fort zwischen den Bergleuten, die sich in ihren Häusern einschlossen, und den toten Gruben, die von den Soldaten bewacht wurden.

Nach jenem furchtbaren Tage war mit einem Male diese tiefe Ruhe eingetreten, unter der sich eine solche Furcht barg, daß man über Schäden und Grausamkeiten Stillschweigen beobachtete. Die eingeleitete Untersuchung stellte fest, daß Maigrat durch den Sturz vom Hausdach seinen Tod gefunden hatte. Die Gesellschaft ihrerseits verschwieg die erlittenen Schäden, und auch die Grégoire dachten nicht daran, ihre Tochter in den Skandal eines Prozesses zu verwickeln, in dem sie Zeugnis hätte ablegen müssen. Indes wurden einige Leute verhaftet, wie gewöhnlich die albernsten und harmlosesten, die nichts zu sagen wußten. Irrtümlicherweise hatte man Pierron festgenommen und gefesselt nach Marchiennes gebracht, worüber die Kameraden lachten. Auch Rasseneur wäre bald von zwei Gendarmen weggeführt worden. Die Direktion begnügte sich, Entlassungslisten anzulegen; Arbeitsbücher wurden in großer Menge zurückgestellt, auch Maheu hatte das seine erhalten und Levaque und noch vierunddreißig andere Kameraden in dem Dorfe der Zweihundertvierzig allein. Volle Strenge wurde gegen Etienne geübt, der seit dem Abend des Tumultes verschwunden war, und den man suchte, ohne eine Spur von ihm zu finden. Chaval hatte ihn in seinem Haß angezeigt, ohne die andern zu nennen; er schenkte den Bitten Katharinas [402] Gehör, die ihre Eltern retten wollte. Die Tage gingen dahin; man fühlte, daß noch nicht alles vorüber sei, und erwartete beklommenen Gemüts das Ende.

Seit jenen Vorfällen fuhren die Bürger von Montsou des Nachts jäh aus ihrem Schlaf empor; ihre Ohren summten von eingebildetem Sturmläuten, ihre Nasen glaubten den Gestank von Schießpulver zu riechen. Vollends verstörte sie eine Predigt ihres neuen Pfarrers, des Abbé Ranvier, dieses mageren Priesters mit den Glutaugen, der dem Abbé Joire im Seelsorgeramte gefolgt war. Wo war die lächelnde Verschwiegenheit seines Vorgängers, der als wohlgenährter und sanfter Mann keine andere Sorge kannte, als mit aller Welt in Frieden zu leben! Hatte der Abbé Ranvier nicht die Kühnheit, diese abscheulichen Räuber, welche die ganze Gegend schändeten, in Schutz zu nehmen? Er fand Entschuldigungen für die Missetaten der Streikenden; er griff heftig das Bürgertum an und schob diesem die ganze Verantwortlichkeit zu. Das Bürgertum, das der Kirche ihre alten Freiheiten nahm, um sie sich selbst anzueignen, hatte aus dieser Welt einen verdammten Ort der Ungerechtigkeit und der Leiden gemacht. Das Bürgertum verlängerte die Mißverständnisse und drängte zu einer furchtbaren Katastrophe durch seine Gottlosigkeit, durch seine Weigerung, zu der Frömmigkeit und den brüderlichen Gewohnheiten der ersten Christen zurückzukehren. Er hatte gewagt, den Reichen zu drohen; er hatte sie gewarnt, daß, wenn sie noch länger taub blieben für die Stimme Gottes, Gott sich auf die Seite der Armen stellen werde; er werde den ungläubigen Besitzenden ihre Güter nehmen und sie – um seines Ruhmes willen – unter die Demütigen der Erde verteilen. Die Gläubigen erbebten; der Notar erklärte, dies sei Sozialismus der schlimmsten Sorte; alle glaubten den Pfarrer schon an der Spitze einer Bande zu sehen, sein Kreuz schwingend und mit wuchtigen Schlägen die bürgerliche Gesellschaft vom Jahre 89 niederwerfend.

[403] Als man Herrn Hennebau diese Dinge erzählte, begnügte er sich achselzuckend zu bemerken:

»Wenn er uns zu sehr belästigt, befreit uns der Bischof schon von ihm.«

Während Panik die Ebene von einem Ende bis zum andern beherrschte, hauste Etienne im verlassenen Schacht von Réquillart, im Schlupfwinkel Johannes'. Hier verbarg er sich; niemand vermutete ihn so nah; die Kühnheit dieses Zufluchtsortes in der Grube selbst, in diesem verlassenen Gang des alten Schachtes hatte alle Nachforschungen vereitelt. Die Hagedorn- und Schlehdornsträucher, die oben zwischen dem eingestürzten Gebälk des Aufzugturmes standen, verlegten den Zugang. Niemand wagte sich dahin; man mußte verstehen sich an den Wurzeln festzuhalten und kühn abspringen, um die noch festen Leitersprossen zu erreichen; und noch andere Hindernisse schützten den Zugang, die erstickende Hitze des Pumpschachtes, ein hundertzwanzig Meter langer Abstieg, der sehr gefährlich war; dann folgte eine Viertelstunde lang mühseliges Kriechen auf dem Bauch zwischen den engen Wänden der Galerie, bis man die mit geraubten Sachen angefüllte Diebeshöhle entdeckte. Da lebte er im Überfluß; er hatte Wacholderbranntwein, den Rest des geräucherten Fisches, Vorräte aller Art gefunden. Das große Heulager war vortrefflich; man verspürte keinen Luftzug in dieser Temperatur, welche die Wärme eines Bades hatte. Nur das Licht drohte zu erlöschen. Johannes, der sein Versorger war und dabei die Vorsicht und Verschwiegenheit eines Wilden entfaltete, glücklich, den Gendarmen eine Nase zu drehen, brachte ihm alles, selbst Pomade, nur ein Bündel Kerzen konnte er nicht verschaffen.

Nach dem fünften Tage machte Etienne nur noch Licht, um zu essen. Die Bissen wollten nicht hinunter, wenn er sie im Finstern verschlang. Diese unendliche, immer schwarze Nacht war sein großes Leid. Es nützte nichts, daß er in Sicherheit schlief, mit Brot versorgt [404] war, warm saß: niemals hatte die Nacht so schwer auf seinem Schädel gelastet; ihm war, als erdrücke sie seine Gedanken. Er lebte jetzt von Diebstählen. Trotz seiner kommunistischen Anschauungen erwachten in ihm die anerzogenen Bedenken; er begnügte sich mit trockenem Brot und beschnitt seine Portion. Aber was sollte er anfangen? Er mußte doch leben; seine Aufgabe war noch nicht erfüllt. Noch eine andere Scham bedrückte ihn: die Gewissensbisse über seine wilde Trunkenheit, über den Wacholderbranntwein, den er wegen der großen Kälte in seinen Magen gegossen hatte, und der ihn dann – mit dem Messer in der Hand – gegen Chaval trieb. Dies rüttelte in ihm das Entsetzen vor etwas Unbekannten auf: das Erbübel, die von Generationen überkommene Belastung des Säuferwahnsinns, den ein Tropfen Alkohol in tolle Mordlust verwandelte. Sollte er als Mörder enden? Als er sich hier in dieser tiefen Stille der Erde in Sicherheit sah, hatte er – gleichsam mit Gewalttätigkeit gesättigt – zwei Tage lang in dumpfem Schlafe dagelegen wie ein Tier, das, nachdem es sich vollgefressen, regungslos verharrt. Sein Mißbehagen dauerte an; er lebte wie zerschlagen mit wüstem Kopf nach einer furchtbaren Schwelgerei. So verfloß eine Woche; die Maheu, die von seinem Schlupfwinkel wußten, konnten ihm keine Kerze senden; er mußte auf das Licht verzichten selbst bei seinen kärglichen Mahlzeiten.

Er blieb jetzt oft stundenlang auf seinem Heulager ausgestreckt. Ihn suchten unklare Gedanken heim, von denen er sich frei geglaubt hatte. Es war ein Gefühl der Überlegenheit, das ihn von den Kameraden trennte; eine Begeisterung für seine Person, die in dem Maße wuchs, wie seine Kenntnisse zunahmen. Trotz der Qual der Finsternis fürchtete er die Stunde, da er in das Arbeiterdorf zurückkehren sollte. Welch ein widriger Anblick, diese Armen und Elenden, die in dem gemeinsamen Pfuhl lebten! Kein einziger, mit dem man ernstlich von Politik reden konnte; ein wahres Tierleben; immer dieselbe erstickende, von Zwiebelgestank erfüllte [405] Luft! Er wollte ihren Gesichtskreis erweitern, sie zum Wohlstand und zu den guten Manieren der Bürgerklasse erziehen, indem er Herren aus ihnen machte. Aber wie lange werde es dauern! Er fühlte nicht mehr den Mut in sich, den Sieg in diesem Hungerlande abzuwarten. Die Eitelkeit, ihr Oberhaupt zu sein, seine beständige Sorge, für sie zu denken, verließen ihn allmählich, und es erfüllte ihn die Seele eines jener Spießbürger, die er so sehr verachtete.

Johannes brachte eines Abends ein Stück Kerze, das er aus der Laterne eines Kärrners gestohlen hatte. Das war für Etienne eine große Erleichterung. Wenn die Finsternis ihm schließlich die Gedanken verwirrte, so schwer auf seinem Schädel lastete, daß er schier verrückt ward, zündete er einen Augenblick seine Kerze an; wenn der Alpdruck verscheucht war, löschte er das Licht aus, mit dem er geizte, weil es zu seinem Leben so notwendig war wie das Brot. In seinen Ohren summte die Stille; er hörte nur den Lauf einer Rattenschar, das Krachen der alten Verzimmerungen, das leise Geräusch einer Spinne, die an ihrem Netze wob. Mit offenen Augen in die warme Leere starrend, kam er wieder auf seinen fixen Gedanken zurück: was die Kameraden da oben wohl trieben. Ein Abfall von ihnen würde die größte Feigheit sein. Wenn er sich so verborgen hielt, geschah es nur, um frei zu bleiben, um zu raten und zu handeln. Das lange Brüten hatte seinem Ehrgeiz eine bestimmte Richtung gegeben: bis soziale Besserung komme, hätte er Pluchart sein, die Arbeit im Stich lassen, bloß für die Politik arbeiten mögen, aber allein in einem sauberen Zimmer, unter dem Vorwand, daß Kopfarbeiten das ganze Leben in Anspruch nehmen und viel Ruhe erfordern.

Als der Knabe ihm zu Beginn der zweiten Woche erzählte, daß die Gendarmen meinten, er sei nach Belgien geflohen, wagte Etienne bei Einbruch der Nacht aus seinem Loch hervorzukommen. Er wollte sich von der Lage der Dinge überzeugen; er wollte sehen, ob man [406] noch länger im Widerstande verharren solle. Er hielt das Spiel für verloren; schon vor dem Streik zweifelte er an dem Erfolg; er hatte einfach der Macht der Tatsachen nachgegeben; und jetzt, nachdem er am Aufruhr sich berauscht hatte, kam er auf seinen ursprünglichen Zweifel zurück und gab die Hoffnung auf, die Gesellschaft zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Aber er gestand es sich noch nicht ein; ihn quälte Angst, wenn er an den Jammer der Niederlage dachte, an die schwere Verantwortlichkeit für all das heraufbeschworene Leid, die auf ihm lasten werde. Das Ende des Streiks – bedeutete es nicht das Ende seiner Rolle, die Vernichtung seines Ehrgeizes, das Zurücksinken ins tierische Dasein in der Grube und in die Widerlichkeiten des Arbeiterdorfes? Aufrichtig, ohne niedrige, heuchlerische Berechnungen bemühte er sich, seinen Glauben wiederzufinden, sich selbst zu überreden, daß der Widerstand noch weiter möglich sei, daß das Kapital angesichts des heldenmütigen Selbstmordes der Arbeiter sich selbst zerstören werde.

Wenn er des Nachts in der finsteren Landschaft umherirrte wie ein Wolf außerhalb seines Waldes, glaubte er von einem Ende der Ebene bis zum andern das Krachen der Einstürze zu hören. Längs der Straßen fand er nur geschlossene, tote Fabriken, deren Gebäude unter dem bleichen Himmel in Trümmer sanken. Besonders die Zuckerfabriken hatten zu leiden; die Zuckerfabrik Hoton und die Zuckerfabrik Fauvelle hatten zuerst die Zahl ihrer Arbeiter vermindert und schließlich den Betrieb ganz eingestellt. In der Kunstmühle Dutilleul hatte der Mühlgang seit dem zweiten Samstag des Monats stillgestanden; die Seilerei Bleuze, wo Grubenseile erzeugt wurden, war durch den Streik vollends zugrunde gerichtet. In Marchiennes und Umgebung ward die Lage täglich schwieriger: in der Glasfabrik Gabelois waren die Kesselfeuer ausgelöscht; in den Bauwerkstätten von Sonneville fanden weitgehende Arbeiterentlassungen statt, von den drei Hochöfen des Hüttenwerkes brannte [407] nur einer; die Koksöfen standen kalt. Der Streik der Bergleute von Montsou, hervorgegangen aus der industriellen Krise, die seit zwei Jahren immer schlimmer wurde, hatte diese Krise noch verschärft, den Zusammenbruch beschleunigt. Zu den Ursachen des Notstandes: dem Ausbleiben der Bestellungen aus Amerika und dem Festliegen der Kapitalien in der Überproduktion, gesellte sich jetzt noch der Kohlenmangel in den wenigen Fabriken, die noch arbeiteten; er bedeutete das letzte Todesröcheln. Erschreckt durch die allgemeine Not, hatte die Gesellschaft, nachdem sie die Förderung vermindert und ihre Bergleute ausgehungert, zu Ende des Monats Dezember den letzten Rest ihrer Vorräte schwinden sehen. Die Geißel des Bankrotts fuhr durch das Land, ein Sturz zog den andern nach sich, die Industrien brachen in so schneller Folge zusammen, daß man die Rückschläge selbst in den Nachbarstädten verspürte, in Lille, Douai, Valenciennes, wo flüchtige Bankiers zahlreiche Familien zugrunde richteten.

Zuweilen blieb Etienne bei einer Straßenkrümmung in der eiskalten Nacht stehen, um zu horchen, wie die Trümmer niederstürzten. Er sog mit kräftigen Zügen die Finsternis ein; eine Freude an dem Nichts erfaßte ihn, eine Hoffnung, daß der anbrechende Tag die Ausrottung der Welt beleuchten werde, in der kein Vermögen mehr übrig war, weil das alles gleichmachende Richtscheit wie eine Sense über den Erdboden dahingefahren war. Doch in diesem Gemetzel interessierten ihn hauptsächlich die Gruben. Er ging weiter; fast erblindet von der Finsternis, besichtigte er eine nach der andern, glücklich, wenn er von einem neuen Schaden Kenntnis erhielt. Es ereigneten sich neue, immer ernstere Einstürze. Oberhalb der Nordgalerie von Mirou senkte sich das Erdreich in einem solchen Umfang, daß die Straße nach Joiselle in einer Länge von hundert Meter verschwand, als habe ein Erdbeben sie verschlungen, und die Gesellschaft bezahlte, ohne zu feilschen, den Eigentümern ihren verschwundenen Bodenbesitz [408] aus Angst vor dem Lärm, den diese Unfälle verursachen konnten. Crèvecoeur und Magdalene, von sehr losem Gestein, wurden immer mehr verschüttet; man sprach von zwei Aufsehern, die im Siegesschacht unter einem Einsturz begraben lagen; Feutry-Cantel war durch einen Wassereinbruch erledigt; in der Grube Sankt-Thomas mußte eine Galerie in der Länge von einem Kilometer untermauert werden, weil die schlecht unterhaltenen Verzimmerungen auf allen Seiten brachen. So ergaben sich von Stunde zu Stunde riesige Kosten, immer größere Breschen in den Dividenden der Aktionäre, ein reißender Verfall der Gruben, der, wenn er noch länger andauerte, die während eines Jahrhunderts in ihrem Wert verhundertfachten Anteile von Montsou schließlich verschlingen mußte.

Angesichts dieser Tatsachen erwachte in Etienne wieder die Hoffnung; er glaubte schließlich, daß ein dritter Monat des Widerstandes das Ungeheuer totmachen werde, das müde, vollgefressene Tier, das wie ein Götzenbild in seinem unsichtbaren Heiligtum hockte. Er wußte, daß sich infolge der Unruhen zu Montsou der Pariser Blätter eine lebhafte Aufregung bemächtigt hatte; es entwickelte sich eine heftige Polemik zwischen den regierungsfreundlichen und gegnerischen Zeitungen, man las furchtbare Schilderungen, die man besonders gegen die Internationale ausbeutete, vor welcher das Kaiserreich allmählich Furcht bekam, nachdem es sie anfänglich ermutigt hatte. Da die Verwaltung sich nicht länger taub zu stellen wagte, hatten zwei Verwaltungsräte geruht, nach dem Schauplatz des Streiks zu reisen, um eine Untersuchung anzustellen; aber sie taten es mißmutig und so teilnahmslos, daß sie nach drei Tagen wieder abreisten mit der Erklärung, die Dinge stünden ganz gut. Indes versicherte man ihm andererseits, daß die Herren während ihrer Anwesenheit dauernde Sitzungen gehalten, eine fieberhafte Tätigkeit entwickelt und sich in Geschäfte versenkt hätten, von denen niemand in ihrer Umgebung ein Wort [409] hatte verraten wollen. Er behauptete, daß sie ihre Vertrauensseligkeit nur heuchelten; er nannte ihre Abreise eine tolle Flucht und war nunmehr des Sieges sicher, weil diese Menschen alles im Stich ließen.

Doch in der folgenden Nacht verzweifelte Etienne von neuem. Die Gesellschaft hatte starke Reserven, sie konnte Millionen verlieren und sie später von den Arbeitern wieder hereinbringen, indem sie ihnen den Lohn kürzte. Als er nun in dieser Nacht bis nach Jean-Bart gegangen war, hatte er die Wahrheit erkannt, nachdem ein Aufseher ihm erzählt hatte, daß man davon spreche, Vandame solle an Montsou abgetreten werden. Im Hause Deneulins war – so erzählte man – mitleiderregende Not eingezogen, die Not der Reichen; der Vater war infolge seiner Ohnmacht krank und gealtert durch die Geldsorgen; die Töchter schlugen sich mit den Leuten umher, welche die Lebensmittel lieferten, und suchten ihre Hemden aus den Krallen der Gläubiger zu retten. Man litt weniger in den ausgehungerten Arbeiterdörfern als in diesem Bürgerhause, wo man hinter verschlossenen Türen speiste, weil man bei Tisch Wasser trank. In Jean-Bart war die Arbeit nicht wiederaufgenommen worden, in Gaston-Marie hatte die Maschine ersetzt werden müssen; überdies war trotz aller Eile Wasser in den Schacht eingedrungen, dessen Auspumpen große Kosten verursachen mußte. Deneulin hatte endlich sein Anliegen um ein Darlehen von hunderttausend Franken bei den Grégoire vorgebracht; ihre Weigerung, auf die er übrigens gefaßt war, hatte ihm den Rest gegeben. Sie wiesen sein Verlangen – wie sie versicherten – nur aus Freundschaft zurück, um ihm einen aussichtslosen Kampf zu ersparen. Sie erteilten ihm den Rat, seine Grube zu verkaufen. Aber er weigerte sich noch immer sehr heftig. Es machte ihn wütend, daß er die Kosten des Streiks zahlen solle. Aber was konnte er anfangen? Er mußte den Kaufangeboten Gehör schenken. Man ärgerte ihn, man setzte den Wert dieser herrlichen Beute herab, dieses neu eingerichteten [410] Schachtes, dessen Ausbeutung nur durch den Mangel an Kapital verhindert wurde. Er konnte froh sein, wenn er so viel herausschlug, um seine Gläubiger befriedigen zu können. Zwei Tage lang hatte er sich gegen die in Montsou weilenden Verwaltungsräte gewehrt, wütend über die Ruhe, mit der sie seine Verlegenheit mißbrauchten, so wütend, daß er ihnen ein donnerndes »Niemals!« zuschrie. Dabei blieb er; sie waren nach Paris zurückgekehrt, um dort geduldig sein letztes Röcheln abzuwarten. Etienne witterte die Art, wie die Gesellschaft für das Mißgeschick, das sie getroffen, sich Ersatz holen wolle; und er wurde wieder von Zagen ergriffen angesichts der unbezwinglichen Gewalt des Großkapitals, das im Kampfe so mächtig war, daß es sich von der Niederlage mästete, indem es die Leichen der an seiner Seite gefallenen kleinen Unternehmer fraß.

Glücklicherweise brachte Johannes am nächsten Tage ihm eine gute Nachricht. In Voreux drohte die Verzimmerung des Aufzugsschachtes zu bersten, das Wasser sickerte durch alle Ritzen; man hatte in aller Eile eine Schar von Zimmerleuten aufbieten müssen, um den Schaden auszubessern.

Bisher hatte Etienne die Voreuxgrube gemieden aus Angst vor der Schildwache, die auf dem Hügel stand und von da die Ebene beherrschte; man konnte ihr nicht ausweichen. Gegen drei Uhr morgens verdunkelte sich der Himmel; er begab sich in die Grube, wo Kameraden ihm den schlechten Zustand der Verzimmerung erklärten; sie meinten sogar, es sei dringend notwendig, alles zu erneuern, was die Kohlenförderung mindestens für drei Monate aufhalten mußte. Lange strich er umher und lauschte den Hammerschlägen der Zimmerleute im Schacht.

Als er bei Tagesanbruch heimkehrte, fand er wieder die Schildwache auf dem Hügel. Jetzt mußte sie ihn sicher sehen. Seinen Weg fortsetzend, dachte er an die [411] Soldaten, die man aus der Mitte des Volkes nahm, um sie gegen das Volk zu bewaffnen. Wie leicht wäre der Sieg der Revolution gewesen, wenn die Armee sich plötzlich für sie erklärt hätte! Es genügte, daß der Arbeiter und der Bauer in der Kaserne sich ihres gemeinsamen Ursprungs erinnerten. Es war die äußerste Gefahr, das höchste Entsetzen, das den Bürgern Zähneklappern verursachte, wenn sie an die Möglichkeit eines Abfalls der Truppen dachten. In zwei Stunden wären sie hinweggefegt, ausgerottet mit allen Genüssen und Abscheulichkeiten ihres ungerechten Lebens. Schon wurde behauptet, daß ganze Regimenter vom Sozialismus angesteckt seien. War es so? Er träumte, daß das Regiment, dessen Posten die Gruben bewachten, zum Streik überging, die Gesellschaft niederschoß und das Bergwerk den Arbeitern übergab.

Jetzt bemerkte er erst, daß er den Hügel hinanstieg, während ihm der Kopf von diesen Betrachtungen summte. Warum sollte er mit diesem Soldaten nicht ein Gespräch beginnen? Es wäre ein Mittel, seine Ansichten kennenzulernen. Mit gleichgültiger Miene näherte er sich und tat, als suche er Holzspäne unter dem alten Geröll. Die Schildwache blieb unbeweglich.

»He, Kamerad, ist das ein Hundewetter!« sagte Etienne endlich. »Ich denke, wir bekommen Schnee.«

Es war ein kleiner, sehr blonder Soldat mit einem sanften, blassen Gesicht, das mit Sommersprossen bedeckt war. Unter seiner Kapuze zeigte er die Verlegenheit eines Rekruten.

»Ja, ich glaube«, brummte er.

Er schaute mit seinen blauen Augen lange nach dem fahlen Himmel, nach dieser rauchigen, nebeligen Morgendämmerung, die in der Ferne schwarz und bleischwer auf der Ebene lastete.

»Wie dumm ist es, Euch hierherzustellen, wo Euch das Mark in den Knochen gefriert!« fuhr Etienne fort. »Möchte man nicht glauben, daß die Kosaken [412] kommen? ... Überdies weht hier oben immer ein scharfer Wind.«

Der kleine Soldat zitterte vor Kälte, ohne sich zu beklagen. Es war wohl eine Hütte aus Backsteinen da, in welcher der alte Bonnemort in stürmischen Nächten Zuflucht suchte; allein, der Soldat hatte Befehl, den Gipfel des Hügels nicht zu verlassen, und rührte sich also nicht, obgleich seine Hände so steif vom Frost waren, daß er seine Waffe nicht mehr fühlte. Er gehörte zu dem Posten von sechzig Mann, der die Voreuxgrube bewachte; da diese schreckliche Wache häufiger wiederkehrte, waren ihm fast die Füße abgefroren. Das Soldatenhandwerk erforderte es so; ein passiver Gehorsam schläferte ihn schließlich ein; er antwortete auf die Fragen mit gestammelten Worten wie ein schlummerndes Kind.

Vergebens bemühte sich Etienne eine Viertelstunde lang, ein Gespräch über Politik anzuknüpfen. Er sagte ja, er sagte nein und schien nicht zu begreifen. Die Kameraden erzählten, der Kapitän sei Republikaner; er selbst habe darüber keine Gedanken, es sei ihm alles gleich. Wenn man ihm zu schießen befehle, schieße er, um nicht bestraft zu werden. Der Arbeiter hörte ihm zu, von dem Hasse des Volkes gegen die bewaffnete Macht beseelt, gegen diese Brüder, denen man das Herz auswechselt, indem man ihnen eine rote Hose anzieht.

»Wie heißen Sie?«

»Julius.«

»Und woher stammen Sie?«

»Aus Plogof, da drüben.«

Aufs Geratewohl hatte er den Arm ausgestreckt. Es war in der Bretagne, mehr wußte er nicht zu sagen. Sein kleines blasses Gesicht belebte sich, und er begann zu lachen.

»Ich habe dort meine Mutter und meine Schwester. Sie erwarten mich sicherlich. Ach! es wird nicht so bald sein ... Als ich zum Dienst einrückte, gaben sie mir [413] bis Pont-l'Abbé das Geleit. Wir hatten vom Nachbar Lepalmec den Gaul ausgeliehen; bei der Talfahrt von Audierne hat das Tier beinahe die Beine gebrochen. Der Vetter Charles erwartete uns mit Würsten; aber sie blieben uns im Munde stecken, die Weibsleute flennten zuviel. Ach, mein Gott! Mein Gott! Es ist gar weit bis zu uns!«

Seine Augen wurden feucht, und dennoch lächelte er dabei. Der kahle Landstrich von Plogof, diese wild zerklüftete, von Stürmen umtoste Spitze von Le Raz: sie erschien ihm, in Sonnenlicht gebadet, in der rosigen Jahreszeit, wenn die Kleefelder in Blüte stehen.

»Sagen Sie«, fragte er, »wenn ich keine Strafen habe, wird man mir nach zwei Jahren einen Monat Urlaub geben?«

Etienne sprach von der Provinz, die er noch als Knabe verlassen hatte. Der Tag wurde immer heller, Schneeflocken begannen unter dem erdfahlen Himmel zu wirbeln. Er wurde schließlich von Unruhe ergriffen, als er Johannes bemerkte, der im Gestrüpp umherkroch, ganz erstaunt darüber, ihn dort oben zu sehen. Der Knabe winkte ihm herunterzukommen. Was nützte auch der Traum, sich mit den Soldaten zu verbrüdern? Jahre und Jahre wären dazu notwendig; sein vergeblicher Versuch machte ihn trostlos, als ob er auf einen Erfolg gerechnet hätte. Doch plötzlich verstand er die Handbewegung Johannes'; man kam die Schildwache ablösen. Er ging eilends seiner Wege, um sich wieder in der Réquillartgrube zu vergraben, wieder einmal tief bekümmert über die bestimmt zu erwartende Niederlage; während der Knabe neben ihm diesen schmutzigen »Gamaschenknopf« von einem Offizier beschuldigte, dem Wachtposten zugerufen zu haben, er solle auf sie schießen.

Julius stand unbeweglich auf dem Gipfel des Hügels, hinausstarrend in den dicht fallenden Schnee. Der Sergeant näherte sich mit seinen Leuten; die vorschriftsmäßigen Rufe wurden ausgetauscht.

[414] »Wer da? ... Die Losung!«

Man hörte die schweren Tritte sich entfernen, sie hallten wie in Feindesland. Obgleich es immer heller wurde, regte sich nichts in den Dörfern; die Bergleute verzehrten sich in stiller Wut angesichts der Soldaten, die ihnen auf dem Nacken saßen.

Zweites Kapitel

Schnee fiel seit zwei Tagen; am Morgen hatte er aufgehört, und jetzt beherrschte eisiger Frost das ungeheure Winterfeld; dies schwarze Land mit den schwarzen Straßen und den mit Kohlenstaub bedeckten Mauern und Bäumen war ganz weiß, von einer einzigen endlosen Weiße. Das Dorf der Zweihundertvierzig war unter Schnee vergraben, gleichsam verschwunden. Kein Rauch stieg von den Dächern auf. In den Häusern brannte kein Feuer mehr; sie waren kalt wie die Steine auf der Straße, und so schmolz denn auch nicht die dicke Schneeschicht, die auf den Dächern lag. Das Dorf glich einem Viereck von weißen Blöcken in der weißen Ebene, wie ein Gespenst, das in Laken eingehüllt ist. Militärpatrouillen allein ließen in den Straßen die schmutzigen Spuren ihrer Tritte zurück.

Im Hause der Maheu war gestern die letzte Schaufel Kohlenstaub verbrannt; an eine Nachlese auf dem Hügel war nicht zu denken in diesem furchtbaren Wetter, wo selbst die Spatzen keinen Strohhalm mehr fanden. Alzire in ihrem Eigensinn hatte mit ihren warmen Händchen in dem Schnee umhergewühlt und sich dabei krank gemacht. Ihre Mutter hüllte sie in eine alte Decke, bis der Doktor Vanderhaghen käme, den sie schon zweimal gesucht hatte, ohne ihn zu finden. Die Magd hatte versprochen, der Arzt werde noch vor Abend nach dem Dorfe kommen. Jetzt stand die Mutter am Fenster und spähte auf die Straße hinaus, während die Kleine, die nicht oben hatte bleiben wollen, auf [415] einem Sessel neben dem kalten Ofen fror und sich einbildete, es sei hier besser. Der alte Bonnemort, den es wieder in den Beinen gepackt hatte, saß ihr gegenüber und schien zu schlafen. Weder Leonore noch Heinrich waren heimgekehrt; sie trieben sich mit Johannes bettelnd auf den Straßen umher. Maheu ging mit schweren Tritten in der Stube auf und ab; jedesmal stieß er an die Mauer mit der Blödigkeit eines Tieres, das seinen Käfig nicht mehr sieht. Auch das Petroleum war zu Ende gegangen; aber der Widerschein des Schnees erhellte trotz der Nacht die Stube mit einem fahlen Licht. Alzire beherrschte sich, um nicht zu zittern und ihre Eltern dadurch zu betrüben. Aber trotz ihres Mutes erbebte sie von Zeit zu Zeit so stark, daß man das Zucken ihres mageren, gebrechlichen Körpers unter der Decke wahrnehmen konnte.

Es war der Todeskampf; das Haus war vollständig kahl, der äußersten Not anheimgefallen. Nachdem sie die Wolle der Matratzen zur Trödlerin getragen, ließen sie die Leinentücher denselben Weg gehen; dann folgte die Wäsche und alles, was verkäuflich war. Eines Abends hatte man ein Schnupftuch des Großvaters um zwei Sous verkauft. Tränen wurden vergossen, sooft man sich von einem Stück Hausrat trennen mußte; die Mutter jammerte noch immer, weil sie eines Tages genötigt war, in ihrer Schürze die Schachtel von rosa Kartonpapier – ein Geschenk ihres Mannes – wegzutragen, wie man ein Kind wegträgt, um sich seiner unter einem Haustor zu entledigen. Sie waren nackt; sie hatten nichts mehr zu verkaufen als ihre Haut, und auch diese war schon so erbärmlich elend, daß kein Mensch einen Heller dafür gegeben hätte. Sie gaben sich denn auch keine Mühe mehr, etwas zu suchen; sie wußten, daß es nichts mehr gebe, daß alles zu Ende sei, daß sie weder auf eine Kerze hoffen konnten noch auf ein Stück Kohle oder eine Kartoffel; sie erwarteten den Tod; es bekümmerte sie nur wegen der Kinder; sie waren empört über die Grausamkeit des Geschicks, das [416] eine Krankheit über die Kleine gebracht hatte, ehe sie selbst sie erdrosselten.

»Endlich ist er da!« sagte Frau Maheu.

Ein schwarzer Schatten huschte am Fenster vorüber. Die Tür wurde geöffnet. Aber es war nicht der Doktor Vanderhaghen; sie erkannten den neuen Pfarrer Abbé Ranvier, der nicht überrascht schien, das Haus so tot zu finden, ohne Licht, ohne Feuer, ohne Brot. Er kam aus den Nachbarhäusern, ging von Familie zu Familie, um bereitwillige Arbeiter anzuwerben, wie Dansaert mit seinen Gendarmen es tat; er erklärte sich denn auch sogleich mit seiner fieberhaft erregten Sektiererstimme.

»Warum seid ihr am Sonntag nicht zur Messe gekommen, meine Lieben? Ihr tut unrecht; die Kirche allein kann euch retten ... Versprecht mir, am nächsten Sonntag zu kommen.«

Maheu schaute ihn an und setzte dann schwerfällig seinen Gang fort, ohne ein Wort zu sagen. Sein Weib antwortete dem Priester.

»Zur Messe, Herr Pfarrer? Wozu denn? Der liebe Gott kümmert sich wenig um uns. Was hat meine Kleine ihm getan, daß sie von Fieberschauern geschüttelt wird? Wir hatten noch nicht genug des Elends; er mußte sie mir krank machen zu einer Zeit, da ich ihr nicht eine warme Brühe geben kann.«

Der Priester blieb vor ihnen stehen und hielt eine lange Rede. Er beutete den Streik aus, dieses furchtbare Elend, diese erbitterte Rache des Hungers; er tat es mit dem Eifer eines Missionars, der um des Ruhmes der Religion willen den Wilden predigt. Er sagte, die Kirche sei mit den Armen, sie werde eines Tages die Gerechtigkeit zum Siege führen, den Zorn Gottes über die Ungerechtigkeiten der Reichen bringen. In Bälde werde dieser Tag leuchten; denn die Reichen hätten sich an die Stelle Gottes gesetzt, regierten ohne Gott, nachdem sie in gottloser Weise die Macht an sich gerissen.

Frau Maheu, die ihm zuhörte, glaubte Etienne zu hören, als er ihnen an den Augustabenden das Ende[417] ihres Elends ankündigte. Allein sie hatte gegen die Geistlichen stets ein gewisses Mißtrauen gehabt.

»Was Sie uns da erzählen, ist sehr schön, Herr Pfarrer«, sagte sie. »Aber sind Sie denn nicht in Übereinstimmung mit den Spießbürgern? ... Alle unsere früheren Pfarrer speisten auf der Direktion und drohten uns mit dem Teufel, wenn wir Brot verlangten.«

Er begann von neuem und sprach von dem beklagenswerten Mißverständnis zwischen der Kirche und dem Volk. Jetzt zog er in verhüllten Sätzen gegen die städtischen Pfarrer, gegen die Bischöfe los, die nur den Genüssen und der Herrschsucht lebten, in ihrer Verblendung und in ihrem Schwachsinn mit dem liberalen Bürgertum paktierten und nicht sahen, daß eben dies Bürgertum die Geistlichkeit ihrer Herrschaft über die Welt beraubte. Die Erlösung werde von den Landgeistlichen kommen; sie alle würden sich erheben, um mit Hilfe der Armen und Elenden das Reich Christi wiederherzustellen. Er schien schon an ihrer Spitze zu stehen; er richtete seine knochige Gestalt auf als Anführer, als Revolutionär des Evangeliums, die Augen von so viel Licht erfüllt, daß sie die dunkle Stube erhellten; die Predigt riß ihn fort, daß er sich in mystischen Worten erging. Die armen Leute verstanden ihn nicht mehr.

»Es ist unnötig, so viele Worte zu machen«, brummte Maheu plötzlich; »Sie hätten besser getan, uns ein Brot zu bringen.«

»Kommt Sonntag zur Messe!« rief der Priester. »Gott wird für alles sorgen.«

Er ging und trat bei den Levaque ein, um diese zu belehren, entrückt in seinen Traum von dem schließlichen Triumph der Kirche, weltfremd, ging er ohne Almosen, mit leeren Händen zu diesen Armen und Hungrigen.

Maheu ging noch immer in der Stube auf und ab; man hörte nichts als seine schweren Tritte, unter denen die Dielen erzitterten. Jetzt vernahm man ein Geräusch wie von einem rostigen Brunnenschwengel: der [418] alte Bonnemort spie in den kalten Kamin. Dann begannen wieder die gleichmäßigen Tritte. Alzire war infolge des Fiebers eingeschlafen und träumte still; sie lachte in dem Glauben, daß es warm sei, und daß sie im Sonnenschein spiele.

»Jetzt glüht sie in Fieberhitze«, murmelte die Maheu, indem sie dem Kinde die Wangen befühlte. »Ich erwarte dieses Schwein nicht mehr; die Räuber werden ihm verboten haben zu kommen.«

Sie sprach von dem Arzt und von der Gesellschaft. Dennoch stieß sie einen Freudenruf aus, als sie wieder die Tür aufgehen sah. Aber ihre Arme sanken herab; sie blieb mit düsterem Antlitz stehen.

»Guten Abend«, sagte Etienne halblaut, nachdem er die Tür sorgfältig geschlossen hatte.

Oft kam er so unter dem Schutz des nächtlichen Dunkels. Die Maheu hatte schon am zweiten Tage Kenntnis von seinem Schlupfwinkel erlangt. Aber sie bewahrten das Geheimnis; niemand im Dorfe wußte, was aus dem jungen Manne geworden. Dies Geheimnis umgab ihn wie eine Legende. Man fuhr fort, an ihn zu glauben; geheimnisvolle Gerüchte waren in Umlauf. Er werde mit einer Armee und mit goldgefüllten Kassen erscheinen. Es war noch immer die inbrünstige Erwartung eines Wunders, das zur Wirklichkeit gewordene Ideal, der plötzliche Einzug in die Stadt der Gerechtigkeit, die er ihnen verheißen hatte. Die einen behaupteten, sie hätten ihn in einer Kalesche in Gesellschaft von drei Herren auf der Straße nach Marchiennes fahren sehen; andere versicherten, er habe nur noch zwei Tage in England zu bleiben. Aber mit der Zeit kam das Mißtrauen; einzelne Spaßvögel beschuldigten ihn, daß er sich in einem Keller verborgen halte mit der Mouquette; denn dies Verhältnis war bekanntgeworden und hatte ihm geschadet. Seine Volkstümlichkeit war langsam verblaßt, die Verzweiflung wuchs.

»Welch ein Hundewetter!« sagte er. »Und bei euch nichts Neues? Geht's immer schlecht und schlechter?[419] Man hat mir gesagt, daß der kleine Negrel nach Belgien gegangen sei, um Leute aus dem Borinage anzuwerben. Wenn das wahr ist, sind wir verloren.«

Frösteln hatte ihn ergriffen, als er in diese eiskalte, dunkle Stube trat, wo seine Augen sich erst gewöhnen mußten, bis er die Unglücklichen sah, deren Anwesenheit er bisher nur nach den tiefern Schatten vermutet hatte. Er fühlte das Widerstreben, das Mißbehagen des Arbeiters, der über seiner Klasse steht, durch Studium verfeinert, durch Ehrgeiz angespornt. Welch Elend! Und dieser Geruch und diese Leiber auf einem Haufen und das furchtbare Mitleid, das ihm die Kehle zusammenschnürte! Der Anblick dieses Todeskampfes verstörte ihn so, daß er nach Worten suchte, um ihnen die Unterwerfung anzuraten.

Doch Maheu hatte sich heftig vor ihn hingestellt und schrie:

»Leute aus dem Borinage! Das werden die Kerle nicht wagen! Wenn sie ihre Gruben verwüstet sehen wollen, müssen sie nur belgische Arbeiter einfahren lassen!«

Etienne erklärte mit verlegener Miene, man könne sich nicht rühren; die Soldaten, welche die Gruben bewachten, würden auch die Einfahrt der belgischen Arbeiter sichern. Maheu ballte die Fäuste, besonders darüber aufgebracht – wie er sagte –, daß man die Bajonette im Rücken habe. Waren denn die Bergleute nicht mehr Herren im eigenen Hause? Behandelte man sie als Galeerensträflinge, indem man sie mit geladenen Gewehren zu arbeiten zwang? Er liebte seine Grube, und es verursachte ihm schweren Kummer, daß er seit zwei Monaten nicht mehr arbeitete. Darum ward ihm rot vor Augen bei dem Gedanken an diesen Schimpf, an diese Fremden, mit deren Ankunft man drohte. Wenn er sich erinnerte, daß man ihm sein Arbeitsbuch zurückgestellt hatte, brach ihm das Herz.

»Ich weiß übrigens nicht, weshalb ich zornig werde«, murmelte er. »Ich gehöre ja nicht mehr zur Grube ... [420] Wenn sie mich vertreiben, kann ich auf der Heerstraße verrecken.«

»Laß gut sein«, sagte Etienne. »Wenn du willst, nehmen sie morgen dein Arbeitsbuch wieder. Man entläßt die guten Arbeiter nicht.«

Er unterbrach sich erstaunt, weil er Alzire im Fieberdelirium leise kichern hörte. Er hatte bisher nur den Schatten des Vaters Bonnemort bemerkt, und die Heiterkeit dieses kranken Kindes entsetzte ihn. Es war zuviel des Elends, wenn schon die Kleinen zugrunde gingen. Mit zitternder Stimme entschloß er sich endlich zu sagen:

»Hör' einmal, das kann nicht länger dauern ... wir müssen uns ergeben.«

Frau Maheu, bisher unbeweglich und still, brach mit einmal los, schrie ihm ins Gesicht, duzte ihn und fluchte wie ein Mann.

»Was sagst du? ... Du sagst das? Himmelherrgott!«

Er wollte Gründe anführen, aber sie ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Sag' es nicht noch einmal, oder ich fahre dir mit den fünf Fingern ins Gesicht, obgleich ich ein Weib bin ... Wir sollen zwei Monate gedarbt, ich soll meinen Hausrat verkauft haben, wir sollen krank geworden sein: und all das für nichts? Und die Ungerechtigkeit soll von vorn beginnen? ... Wenn ich daran denke, erstickt mich mein Blut. Nein, nein, eher würde ich alles verbrennen, alles niedermetzeln, als mich ergeben.«

Sie zeigte mit einer drohenden Handbewegung auf den im Dunkel stehenden Maheu und sagte:

»Wenn mein Mann zur Grube zurückkehrt, erwarte ich ihn am Wege, um ihm ins Gesicht zu speien und ihn einen Feigling zu nennen!«

Etienne sah sie nicht, aber er verspürte den heißen Atem eines Tieres und wich betroffen zurück vor dieser Tollwut, die sein Werk war. Er fand sie so verändert, daß er sie nicht wiedererkannte; sie war ehemals so bedächtig, warf ihm seine Heftigkeit vor, sagte, daß [421] man niemand den Tod wünschen solle. Jetzt aber wollte sie der Vernunft kein Gehör schenken und sprach davon, alles niederzumetzeln. Nicht er sprach jetzt von Politik, sondern sie; sie wollte mit einem Schlage die Bürger hinwegfegen, forderte die Republik und die Guillotine, um die Erde von diesen diebischen Reichen zu befreien, die durch die Arbeit der Hungerleider fett geworden waren.

»Ja, mit meinen zehn Fingern würde ich sie schinden ... Es ist genug, denke ich. Unsere Zeit ist gekommen, du selbst hast es gesagt ... Wenn ich bedenke, daß der Vater, der Großvater, der Urgroßvater, alle Vorfahren gelitten haben, was wir leiden, und daß unsere Söhne, die Söhne unserer Söhne gleichfalls leiden werden, so werde ich toll und könnte ein Messer ergreifen ... Wir haben neulich noch nicht genug getan; wir hätten Montsou der Erde gleichmachen sollen bis auf den letzten Ziegel, und ich bedauere verhindert zu haben, daß der Alte die Tochter der Leute von der Piolaine erdrosselte ... Läßt man nicht den Hunger meine Kleinen erwürgen?«

Ihre Worte klangen wie Axthiebe im Dunkel der Nacht.

»Sie haben mich schlecht verstanden«, konnte Etienne endlich sagen, indem er den Rückzug antrat. »Man müßte zu einer Vereinbarung mit der Gesellschaft kommen; ich weiß, daß die Gruben infolge des Streiks großen Schaden leiden; die Gesellschaft würde einem Ausgleich sicherlich zustimmen.«

»Nein, nichts!« brüllte sie.

Eben kamen Leonore und Heinrich mit leeren Händen heim. Ein Herr hatte ihnen zwei Sous geschenkt; aber weil die Schwester dem Brüderchen immer Fußtritte versetzte, waren die zwei Sous in den Schnee gefallen. Johannes hatte ihnen suchen helfen, aber sie hatten sie nicht mehr gefunden.

»Wo ist Johannes?«

»Mutter, er ist fortgelaufen; er sagte, er habe zu tun.«

[422] Tiefbekümmerten Herzens hörte Etienne diese Erzählung. Ehemals hatte die Maheu ihren Kindern gedroht, ihnen die Hälse umzudrehen, wenn sie wagen sollten, die Hand auszustrecken. Heute schickte sie selbst die Kleinen auf die Straßen hinaus und sprach davon, daß sie alle, die zehntausend Bergleute von Montsou, mit dem Bettelstab das entsetzte Land durchziehen wollten.

Nun wurde der Jammer noch größer in dieser finsteren Stube. Die Kleinen waren hungrig heimgekehrt und wollten essen. Warum aß man nicht? fragten sie. Sie murrten, schleppten sich am Boden umher und traten ihrer sterbenden Schwester auf die Füße, daß sie schmerzlich stöhnte. Außer sich, schlug die Mutter im Finstern auf sie los. Als sie lauter schrien und Brot verlangten, brach sie in Tränen aus, sank auf die Fliesen, umschloß sie alle, auch die Kranke, in einer Umarmung und weinte lange, lange, hundertmal dieselben Worte stammelnd: »Gott, warum nimmst du uns nicht zu dir? Gott, aus Erbarmen, nimm uns zu dir, um ein Ende zu machen!« Der Großvater verharrte in der Unbeweglichkeit eines alten Baumes, den Sturm und Regen gebeugt und gekrümmt haben, während der Vater unablässig zwischen Kamin und Eßschrank hin und her ging, ohne den Kopf zu erheben.

»Doch jetzt wurde die Tür geöffnet;« diesmal war es Doktor Vanderhaghen.

»Teufel!« schalt er; »euch wird das Kerzenlicht auch nicht die Augen verderben! ... Rasch, rasch, ich habe Eile.«

Erschöpft von seiner Berufsarbeit, brummte er wie immer. Er hatte glücklicherweise Zündhölzchen bei sich; der Vater mußte sechs nacheinander anzünden und ihm leuchten, damit er die Kranke betrachten könne. Von der Decke befreit, zitterte sie unter dem flackernden Schein des Zündhölzchens, mager wie ein Vöglein, das im Schnee stirbt, und so gebrechlich, daß man nichts als den Höcker sah. Und sie lächelte noch; es war das irre Lächeln einer Sterbenden; die Augen [423] standen weit offen, die dürren Händchen krümmten sich auf der hohlen Brust. Als die Mutter, vom Schluchzen fast erstickt, fragte, ob es einen Sinn habe, daß ihr das einzige Kind genommen werde, das ihr in der Hauswirtschaft eine Stütze war, ein so sanftes und verständiges Kind, da wurde der Arzt böse.

»Sie geht von hinnen! ...« rief er. »Sie ist Hungers gestorben, deine Unglückstochter! .... Und sie ist nicht die einzige; nebenan habe ich noch eine gesehen. Ihr ruft mich alle, aber ich kann nichts tun. Ihr braucht Fleisch, um gesund zu werden!«

Maheu hatte das Zündhölzchen fallen lassen, weil es ihm die Finger verbrannte, und Finsternis senkte sich wieder auf die kleine, noch warme Leiche. Der Arzt war davongelaufen. Etienne hörte in der finsteren Stube nichts als das Schluchzen der Maheu, die immerfort den Tod herbeirief und endlos ihre Klage wiederholte:

»Gott, nimm mich zu dir! Jetzt ist an mir die Reihe! ... Gott, nimm meinen Mann zu dir und die anderen aus Erbarmen, um ein Ende zu machen!!«

Drittes Kapitel

An einem Dienstag saß Suwarin schon um acht Uhr allein in der Gaststube des Wirtshauses »Zum wohlfeilen Trunk« an seinem gewohnten Platz, das Haupt an die Mauer gelehnt. Kein einziger Bergmann hatte mehr die zwei Sous für einen Schoppen Bier; niemals hatten die Trinkhäuser so wenige Gäste. Frau Rasseneur saß verdrossen vor ihrem Schankpult, während Rasseneur, vor dem gußeisernen Kamin stehend, mit nachdenklicher Miene dem rötlichen Rauch der Kohle nachstarrte.

In der tiefen Stille der überheizten Stube waren plötzlich drei leise Schläge gegen die Fensterscheibe hörbar, die Suwarin veranlaßten, den Kopf zu wenden. [424] Er erhob sich, denn er hatte das Zeichen erkannt, dessen Etienne sich schon wiederholt bedient hatte, um ihn zu rufen, wenn er ihn von draußen sah. Doch ehe der Maschinist die Tür erreichte, hatte Rasseneur sie geöffnet; als er den Mann erkannte, der in der Helle des Fensters stand, sagte er:

»Hast du Furcht, daß ich dich verrate? ... Ihr könnt hier bequemer plaudern als auf der Straße.«

Etienne trat ein. Frau Rasseneur bot ihm höflich einen Schoppen an, doch er lehnte mit einer Handbewegung ab. Der Schankwirt fügte hinzu:

»Ich habe längst erraten, wo du dich verbirgst. Wenn ich ein Spion wäre, wie deine Freunde behaupten, hätte ich dir schon seit acht Tagen die Gendarmen schicken können.«

»Du hast es nicht nötig, dich zu verteidigen«, antwortete der junge Mann; »ich weiß, daß du niemals Verräterbrot gegessen hast ... Man kann verschiedene Ansichten haben und sich dennoch gegenseitig schätzen.«

Wieder trat Stille ein. Suwarin hatte sich auf seinen Sessel niedergelassen mit dem Rücken gegen die Wand und blickte dem Rauch seiner Zigarette nach; aber seine Finger zitterten vor Ungeduld; er fuhr damit über die Knie und suchte das warme Fell des Kaninchens Polen, das an diesem Abend nicht da war.

Etienne ließ sich auf der andern Seite des Tisches nieder und sagte endlich:

»Morgen wird in der Voreuxgrube die Arbeit aufgenommen. Der kleine Negrel ist mit den Belgiern eingetroffen.«

»Ja, sie sind nach Anbruch der Nacht ausgeladen worden«, murmelte Rasseneur, der neben ihm stand. »Wenn nur nicht wieder ein Gemetzel entsteht.«

Dann fuhr er mit lauterer Stimme fort:

»Ich will mit dir nicht wieder Streit beginnen, aber es nimmt ein schlimmes Ende, wenn ihr in eurer Hartnäckigkeit beharrt ... Eure Geschichte ist genau die selbe wie die deiner Internationale. Ich habe vorgestern [425] Pluchart in Lille getroffen, wo ich zu tun hatte. Seine Maschine geht aus den Fugen, wie es scheint.«

Er führte Einzelheiten an. Der Bund hatte in einem Aufschwung seiner Propaganda, der die Bürgerklasse erzittern ließ, die Arbeiter der ganzen Welt erobert und ging jetzt in die Brüche, wurde mit jedem Tage mehr zerstört durch den innern Kampf eitler und ehrgeiziger Streber. Seitdem die Anarchisten in dem Bunde triumphierten und die Evolutionisten, die ursprünglich die Führung hatten, verdrängten, wackelte der ganze Bau; das ursprüngliche Ziel: die Reform des Lohnwesens, ging in dem Zwist der Parteien unter; die so künstlich und scharfsinnig errichteten Rahmen lösten sich im Haß gegen die Disziplin. Man konnte schon jetzt das klägliche Ende dieser Massenerhebungen voraussehen, die einen Augenblick gedroht hatten, die alte, verrottete Gesellschaft zu vernichten.

»Pluchart ist krank«, fuhr Rasseneur fort. »Zudem hat er keine Stimme mehr, und dennoch redet er; ja, er will sogar in Paris sprechen. Er hat mir dreimal wiederholt, daß unser Streik gescheitert ist.«

Etienne verharrte in düsterem Schweigen; er wollte seine Niedergeschlagenheit nicht eingestehen angesichts eines Mannes, der ihm vorausgesagt, daß auch ihn die Menge an dem Tage verhöhnen werde, an dem sie für eine Enttäuschung Rache nehmen wolle.

»Gewiß, der Streik ist gescheitert«, sagte er. »Ich weiß es so gut wie Pluchart. Aber das war vorauszusehen. Wir haben mit Widerwillen diesen Streik aufgenommen; wir haben nicht darauf gezählt, mit der Gesellschaft fertig zu werden ... Allein man betäubt sich, man hofft auf allerlei Dinge, und wenn dann die Geschichte schlecht ausgeht, vergißt man, daß man darauf gefaßt sein mußte; man jammert und hadert wie angesichts einer urplötzlichen Katastrophe.«

»Wenn du die Partie für verloren hältst, warum bringst du die Kameraden nicht zur Vernunft?« fragte Rasseneur.

[426] Der junge Mann schaute ihn scharf an.

»Lassen wir das; es ist genug ... Du hast deine Gedanken, ich habe die meinen. Ich bin bei dir eingetreten, um dir zu zeigen, daß ich dich dennoch achte. Aber ich glaube, daß, wenn wir in unserm Elend untergehen, unsere Gerippe der Sache des Volkes besser dienen als alle weise Politik ... Ach, wenn einer dieser Soldaten mir eine Kugel mitten ins Herz schösse, wie schön wäre es so zu enden!«

Seine Augen wurden naß, es war der Aufschrei des Überwundenen, der für immer sein Leid begraben wollte.

»Gut gesprochen!« erklärte Frau Rasseneur voll Verachtung gegen ihren Mann.

Suwarin blickte traumverloren in die Ferne, tastete mit seinen nervösen Händen umher und schien nichts gehört zu haben. Sein blondes, mädchenhaftes Gesicht mit der dünnen Nase und den spitzigen Zähnchen nahm einen wilden Ausdruck an in einer mystischen Träumerei, in der blutige Bilder vorüberzogen. Er hatte laut zu träumen begonnen und antwortete auf ein Wort Rasseneurs über die Internationale, das er inmitten der Unterredung aufgefangen hatte.

»Alle sind Feiglinge; nur einen Mann hat es gegeben, der aus ihrer Maschine das furchtbare Werkzeug der Zerstörung hätte machen können. Aber man müßte wollen; niemand will, und darum scheitert die Revolution wieder einmal.«

Er fuhr fort, über die Schwachsinnigkeit der Menschen zu klagen, während die anderen verwirrt dasaßen bei diesen Geständnissen eines Mondsüchtigen. In Rußland wollten die Dinge nicht vorwärts gehen; er war verzweifelt über die Nachrichten. Seine ehemaligen Kameraden wurden sämtlich zu Politikern; die berüchtigten Nihilisten, vor denen ganz Europa zitterte, Popensöhne, Kleinbürger, Kaufleute: sie erhoben sich nicht über den Gedanken der nationalen Befreiung, sie schienen an die Erlösung der Welt zu [427] glauben, wenn sie den Despoten getötet hätten; sobald er ihnen davon sprach, die alte Menschheit hinwegzumähen wie eine reife Frucht, sobald man nur das kindische Wort »Republik« aussprach, fühlte er sich unverstanden, deklassiert, unter die schiffbrüchigen Führer des revolutionären Kosmopolitismus eingereiht. In schmerzlicher Entsagung wiederholte er sein Lieblingswort:

»Lauter Dummheiten! ... Niemals werden sie mit ihren Dummheiten vom Fleck kommen!«

Dann dämpfte er die Stimme noch mehr und erzählte in bitteren Worten seinen ehemaligen Brüderlichkeitstraum. Er hatte auf seinen Rang und sein Vermögen nur deshalb verzichtet und war unter die Arbeiter gegangen, weil er gehofft hatte, endlich die Gesellschaft der gemeinsamen Arbeit begründet zu sehen. Lange Zeit hatte er seine Taschen geleert, um Münzen unter die Kinder der Arbeiterdörfer zu verteilen; er hatte den Bergleuten gegenüber brüderliche Zuneigung bekundet, ihr Mißtrauen belächelt und sie durch die ruhige Haltung eines pünktlichen, schweigsamen Arbeiters gewonnen. Allein die Verschmelzung wollte sich nicht vollziehen; er blieb ihnen ein Fremder mit seiner Verachtung aller Bande, in seiner Entschlossenheit, Mut zu bewahren fern von allem Ruhm und allen Genüssen. Er war seit dem Morgen besonders erbittert durch eine Nachricht, die in allen Blättern zu lesen war.

Seine Stimme änderte sich; seine Augen wurden heller und waren jetzt auf Etienne gerichtet, an den er sich wandte.

»Begreifst du die Hutmacher von Marseille, die das große Los von hunderttausend Franken gewonnen und sofort Renten gekauft haben mit der Erklärung, daß sie künftig müßig leben wollen? ... Ja, das ist so euer Gedanke, ihr französischen Arbeiter: einen Schatz ausgraben und ihn nachher allein verzehren in einem Winkel der Selbstsucht und des Müßigganges. Ihr[428] schreit gegen die Reichen, aber euch fehlt der Mut, den Armen das Geld zu geben, welches das Glück euch zukommen läßt ... Niemals seid ihr des Glückes würdig, solange ihr etwas besitzt, und solange euer Haß gegen die Bürger nur aus dem wütenden Bedürfnis kommt, euch an die Stelle dieser Spießbürger zu bringen.«

Rasseneur brach in Gelächter aus; der Gedanke, daß die zwei Hutmacher in Marseille auf das große Los hätten verzichten sollen, schien ihm verrückt. Doch Suwarin erbleichte; sein verstörtes Antlitz wurde furchtbar; in leidenschaftlichem Wutausbruch schrie er:

»Ihr alle werdet weggemäht, niedergeworfen, der Verwesung anheimgegeben. Es wird der erstehen, der dies Geschlecht von Feiglingen und Genußmenschen vernichtet. Seht ihr meine Hände? Wenn meine Hände es vermöchten, würden sie die Erde packen und sie schütteln, bis sie in Stücke zerfiele, damit ihr unter den Trümmern ersticktet.«

»Gut gesagt!« wiederholte Frau Rasseneur mit höflicher und überzeugter Miene.

Abermals trat Schweigen ein. Dann sprach Etienne wieder von den belgischen Arbeitern und fragte Suwarin nach den Verfügungen, die man im Voreuxschacht getroffen. Doch der Maschinist war wieder in Nachdenken versunken und antwortete kaum. Er wußte nur, daß Kartuschen an die Soldaten verteilt wurden, welche die Grube bewachten, und das nervöse Spiel seiner Finger auf seinen Knien steigerte sich, bis er sich endlich bewußt war, was ihm fehlte: das seidenweiche, beruhigende Fell des Hauskaninchens.

»Wo ist Polen?« fragte er.

Der Schankwirt blickte auf seine Frau und lachte wieder. Nach einem kurzen Zögern entschloß er sich zu antworten.

»Polen liegt warm«, sagte er.

Seitdem Johannes das Kaninchen halb zu Tode gehetzt, hatte es nur tote Junge geworfen. Um es nicht[429] nutzlos zu füttern, hatte man sich entschlossen, es zu schlachten und mit Kartoffeln zu braten.

»Jawohl, du hast heute abend einen Schenkel davon gegessen und dir die Finger danach geleckt.«

Suwarin hatte nicht sogleich begriffen; dann war er leichenblaß geworden, und Ekel zog ihm das Kinn zu sammen, während zwei schwere Tränen ihm die Augen trübten.

Doch man hatte nicht Zeit, seine Erregtheit zu bemerken; die Tür wurde heftig aufgestoßen, und Chaval erschien, Katharina vor sich herschiebend. Nachdem er sich in allen Schenken von Montsou an Bier und Prahlereien berauscht, war er auf den Einfall gekommen, sich hierher zu begeben, um den Kameraden zu zeigen, daß er keine Furcht habe. Er trat ein und schrie seiner Geliebten zu:

»Du wirst einen Schoppen Bier trinken, sage ich dir! Und dem ersten, der mich schief ansieht, schlage ich den Schädel ein.«

Katharina erbleichte, als sie Etienne erblickte. Als auch Chaval seiner ansichtig wurde, verzog sich sein Gesicht zu einem boshaften Grinsen.

»Frau Rasseneur, zwei Schoppen! Wir trinken eins, weil die Arbeit wieder aufgenommen wird.«

Die Wirtin schenkte wortlos ein; ihr Bier war für jedermann da. Stille war eingetreten; weder der Schankwirt noch die beiden anderen hatten sich von ihrem Platz gerührt.

»Ich kenne Leute, die gesagt haben, daß ich ein Spion bin«, hub Chaval in anmaßendem Tone wieder an; »und ich erwarte, daß sie es mir ins Gesicht sagen, damit man sich endlich auseinandersetzt.«

Niemand antwortete; die Männer wandten den Kopf weg und schauten die Wände an.

»Es gibt Tagediebe, und es gibt Leute, die es nicht sind«, fuhr er mit lauter Stimme fort. »Ich habe nichts zu verheimlichen; ich habe Deneulins schmutzige Baracke verlassen und fahre morgen im Voreuxschachte[430] mit zwölf Belgiern ein, deren Führung man mir anvertraut hat, weil man mich achtet. Wenn dies jemand nicht recht ist, so soll er es sagen; wir werden darüber reden.«

Als seine Herausforderungen mit demselben verächtlichen Schweigen aufgenommen wurden, erboste er sich gegen Katharina.

»Wirst du trinken, Himmelsakrament! Stoßen wir an auf das Krepieren aller Saukerle, die nicht arbeiten wollen!«

Sie stieß an, aber ihre Hand zitterte, daß man das leise Klirren der beiden Gläser hörte. Chaval hatte eine Handvoll Silbermünzen aus der Tasche geholt, die er mit der Aufdringlichkeit eines Berauschten auf dem Tische ausbreitete, wobei er stammelte, man verdiene das Geld im Schweiße seines Angesichts, und die Müßiggänger könnten nicht zehn Sous aufweisen. Die Haltung der Kameraden erbitterte ihn, und er ging schließlich zu direkten Beleidigungen über.

»Des Nachts also kriechen die Maulwürfe hervor? Die Gendarmen scheinen zu schlafen, da man den Räubern begegnet!«

Etienne hatte sich entschlossen, aber sehr ruhig erhoben.

»Hör' einmal, du langweilst mich«, sagte er ... »Ja, du bist ein Spion; dein Geld stinkt nach Verrat, und es ekelt mich, deine Verräterhaut zu berühren. Gleichviel, ich bin bereit; schon lange hätte einer von uns beiden den andern töten sollen.«

Chaval ballte die Fäuste.

»Man muß dir vieles sagen, um dich zu erwärmen, verdammter Feigling«, brummte er ... »Mit dir allein will ich es aufnehmen; du sollst mir alle Schurkereien entgelten, die man mir zugefügt hat.«

Katharina trat mit bittenden Händen zwischen sie; aber sie brauchten sie nicht erst zurückzudrängen, sie wich selbst langsam, weil sie die Notwendigkeit des[431] Kampfes fühlte. In stummem Entsetzen stand sie regungslos an der Wand wie gelähmt, die weit offenen Augen auf die beiden Männer gerichtet, die im Begriffe waren, sich ihrethalben zu töten.

Frau Rasseneur begnügte sich, die Schoppen von dem Schanktisch wegzunehmen aus Furcht, daß sie zerbrochen werden könnten. Dann setzte sie sich wieder auf ihr Bänkchen, ohne Neugier zu zeigen. Rasseneur hingegen meinte, man könne nicht zugeben, daß zwei alte Kameraden sich gegenseitig erdrosselten, und wollte sich durchaus ins Mittel legen; Suwarin mußte ihn bei einer Schulter fassen und zum Tisch zurückführen, indem er sagte:

»Das geht dich nichts an ... Einer ist hier zuviel; der Stärkere muß am Leben bleiben.«

Ohne den Angriff abzuwarten, hatte Chaval seine geballten Fäuste in die Luft gestreckt. Er war der Größere und zielte nach dem Gesicht mit beiden Armen, die er wütend auf und nieder fahren ließ, als handhabe er zwei Säbel. Dabei redete er immerfort, spreizte sich vor den Zuschauern und ließ tolle Beschimpfungen los, die ihn noch mehr aufregten.

»Ha, verdammter Kerl, ich will deine Nase haben! Deine Nase will ich mir irgendwohin stecken! ... Gib deine Fratze her, daß ich einen Brei daraus mache! Wir werden dann sehen, ob die Mädchen dir noch nachrennen!«

Stumm, mit zusammengepreßten Zähnen stemmte Etienne seine kleine Gestalt fest auf, kämpfte regelrecht, Brust und Gesicht mit beiden Fäusten deckend; so spähte er nach den Blößen des Gegners und versetzte ihm furchtbare Stöße.

Anfänglich fügten sie einander wenig Schaden zu. Die geräuschvollen Angriffe des einen, die kühle, zuwartende Haltung des andern verlängerten den Kampf. Ein Stuhl wurde umgeworfen; die plumpen Schuhe zerstampften den weißen Sand, mit dem der Fußboden bestreut war. Aber allmählich kamen sie außer Atem; [432] man hörte sie röcheln, während ihre roten Gesichter anschwollen wie von der Gewalt eines innern Feuers, dessen Flammen durch die Höhlen der Augen brachen.

»Getroffen!« schrie Chaval. »Das sitzt auf deinem Gerippe!«

In der Tat hatte seine Faust, gleich einer schief niederfahrenden Keule die Schulter seines Gegners getroffen. Dieser unterdrückte ein schmerzliches Stöhnen; man hörte nur dumpfe Schläge auf Muskeln. Etienne erwiderte ihn mit einem mitten auf die Brust geführten Stoß, der den andern niedergestreckt hätte, wenn er sich nicht mit fortwährenden Sprüngen gerettet hätte. Indes traf ihn der Hieb in die linke Seite mit solcher Wucht, daß er wankte und ihm der Atem ausblieb. Er wurde von Wut übermannt, weil er seine Arme schlaff werden fühlte, und zielte mit dem Stiefelabsatz nach dem Bauch seines Gegners.

»Nimm das für deine Eingeweide!« röchelte er. »Sie sollen ins Freie!«

Etienne wich dem Stoß aus, entrüstet über die Verletzung der Regeln.

»Schweig, Vieh!« sagte er. »Und die Füße weg, sonst nehme ich einen Stuhl, um dich totzuschlagen!«

Jetzt nahm der Kampf eine ernstere Wendung. Rasseneur war empört und hätte sich abermals ins Mittel gelegt, hätte der strenge Blick seiner Frau ihn nicht zurückgehalten. Haben denn zwei Trinkgäste nicht das Recht, ihre Sache im Wirtshaus auszutragen? Er begnügte sich also, sich vor den Kamin hinzustellen, weil er fürchtete, daß sie ins Feuer stürzen könnten. Suwarin hatte sich mit seiner ruhigen Miene eine Zigarette gedreht, die er indes anzubrennen vergaß. Katharina stand noch immer unbeweglich an die Wand gelehnt; nur ihre Hände hatte sie unbewußt an ihrem Körper emporgehoben; und hier krümmten sie sich und rissen zuckend am Stoff des Kleides. Sie gab sich alle Mühe, nicht zu schreien, nicht einen der beiden dadurch zu töten, daß sie einen Ruf der Bevorzugung ausstieß; [433] im übrigen war sie so außer sich, daß sie nicht mehr wußte, wen sie vorziehen sollte.

Chaval war bald erschöpft; in Schweiß gebadet, schlug er auf gut Glück drein. Obgleich in Zorn geraten, fuhr Etienne fort, sich zu decken, und parierte fast alle Hiebe, deren einige ihn streiften. So wurde ihm ein Ohr gespalten, ein Stück Haut vom Halse weggerissen; es verursachte ihm einen so brennenden Schmerz, daß er einen Fluch ausstieß und einen seiner Geraden landete. Chaval sprang beiseite und schützte seine Brust, aber er hatte sich gebückt, und die Faust traf das Gesicht, zerschlug ihm die Nase und ein Auge. Ein Blutstrahl schoß hervor, das Auge schwoll an und wurde blau. Geblendet durch den roten Strom, betäubt durch die Erschütterung seines Schädels, fuchtelte der Erbärmliche mit den Armen blindlings in der Luft umher, als ein zweiter Stoß ihn mitten auf die Brust traf und ihm den Rest gab. Es folgte ein Krachen, und er sank in sich zusammen wie ein Sack Gips, der niedergeworfen wird.

Etienne wartete.

»Erhebe dich«, sagte er; »wenn du willst, können wir von neuem anfangen.«

Chaval antwortete nicht; er war eine Weile ganz betäubt, dann begann er sich zu regen und die Glieder zu recken. Mühselig raffte er sich auf, blieb einen Augenblick auf den Knien und kramte in seiner Tasche. Als er sich erhoben hatte, stürzte er sich mit wildem Geheul abermals auf seinen Gegner.

Doch Katharina hatte alles gesehen, und unwillkürlich entfuhr ihr ein lauter Schrei; sie selbst war darüber erstaunt wie über das Geständnis einer Bevorzugung, die ihr bisher unbewußt war.

»Gib acht! Er hat ein Messer!«

Etienne hatte knapp Zeit, den ersten Stoß mit dem Arm aufzufangen. Der Wollstoff seiner Jacke wurde von der dicken Klinge durchschnitten, von einer jener Klingen, die durch einen kupfernen Ring an ein [434] Heft von Buchsbaumholz befestigt sind. Schon hatte er Chaval am Handknöchel gepackt, und es entspann sich ein furchtbarer Kampf, denn er wußte, daß er verloren sei, wenn er losließ; der andere suchte seine Hand frei zu machen, um zuzustoßen. Die Waffe senkte sich nach und nach; die Glieder ermatteten; zweimal schon hatte Etienne den kalten Stahl an seiner Haut gefühlt und mußte eine äußerste Anstrengung machen; er preßte den Handknöchel mit solcher Gewalt, daß das Messer der offenen Hand entfiel. Beide hatten sich zu Boden geworfen; er war es, der das Messer ergriff und es jetzt gegen den andern zückte. Er kniete auf Chaval und drohte ihm das Messer in den Hals zu stoßen.

»Verdammter Verräter!« rief er. »Du mußt sterben!«

Eine grauenhafte Stimme erhob sich in ihm und betäubte ihn. Es pochte in seinem Schädel gleich Hammerschlägen; es war eine plötzliche Mordgier, das Bedürfnis, Blut zu sehen. Noch niemals hatte der Anfall ihn so gepackt. Und doch war er nicht berauscht. Er kämpfte gegen das Erdübel mit verzweifeltem Beben. Schließlich überwand er sich und warf das Messer hinter sich, wobei er mit rauher Stimme murmelte:

»Steh auf und geh!«

Jetzt eilte Rasseneur herbei, aber ohne sich in die Nähe zu wagen, aus Furcht, einen Hieb zu bekommen. Er wollte nicht, daß man sich in seinem Hause abschlachtete, und geriet in einen solchen Zorn, daß seine Frau, die jetzt vor dem Schankpulte stand, ihm zurief, daß er immer zu früh schreie. Suwarin, dem das Messer beinahe in die Beine gefahren war, entschloß sich endlich, seine Zigarette anzubrennen. Katharina schaute noch immer; sie war verwirrt gegenüber den zwei Männern, die beide lebten.

»Geh!« wiederholte Etienne. »Geh, oder ich mache dir den Garaus!«

Chaval erhob sich und wischte mit dem Handrücken das Blut weg, das noch immer reichlich aus seiner Nase floß; mit blutbeschmierter Kinnlade und mit blau geschlagenem [435] Auge wankte er hinaus, wütend über seine Niederlage. Katharina folgte ihm mechanisch. Doch da richtete er sich auf, und sein Haß brach in unflätige Schimpfreden aus.

»Nein, nein!« rief er. »Wenn du ihn haben willst, bleibe bei ihm, schmutziges Vieh! Setze keinen Fuß mehr in meine Stube, wenn deine Haut dir lieb ist!«

Er schlug die Tür heftig zu. Tiefe Stille herrschte in der warmen Stube, wo man nur das leise Knistern der Kohle hörte. Auf dem Boden lagen der umgestürzte Sessel und die Blutstropfen.

Viertes Kapitel

Nachdem sie Rasseneurs Wirtshaus verlassen hatten, schritten Etienne und Katharina schweigend nebeneinander hin. Es war Tauwetter geworden, der Schnee wurde weich, ohne zu schmelzen. Am fahlen Himmel barg sich der Vollmond kaum sichtbar hinter dichten Wolken, schwarzen Fetzen, die der Sturm in unermeßlicher Höhe wütend dahinjagte. Auf der Erde wehte kein Hauch; man hörte nur den Schnee von den Dächern mit weichem Fall niederstürzen.

Verlegen angesichts dieses Weibes, das ihm aufgehalst worden, fand Etienne in seinem Unbehagen nichts zu sagen. Der Gedanke, sie mitzunehmen und bei sich im Réquillartschacht zu verbergen, schien ihm unsinnig. Er hatte sie nach dem Dorf zu ihren Eltern führen wollen, aber sie hatte sich mit einer Miene des Entsetzens geweigert; nein, nein; alles eher, als ihnen zur Last fallen, nachdem sie sie so schmählich verlassen hatte. Sie sprachen nicht mehr; sie gingen aufs Geratewohl die Wege dahin, die das Tauwetter in Schmutz verwandelt hatte. Zuerst waren sie in der Richtung nach dem Voreux gegangen; dann wandten sie sich rechts und schritten zwischen dem Hügel und dem Kanal dahin.

[436] »Du mußt doch irgendwo schlafen«, sagte er endlich. »Wenn ich nur eine Stube hätte, würde ich dich gern mitnehmen ...«

Doch eine Regung seltsamer Scheu unterbrach ihn. Er erinnerte sich seiner und ihrer Vergangenheit, ihrer heftigen Begierden von ehemals und der Scham und der Scheu, die sie hinderten, sich zu verbinden. Trug er denn noch immer Verlangen nach ihr, fragte er sich, daß er sich so verlegen fühlte? Die Erinnerung an die Maulschellen, die sie ihm in Gaston-Marie gegeben hatte, erregte ihn statt ihn zu erzürnen. Er war überrascht von all diesen Empfindungen; der Gedanke, sie nach seinem Versteck in der Réquillartgrube mitzunehmen, schien ihm jetzt ganz natürlich und leicht durchführbar.

»Entschließe dich; wohin soll ich dich führen? ... Mißachtest du mich denn, weil du dich weigerst, dich mit mir zu verbinden?«

Sie folgte ihm langsam und schwerfällig, weil sie in ihren Holzschuhen immer ausrutschte. Ohne den Kopf zu heben, flüsterte sie:

»Ich habe Kummer genug, kränke mich nicht noch mehr. Wohin würde es führen, da ich einen Liebhaber habe und du eine Geliebte?«

Sie sprach von der Mouquette. Sie glaubte, er lebe mit diesem Mädchen, wie es seit zwei Wochen erzählt wurde; als er versicherte, daß es nicht wahr sei, schüttelte sie den Kopf und erinnerte ihn an den Abend, da sie gesehen hatte, wie sie sich küßten.

»Wie schade um alle die Dummheiten!« hub er wieder an, indem er stehenblieb. »Wir würden uns so gut vertragen haben.«

Sie schauerte zusammen und antwortete:

»Bedaure es nicht, du hast nicht viel verloren. Wenn du wüßtest, wie hinfällig ich bin, nicht dicker als ein Stückchen Butter für zwei Sous und dabei so schlecht gebaut, daß ich niemals ein Weib werde, gewiß nicht!«

[437] »Arme Kleine!« sagte Etienne leise, von tiefem Mitleid ergriffen.

Sie befanden sich am Fuß des Hügels, im tiefen Schatten des riesigen Erdhaufens geborgen. Ein tiefschwarzes Gewölk zog eben am Monde vorüber; sie sahen ihre Gesichter nicht mehr; ihre Atemzüge flossen ineinander, und ihre Lippen suchten sich zu dem Kuß, nach dem sie sich einst monatelang gesehnt hatten. Doch plötzlich erschien der Mond wieder, und sie sahen über ihren Köpfen, hoch auf dem lichtübergossenen Gipfel die Schildwache vom Voreux stehen. Noch ehe sie sich geküßt, trennte sie ein Gefühl der Scham, jener Scham von ehemals, in die sich der Zorn mengte, ein unbestimmter Widerwille und sehr viel Freundschaft. Sie machten sich wieder auf den Weg, mühselig, bis zu den Knöcheln im Kote watend.

»Also ausgemacht, du willst nicht?« fragte Etienne.

»Nein«, sagte sie. »Du nach Chaval, wie? Und nach dir ein anderer ... Nein, das ekelt mich; ich finde kein Vergnügen darin, warum soll ich es tun?«

Sie schwiegen und gingen wieder etwa hundert Schritt, ohne ein Wort auszutauschen.

»Weißt du wenigstens, wohin du gehst?« fragte er dann. »Ich kann dich in einer solchen Nacht nicht auf der Straße lassen.«

Sie antwortete einfach:

»Ich gehe nach Hause. Chaval ist mein Mann; ich habe nicht anderswo zu wohnen als bei ihm.«

»Aber er schlägt dich tot!«

Sie schwieg und zuckte nur ergeben mit den Achseln. Er werde sie prügeln, und wenn er müde sei, aufhören. Sei das nicht immer noch besser, als sich auf den Straßen umherzutreiben? Übrigens sei sie Schläge gewöhnt und sage sich zu ihrem Tröste, daß unter zehn Mädchen acht es nicht besser träfen als sie. Wenn ihr Liebhaber sie eines Tages zur Frau nehme, sei es gut von ihm.

[438] Sie hatten ihre Schritte mechanisch nach Montsou gelenkt. Je mehr sie sich dem Orte näherten, desto schweigsamer wurden sie. Es war, als seien sie gar nicht mehr beisammen. Er fand nichts mehr zu sagen, um sie zu überzeugen, trotzdem es ihn tief bekümmerte, sie zu Chaval zurückkehren zu sehen. Ihm brach das Herz, aber er hatte ihr nichts Besseres anzubieten; sein Leben war das erbärmliche Dasein eines Flüchtigen, eine Nacht ohne Morgen, bis die Kugel eines Soldaten ihm den Kopf zerschmetterte. Vielleicht war es in der Tat klüger zu leiden, was man litt, ohne es mit einem andern Leid zu versuchen. Er geleitete sie gesenkten Hauptes zu ihrem Liebhaber zurück und fand kein Wort des Widerspruches, als sie bei dem Werkhof in der Hauptstraße etwa zwanzig Meter von Piquettes Wirtshaus stehenblieb und sagte:

»Komm nicht weiter mit. Wenn er dich sieht, gibt es wieder eine häßliche Geschichte.«

Im Kirchturm schlug es elf Uhr; das Wirtshaus war geschlossen, aber durch die Ritzen der Tür sah man noch Licht.

»Lebe wohl!« flüsterte sie.

Sie hatte ihm die Hand gereicht, und er behielt sie in der seinen, so daß sie sie ihm mit sanfter Gewalt entziehen mußte. Ohne den Kopf zu wenden, trat sie durch die kleine Haustür. Aber er ging noch nicht fort, sondern blieb auf demselben Fleck stehen, die Augen auf das Haus gerichtet, voll Angst, was drinnen geschehen mochte. Er spitzte die Ohren und zitterte, daß er das Geschrei eines geprügelten Weibes hören könne. Das Haus blieb dunkel und still; er sah bloß ein Fenster des ersten Stockwerks sich erhellen; und da dieses Fenster sich öffnete und er einen schmalen Schatten erkannte, der sich hinausbeugte, trat er näher.

Katharina flüsterte ganz leise:

»Er ist noch nicht heimgekehrt. Ich lege mich schlafen ... Ich bitte dich, geh.«

[439] Etienne ging. Das Tauwetter nahm zu; ein Sturzregen ergoß sich von den Dächern; Wasser rann von den Mauern, von den Pfahlhecken, von allen undeutlich sichtbaren, im Dunkel der Nacht verlorenen Massen dieser Fabrikvorstadt. Zunächst lenkte er seine Schritte nach Réquillart, krank vor Ermüdung und Trauer, nur noch von dem Bedürfnis erfüllt, unter der Erde zu verschwinden. Dann erfaßte ihn wieder die Erinnerung an die Voreuxgrube; er dachte an die belgischen Arbeiter, die einfahren sollten, an die Kameraden, die gegen die Soldaten erbittert und entschlossen waren, keine Fremden in ihrer Grube zu dulden. Er ging von neuem längs des Kanals hin durch die Pfützen von geschmolzenem Schnee.

Als er bei dem Hügel ankam, schien der Mond sehr hell. Er erhob die Augen und blickte zum Himmel empor, an dem die Wolken dahinjagten, getrieben von dem Sturme, der dort oben wütete und sie in weiße Fetzen zerriß; sie folgten einander so schnell, daß das Gestirn bald verhüllt war, bald wieder in seiner vollen Klarheit hervortrat.

Den Blick von diesem reinen Licht erfüllt, senkte Etienne das Haupt, als ein Schauspiel auf dem Gipfel des Hügels seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Starr vor Kälte, ging jetzt die Schildwache auf und ab, fünfundzwanzig Schritt in der Richtung nach Marchiennes und dann fünfundzwanzig in der Richtung nach Montsou. Man sah das Bajonett blitzen über dieser Gestalt, die sich vom fahlen Nachthimmel abzeichnete. Was den jungen Mann hauptsächlich interessierte, war, daß er hinter der Steinhütte, in welcher der alte Bonnemort in stürmischen Nächten Schutz zu suchen pflegte, einen beweglichen Schatten sah, etwas wie ein kriechendes Tier auf der Lauer; Etienne erkannte in dem Schatten sofort Johannes an seinem langen, dürren Rückgrat. Die Schildwache konnte ihn nicht bemerken. Der Bube hatte gewiß einen schlimmen Streich vor; denn er kam aus dem Zorn gegen die Soldaten nicht heraus und [440] fragte immer, wann man diese Mörder los sein werde, die man mit Flinten aussende, um Menschen zu töten.

Etienne schwankte einen Augenblick, ob er ihn anrufen solle, um ihn zu hindern, eine Dummheit zu begehen. Der Mond hatte sich verborgen; er sah den Jungen niederhocken, wie zum Sprung bereit; doch der Mond kam wieder zum Vorschein, und der Junge verblieb in seiner Stellung. Bei jeder Wendung kam die Schildwache bis zu der steinernen Hütte, machte dann kehrt und ging wieder ab. Plötzlich – als wieder Gewölk den Mond verdunkelte – sprang Johannes mit dem ungeheuren Satz einer Wildkatze dem Soldaten auf die Schultern, hakte sich dort fest und stieß ihm das offen gehaltene Messer in den Hals. Die härene Halsbinde leistete Widerstand, der Junge mußte mit beiden Händen auf das Heft drücken und mit dem ganzen Gewichte seines Körpers sich daranhängen. Oft hatte er Hühner geschlachtet, die er hinter den Pachthöfen abgefangen. Das Ganze spielte sich so schnell ab, daß man nur einen unterdrückten Schrei in der Stille der Nacht hörte, während das Gewehr klirrend zu Boden fiel. Schon leuchtete der Mond wieder ganz hell.

Starr vor Entsetzen, schaute Etienne noch immer. Ein Schrei erstarb in der Tiefe seiner Brust. Der Hügel oben war leer; kein Schatten hob sich mehr von der scheuen Flucht der Wolken ab. Er eilte hin und fand Johannes auf allen Vieren neben der Leiche, die mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken lag. In dem hellen Mondschein hoben sich das rote Beinkleid und die graue Kapuze von dem weißen Schnee scharf ab. Kein Tropfen Blut war geflossen; das Messer stak noch bis zum Heft im Halse.

Mit einem Faustschlage streckte er den Jungen zu Boden, daß er neben der Leiche hinfiel.

»Warum hast du das getan?« stammelte er außer sich.

Johannes raffte sich auf, kroch auf den Händen fort mit einem katzenartigen Anschwellen seines mageren[441] Rückens; seine breiten Ohren, seine grünen Augen, seine vorspringenden Kinnladen zitterten.

»Donner Gottes, warum hast du das getan?«

»Ich weiß nicht; ich hatte das Verlangen.«

Er beharrte bei dieser Antwort. Seit drei Tagen hatte er dies Verlangen. Es quälte ihn; der Kopf tat ihm weh davon, da, hinter den Ohren, so beharrlich dachte er daran. Sollte man diese Saukerle von Soldaten schonen, die die Bergleute in ihrem eigenen Heim belästigten? Von den heftigen Reden im Walde, von den Rufen nach Verwüstung und Tod, welche durch die Gruben hallten, waren ihm fünf oder sechs Worte im Schädel geblieben, die er immerfort wiederholte wie ein Straßenjunge, der »Revolution« spielt. Mehr wußte er nicht; niemand hatte ihn gedrängt; es war alles von selbst gekommen, etwa wie ihm die Lust kam, von einem Felde Zwiebeln zu stehlen.

Entsetzt über den Verbrecherwahnsinn dieses Kinderschädels, versetzte er ihm noch einen Fußtritt wie einem unbewußt handelnden Tiere. Er zitterte, daß der in der Voreuxgrube aufgestellte Militärposten den unterdrückten Schrei der Schildwache gehört haben könne; jedesmal, wenn der Mond hervortrat, warf er einen ängstlichen Blick nach der Grube. Aber es hatte sich nichts gerührt; und er neigte sich vor, betastete die allmählich erstarrenden Hände, horchte nach dem Schlage des stillstehenden Herzens des ermordeten Soldaten. Man sah von dem Messer nichts als das Heft, in welches das Wort »Liebe« in schwarzen Buchstaben eingraviert war.

Vom Halse wandten sich seine Blicke zum Gesicht, und er erkannte den kleinen Soldaten Julius, den Rekruten, mit dem er eines Morgens geplaudert hatte, Tiefes Mitleid erfaßte ihn beim Anblick dieses blonden, mit Sommersprossen übersäten Gesichts. Die blauen Augen standen weit offen und schauten zum Himmel empor mit jenem starren Blick, mit dem er neulich am Horizont seine Heimat gesucht hatte. Wo war jenes Plogof, das gleichsam in blendendem Sonnenschein vor [442] ihm aufgetaucht war? Weit, weit. Das Meer in der Ferne heulte in dieser sturmbewegten Nacht. Der Wind, der so hoch dahinfuhr, war vielleicht auch über das kahle Küstenland gestrichen, wo der kleine Soldat zu Hause war. Dort standen zwei Frauen, die Mutter und die Schwester, hielten ihre Hauben fest, damit der Wind sie nicht entführe, und schauten gleichfalls in die Ferne, als hätten sie sehen können, was der kleine Soldat zu dieser Stunde machte jenseits der Hunderte von Meilen, die sie trennten. Sie würden lange, lange auf ihn warten können. Wie abscheulich ist es, wenn die Armen untereinander sich für die Reichen töten!

Doch die Leiche mußte fortgeschafft werden. Etienne dachte zuerst daran, sie in den Kanal zu werfen. Die Gewißheit, daß man sie dort finde, brachte ihn davon wieder ab. Da geriet er in die höchste Angst; die Minuten drängten; welchen Entschluß sollte er fassen? Er hatte eine plötzliche Eingebung: wenn er die Leiche bis zur Réquillartgrube schaffen könnte, so wüßte er sie daselbst für immer zu vergraben.

»Komm her!« sagte er zu Johannes.

Der Junge traute ihm nicht.

»Nein, du willst mich prügeln. Überdies habe ich zu tun. Gute Nacht!«

In der Tat hatte er mit Bebert und Lydia ein Stelldichein verabredet in einem Versteck, einem Loch, das sie unter den Holzvorräten der Voreuxgrube sich zurechtgemacht hatten. Es war ein Ausflug zwischen den drei Kindern vereinbart worden; sie wollten die Nacht über von Hause ausbleiben, um dabeizusein, wie die belgischen Arbeiter bei der Einfahrt mit Steinen beworfen würden.

»Komm hierher,« wiederholte Etienne, »oder ich rufe die Soldaten, die dir den Kopf abschneiden.«

Als Johannes sich entschloß, rollte er sein Taschentuch zusammen und band es fest um den Hals des Soldaten, ohne das Messer herauszuziehen, das den Blutstrom hinderte. Der Schnee schmolz, und man sah auf [443] dem Boden weder eine rote Pfütze noch Spuren, die ein Ringen verraten hätten.

»Fasse ihn an den Beinen!«

Johannes ergriff den toten Soldaten bei den Beinen, Etienne bei den Schultern, nachdem sie das Gewehr auf seinem Rücken befestigt hatten. Langsam stiegen sie mit ihrer Last den Hügel hinab und achteten sorgfältig darauf, daß die Steine nicht ins Rollen gebracht wurden. Glücklicherweise hatte der Mond sich wieder verhüllt; aber als sie längs des Kanals forteilten, erschien er wieder in seiner vollen Klarheit. Es war ein Wunder, wenn der Militärposten sie nicht sah. Schweigend beschleunigten sie ihre Schritte, gehindert durch das Schaukeln des Leichnams und genötigt, alle hundert Meter die Last auf den Boden zu legen, um sich ein wenig zu verschnaufen. An der Ecke des Réquillartgäßchens hörten sie ein Geräusch, das ihnen das Blut in den Adern erstarren ließ; sie hatten knapp Zeit, sich hinter einer Mauer zu verbergen, um nicht einer Patrouille in die Hände zu fallen. Weiterhin wurden sie durch einen Mann überrascht; doch dieser war berauscht und entfernte sich unter Verwünschungen. Endlich kamen sie bei der alten Grube an, schweißbedeckt und dermaßen verstört, daß ihre Zähne klapperten.

Etienne hatte richtig vermutet, daß es nicht leicht sein werde, den Leichnam durch den Schacht hinunterzuschaffen. Es war eine furchtbar mühselige Arbeit. Vor allem mußte Johannes den Körper hinab gleiten lassen, während Etienne, an dem Gestrüpp hängend, ihn auffing, um ihn über die ersten zwei Absätze hinwegzubringen, wo einzelne Sprossen gebrochen waren. Dann mußte er bei jeder Leiter dasselbe Manöver von vorn beginnen, hinabsteigen und den Körper in seinen Armen auffangen; das ging so über dreißig Leitern, zweihundertzehn Meter tief, und auf jeder Leiter fühlte er den Körper auf sich niederfallen, wobei das Gewehr seinen Rücken bearbeitete. Er hatte nicht zugegeben, daß der Knabe das Stückchen Kerze hole, mit dem er [444] geizte. Wozu denn auch? Das Licht wäre ihnen nur hinderlich gewesen in diesem engen Schlund. Doch als sie atemlos unten angekommen waren, schickte er den Kleinen die Kerze holen. Er setzte sich nieder und erwartete ihn im Finstern neben der Leiche mit stürmisch pochendem Herzen.

Als Johannes mit dem Lichte erschien, beriet sich Etienne mit ihm; denn der Knabe hatte diese alten Gänge durchforscht bis zu den geheimsten Spalten, wohin kein erwachsener Mann vordringen konnte. Sie setzten ihren Weg fort und schleppten den Toten durch eine Unzahl verfallener Galerien noch fast einen Kilometer weit. Endlich gelangten sie an eine Stelle, wo die Wölbung sich tief herabsenkte, so daß sie sich auf den Knien fortbewegten unter einem Felsen, der von halb geborstenen Hölzern gestützt war. Es war eine Art langer Kiste, in die sie den kleinen Soldaten wie in einen Sarg betteten. Sie legten das Gewehr neben ihn, dann stießen sie mit den Stiefelabsätzen gegen die Hölzer, daß sie vollends zerbrachen, auf die Gefahr hin, selbst die Knochen dabei zu lassen. Sogleich barst der Felsen; sie hatten knapp Zeit, auf allen vieren wegzukriechen. Als Etienne sich umwandte, weil er sehen wollte, was geschah, dauerte die Senkung des Gewölbes fort; die ungeheure Last bedeckte allmählich den Leichnam.

Nachdem Johannes in seine Verbrecherhöhle zurückgekehrt war, streckte er sich auf seinem Heulager aus und brummte, von Müdigkeit übermannt:

»Die Rangen sollen warten; ich will ein Stündchen schlafen.«

Etienne hatte die Kerze ausgelöscht, von der nur noch ein kleines Stückchen übriggeblieben war. Auch er war wie zerschlagen, fand aber keinen Schlaf; schmerzliche Gedanken arbeiteten in seinem Schädel wie mit Hammerschlägen. Bald blieb nur ein einziger übrig und quälte ihn mit einer Frage, auf die er keine Antwort wußte: warum hatte er Chaval nicht niedergemacht, als er ihn unter seinem Messer hatte? Warum hatte dieser Knabe [445] einen Soldaten umgebracht, der ihm völlig unbekannt war, dessen Namen er nicht einmal wußte? Dies warf alle seine revolutionären Glaubenssätze um: den Mut zu töten, das Recht zu töten. War er feige? Der Knabe auf seinem Heulager hatte zu schnarchen begonnen; es war das Schnarchen eines Betrunkenen, als schlafe er seinen Mordrausch aus. Etienne fühlte sich gereizt und angewidert. Plötzlich schauerte er zusammen: der Hauch der Furcht war ihm über das Gesicht gefahren. Ein leichtes Streifen, ein Schluchzen schien aus den Tiefen der Erde hervorzukommen. Das Bild des kleinen Soldaten, der mit seinem Gewehr da unter den Felsen lag, ließ sein Rückgrat zu Eis erstarren und seine Haare sich sträuben. Es war unsinnig: die ganze Grube füllte sich mit Stimmen; er mußte die Kerze wieder anzünden und beruhigte sich erst, als er bei dem fahlen Schein die leeren Galerien sah.

Noch eine Viertelstunde saß er nachdenklich da, immer von dem nämlichen Kampf durchrüttelt, die Augen starr auf die brennende Kerze gerichtet. Endlich gab es ein leises Knistern, der Docht erlosch, und alles versank wieder in Finsternis. Er fröstelte und hätte Johannes ohrfeigen mögen, um ihn zu hindern, so stark zu schnarchen. Die Nähe des Knaben wurde ihm so unerträglich, daß er, von dem Bedürfnis nach frischer Luft gequält, durch die Galerien und durch den Schacht eilte, als jage ein Gespenst hinter ihm her.

Oben inmitten der Trümmer der Réquillartgrube konnte er endlich mit voller Lunge Atem schöpfen. Da er nicht zu töten wagte, war es an ihm zu sterben; dieser Todesgedanke, der ihn schon einmal gestreift, tauchte jetzt wieder auf und setzte sich wie eine letzte Hoffnung in seinem Schädel fest. Wenn er einen tapfern Tod fände, für die Revolution fiele, dann wäre alles aus, seine Rechnung abgeschlossen. Falls seine Kameraden die belgischen Arbeiter angriffen, wollte er in der ersten Reihe stehen und werde wohl das Glück haben, eine tödliche Kugel zu bekommen. Festen Schrittes kehrte [446] er zur Voreuxgrube zurück, um dort Umschau zu halten. Es schlug zwei Uhr, und großer Lärm kam aus dem Aufseherzimmer, wo der Militärposten kampierte. Das Verschwinden der Schildwache hatte den Posten in die größte Bestürzung versetzt; man hatte den Hauptmann geweckt, und nach einer sorgfältigen örtlichen Untersuchung glaubte man an Fahnenflucht. Etienne stand im Dunkel auf der Lauer und erinnerte sich, von dem kleinen Soldaten gehört zu haben, daß der Hauptmann Republikaner sei. Wer weiß, ob man ihn nicht bestimmen könnte, zum Volk überzugehen? Die Truppe könnte die Gewehre umkehren, und dies wäre das Signal zur Niedermetzelung der Bürger. Ein neuer Traum riß ihn fort; er dachte nicht mehr ans Sterben; er blieb stundenlang stehen im Schmutz, fieberhaft erregt durch die Hoffnung auf einen noch möglichen Sieg.

Bis fünf Uhr spähte er nach den belgischen Arbeitern. Dann merkte er, daß die Gesellschaft die Listge braucht hatte, sie in der Voreuxgrube übernachten zu lassen. Jetzt begann die Einfahrt. Die wenigen Streikenden der Zweihundertvierzig, die man als Kundschafter aufgestellt hatte, zögerten, die Kameraden zu benachrichtigen. Er unterrichtete sie von seinem Plan, und ein Teil eilte herbei, während er hinter dem Hügel wartete. Es schlug sechs Uhr; der fahle Morgenhimmel rötete sich, als der Abbé Ranvier auf einem Seitenpfade erschien. Jeden Montag las er die Frühmesse in einer Klosterkapelle, die jenseits der Kohlengrube lag.

»Guten Morgen, mein Freund!« rief er mit kräftiger Stimme, nachdem er mit seinen Flammenaugen den jungen Mann betrachtet hatte.

Aber Etienne antwortete nicht. In der Ferne hatte er zwischen den Gerüsten der Voreuxgrube eine Frauensperson vorüberkommen sehen und eilte, von Unruhe ergriffen, hinzu, weil er Katharina erkannt zu haben glaubte.

Seit Mitternacht trieb sich Katharina auf den vom Tauwetter aufgelösten Straßen umher. Als Chaval bei[447] seiner Heimkehr sie im Bett gefunden, hatte er sie mit einem Backenstreich auf die Beine gebracht. Er rief ihr zu, sie solle sofort durch die Tür flüchten, wenn sie nicht zum Fenster hinausfliegen wolle; weinend, nur halb bekleidet, mit Fußtritten verfolgt, hatte sie sich entfernen müssen. Völlig betäubt, hatte sie sich auf einen Eckstein gesetzt und nach dem Hause gesehen in der Erwartung, daß er sie zurückrufen werde; denn sie hielt solche Rohheit für unmöglich und glaubte fest, er spähe aus nach ihr und werde ihr zurufen, sie möge wieder heraufkommen, wenn er sie so sehe, vom Nachtfrost geschüttelt, einsam, von aller Welt verlassen.

Nach Verlauf von zwei Stunden faßte sie einen Entschluß, weil sie beinah erfror wie ein auf die Straße gejagter Hund. Sie verließ Montsou, kehrte wieder um und kämpfte mit sich selbst, ob sie von der Straße aus ihrem Liebhaber zurufen oder an die Tür klopfen solle. Aber sie fand nicht den Mut dazu. Endlich ging sie auf der geraden Heerstraße fort mit dem Gedanken, zu ihren Eltern zurückzukehren. Doch als sie im Dorfe ankam, wurde sie von einer solchen Scham ergriffen, daß sie längs der Vorgärten dahinlief aus Furcht, von jemand erkannt zu werden, trotzdem das ganze Dorf hinter den geschlossenen Fensterläden im Schlaf lag. Seither irrte sie umher, vom geringsten Geräusch erschreckt, zitternd vor Angst, daß man sie ergreifen und als Landstreicherin nach Marchiennes in jenes öffentliche Haus bringen könne, dessen Gespenst ihr seit Monaten drohte. Zweimal war sie in die Nähe der Voreuxgrube gekommen und, erschreckt durch die lauten Stimmen des Militärpostens, wieder atemlos davongelaufen, wobei sie sich mehrmals umsah, ob man sie nicht verfolge. Das Réquillartgäßchen war immer voll Betrunkener; sie kehrte dennoch dahin zurück in der unbestimmten Hoffnung, dort den zu treffen, den sie einige Stunden früher abgewiesen hatte.

Chaval sollte diesen Morgen einfahren, und dieser Gedanke führte Katharina wieder zur Grube zurück, wenngleich [448] sie fühlte, daß es nutzlos sei, mit ihm zu reden. Zwischen ihnen war alles aus. Im Jean-Bart wurde nicht mehr gearbeitet, und er hatte geschworen, sie zu erwürgen, wenn sie wieder im Voreuxschacht Arbeit nehme, wo er durch sie bloßgestellt zu werden fürchtete. Was sollte sie anfangen? Anderswohin gehen, Hunger leiden, den Rohheiten aller Männer unterliegen, denen sie begegnen würde? Mit todmüden Beinen schleppte sie sich in den Pfützen der Straße fort. Das Tauwetter hatte die Straßen in Morast verwandelt; sie drohte zu versinken, wankte aber immer weiter, immer weiter, und wagte nicht einen Stein zu suchen, um einen Augenblick auszuruhen.

Der Tag brach an. Katharina hatte eben den Rücken Chavals erkannt, der vorsichtig den Umweg um den Hügel machte, als sie Lydia und Bebert wahrnahm, die ihre Nasen aus ihrem Versteck unter dem Holzvorrat hervorsteckten. Sie hatten daselbst die ganze Nacht auf der Lauer gelegen und nicht gewagt heimzukehren, weil Johannes ihnen befohlen hatte, ihn zu erwarten; während dieser in der Réquillartgrube seinen Mordrausch ausschlief, hatten die beiden Kinder sich mit den Armen umschlungen, um weniger zu frieren. Der Wind pfiff zwischen den Stangen von Kastanien- und Eichenholz; sie verkrochen sich wie in einer verlassenen Köhlerhütte.

Plötzlich ertönende Hornstöße ließen Katharina erschreckt zusammenfahren. Sie richtete sich in die Höhe und sah den Militärposten antreten. Etienne eilte herbei; Bebert und Lydia sprangen mit einem Satz aus ihrem Versteck hervor. Dort hinten stieg im wachsenden Tageslicht unter zornigen Gebärden eine Schar Männer und Weiber vom Dorf hernieder.

[449] Fünftes Kapitel

Alle Zugänge der Grube waren geschlossen; sechzig Soldaten – Gewehr bei Fuß – besetzten die Tür, die zum Aufnahmesaal führte über eine schmale Treppe, auf die das Aufseherzimmer sich öffnete. Der Hauptmann hatte sie in zwei Reihen an der Ziegelwand des Gebäudes aufgestellt, damit man sie nicht von hinten angreifen könne.

Die Bergleute hielten sich anfänglich fern. Es waren ihrer höchstens dreißig, und sie besprachen sich in heftigen und verworrenen Worten.

Die Maheu, die zuerst angekommen war, ungekämmt, mit einem in aller Hast über den Kopf geworfenen Tuch, die schlafende Estelle im Arme, wiederholte mit fieberhafter Stimme:

»Niemand hinein und niemand heraus! Wir müssen sie da drinnen fassen!«

Ihr Mann stimmte zu. Da kam Mouquet von Réquillart her. Man wollte ihn hindern hineinzugehen; allein er wehrte sich und sagte, daß seine Pferde ihr Futter haben müßten und sich wenig um die Revolution kümmerten. Überdies liege unten ein totes Pferd, und man warte nur auf ihn, um es hinaufzuschaffen. Etienne befreite den alten Stallwärter aus den Händen der Bergleute, und die Soldaten ließen Mouquet hin ein. Eine Viertelstunde später – die Schar der Ausständigen war inzwischen immer größer geworden und hatte eine drohende Haltung angenommen – öffnete sich ein breites Tor im Erdgeschoß, und es erschienen Männer, die das tote Tier auf einem Karren herausführten, eine trübselige Last. Sie luden das Tier ab und ließen es mitten in den Pfützen von geschmolzenem Schnee liegen. Die Szene rief eine solche Bewegung hervor, daß man die Arbeiter nicht hinderte, zurückzukehren und das Tor wieder zu verrammeln. Alle hatten das Tier an seinem Kopf erkannt, der jetzt steif nach der Seite hing.

[450] »Es ist Trompete! Es ist Trompete!« ging es flüsternd durch die Menge.

Es war in der Tat Trompete. Das Pferd hatte sich an das Leben in der Grube nicht gewöhnen können. Es war stets verdrossen, unlustig bei der Arbeit, gleichsam von der Sehnsucht nach dem Licht gequält. Es war vergebens, daß Bataille – der Grubenälteste – sich freundschaftlich an Trompete rieb und ihm den Hals beleckte, um etwas von seiner Ergebung dem Kameraden einzuflößen. Diese Liebkosungen vermehrten nur seine Trauer; seine Haare zitterten bei den Vertraulichkeiten des Schicksalsgenossen, der in der Finsternis alt geworden. Sooft die beiden Tiere einander begegneten, schienen sie sich ihr Leid zu klagen, das alte, weil es soweit gekommen, sich gar nicht mehr zu erinnern, das junge, weil es nicht vergessen konnte. Im Stalle waren sie Raufennachbarn und lebten mit gesenkten Köpfen dahin, sich einander in die Nüstern blasend, in einem fortwährenden Austausch ihres Traumes vom Licht, von grünen Matten, von weißen Straßen, von goldiger Sonnenhelle am unendlichen Horizont. Als Trompete, mit Schweiß bedeckt, auf seiner Streu im Todeskampfe lag, beroch ihn der Kamerad in trübseliger Stimmung mit kurzem Schnuppern, das einem Schluchzen glich. Als er merkte, daß der andere sich nicht mehr rührte, wieherte er entsetzt auf und zerriß die Halfterleine.

Mouquet hatte übrigens schon seit acht Tagen den Oberaufseher von der Sache benachrichtigt. Doch in diesem Augenblick kümmerte man sich wenig um ein krankes Pferd. Die Herren sahen ungern einen Pferdewechsel; jetzt mußte man sich aber doch entschließen, das tote Pferd hinaufzuschaffen. Am vorhergegangenen Tage hatte der Stallwärter, von zwei Arbeitern unterstützt, eine Stunde damit zugebracht, Trompete in dem Stricknetz festzubinden. Dann wurde Bataille vorgespannt, um das Tier bis zum Aufzugsschacht zu schaffen. Er folgte mit trüben Augen den Vorbereitungen zur Hinaufbeförderung, wie der Körper oberhalb der Senkgrube [451] auf Rollen geschoben und dann das Netz unter der Schale befestigt wurde. Endlich gaben die Verlader das Zeichen; Bataille hob den Kopf, um mit anzusehen, wie der Kamerad auffuhr, zuerst langsam, dann plötzlich in der Finsternis verschwindend, für immer dem schwarzen Loch entrinnend. Er blieb eine Weile mit ausgestrecktem Hals dastehen; sein Tiergedächtnis erinnerte sich vielleicht der irdischen Dinge. Seine Beine begannen zu zittern; die frische Luft, die von den fernen Gefilden kam, erstickte ihn, und er war wie berauscht, als er plump und schwerfällig nach dem Stall zurückkehrte.

Im Werkhof standen die Bergleute in ernster Stimmung vor Trompetes Leiche. Ein Weib sagte halblaut:

»Wieder einer hineingegangen! Niemand hindert die Leute einzufahren!«

Doch vom Dorf her kam eine neue Schar, und Levaque, der, gefolgt von seinem Weibe und von Bouteloup, an der Spitze marschierte, schrie:

»Tod den Belgiern! Keine Fremden bei uns! Tod! Tod!«

Alle stürzten hinzu; Etienne mußte ihnen Einhalt gebieten. Er hatte sich dem Hauptmann genähert, einem hochgewachsenen, schmächtigen jungen Mann von kaum achtundzwanzig Jahren, mit verzweifeltem, aber entschlossenem Gesicht. Er erklärte ihm die Dinge, suchte ihn zu gewinnen und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Wozu ein unnützes Gemetzel? Waren denn die Bergleute nicht in ihrem Recht? Alle Menschen seien Brüder, und man müsse sich vertragen. Bei dem Worte »Republik« machte der Offizier eine nervöse Handbewegung. Er bewahrte seine militärische Schroffheit und sagte plötzlich:

»Platz da! Zwingen Sie mich nicht, meine Pflicht zu tun!«

Dreimal wiederholte Etienne seinen Versuch. Hinter ihm murrten die Kameraden. Es ging das Gerücht, daß Herr Hennebeau in der Grube sei, und man sprach [452] davon, ihn mit dem Kopf voraus hinabzuschicken, um zu sehen, ob er selbst Kohlen brechen könne. Aber das Gerücht war falsch; nur Negrel und Dansaert waren da, die einen Augenblick an einem Fenster des Aufnahmesaales sichtbar waren. Der Oberaufseher stand hinten, während der Ingenieur mutig seine Äuglein über die Menge schweifen ließ, lächelnd in spöttischer Geringschätzung für Menschen und Dinge. Als sich in der Menge ein Gejohle gegen sie erhob, verschwanden sie vom Fenster, und man sah an ihrer Stelle nur noch das weiße Gesicht Suwarins. Er hatte eben Dienst; er hatte seit Beginn des Streiks seine Maschine keinen Tag verlassen, sprach sehr wenig, versank immer mehr in eine fixe Idee, die aus seinen blassen Augen zu funkeln schien.

»Platz da!« wiederholte der Hauptmann laut. »Ich will nichts hören; ich habe den Befehl, die Grube zu bewachen, und ich werde sie bewachen ... Drängt nicht auf meine Leute ein, sonst werde ich euch zurückzujagen wissen.«

Trotz der Festigkeit seiner Stimme war er bleich und immer unruhiger angesichts der fortwährend anwachsenden Menge der Bergleute. Zu Mittag sollte er abgelöst werden: doch weil er fürchtete, sich bis dahin nicht halten zu können, hatte er soeben einen Jungen nach Montsou gesandt, um Verstärkung zu verlangen.

Lautes Geschrei antwortete ihm.

»Tod den Fremden! Tod den Belgiern! Wir wollen Herren im eigenen Hause sein!«

Etienne wich trostlos zurück. Es war aus; es blieb nichts anderes übrig, als sich zu schlagen und zu sterben. Er hielt die Kameraden nicht länger zurück; die Menge drängte bis zu den Truppen heran. Es waren ihrer fast vierhundert; die Nachbardörfer leerten sich; die Leute kamen im Eilschritt herbei. Alle stießen den nämlichen Schrei aus. Maheu und Levaque sagten wütend zu den Soldaten:

»Geht weg! Wir haben nichts gegen euch! Geht weg!«

[453] »Es geht euch nichts an!« fügte die Maheu hinzu. »Laßt uns unsere Angelegenheiten selber austragen.«

Die Levaque – hinter ihr – schrie noch heftiger:

»Müssen wir euch erst überrennen, um hineinzukommen? Man bittet euch, den Platz zu räumen!«

Man hörte sogar die dünne Stimme Lydias, die sich mit Bebert in das dichteste Gewühl gedrängt hatte, in schrillem Tone sagen:

»Diese Wurstsoldaten!«

Katharina stand einige Schritte abseits und schaute und hörte, erschüttert von den neuen Tumulten, in die ihr Mißgeschick sie hineingeschleudert hatte. Litt sie nicht ohnehin schon zuviel? Was hatte sie denn verbrochen, daß das Unglück sie nicht zur Ruhe kommen ließ? Noch gestern hatte sie nichts von den Wutausbrüchen des Streiks begriffen; sie dachte, wenn man Maulschellen erhalten habe, sei es unnötig, andere zu suchen; jetzt aber schwoll ihr Herz in Haß; sie erinnerte sich dessen, was Etienne ehemals bei den Abendzusammenkünften erzählte, suchte zu verstehen, was er jetzt den Soldaten sagte. Er nannte sie seine Kameraden; er erinnerte sie, daß auch sie aus dem Volke seien und daher zum Volke halten müßten, um es gegen die Ausbeuter zu schützen.

Doch in der Menge entstand jetzt ein heftiges Drängen und Stoßen, und ein altes Weib stürzte vor. Es war die Brulé, furchtbar abgemagert, Hals und Arme entblößt, sie war in so toller Hast herbeigelaufen, daß die grauen Haarbüschel ihr in die Augen fielen.

»Donner Gottes, ich bin auch dabei!« stammelte sie atemlos. »Dieser Verräter Pierron hielt mich im Keller eingeschlossen.«

Unverzüglich fiel sie über die bewaffnete Macht her, Verwünschungen ausstoßend.

»Ihr Halunken! Das leckt den Vorgesetzten die Stiefel und hat nur Mut gegen die armen Leute!«

Die anderen schlossen sich ihr an und schrien wüste Beschimpfungen. Einige riefen: »Hoch die Soldaten! [454] In den Schacht mit dem Offizier!« Aber bald hörte man nur einen Ruf: »Nieder mit den roten Hosen!« Die Soldaten, die unempfindlich, mit unbeweglichem Antlitz die Aufforderungen zur Brüderlichkeit, die freundschaftlichen Werbungsversuche anhörten, bewahrten denselben starren Gleichmut unter diesem Hagel von Schimpfwörtern. Der Hauptmann, der hinter ihnen stand, hatte seinen Degen gezogen. Als die Menge immer näher herandrängte, kommandierte er: »Fällt das Bajonett!« Die Soldaten gehorchten, und eine Doppelreihe von Stahlspitzen starrte den Leibern der Streikenden entgegen.

»Ha, die Halunken!« heulte die Brulé zurückweichend.

Doch sogleich kehrten alle um in Todesverachtung. Weiber stürzten herbei; die Maheu und die Levaque riefen:

»Tötet uns! Tötet uns doch! Wir wollen unser Recht!«

Auf die Gefahr hin, sich die Hände zu zerschneiden, hatte Levaque ein Bündel Bajonette ergriffen, die er schüttelte und an sich zog, um sie loszureißen; er verbog sie mit der Kraft der Wut, während Bouteloup, den es verdroß, dem Kameraden gefolgt zu sein, abseits stand und ruhig zusah, was der andere trieb.

»Vorwärts, wenn ihr Mut habt!« rief Maheu. »Vorwärts, laßt sehen!«

Er öffnete seine Jacke, riß sein Hemd auseinander, breitete seine nackte Brust aus, sein behaartes, von der Kohle gerötetes Fleisch. Er drängte sich gegen die Stahlspitzen und zwang sie zurückzuweichen. Eine der Spitzen war ihm in die Brust gedrungen; er war wie rasend und machte Anstrengungen, sie noch tiefer eindringen zu lassen.

»Feiglinge, ihr wagt es nicht ... Hinter uns stehen noch zehntausend! ... Ihr könnt uns töten, es kommen zehntausend andere.«

Die Lage der Soldaten wurde kritisch, denn sie hatten den strengen Befehl, sich ihrer Waffen nur im äußersten Falle zu bedienen. Aber wie wollte man diese Wütenden [455] hindern, sich selber aufzuspießen? Der Zwischenraum wurde immer kleiner; die Soldaten waren jetzt an die Mauer gedrängt und konnten nicht weiter zurückweichen. Die kleine Truppe, eine Handvoll Menschen, hielt sich standhaft angesichts der immer mehr anwachsenden Menge und führte kaltblütig die knappen Befehle des Hauptmanns aus. Dieser stand mit hellen Augen und zusammengekniffenen Lippen da und hatte nur die eine Furcht, daß die Soldaten, durch die Beschimpfungen gereizt, die Geduld verlieren könnten. Ein junger Sergeant, ein langer, hagerer Mensch, begann in beunruhigender Weise um sich zu blicken. Neben ihm stand ein alter Knasterbart, dessen Haut in zwanzig Feldzügen gegerbt war; er erbleichte, als er sein Bajonett sich wie einen Strohhalm biegen sah. Ein anderer, ohne Zweifel ein Rekrut, der noch nach der Feldarbeit roch, ward rot, wenn er sich einen Halunken nennen hörte. Die heftigen Reden nahmen kein Ende, die emporgereckten Fäuste, die Beschimpfungen und Drohungen, die sie gleich Backenstreichen trafen.

Ein Zusammenstoß schien unvermeidlich, als man hinter der Truppe den Aufseher Richomme mit seinem weißen Kopfe auftauchen sah. Er war in großer Aufregung und schrie:

»Donner Gottes! Solche Dummheiten darf man nicht zulassen!«

Er warf sich zwischen die Bajonette und die Bergleute.

»Kameraden, hört mich! Ihr wißt, daß ich ein alter Arbeiter bin und nie aufgehört habe, einer der eurigen zu sein. Beim Himmel, ich verspreche euch, daß, wenn man ungerecht gegen euch sein sollte, ich es sein werde, der den Herren die Wahrheit sagt ... Aber jetzt ist's zuviel! Es führt zu nichts, diesen braven Soldaten Beschimpfungen zuzuschreien und sich den Leib durchlöchern zu lassen.«

Die Menge hörte ihn an und geriet ins Schwanken. Zum Unglück erschien oben wieder das scharfe Gesicht [456] des kleinen Negrel. Er fürchtete ohne Zweifel, man könne ihn beschuldigen, einen Aufseher zu senden, anstatt sich selber unter die Leute zu wagen, und versuchte zu reden. Doch seine Stimme verlor sich in einem so furchtbaren Lärm, daß er abermals das Fenster verlassen mußte, was er mit einem Achselzucken tat. Nun bat Richomme sie vergebens, sich zu entfernen; man wies ihn zurück, man verdächtigte ihn. Doch er war eigensinnig und blieb.

»Donner Gottes!« rief er. »Man zerschlage mir den Schädel; aber ich verlasse euch nicht, solange ihr so dumm seid!«

Etienne, den er bat, er möge ihm helfen, sie zur Vernunft zu bringen, machte eine Gebärde, die besagte, daß er machtlos sei. Es war zu spät; ihre Anzahl stieg jetzt auf mehr als fünfhundert. Es waren nicht bloß Wütende, welche herbeigeeilt waren, um die Belgier zu vertreiben; es waren auch Neugierige da, Spaßvögel, die sich ergötzten. In geringer Entfernung standen mitten in einer Gruppe Zacharias und Philomene und schauten zu wie im Theater, so ruhig, daß sie ihre beiden Kinder mitgebracht hatten. Eine neue Schar kam aus Réquillart, darunter Mouquet und die Mouquette; der erstere ging sogleich zu seinem Freunde Zacharias und schlug ihm lustig auf die Schulter, während die Mouquette in die vorderste Reihe der ärgsten Schreier vordrang.

Der Hauptmann wandte sich indes jeden Augenblick nach der Straße von Montsou. Die verlangte Verstärkung blieb aus; seine sechzig Mann konnten nicht länger standhalten. Endlich kam er auf den Einfall, auf die Menge in anderer Weise einzuwirken, und befahl, daß vor ihren Augen die Gewehre geladen würden. Die Soldaten vollzogen den Befehl; allein die Erregung nahm noch zu; die Prahlereien und Spöttereien wurden immer ärger.

»Schau, die Tagediebe! Sie ziehen zum Scheibenschießen aus!« spotteten die Weiber, die Brulé, die Levaque und die andern.

[457] Die Maheu, an der Brust den kleinen Körper Estelles, die erwacht war und weinte, kam so nahe heran, daß der Sergeant sie fragte, was sie mit dem armen Wurm da wolle.

»Was hat's dich zu kümmern?« antwortete sie. »Schieße auf das Kind, wenn du es wagst!«

Die Männer schüttelten verächtlich den Kopf; kein einziger glaubte, daß man auf sie schießen werde.

»Sie haben keine Kugeln in den Patronen«, sagte Levaque.

»Sind wir Kosaken?« schrie Maheu. »Man schießt doch nicht auf Franzosen, Donner Gottes über euch!«

Andere wiederholten, daß man das Blei nicht fürchte, wenn man den Krimkrieg mitgemacht habe. Alle fuhren fort, sich den Gewehren entgegenzuwerfen. Eine Salve würde in diesem Augenblick die ganze Menge weggefegt haben. In der ersten Reihe gebärdete die Mouquette sich wie toll.

Um die Aufregung seiner Leute zu beschwichtigen, entschloß der Hauptmann sich endlich, Verhaftungen vorzunehmen. Die Mouquette entkam mit einem Satz, indem sie sich den Kameraden zwischen die Beine warf. Drei Bergleute, Levaque und zwei andere, wurden aus der Gruppe der ärgsten Schreier geholt und im Aufseherzimmer einer Wache übergeben. Negrel und Dansaert schrien von oben dem Hauptmann zu, sich in das Gebäude zurückzuziehen und sich mit ihnen einzuschließen. Doch er lehnte ab, denn er fühlte, daß dies Gebäude, das Türen ohne Schlösser hatte, von der Menge im Sturm genommen und er mit seinen Leuten den Schimpf erleben würde, entwaffnet zu werden. Seine kleine Truppe begann ungeduldig zu murren; man konnte doch nicht vor diesem jämmerlichen Volk in Holzschuhen die Flucht ergreifen. Die sechzig Mann mit ihren geladenen Gewehren nahmen wieder an der Wand Aufstellung und fällten das Bajonett.

[458] Zuerst wich die Menge zurück, und Schweigen trat ein. Die Streikenden waren eine Weile verblüfft über die Verhaftungen. Dann erhob sich ein Geschrei, man forderte die augenblickliche Freigebung der Gefangenen. Einzelne Stimmen riefen, die Gefangenen würden drinnen erwürgt. Ohne Verabredung, von dem nämlichen Rachebedürfnis fortgerissen, rannten sie zu den benachbarten Ziegelhaufen, zu diesen Ziegeln, die aus der lehmigen Erde geformt und an Ort und Stelle gebrannt wurden. Die Kinder schleppten sie einzeln herbei; die Weiber füllten ihre Röcke damit. Bald hatte jeder zu seinen Füßen einen Vorrat aufgehäuft, und der Kampf begann.

Die Brulé zerbrach die Ziegel auf ihrem magern, knochigen Knie und schleuderte sie mit beiden Händen. Die Levaque verrenkte sich fast die Schultern; sie trat ganz nahe heran, um zu treffen; vergebens zerrte Bouteloup hinten an ihrem Rock, um sie wegzuführen. Alle Weiber gerieten in die höchste Erregung; die Mouquette hatte nicht mehr die Geduld, die Ziegel zu zerbrechen, und zog es vor, sie ganz zu schleudern. Auch die Kinder traten in die Kampflinie ein; Bebert zeigte Lydia, wie man die Ziegel schleudern müsse. Es war ein Hagel von riesigen Wurfgeschossen, deren Krachen man hörte. Plötzlich bemerkte man mitten unter den Furien Katharina, die Fäuste in der Luft, halbe Ziegel schwingend und sie mit der vollen Kraft ihrer kleinen Arme schleudernd. Sie hätte nicht sagen können, warum; sie erstickte vor Begierde, die Leute zu morden. Sollte dies verwünschte Unglücksdasein nicht bald ein Ende nehmen? Sie hatte es satt, von ihrem Manne geohrfeigt und davongejagt zu werden, wie ein Hund im Straßenschmutz zu waten, ohne von ihrem Vater einen Löffel Suppe erlangen zu können, da er selbst mit den Seinen darbte. Sie zerbrach Ziegel und schleuderte sie mit dem einzigen Gedanken, alles hinwegzufegen, die Augen blutunterlaufen, daß sie nicht sah, wem sie etwa die Kinnladen zerschmetterte.

[459] Etienne war vor den Soldaten stehengeblieben, und es wäre ihm beinahe der Schädel gespalten worden. Sein Ohr blutete; er wandte sich um und erbebte, als er sah, daß der Wurf von den fiebernden Händen Katharinas gekommen; auf die Gefahr hin, getötet zu werden, blieb er auf seinem Platz und schaute ihr zu. Auch viele andere vergaßen sich und verfolgten den Kampf mit hängenden Armen. Mouquet beurteilte die Würfe, als wohne er einem Kugelspiel bei; dieser war gut, der andere hingegen verfehlt. Er spaßte; er stieß mit dem Ellbogen Zacharias an, mit dem Philomene zankte, weil er Achilles und Desirée geohrfeigt und sich geweigert hatte, die Kinder auf seinen Rücken zu nehmen, damit sie besser sähen. Auf der Straße standen Zuschauer in dichter Masse beisammen. Auf der Höhe des Abhanges ragte der alte Bonnemort, auf einen Stock gestützt, unbeweglich, aufrecht unter dem rostfarbenen Himmel.

Als die ersten Ziegel flogen, stellte sich der Aufseher Richomme zwischen die Soldaten und die Grubenarbeiter. Er bat die einen, er ermahnte die andern, unbekümmert um die Gefahr, so verzweifelt, daß schwere Tränen ihm aus den Augen flossen. In dem Lärm wurden seine Worte nicht gehört; man sah bloß seinen dicken, grauen Schnurrbart zittern.

Doch der Ziegelhagel ward immer dichter; dem Beispiel der Weiber folgend, beteiligten sich jetzt auch die Männer daran.

Da bemerkte die Maheu, daß ihr Mann mit leeren Händen und düsterer Miene hinten stand.

»Was ist dir?« schrie sie. »Bist du feige? Willst du deine Kameraden ins Gefängnis abführen lassen? ... Du solltest mich sehen, wenn ich dies Kind nicht auf dem Arm hätte!«

Estelle, die sich heulend an ihren Hals geklammert hatte, hinderte sie, sich der Brulé und den anderen anzuschließen; da ihr Mann sie nicht zu hören schien,[460] schleuderte sie ihm mit dem Fuß Ziegelstücke zwischen die Beine.

»Himmelherrgott! Wirst du sogleich diese Steine nehmen? Muß ich dir vor den Leuten ins Gesicht speien, um dir Mut zu machen?«

Sehr rot geworden, zerbrach er die Ziegel und schleuderte die Stücke. Sie betäubte ihn mit wütenden Worten, wobei sie ihre Tochter, die in ihren gekrümmten Armen an ihrer Brust lag, fast erdrückte. Er ging immer weiter vor und befand sich jetzt den Gewehrläufen gegenüber.

Die kleine Truppe verschwand fast unter dem Hagel von Steinen. Glücklicherweise warf man zu hoch, so daß nur die Mauer arg zugerichtet wurde. Was war anzufangen? Der Gedanke, sich ins Haus zurückzuziehen, den Rücken zu wenden, färbte einen Augenblick das bleiche Gesicht des Hauptmanns, aber es war nicht mehr möglich; man würde sie bei der geringsten Bewegung zerschmettert haben. Ein Ziegelstein hatte soeben den Schirm seiner Mütze zerbrochen; Blutstropfen flossen über seine Stirn. Mehrere seiner Leute waren verwundet, und er hatte das Gefühl, daß sie bald aufhören würden, den Vorgesetzten zu gehorchen. Der Sergeant hatte einen Fluch ausgestoßen; die linke Schulter war ihm fast ausgerenkt worden durch einen Steinwurf, der dumpf auf das Fleisch schlug wie ein Schlegel auf die Wäsche. Der Rekrut wurde zweimal getroffen; der eine Wurf hatte ihm einen Daumen zerschmettert, der andere hatte ihn am rechten Knie verletzt. Als ein von der Mauer abprallender Stein den, alten Haudegen traf, wurden seine Wangen grün, und sein Gewehr zitterte in den mageren Armen. Dreimal war der Hauptmann nahe daran, »Feuer!« zu kommandieren. Angst benahm ihm den Atem; der Kampf warf alle seine Gedanken und Überzeugungen durcheinander. Jetzt verdoppelte sich der Steinhagel; er öffnete schon den Mund, um »Feuer!« zu schreien – da gingen die Flinten von selber los, zuerst drei Schüsse, [461] dann fünf, dann eine ganze Salve und zuletzt ein einziger Schuß lange nachher mitten in tiefer Stille.

Entsetzen packte die Menge. Die Leute waren starr und wollten es noch nicht glauben, daß die Soldaten geschossen hatten. Doch bald ertönten gellende Schreie, während der Trompeter »Feuer einstellen!« blies. Tolles Entsetzen griff um sich, eine wilde Flucht durch den Schmutz des Werkhofes setzte ein.

Bei den ersten drei Schüssen sanken Bebert und Lydia aufeinander; die Kleine war im Gesicht getroffen, der Knabe hatte eine Wunde unterhalb der linken Schulter empfangen; Lydia war augenblicklich tot; der Knabe bewegte sich noch. Johannes hinkte eben schlaftrunken vom Réquillart herbei und sah die beiden fallen.

Die fünf andern Schüsse hatten die Brulé und den Aufseher Richomme niedergestreckt. In dem Augenblick, da er die Kameraden beschwor, im Rücken getroffen, war er auf die Knie gesunken, dann auf die Seite gefallen; jetzt röchelte er am Boden, die Augen noch voll Tränen, die er geweint. Die Alte war – in den Hals getroffen – steif niedergefallen wie ein Stück trockenen Holzes, einen letzten Fluch mit einem Blutstrom ausspeiend.

Dann war die Salve gekommen und hatte den Platz rein gefegt, auf hundert Schritt Entfernung die Gruppe von Neugierigen niedergemäht, die sich an dem Kampfe ergötzt hatten. Eine Kugel fuhr Mouquet in den Mund; er stürzte zu den Füßen Zacharias' und Philomenes nieder, beide Kinder mit seinem Blut bespritzend. In demselben Augenblick wurde die Mouquette von zwei Kugeln getroffen. Sie hatte die Soldaten anlegen sehen und sich in ihrer Gutmütigkeit mit einer instinktiven Bewegung vor Katharina geworfen und ihr zugerufen, achtzugeben; sie hatte einen lauten Schrei ausgestoßen und war niedergefallen. Etienne war herbeigeeilt, wollte sie aufheben und wegtragen; doch sie gab ihm [462] mit einer Gebärde zu verstehen, daß alles aus sei. Während ihres Todesröchelns hörte sie nicht auf, ihm und Katharina zuzulächeln, als sei sie froh, die beiden zusammen zu sehen, da sie von hinnen schied.

Alles schien vorüber; die Kugeln hatten sich weithin verloren, bis zu den Häuserreihen des Arbeiterdorfes, als ein letzter, einzelner, verspäteter Schuß krachte. Mitten im Herzen getroffen, drehte Maheu sich um sich selbst und fiel mit dem Gesicht in eine schwarze Pfütze.

Frau Maheu bückte sich in sinnloser Angst zu ihm nieder.

»He, Alter, erhebe dich! Es ist doch nichts, wie?«

Da sie wegen Estelle die Hände nicht frei hatte, mußte sie das Kind unter einen Arm schieben, um den Kopf ihres Mannes umwenden zu können.

»Sprich, wo tut es dir weh?«

Seine Augen blickten hohl, der Mund war mit blutigem Schaum gefüllt. Sie begriff, er war tot. Da blieb sie im Schmutz sitzen, das Kind unter dem Arm wie ein Paket, mit blöder Miene ihren toten Mann anstarrend.

Die Grube war jetzt frei. Mit einer nervösen Handbewegung hatte der Hauptmann seine von einem Steinwurf zerrissene Mütze abgenommen und wieder aufgesetzt; er bewahrte seine bleiche Starrheit angesichts des Unglücks, während seine Leute stumm ihre Gewehre luden. Man konnte die erschrockenen Gesichter von Negrel und Dansaert am Fenster des Aufnahmesaales sehen. Hinter ihnen stand Suwarin, die Stirn von einer tiefen Falte durchfurcht. Am Rande der Hochebene stand Bonnemort, noch immer unbeweglich, mit einer Hand auf seinen Stock gestützt, während er die andere an die Augenbrauen legte, um besser zu sehen, wie man da unten die Seinen erwürgte. Die Verwundeten heulten; die Toten erstarrten auf dem vom Tauwetter aufgeweichten Boden, in schwarzen Pfützen. Mitten unter all diesen kleinen, durch das Elend abgemagerten [463] Menschenleichen lag riesengroß und jämmerlich das tote Pferd.

Etienne war nicht umgekommen. Er wartete noch immer neben Katharina, die von Müdigkeit und Herzleid niedergebrochen war, als plötzlich eine schrille Stimme ihn zusammenfahren ließ. Es war der Abbé Ranvier, der von seiner Messe zurückkehrte und, mit der frommen Wut eines Propheten beide Arme erhebend, den Zorn Gottes auf die Mörder herabrief. Er kündigte die Zeit der Gerechtigkeit an, die baldige Ausrottung des Bürgertums, das das Maß seiner Verbrechen vollmachte, indem es die Arbeiter und die Ausgestoßenen dieser Welt niedermetzeln ließ.

Siebenter Teil

Erstes Kapitel

Die in Montsou gefallenen Schüsse wurden in furchtbarem Widerhall bis Paris gehört. Seit vier Tagen waren alle regierungsfeindlichen Zeitungen entrüstet und brachten haarsträubende Schilderungen: fünfundzwanzig Verwundete, vierzehn Tote, darunter zwei Kinder und drei Frauen; außerdem die Gefangenen. Levaque war zu einem Helden geworden; man erzählte sich, daß er dem Untersuchungsrichter eine Antwort von wahrhaft antiker Würde gegeben habe. Das Kaiserreich, von diesen wenigen Kugeln schwer getroffen, hüllte sich in das Schweigen der Allmacht und war sich des Ernstes der ihm zugefügten Schädigung nicht bewußt. Es war einfach ein bedauerlicher Zusammenstoß; eine Sache, die sich weit unten im schwarzen Lande zutrug, fern von Paris, wo die öffentliche Meinung gemacht wurde. Man werde es bald vergessen. Die Gesellschaft erhielt auf halbamtlichem Wege die Weisung, die Geschichte zu unterdrücken und ein Ende zu machen mit diesem Streik, dessen ärgerlich lange Dauer eine soziale Gefahr zu werden drohte.

Man sah denn auch schon am Mittwoch morgen drei Verwaltungsräte in Montsou eintreffen. Das Städtchen, das bis jetzt nicht gewagt hatte, seine Genugtuung über das Gemetzel zu zeigen, atmete auf und genoß die Freude, endlich gerettet zu sein. Das Wetter war schön geworden; es herrschte heller Sonnenschein, dessen Wärme – obgleich man erst im Februar war – die Spitzen des Flieders grün färbte. Im Fabrikhof waren alle Fensterläden geöffnet; neues Leben schien in das weite Gebäude einzuziehen. Es kamen sehr gute [465] Nachrichten; es hieß, die Herren seien sehr betrübt über die Katastrophe und bereit, den verirrten Arbeitern ihre väterlichen Arme zu öffnen. Jetzt, nachdem der Streich geführt war, und zwar stärker als sie gewollt, widmeten sie sich mit voller Hingebung dem Rettungswerk und trafen – allerdings etwas spät – ganz vortreffliche Maßnahmen. Vor allem entließen sie die belgischen Arbeiter und machten großen Lärm von diesem Zugeständnis. Dann hoben sie die militärische Besatzung der Gruben auf, die übrigens von den zu Boden geschmetterten Bergleuten nicht mehr bedroht waren. Sie setzten es auch durch, daß Stillschweigen beobachtet wurde wegen der verschwundenen Schildwache. Man hatte die ganze Gegend durchsucht, ohne die Leiche oder das Gewehr zu finden; man entschloß sich, den Soldaten als fahnenflüchtig zu betrachten, wenngleich man ein Verbrechen vermutete. Sie bemühten sich, die Ereignisse in jeder Hinsicht milder darzustellen; denn sie hatten Angst vor dem kommenden Tag. Dies Versöhnungswerk hinderte sie nicht, reine Verwaltungsgeschäfte abzuwickeln; man hatte Herrn Deneulin wieder im Fabrikhof erscheinen sehen, wo er eine Begegnung mit Herrn Hennebeau hatte. Die Verhandlungen wegen des Ankaufs der Vandamegrube wurden wieder aufgenommen, und man versicherte, daß Deneulin das Angebot der Verwaltungsräte annehme.

Ganz besonders brachten die Gegend in Aufregung große gelbe Anschlagzettel, welche die Verwaltung in Menge an die Mauern schlagen ließ. Man las darauf in sehr großer Schrift die folgenden Zeilen:


»Arbeiter von Montsou!


Wir wollen nicht, daß die Verirrungen, deren traurige Folgen ihr gesehen habt, die gutgesinnten und vernünftigen Arbeiter ihrer Existenzmittel berauben. Wir werden am Montagmorgen alle Gruben wieder öffnen, und wenn die Arbeit aufgenommen ist, werden wir sorgfältig und wohlwollend prüfen, wie die Lage verbessert [466] werden kann. Wir werden alles tun, was recht und möglich ist.«

An einem einzigen Vormittag zogen zehntausend Bergleute an den Anschlagzetteln vorüber. Kein einziger sprach ein Wort; viele schüttelten die Köpfe; andere gingen mit schleppenden Schritten weiter, ohne daß eine Falte in ihrem unbeweglichen Gesicht gezuckt hätte.

Bisher hatte das Dorf der Zweihundertvierzig hartnäckig in seinem trotzigen Widerstand ausgeharrt. Es schien, als habe das Blut der Kameraden allen übrigen den Weg zur Grube verlegt. Kaum zehn Mann waren eingefahren: Pierron und einige Verräter seines Schlages, deren Ein- und Ausfahrt man mit trotziger Miene, aber ohne Bewegung und ohne eine Drohung mit ansah. Der Anschlagzettel an der Kirchenmauer wurde mit Mißtrauen aufgenommen. In ihm war nichts von den Arbeitsbüchern erwähnt; weigerte sich die Gesellschaft etwa, sie zurückzunehmen? Die Furcht vor der Vergeltung, die brüderliche Auflehnung gegen Entlassung der bloßgestellten Kameraden bestärkte sie alle in ihrer Hartnäckigkeit. Die Sache sei verdächtig, sagten sie; man müsse sehen, was daraus werde, wenn die Herren sich offen erklärten. Eine drückende Stille lag auf den niedrigen Häusern; der Hunger war nichts mehr; alle konnten sterben, seitdem der gewaltsame Tod über sie hinweggefahren.

Das Haus der Maheu besonders lag finster und stumm in seiner düsteren Trauer. Seitdem die Maheu ihren Mann zu Grabe getragen, hatte sie den Mund nicht mehr geöffnet. Nach dem Kampf hatte sie geschehen lassen, daß Etienne die halbtote, über und über mit Schmutz bedeckte Katharina in das Elternhaus zurückführte. Etienne schlief bei Johannes, auf die Gefahr hin, verhaftet zu werden, von einem solchen Widerstreben gegen den Gedanken an eine Rückkehr nach der Réquillartgrube erfaßt, daß er das Gefängnis vorzog; ein Schauder schüttelte ihn, das Entsetzen vor der [467] Nacht nach so vielen Morden, die uneingestandene Furcht vor dem kleinen Soldaten, der dort unter den Felsen schlief. In dem Kummer über seine Niederlage erschien ihm übrigens das Gefängnis wie ein Zufluchtsort; doch man behelligte ihn nicht, und er brachte seine Stunden trostlos hin; er wußte nicht, wie er seinen Körper ermüden sollte. Zuweilen betrachtete die Maheu beide, ihn und ihre Tochter, mit grollender Miene, die zu fragen schien, was sie in ihrem Hause suchten.

Jetzt schnarchten wieder alle; Vater Bonnemort hatte das frühere Bett der beiden Kleinen, die jetzt bei Katharina schliefen, weil die arme Alzire nicht mehr ihren Höcker der großen Schwester in die Seiten stieß. Erst wenn alle schlummerten, fühlte die Mutter so recht die Leere des Hauses. Vergebens nahm sie Estelle zu sich, es war kein Ersatz für ihren Mann. Stundenlang weinte sie still vor sich hin. Dann vergingen die Tage wie ehedem; man hatte noch immer kein Brot und auch keine Aussicht zu sterben; rechts und links ward allerlei Zeug aufgelesen, das den Bejammernswerten den Dienst erwies, ihr Leben zu verlängern.

Am Nachmittag des fünften Tages verließ Etienne, gequält durch den Anblick des stillen Weibes, die Wohnstube und ging mit langsamen Schritten die gepflasterte Straße des Dorfes hinab. Die Untätigkeit, die ihn bedrückte, drängte ihn zu unaufhörlichen Spaziergängen, bei denen er, immer von dem nämlichen Gedanken heimgesucht, mit hängenden Armen und gesenktem Kopf dahinschritt. Er mochte so seit einer halben Stunde auf der Straße fortgegangen sein, als erhöhtes Unbehagen ihn merken ließ, daß die Kameraden vor die Haustüren traten und ihm nachsahen. Das wenige, was ihm von seiner Volkstümlichkeit noch geblieben, war mit den Schüssen verflogen; er konnte nicht mehr durch die Straße gehen, ohne haßerfüllten Blicken zu begegnen. Wenn er das Haupt erhob, sah er Männer in drohender Haltung auf der Schwelle der [468] Haustüren; die Weiber schoben die Vorhänge von den Fenstern weg, um hinauszuschauen; und unter dieser stummen Anklage, dem unterdrückten Zorn, der aus diesen großen, durch Hunger und Tränen erweiterten Augen funkelte, verlor er seine Fassung und die Sicherheit seines Ganges. Die stummen Vorwürfe wuchsen immer mehr an. Angesichts dieses ganzen Dorfes, das auf die Straße herauskam, um ihm sein Elend ins Gesicht zu schreien, wurde er von solcher Furcht erfaßt, daß er zusammenfuhr und den Rückweg antrat.

Doch die Szene, die ihn erwartete, verstörte ihn vollends. Der alte Bonnemort saß neben dem Kamin, auf seinem Sessel festgenagelt, seitdem zwei Nachbarn am Tage des Gemetzels ihn neben seinem zersplitterten Stabe, wie einen vom Blitz gefällten Baum, auf der Erde liegend gefunden hatten. Während Leonore und Heinrich mit betäubendem Geräusch eine alte Schüssel auskratzten, in der am vorhergehenden Tage Kohl gekocht worden, drohte die Maheu, die aufrecht vor dem Tisch stand, auf den sie Estelle gelegt hatte, ihrer Tochter Katharina mit der Faust.

»Sag' das noch einmal!« schrie sie.

Katharina hatte ihre Absicht ausgesprochen, nach der Voreuxgrube zurückzukehren. Der Gedanke, ihr Brot nicht selbst zu erwerben, bei ihrer Mutter nur geduldet zu sein wie ein lästiges, unnützes Tier, wurde ihr mit jedem Tage unerträglicher. Hätte sie nicht einen bösen Streich von Chaval gefürchtet, sie wäre schon am Dienstag eingefahren.

»Was willst du? Man kann nicht müßig leben«, stammelte sie. »Wir haben dann wenigstens Brot.«

Die Maheu unterbrach sie.

»Höre, ich erwürge den ersten von euch, der zur Arbeit zurückkehrt ... Den Vater töten und dann die Kinder ausbeuten! Es ist genug; lieber will ich euch alle zwischen vier Brettern hinausgetragen sehen!«

Nach ihrem langen Stillschweigen machte sich ihr Zorn in einer Flut von Worten Luft. Was Katharina[469] bringen könnte, würde sehr wenig nützen: kaum dreißig Sous, zu denen noch zwanzig Sous hinzukämen, wenn die Vorgesetzten für den Banditen Johannes irgendeine Arbeit fänden. Fünfzig Sous, um sieben Mäuler zu stopfen! Die kleinen Kinder seien nur gut dazu, Suppe zu fressen. Beim Großvater müsse etwas im Gehirn geplatzt sein, denn er scheine ganz schwachsinnig; oder der Schlag habe ihn gerührt, als er die Soldaten auf die Kameraden schießen sah.

»Nicht wahr, Alter, sie haben Euch vollends heruntergebracht? Es nützt Euch nichts, daß Ihr noch starke Fäuste habt; Ihr seid ›fertig‹?«

Bonnemort schaute sie mit erloschenen Augen an, ohne zu verstehen. Er verharrte so stundenlang mit starren Blicken; er hatte nur noch soviel Verstand, in eine mit Sand gefüllte Platte zu speien, die man ihm der Reinlichkeit halber hingestellt hatte.

»Sie haben auch seine Pension nicht geregelt«, fuhr sie fort; »ich bin überzeugt, sie werden ihm seine Altersversorgung wegen unseres Verhaltens vorenthalten.«

»Aber«, fiel Katharina ein, »sie versprechen doch auf dem Anschlagzettel ...«

»Laß mich in Frieden mit dem Anschlagzettel ... Das ist wieder nur ein Köder, um uns zu fangen. Sie wollen jetzt die Wohltäter spielen, nachdem sie uns die Haut durchlöchert haben.«

»Aber wo gehen wir hin, Mutter? Man wird uns sicher nicht im Dorf behalten ...«

Die Maheu machte eine ungewisse Gebärde. Wohin sie gehen würden? Sie wußte es nicht und dachte auch nicht darüber nach, denn es raubte ihr den Verstand. Sie würden anderswohin, irgendwohin gehen. Da der Lärm mit der Schüssel zu arg wurde, fiel sie über die Kleinen her und prügelte sie. Estelle, die auf allen vieren kroch, fiel, und ihr Geschrei vermehrte noch den Lärm. Die Mutter schrie sie an, um sie still zu machen. Welch ein Glück wäre es gewesen, wenn die [470] Kleine sich zu Tode gefallen hätte! Sie sprach von Alzire und wünschte den anderen Kindern dasselbe Schicksal. Dann plötzlich brach sie in Schluchzen aus und weinte – den Kopf an die Wand gelehnt – lange vor sich hin.

Etienne stand mitten in der Stube; er hatte nicht den Mut sich einzumengen. Er galt im Hause nichts mehr; selbst die Kinder wichen mißtrauisch vor ihm zurück. Aber die Tränen dieses unglücklichen Weibes bedrückten ihm das Herz.

»Mut, Mut!« sagte er tröstend. »Wir werden versuchen, wieder hochzukommen.«

Sie schien ihn nicht zu hören und fuhr in ihrer leisen Klage fort.

»Ist's denn möglich? Vor diesen Schreckenstagen ging es noch. Man aß sein trockenes Brot, aber man war doch beisammen ...Was haben wir getan, daß so schweres Leid über uns gekommen ist? Daß die einen unter der Erde liegen und die andern nichts sehnlicher wünschen, als ebenfalls dahinzukommen? ... Man spannte uns wie Pferde vor die Arbeit; es war keine gerechte Teilung, daß wir die Stockstreiche empfingen, das Vermögen der Reichen vermehren halfen ohne Hoffnung, jemals etwas Gutes zu genießen. Man hat keine Lust zu leben, wenn man keine Hoffnung mehr hat. Ja, es konnte so nicht länger dauern ... Und doch, wenn man gewußt hätte! Ist es möglich, daß man so unglücklich werden kann, weil man Gerechtigkeit wollte?«

Ihre Stimme erstarb in unendlicher Trauer.

»Immer sind Schlauköpfe da, die einem versprechen, daß alles wieder gut wird, wenn man sich Mühe gibt ... Man setzt sich allerlei Dinge in den Kopf und leidet soviel durch das, was ist, daß man nach dem verlangt, was nicht ist. Ich träumte und sah ein Leben der Freundschaft mit aller Welt; ich schwebte in der Luft zu den Wolken empor. Da fällt man in den Schmutz und zerbricht sich die Knochen. Das Elend kam, mehr als man wollte, und Flintenschüsse dazu ...«

[471] Etienne wußte nicht, was er sagen sollte, um Frau Maheu zu beruhigen, die ganz gebrochen schien. Sie war mitten in die Stube getreten, schaute ihm ins Gesicht und rief in einer letzten Aufwallung irrer Wut:

»Und was ist's mit dir? Redest du auch davon, zur Grube zurückzukehren, nachdem du uns alle ins Unglück gebracht hast? ... Ich will dir keinen Vorwurf machen, aber an deiner Stelle wäre ich schon tot vor Kummer darüber, soviel Elend über die Kameraden gebracht zu haben!«

Er wollte antworten; doch begnügte er sich, mit verzweifelter Miene die Achseln zu zucken. Wozu sollte er ihr Erklärungen geben, die sie in ihrem Schmerze nicht verstehen würde? Weil ihn das Leid zu sehr bedrückte, ging er fort und nahm seine ziellose Wanderung wieder auf.

Das Dorf schien ihn noch immer zu erwarten, die Männer auf den Türschwellen, die Weiber an den Fenstern. Sobald er sich zeigte, ging ein Gemurmel durch die Menge, das immer mehr anwuchs. Das Gerede der Klatschbasen schwoll seit vier Tagen an und brach jetzt in einer allgemeinen Verwünschung los. Fäuste wurden nach ihm ausgestreckt; Mütter zeigten ihn ihren Söhnen mit wütender Gebärde; die Alten spien aus, als sie ihn erblickten. Es war der Umschwung nach der Niederlage, die verhängnisvolle Kehrseite der Volkstümlichkeit; ein Abscheu, verschärft durch alle Leiden, die man zu ertragen hatte. Er sollte ihnen Hunger und Tod entgelten.

Zacharias, der eben mit Philomene ankam, stieß Etienne an, als dieser aus dem Hause heraustrat. Er grinste höhnisch und rief in boshaftem Ton:

»Schau, wie fett er wird! Die Not der andern scheint ihn zu mästen!«

Schon erschien die Levaque, von Bouteloup begleitet, auf der Schwelle ihrer Haustür. Sie zeterte über Bebert, ihren Knaben, den eine Kugel niedergestreckt hatte.

[472] »Ja, es gibt Feiglinge, welche die Kinder niedermetzeln lassen!« schrie sie. »Mag er das meine aus der Erde holen, wenn er es mir wiedergeben will!«

Sie hatte ihren Mann vergessen, der eingesperrt war; im Haushalt trat keine Stockung ein, denn Bouteloup war da. Doch jetzt erinnerte sie sich und fuhr mit schriller Stimme fort:

»Die Schurken sieht man lustwandeln, während die rechtschaffenen Leute eingesperrt sind!«

Als Etienne ihr ausweichen wollte, begegnete er Frau Pierron, welche durch die Gärten herbeieilte. Sie hatte den Tod ihrer Mutter wie eine Erlösung begrüßt, denn die Heftigkeit der Alten hatte dem Ehepaar viel Verdruß verursacht; sie weinte auch nicht um die Tochter ihres Mannes; sie war froh, sie los zu sein. All dies hinderte sie aber nicht, es jetzt mit den Nachbarinnen zu halten; es war eine Gelegenheit, sich mit ihnen auszusöhnen.

»Und meine Mutter? Sprich! Und das Kind! Man hat dich gesehen, wie du dich hinter ihnen verstecktest, als sie statt deiner die Kugeln empfingen!«

Was sollte er tun? Die Pierron und die anderen erdrosseln, es mit dem ganzen Dorf aufnehmen? Einen Augenblick hatte er Lust dazu. Das Blut stieg ihm zu Kopf. Abscheu ergriff ihn, als er sich ohnmächtig sah, und er begnügte sich die Schritte zu beschleunigen, als sei er taub gegen alle Verwünschungen. Doch sein Gang wurde bald zur Flucht; aus jedem Hause flogen ihm Beschimpfungen zu, man war wütend hinter ihm her; ein ganzes Volk verfluchte ihn mit immer mächtiger anschwellender Stimme in überströmendem Haß. Er war der Ausbeuter, der Mörder, die einzige Ursache alles Unglücks. Bleich und seiner Sinne nicht mehr mächtig, rannte er aus dem Dorf, die heulende Bande hinter ihm her. Auf der Straße ließen viele von ihm ab, einige jedoch waren hartnäckig und hielten aus; da, vor der Schenke »Zum wohlfeilen Trunk«, stieß er auf eine andere Gruppe, die aus dem Voreuxschacht kam.

[473] Der alte Mouquet und Chaval waren dabei. Seit dem Tode seiner Tochter Mouquette und seines Sohnes Mouquet hatte der Alte seinen Stallwärterdienst fortgesetzt, ohne ein Wort des Bedauerns oder der Klage hören zu lassen. Doch als er Etienne bemerkte, wurde er von Wut geschüttelt, Tränen stürzten aus seinen Augen, und eine Flut von Schimpfreden kam aus seinem schwarzen, blutigen Mund.

»Halunke! ... Wart'! Du sollst mir meine armen Kinder entgelten! Du mußt ihnen nach!«

Er hob einen Ziegel auf, zerbrach ihn und schleuderte die beiden Stücke nach Etienne.

»Ja, ja, wir wollen ihn fassen!« rief Chaval höhnisch, voll Freude über diese Rache. »Jeder kommt an die Reihe ... Nun klebst du an der Mauer, schmutziger Lumpenkerl!«

Auch er stürzte sich mit Steinwürfen auf Etienne. Ein wildes Geschrei erhob sich; alle ergriffen Ziegel, zerbrachen und schleuderten sie nach ihm, um ihn zu töten, wie sie die Soldaten morden wollten. Er hatte den Kopf verloren und floh nicht mehr; er hielt ihnen stand und suchte sie zu beschwichtigen. Er wiederholte die Worte, mit denen er sie betäubt hatte zu jener Zeit, da er sie in seiner Gewalt hatte wie eine Herde; allein seine Macht war tot, Steine waren die Antwort. Da traf ihn ein Wurf am linken Arm; er wich zurück, die Gefahr war groß, er war gegen die Mauer des Wirtshauses gedrängt worden.

Seit einer Weile stand Rasseneur auf der Schwelle.

»Komm herein!« sagte er einfach.

Etienne zögerte; es bedrückte ihn, hier Zuflucht zu suchen.

»Komm herein; ich will mit den Leuten reden.«

Er entschloß sich und verbarg sich im Hintergrund des Saales, während der Schankwirt mit seinen breiten Schultern den Eingang verstellte.

»Hört, meine Freunde, nehmt doch Vernunft an! ... Ihr wißt wohl, daß ich euch niemals getäuscht habe.[474] Ich war stets für die Ruhe; hättet ihr mir Gehör geschenkt, ihr wärt heute gewiß nicht dort, wo ihr seid.«

Die Schultern und den Leib wiegend, sprach er lange in diesem Ton; seine leichte Beredsamkeit sprudelte wohltuend und besänftigend hervor wie warmes Wasser. Sein ehemaliger Erfolg stellte sich wieder ein; er gewann seine Volkstümlichkeit wieder ohne Anstrengung, als hätten die Kameraden einen Monat früher ihn nicht verhöhnt und einen Feigling geschimpft. Einzelne Stimmen gaben ihm recht. Sehr gut! Man halte zu ihm, hieß es. So müsse man reden. Alle klatschten ihm Beifall.

Etienne fühlte die Kräfte schwinden und das Herz sich mit Bitternis füllen. Er erinnerte sich, was Rasseneur im Walde ihm vorausgesagt, wie er ihm mit dem Undank der Menge gedroht hatte. Welch blöde Roheit, welch schmähliches Vergessen der geleisteten Dienste! Er erinnerte sich, daß unter den Buchen des Waldes von Vandame dreitausend Herzen bei seinen Worten höher geschlagen hatten. An jenem Tage gehörte dies Volk ihm; er fühlte sich als Herr. Wahnsinnige Träume hatten ihn damals betäubt; Montsou lag zu seinen Füßen; er sah sich als Abgeordneten in Paris, die Bürger mit einer Rede zu Boden schmetternd, der erste Arbeiter auf der Parlamentstribüne. Jetzt war's aus! Er erwachte als ein Erbärmlicher und Verachteter; sein Volk schickte ihn mit Steinwürfen heim.

Rasseneurs Stimme erhob sich von neuem:

»Die Gewalt hat niemals zu einem Erfolg geführt; man kann die Welt nicht in einem Tage ändern. Die euch versprochen haben, alles mit einem Schlage zu ändern, sind Spaßvögel oder Schurken.«

»Bravo! Bravo!« schrie die Menge.

Wer war also der Schuldige? Diese Frage, die Etienne sich vorlegte, drückte ihn nieder. Dies Unglück, unter dem er selbst blutete; das Elend der einen, der Tod der andern, das Darben der Weiber und der [475] Kinder: war all dies wirklich seine Schuld? Er hatte sie niemals geleitet; vielmehr waren sie es, die ihn führten, die ihn nötigten, Dinge zu tun, die er ohne das ungestüme Drängen der Menge nicht getan hätte. Bei jeder neuen Gewalttat hatte er unter dem verblüffenden Eindruck der Ereignisse gestanden, er hatte keines vorausgesehen oder gewollt. Konnte er darauf gefaßt sein, daß seine Kameraden ihn eines Tages steinigen würden? Er fühlte, daß es mit seinem Mut zu Ende sei; er war nicht mehr einig mit seinen Kameraden; er hatte Furcht vor ihnen, vor dieser ungeheuren, blinden, unwiderstehlichen Masse, die wie eine Naturgewalt daherzog. Der Widerwille hatte ihn allmählich vom Volke losgelöst, das Unbehagen seines verfeinerten Geschmacks, das langsame Emporstreben seines ganzen Wesens zu einer höheren Gesellschaftsklasse.

In diesem Augenblick verlor sich Rasseneurs Stimme in dem begeisterten Geschrei der Menge.

»Hoch Rasseneur! Bravo! Bravo!«

Der Schankwirt schloß die Tür, während die Menge sich draußen zerstreute. Die beiden Männer betrachteten einander stillschweigend und zuckten die Achseln. Schließlich tranken sie zusammen einen Schoppen. –

Am nämlichen Tage wurde ein großes Festmahl in der Piolaine veranstaltet. Man feierte die Verlobung von Negrel und Cäcilie. Die Grégoire hatte am vorhergehenden Tage den Fußboden des Speisezimmers frisch wichsen und die Möbel des Salons abstauben lassen. Melanie herrschte in der Küche, überwachte die Braten, rührte die Tunken, deren Geruch bis zum Dachboden emporstieg. Niemals hatte solcher Aufwand von Prunk dies patriarchalische und ernste Hauswesen aus dem Alltagsgeleise gebracht.

Alles ging trefflich vonstatten. Frau Hennebeau zeigte sich überaus liebenswürdig gegen Cäcilie und lächelte Negrel zu, als der Notar von Montsou die Gesellschaft einlud, auf das Wohl des Brautpaares zu trinken. Auch Herr Hennebeau war sehr liebenswürdig. Seine lachende [476] Miene fiel den Gästen auf; man erzählte sich, daß er bei der Bergwerksverwaltung wieder in Gunst stehe und demnächst Offizier der Ehrenlegion werden solle zum Lohne für die tatkräftige Art, wie er den Streik niedergeschlagen hatte. Man vermied es, von den letzten Ereignissen zu sprechen; aber das Festmahl gestaltete sich zu einer öffentlichen Siegesfeier. Endlich war man befreit; man konnte wieder in Ruhe essen und schlafen. Doch fiel eine versteckte Anspielung auf die Toten, deren Blut der Boden im Werkhof von Voreux noch nicht völlig eingesogen hatte, und alle wurden von Rührung ergriffen, als die Grégoire hinzufügten, daß jetzt jedermann die Pflicht habe, die Arbeiterdörfer aufzusuchen und die Wunden zu verbinden.

Deneulin war mit seinen beiden Töchtern da. Er bemühte sich, inmitten des allgemeinen Frohsinns den Kummer über seinen Ruin zu verbergen. Am Morgen hatte er den Vertrag über den Verkauf seines Unternehmens an die Gesellschaft von Montsou unterschrieben. An die Wand gedrückt, hatte er sich den Bedingungen des Verwaltungsrates gefügt, ihnen endlich die Beute, auf die sie so lange gelauert hatten, für einen Betrag überlassen, der kaum hinreichte, seine Gläubiger zu befriedigen. Er hatte sogar im letzten Augenblick ihr Anerbieten angenommen, als Abteilungsingenieur in ihre Dienste zu treten; er entschloß sich, als bezahlter Beamter jenes Bergwerk zu überwachen, in dem sein Vermögen begraben lag. Er allein zahlte die Kosten des Streiks; er fühlte wohl, daß man auf sein Unglück trank, als man Herrn Hennebeau feierte, und schöpfte nur Trost aus dem Mut seiner Töchter, die reizend aussahen in ihren aufgefrischten Toiletten und über ihren Ruin lachten wie hübsche Mädchen, die sich aus Geld nichts machen.

Als man in den Salon hinüberging, um dort den Kaffee zu nehmen, führte Herr Grégoire seinen Vetter beiseite und beglückwünschte ihn zu seinem mutigen Entschluß.

[477] »Was willst du? Dein einziger Fehler war der, daß du deinen Anteil an Montsou, eine Million, in Vandame riskiertest. Du hast dich furchtbar geplagt, und das Geld ist in dieser Hundearbeit draufgegangen, während das meine ruhig im Schrank geblieben ist und mich schön ernährt, ohne daß ich eine Hand zu rühren brauche, wie es noch die Kinder meiner Enkelkinder ernähren wird.«

Zweites Kapitel

Als die Sonntagnacht hereinbrach, schlich Etienne zum Dorf hinaus. Ein klarer, gestirnter Himmel verbreitete blaues Dämmerlicht über die Erde. Er ging zum Kanal hinab und folgte langsam der Böschung in der Richtung nach Marchiennes. Es war sein Lieblingsspaziergang, ein grasbewachsener Weg von zwei Meilen Länge, neben der mit geometrischer Genauigkeit gezogenen Linie des Kanals, der gleich einem endlosen Stück flüssigen Silbers dahinströmte.

Hier begegnete er niemals einem Menschen. Er war deshalb auch unangenehm überrascht, als er an diesem Abend einen Mann auf sich zukommen sah. Im fahlen Licht der Sterne erkannten die beiden einsamen Spaziergänger sich erst, als sie einander gegenüberstanden.

»Du bist's!« flüsterte Etienne.

Suwarin nickte, ohne zu antworten. Einen Augenblick standen sie unbeweglich; dann setzten sie Seite an Seite den Weg nach Marchiennes fort. Jeder schien seine Gedanken fortzuspinnen, als seien sie sehr weit voneinander.

»Hast du von den Pariser Erfolgen Plucharts in der Zeitung gelesen?« fragte endlich Etienne. »Man brachte ihm laute Ehrenbezeigungen dar, als er die Versammlung in der Vorstadt Belleville verließ ... Der Mann ist glücklich trotz seines ewigen Schnupfens; er wird seinen Weg machen.«

[478] Der Maschinist zuckte mit den Achseln. Er verachtete die Schönredner, diese Kerle, die in die Politik eintreten, um mit Redensarten Geld zu werben.

Gesenkten Hauptes ging er auf dem feinen Grase dahin, in seine Gedanken so versunken, daß er am äußersten Rande des Wassers wandelte mit der ruhigen Sicherheit eines Menschen, der auf dem Dach eingeschlafen ist und neben der Rinne liegend sich seinen Träumen überläßt. Dann fuhr er plötzlich zusammen, scheinbar ohne Ursache, als sähe er einen Schatten. Er blickte auf mit seinem bleichen Gesicht und sagte leise zu seinem Genossen:

»Habe ich dir erzählt, wie sie gestorben ist?«

»Wer?«

»Mein Weib, in Rußland.«

Etienne machte eine ausweichende Gebärde, erstaunt über das Zittern der Stimme und das Bedürfnis nach Vertraulichkeit bei diesem sonst so unempfindlichen Menschen, der in stoischer Abgeschiedenheit von den anderen lebte. Er wußte nur, daß man sein Weib in Moskau gehängt hatte.

»Die Sache war nicht gelungen«, erzählte Suwarin, auf den weißen Lauf des Kanals blickend, der sich zwischen den Reihen der großen, dunklen Bäume verlor. »Wir hatten zwei Wochen in einem Loch zugebracht, um die Eisenbahn zu untergraben; aber nicht der kaiserliche Zug flog in die Luft, sondern ein mit Reisenden gefüllter ... Dann wurde Annuschka verhaftet. Sie hatte uns, als Bäuerin verkleidet, jeden Abend Brot gebracht. Sie hatte auch die Lunte angezündet, weil man einen Mann leichter hätte bemerken können. Unter der Menge verborgen, folgte ich den Prozeßverhandlungen sechs lange Tage.«

Seine Stimme stockte; er wurde von einem Hustenanfall ergriffen und drohte zu ersticken.

»Zweimal drängte es mich aufzuschreien; ich wollte über die Köpfe hinwegspringen, um zu ihr zu gelangen. Aber was hätte es genützt? Ein Mann weniger [479] bedeutet einen Streiter weniger; und ich merkte wohl, daß sie mir ›Nein!‹ gebot mit ihren starren Blicken, die den meinigen begegneten.«

Er hustete wieder.

»Auch auf der Richtstätte fand ich mich ein. Es regnete, und die Ungeschickten verloren darüber den Kopf. Sie brauchten zwanzig Minuten, um vier andere zu hängen; der Strick riß, und sie konnten mit dem vierten nicht fertig werden ... Annuschka stand dabei und wartete. Sie suchte mich in der Menge. Ich war auf einen Eckstein gestiegen, da sah sie mich; unsere Blicke verließen einander nicht mehr. Als sie tot war, schaute sie mich noch immer an ... Ich lüftete den Hut zum letzten Gruß und ging.«

Wieder trat Stille ein. Die weiße Linie des Kanals zog sich endlos hin; beide gingen mit gedämpften Schritten, jeder in Gedanken verloren. Das bleiche Wasser schien am Horizont in einem kleinen, hellen Strich zu endigen.

»Es war unsere Strafe«, fuhr Suwarin in hartem Tone fort. »Unsere Liebe war unsere Sünde ... Es ist gut, daß sie tot ist; aus ihrem Blut werden Helden erstehen; ich aber werde keine Liebe mehr im Herzen haben; keinen Anverwandten, kein Weib, keinen Freund; nichts, was die Hand beben macht an dem Tage, da es gilt, anderen das Leben zu nehmen oder das eigene hinzugeben.«

Etienne war fröstelnd stehengeblieben. Er ließ sich mit dem andern in keine Erörterung ein; er sagte bloß:

»Wir sind weit gegangen; wollen wir umkehren?«

Sie schritten langsam nach dem Voreuxschacht zurück. Nach einiger Zeit setzte er hinzu:

»Hast du die neuen Anschlagzettel gelesen?«

Es waren große gelbe Plakate, welche die Gesellschaft am Morgen hatte anschlagen lassen. Sie führte darin eine deutlichere und versöhnlichere Sprache; sie erklärte sich bereit, die Arbeitsbücher der Bergleute zurückzunehmen, die am nächsten Morgen einfahren[480] würden. Alles sollte vergessen sein; selbst den am meisten Bloßgestellten sollte verziehen werden.

»Ja, ich habe sie gesehen«, antwortete der Maschinist.

»Und wie denkst du darüber?«

»Ich denke, daß alles aus ist ... Die Herde wird wieder einfahren. Ihr alle seid viel zu feige.«

Etienne verteidigte erregten Tones die Kameraden. Ein Mann kann tapfer sein; eine Menge, die Hungers stirbt, ist machtlos. Langsamen Schrittes waren sie bei dem Schacht angekommen. Angesichts der dunklen Masse der Grube fuhr er fort und erklärte, er seinerseits werde nicht mehr einfahren; aber er verzeihe allen, die es täten. Weil das Gerücht ging, daß die Zimmerleute nicht Zeit genug hatten, die Verzimmerung auszubessern, wollte er darüber Näheres wissen. War es so? Der Druck der Erdmasse gegen die Hölzer sollte diese im Innern dermaßen herausgedrängt haben, daß eine der Förderschalen in einer Länge von fünf Meter die Wände streifte. Suwarin war wieder still geworden und gab ihm nur knappe Antworten. Er habe gestern noch gearbeitet, die Schale streife in der Tat die Wände. Die Maschinisten müßten sogar die Geschwindigkeit verdoppeln, um an dieser vorüberzukommen. Aber alle Vorgesetzten hätten für diese Bemerkungen nur eine und dieselbe gereizte Antwort: Man wolle Kohle haben; die Verbesserungen kämen später.

»Du siehst, alles geht aus den Fugen«, murmelte Etienne. »Es kann lustig werden.«

Die Augen auf die Grube gerichtet, die im Dunkel der Nacht nur undeutlich zu sehen war, schloß Suwarin in ruhigem Ton:

»Wenn alles aus den Fugen geht, laß die Kameraden es wissen, wenn du ihnen rätst einzufahren.«

Im Kirchturm von Montsou schlug es neun Uhr; und als sein Gefährte sagte, daß er heimkehre, um zu Bett zu gehen, fügte Suwarin hinzu, ohne dem andern die Hand zu reichen:

»Nun denn, lebe wohl! Ich reise.«

[481] »Wie, du reist?«

»Ja, ich habe mein Arbeitsbuch zurückgefordert und gehe anderswohin.«

Etienne sah ihn erstaunt und erregt an. Nach einem gemeinsamen Spaziergang von zweistündiger Dauer sagte er ihm das mit ganz ruhiger Stimme, während ihm – Etienne – die bloße Ankündigung dieser plötzlichen Trennung das Herz zusammenschnürte. Man hatte Bekanntschaft gemacht, man hatte zusammen gearbeitet: es war traurig, daß sie einander nicht mehr sehen sollten.

»Du reist ab; und wohin gehst du?«

»Fort; ich weiß es nicht.«

»Und werde ich dich wiedersehen?«

»Nein; ich glaube nicht.«

Sie schwiegen und standen einen Augenblick wortlos einander gegenüber.

»So lebe wohl!«

»Lebe wohl!«

Während Etienne zum Dorf hinanstieg, machte Suwarin kehrt und ging zum Kanalufer zurück. Er war jetzt allein und wandelte ziellos dahin; gesenkten Hauptes verlor er sich ins nächtliche Dunkel. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und zählte die Schläge der Uhr im fernen Kirchturm. Um Mitternacht verließ er das Ufer und lenkte seine Schritte zum Voreuxschacht.

Zu dieser Stunde war die Grube menschenleer; er fand nur einen schlaftrunkenen Aufseher. Die Maschine sollte erst um zwei Uhr zur Aufnahme der Arbeit geheizt werden. Zunächst ging er hinauf und nahm aus einem Schrank einen Kittel, den er dort vergessen zu haben vorgab. Verschiedene Werkzeuge, ein Schraubenzieher, eine kleine, sehr starke Säge, ein Hammer und ein Meißel waren in diesen Kittel eingewickelt. Dann ging er wieder fort; aber anstatt durch die Baracke hinauszugehen, schlüpfte er in den engen Gang, der zum Leiternschacht führte. Den Kittel unter dem Arm haltend, stieg er hinab, ganz sacht, ohne Lampe, durch [482] Zählen der Leitern die Tiefe messend. Er wußte, daß die Schale in einer Tiefe von dreihundertvierundsiebzig Meter den fünften Durchlaß der unteren Verzimmerung streifte. Als er vierundfünfzig Leitern hinabgestiegen war, tastete er mit der Hand und fühlte die Anschwellung der Hölzer. Da war es.

Mit der Geschicklichkeit und Kaltblütigkeit eines guten Arbeiters, der über sein Werk lange nachgedacht, machte er sich an die Arbeit. Er begann damit, ein Feld in der Holzwand des Schachtes durchzusägen, um eine Verbindung mit der Aufzugsabteilung herzustellen. Bei dem schnell verflackernden Lichte von Zündhölzchen konnte er den Zustand der Verzimmerung und die in der letzten Zeit vorgenommenen Ausbesserungen erkennen.

Zwischen Calais und Valenciennes hatte man seinerzeit in den Schächten unerhörte Schwierigkeiten zu überwinden, denn es galt, durch die Wassermassen zu kommen, die sich in der Tiefe gleich endlosen Seen ausbreiteten. Nur die Konstruktion der Verzimmerung, die Balken, die wie Dauben eines Fasses aneinandergefügt wurden, vermochte die Schächte zu isolieren inmitten der Seen, deren dunkle Fluten an die Wände schlugen. Im Voreuxschacht hatte man zwei Verzimmerungen anlegen müssen, die des oberen Teils, wo Sand und Lehm, mit Wasser getränkt wie ein Schwamm, das kreidige, nach allen Richtungen zerrissene Erdreich umgaben: dann die des unteren Teils, direkt oberhalb des kohlenhaltigen Bodens, wo feiner, gelber Sand rieselte, als sei er flüssig. Hier befand sich das unterirdische Meer, der Schrecken aller Kohlengruben im Norden, ein Meer mit Stürmen, ein unbekanntes, unergründliches Meer, das in einer Tiefe von mehr als dreihundert Meter unter der Erdoberfläche seine dunklen Fluten wälzte. Gewöhnlich waren die Verzimmerungen stark genug, um den ungeheuren Druck auszuhalten; man hatte nichts zu fürchten als eine Senkung des benachbarten Erdreichs. Durch das Sinken der Felsen [483] entstanden zuweilen Risse, die sich allmählich bis zum Gebälk ausdehnten, das sie aus der Form brachten, indem sie es nach dem Innern des Schachtes drängten. Darin lag eben die Gefahr; es drohte ein Einsturz oder ein Wassereinbruch, die Grube konnte verschüttet oder ersäuft werden.

Suwarin, der rittlings in der von ihm gemachten Öffnung saß, stellte eine sehr ernste Verschiebung fest. Die Hölzer legten sich bauchig vor; mehrere traten sogar aus dem Gefüge. Durch die Risse, die man mit geteertem Werg zu verstopfen suchte, brach reichliches Sickerwasser. Von der knappen Zeit gedrängt, hatten die Zimmerleute sich begnügt, in den Winkeln Haken anzubringen; doch war diese Arbeit so oberflächlich gemacht, daß nicht überall Schrauben befestigt waren. Im Sande hinter dem Holz war augenscheinlich eine lebhafte Bewegung eingetreten.

Suwarin machte sich daran, mit dem Schraubenschlüssel die Schrauben der Winkelhaken zu lockern, so daß ein erneuter Druck sie alle losreißen mußte; ein tollkühnes Beginnen, bei dem er zwanzigmal Gefahr lief, in eine Tiefe von hundertachtzig Meter abzustürzen. Er mußte sich an den Leitpfosten der Schalen festhalten; über dem Schlund schwebend, kroch er auf den Querbalken fort, welche diese Leitpfosten in bestimmten Zwischenräumen verbanden; bald lag er auf dem Bauch, bald saß er, bald bog er sich zurück, auf einen Ellbogen oder auf ein Knie gestützt, in ruhiger Mißachtung des Todes. Ein Luftzug würde genügt haben, ihn fortzureißen; dreimal glitt er ab und hielt sich wieder fest, ohne auch nur zu zucken. Zuerst tastete er mit der Hand, dann arbeitete er, ein Zündhölzchen anzündend, wenn er sich inmitten der glitschigen Balken verirrte. Nachdem er die Schrauben gelockert, machte er sich an die Hölzer selbst, und jetzt war die Gefahr für ihn noch größer. Er hatte den »Schlüssel« gesucht, das ist das Stück, das die übrigen stützte; dieses bearbeitete er eifrig; er durchbohrte es, durchsägte es, [484] verkleinerte es, damit es seine Widerstandskraft einbüße, wobei das durch die Löcher und Risse in dünnen Strahlen hervorschießende Wasser ihn blendete und durchnäßte. Zwei Zündhölzchen erloschen, die übrigen wurden unbrauchbar; es war Nacht, ein bodenloser Abgrund von Finsternis.

Von diesem Augenblick an bemächtigte sich seiner die Wut. Der Atem des Unsichtbaren betäubte ihn; das dumpfe Entsetzen vor diesem Loch, in das der Platzregen sich ergoß, versetzte ihn in Zerstörungswahnsinn. Er stürzte sich blindlings auf die Verzimmerung, hieb aufs Geratewohl los, wohin er traf, mit Meißel, Hammer und Säge, von der Gier ergriffen, das Gebälk über seinem Haupte zu zerstören. Er überließ sich dabei der Wollust, als wühle er mit seinem Messer im Fleisch eines lebenden Wesens, das er verabscheute. Er wollte es endlich töten, dies bösartige Tier Voreux mit dem aufgesperrten Rachen, der soviel Menschenfleisch verschlungen hatte. Wo seine Werkzeuge ansetzten, knirschte es laut; er streckte den Rücken, er kroch hin und her, stieg hinab und hinauf, wie durch ein Wunder sich festhaltend in dieser fortwährenden Erschütterung, gleich einem Nachtvogel im Gebälk eines Glockenturmes.

Doch unzufrieden mit seiner Erregung, beruhigte er sich wieder. Konnte man denn die Dinge nicht kaltblütig verrichten? Er verschnaufte und kehrte dann nach dem Leiternschacht zurück, dessen Öffnung er wieder schloß, indem er das ausgesägte Feld an seine Stelle setzte. Es war genug; er wollte nicht durch allzu große Beschädigung die Grubenverwaltung aufmerksam machen, die vielleicht unverzüglich Ausbesserungen anordnen würde. Das Tier hatte seine Wunde; man werde sehen, ob es am Abend noch lebe. Er hatte seine Unterschrift zurückgelassen; die entsetzte Welt werde erfahren, daß das Tier nicht natürlicher Weise gestorben war. Er nahm sich die Zeit, regelrecht die Geräte in seine Jacke einzuwickeln, und stieg gemächlich die [485] Leitern empor. Als er unbemerkt die Grube verlassen hatte, kam ihm nicht einmal der Gedanke, seine Kleider zu wechseln. Es schlug drei Uhr. Er blieb auf der Straße stehen und wartete ...

Zur selben Stunde wurde Etienne, der wach auf seiner Matratze lag, durch ein leises Geräusch beunruhigt, das in der stockfinsteren Stube zu vernehmen war. Er unterschied den leisen Atemzug der Kinder, das Schnarchen des alten Bonnemort und der Frau Maheu, während Johannes neben ihm ein anhaltendes, flötenartiges Pfeifen hören ließ. Ohne Zweifel hatte er nur geträumt; er wollte sich eben zur Wand umkehren, als das Geräusch wieder anhob. Es war ein Knistern des Strohsackes, die vorsichtige Anstrengung eines Menschen, der sich von seinem Lager erhebt. Da dachte er sich, Katharina sei vielleicht krank.

»Bist du es? Was ist dir?« fragte er mit leiser Stimme.

Niemand antwortete; nur das Schnarchen der anderen dauerte fort. Fünf Minuten rührte sich nichts, dann begann das Knistern von neuem. Weil er sicher war, sich nicht getäuscht zu haben, ging er durch das Zimmer und streckte in der Finsternis die Hände nach dem gegenüberstehenden Bett aus. Seine Überraschung war groß, als er das Mädchen sitzen fand. Sie war wach und lauschte mit zurückgehaltenem Atem.

»Warum antwortest du nicht? Was machst du denn?«

»Ich stehe auf«, sagte sie schließlich.

»Zu dieser Stunde stehst du auf?«

»Ja, ich kehre zur Arbeit in die Grube zurück.«

Etienne war sehr ergriffen und mußte sich auf den Rand des Strohsackes setzen, während Katharina ihm ihre Gründe erklärte. Sie leide viel unter diesem müßigen Leben und empfinde schwer die vorwurfsvollen Blicke, die fortwährend auf ihr ruhten; sie wolle sich lieber der Gefahr aussetzen, in der Grube von Chaval geschlagen zu werden. Wenn die Mutter das Geld zurückweisen solle, das sie ihr bringen werde, so sei sie[486] groß genug, um für sich zu leben und ihre Suppe zu kochen.

»Geh, ich will mich ankleiden. Wenn du gut zu mir sein willst, sagst du nichts.«

Doch er blieb neben ihr; er hatte den Arm um ihren Leib gelegt mit einer Liebkosung, in der sich Kummer und Mitleid ausdrückten. Sie hatte sich mit der ersten Bewegung von ihm losmachen wollen; dann hatte sie still zu weinen begonnen, hatte ihn auch ihrerseits umhalst, um ihn in einer verzweifelten Umschlingung Leib an Leib zu behalten. So blieben sie ohne ein anderes Verlangen im Bewußtsein ihrer unglücklichen Liebe. War es denn aus für immer? Würden sie es nicht wagen, sich eines Tages zu lieben, jetzt, da sie frei waren?

»Leg' dich wieder«, flüsterte sie. »Ich will kein Licht machen, um die Mutter nicht zu wecken ... Es ist Zeit zum Aufbruch; laß mich!«

Er hörte nicht, preßte sie nur an sich, das Herz von unendlicher Trauer erfüllt. Ein Bedürfnis nach Frieden, ein unüberwindliches Bedürfnis, glücklich zu sein, bemächtigte sich seiner; er sah sich schon verheiratet in einem sauber gehaltenen Häuschen ohne einen andern Ehrgeiz, als mit ihr zu leben und zu sterben. Mit trockenem Brot würde er sich begnügen; und wenn nur für einen Brot da wäre, so wäre es für sie. Wozu noch etwas anderes? War denn das Leben mehr wert?

Doch sie machte jetzt ihre Arme los.

»Laß mich, bitte!«

In einer Aufwallung seines Herzens sagte er ihr ins Ohr:

»Warte, ich gehe mit dir.«

Er selbst war erstaunt, dies gesagt zu haben. Er hatte geschworen, nicht wieder einzufahren; woher kam dieser plötzliche Entschluß, der seinen Lippen entschlüpft war, ohne daß er die Sache einen Augenblick erwogen hätte? Jetzt erfüllte ihn solcher Friede, eine so vollständige Genesung von seinen Zweifeln, daß er hartnäckig [487] bei seinem Entschluß beharrte, als habe er endlich den einzigen Ausweg aus seinem Leid gefunden. Er wollte sie auch nicht anhören, als sie alles aufbot, ihn von seinem Entschluß abzubringen, weil sie begriff, daß er sich für sie opfere, und weil sie die bösen Reden fürchtete, mit denen man sie in der Grube empfangen würde. Doch er erklärte, sich um niemand kümmern zu wollen; die Anschlagzettel verhießen Verzeihung, und das genügte.

»Ich will arbeiten; das ist mein Gedanke ... Wir wollen uns geräuschlos ankleiden!«

Mit großer Behutsamkeit zogen sie sich in der finstern Schlafstube an. Sie hatte am vorhergehenden Abend im geheimen ihre Grubenkleidung vorbereitet; er holte aus dem Schrank eine Jacke und eine Hose; sie wuschen sich nicht, um nicht mit der Schüssel Geräusch zu machen. Alle schliefen; aber sie mußten den engen Gang durchschreiten, wo die Mutter ihr Lager hatte. Sie hatten das Unglück, an einen Sessel zu stoßen; die Mutter erwachte und fragte schlaftrunken:

»Wer ist's?«

Katharina war zitternd stehengeblieben und drückte heftig Etiennes Hand.

»Ich bin's, beunruhigen Sie sich nicht«, sprach dieser. »Mir ist zu heiß, ich muß ein wenig frische Luft schöpfen.«

»Gut, gut.«

Frau Maheu schlief wieder ein. Katharina wagte sich nicht zu rühren. Endlich ging sie in die Wohnstube hinunter und teilte eine Butterschnitte, die sie von einem Brot, das eine Dame aus Montsou geschenkt, zurückbehalten hatte. Dann schlossen sie leise die Tür und gingen fort.

Suwarin war bei einer Wegkrümmung in der Nähe des Wirtshauses »Zum wohlfeilen Trunk« stehengeblieben. Seit einer halben Stunde beobachtete er, wie die Bergleute zur Arbeit zurückkehrten, undeutlich im nächtlichen Dunkel, mit dem dumpfen Getrappel einer [488] Herde ihres Weges ziehend. Er zählte sie, wie der Metzger am Eingang des Schlachthauses die Tiere zählt; ihn überraschte ihre Zahl; er hatte selbst in seinem Pessimismus nicht vorausgesehen, daß die Zahl dieser Feiglinge so groß sein könnte. Der Zug dauerte noch immer an. Steif und kühl stand der Maschinist da mit klaren Augen und aufeinandergepreßten Zähnen.

Doch jetzt fuhr er zusammen. Unter den vorüberziehenden Männern, deren Gesichter er nicht unterscheiden konnte, hatte er einen an seinem Gang erkannt. Er trat näher und hielt ihn an.

»Wohin gehst du?«

Etienne war betroffen. Anstatt die Frage zu beantworten, stammelte er:

»Du bist noch nicht fort?«

Dann gestand er, daß er zur Grube zurückkehre. Gewiß, er habe geschworen; allein es sei kein Leben, mit verschränkten Armen auf Dinge zu warten, die vielleicht in hundert Jahren kommen würden; er habe überdies seine besonderen Gründe, die ihn veranlaßten, die Arbeit wiederaufzunehmen.

Bebend hatte Suwarin ihm zugehört; dann packte er ihn bei einer Schulter und stieß ihn zurück in der Richtung nach dem Dorfe.

»Geh nach Hause; ich will es, hörst du?«

Doch als Katharina näher kam, erkannte er auch sie. Etienne wehrte sich und erklärte, er gestatte niemand, über sein Verhalten zu urteilen. Die Augen des Maschinisten wanderten von dem Mädchen zu dem Kameraden, während er mit einer Gebärde plötzlicher Entmutigung einen Schritt zurücktrat. Wenn ein Mann ein Weib im Herzen hatte, dann war dieser Mann verloren, er mußte sterben. Vielleicht sah er in einer plötzlich auftauchenden Erscheinung seine Geliebte wieder, die in Moskau gehängt wurde, dies letzte Band, das ihn an die Menschen knüpfte; nachdem es zerschnitten war, hatte er seine Freiheit über das Leben anderer und sein eigenes Leben gewonnen.

[489] »Geh!« sagte er einfach.

Etienne stand einen Augenblick verlegen da und suchte nach einem freundschaftlichen Wort, um nicht so von dem andern zu scheiden.

»Du reist?«

»Ja.«

»So gib mir die Hand. Glückliche Reise und keinen Groll!«

Der andere reichte ihm seine eiskalte Hand.

»Also, diesmal ein ernstliches Lebewohl!«

»Lebe wohl!«

Suwarin, der unbeweglich im Dunkel stand, folgte mit den Blicken Etienne und Katharina, die den Voreuxschacht betraten.

Drittes Kapitel

Um vier Uhr begann die Einfahrt. Dansaert selbst hatte sich im Zimmer des Kontrollbeamten eingefunden, schrieb jeden Arbeiter ein, der sich meldete, und ließ ihm die Grubenlampe reichen. Er nahm alle an ohne Bemerkung und hielt so das in den Anschlagzetteln gegebene Versprechen. Nur als er Etienne und Katharina am Schalter bemerkte, fuhr er auf, wurde sehr rot und öffnete den Mund, um die beiden abzuweisen. Doch er begnügte sich, mit höhnischer Miene zu triumphieren. Ei, ei, selbst der Starke unter den Starken lag am Boden! Die Gesellschaft hatte denn doch auch ihr Gutes; der furchtbare Bezwinger von Montsou kam wieder zu ihr, um Brot von ihr zu verlangen. Etienne nahm stillschweigend seine Lampe und ging mit der Schlepperin zur Einfahrt.

Hier, im Aufnahmesaal, fürchtete Katharina die bösen Reden der Kameraden. Kaum eingetreten, erkannte sie Chaval mitten in einer Gruppe von etwa zwanzig Bergleuten, die warteten, bis eine Schale frei werde. [490] Er kam mit wütender Miene auf sie zu, doch hielt der Anblick Etiennes ihn zurück. Er tat, als wolle er sie verhöhnen, wobei er geringschätzig die Achseln zuckte. Schon gut; er mache sich nichts daraus, daß der andere seinen Platz eingenommen habe. Er selbst sei dadurch eine Last losgeworden. Es gehe den Herrn an, wenn er die Überreste liebe. Während er diese Mißachtung zur Schau trug, zitterte er vor Eifersucht, und seine Augen flammten. Die Kameraden rührten sich nicht, sondern standen stumm da; sie begnügten sich, die Neuangekommenen von der Seite anzublicken; dann schauten sie traurig, aber ohne Groll wieder nach der Schachtmündung mit der Lampe in der Hand, zitternd in dem dünnen Leinenkittel bei dem Luftzuge des großen Saales.

Endlich setzte sich die Schale in den Ankern fest, und man rief ihnen zu einzusteigen. Etienne und Katharina drängten sich in einen Karren, wo schon Pierron mit zwei Häuern Platz genommen hatte. Nebenan im andern Karren sagte Chaval laut zu Mouquet, es sei nicht recht, daß die Direktion die Gruben nicht von den Lumpen befreie. Doch der Stallknecht, der sich wieder in sein Hundeleben gefügt hatte, grollte nicht mehr wegen des Todes seiner Kinder und antwortete mit einer Gebärde der Versöhnung.

Die Schale hakte los, man versank in die Dunkelheit. Niemand sprach. Plötzlich – man hatte etwa zwei Drittel der Fahrt zurückgelegt – gab es ein furchtbares Krachen. Die Eisenteile knirschten, die Männer wurden aufeinandergeschleudert.

»Donner Gottes!« brummte Etienne, »wollen sie uns plattdrücken lassen? Bei dieser verdammten Verzimmerung werden wir einmal alle die Knochen lassen. Und man sagt noch, sie hätten sie ausbessern lassen.«

Indes war die Schale durch das Hindernis hindurchgekommen. Sie fuhr jetzt unter so heftigem Sturzregen hinab, daß die Arbeiter geängstigt diesen rauschenden [491] Strom hörten. Es mußten wieder neue Risse entstanden sein.

Pierron, der schon seit einigen Tagen arbeitete, wurde befragt; aber er wollte seine Furcht nicht zeigen, weil man sie als einen Angriff auf die Direktion hätte deuten können. Er sagte:

»Es besteht keine Gefahr! Das ist immer so. Sicher hat man keine Zeit gehabt, die Risse zu verstopfen.«

Über ihren Häuptern brauste das Wasser; sie kamen in einem wahren Wolkenbruch auf dem Grunde des Schachtes an. Kein Aufseher war auf den Gedanken gekommen, durch den Leiternschacht aufzusteigen und sich von der Sachlage zu überzeugen. Die Pumpe werde genügen, sagten sie; in der nächsten Nacht würden Zimmerleute die Risse untersuchen. Die Neueinrichtung der Arbeit in den Galerien gab genug zu tun. Der Ingenieur hatte entschieden, daß, ehe die Häuer zu den Schlägen zurückkehrten, in den ersten fünf Tagen gewisse unaufschiebliche Befestigungsarbeiten durchzuführen seien. Auf allen Seiten drohten Einstürze; die Gänge hatten so stark gelitten, daß die Verzimmerung in der Länge von Hunderten von Metern ausgebessert werden mußte. Man bildete daher Gruppen von je zehn Männern, jede Gruppe unter Führung eines Aufsehers, und geleitete sie zu jenen Stollen, die am meisten Schaden genommen hatten. Als der Abstieg beendigt war, zählte man, daß dreihundertzwanzig Arbeiter angefahren waren, ungefähr die Hälfte der Belegschaft in gewöhnlichen Zeiten.

Chaval gehörte zu der Gruppe, der Etienne und Katharina zugeteilt waren; es war keineswegs zufällig geschehen. Er hatte sich anfänglich hinter die Kameraden versteckt und dann den Aufseher gebeten, ihn dieser Gruppe zuzuweisen. Sie begab sich an das Ende der Nordgalerie, etwa drei Kilometer weit, um dort Schutt wegzuräumen, der den Eingang eines Stollens verlegte. Man machte sich mit Spitzhacke und Schaufel an die Arbeit, während Katharina mit zwei Schlepperjungen [492] den Schutt zur schiefen Ebene fuhr. Es wurde wenig gesprochen; der Aufseher verließ die Arbeiter keinen Augenblick.

Gegen acht Uhr kam Dansaert, um die Arbeit zu besichtigen. Er schien sehr übler Laune zu sein und zankte mit dem Aufseher: nichts sei in Ordnung, die Hölzer müßten von Zeit zu Zeit ausgetauscht werden, man mache die Arbeit schlecht. Dann ging er und kündigte an, daß er mit dem Ingenieur wiederkommen werde.

Wieder verfloß eine Stunde. Der Aufseher hatte mit der Wegräumung des Schuttes innehalten lassen und verwandte alle seine Leute dazu, die Decke zu stützen. Auch die Schlepperin und die zwei Jungen rollten keine Karren mehr, sondern halfen Balken herbeischleppen. In dieser Tiefe der Galerie war diese Arbeitergruppe gleichsam auf Vorposten, am äußersten Ende der Grube, ohne Verbindung mit den übrigen Werkplätzen. Drei oder viermal wandten die Arbeiter die Köpfe, weil sie ferne Geräusche, wie tolles Rennen, hörten. Was war's? Es schien, als leerten sich die Gänge, als beeilten sich die Kameraden hinaufzukommen. Doch der Lärm verlor sich wieder; sie fuhren fort, Hölzer aufzurichten, betäubt durch die schallenden Hammerschläge. Endlich ging man wieder an die Forträumung des Schuttes, und die Abfuhr begann von neuem.

Katharina kam gleich von der ersten Fahrt ganz erschreckt zurück und erzählte, daß niemand mehr bei der schiefen Bahn sei.

»Ich habe gerufen, niemand hat geantwortet. Alle haben Reißaus genommen.«

Die Bestürzung war so groß, daß die zehn Männer sofort ihre Werkzeuge wegwarfen, um zu laufen. Der Gedanke, daß sie so tief in der Grube, so fern von der Auffahrt verlassen seien, raubte ihnen schier den Verstand. Sie hatten nur ihre Lampe behalten; sie liefen hintereinander, die Männer, die Kinder sowie die[493] Schlepperin; und selbst der Aufseher verlor den Kopf und stieß Schreie aus, immer verwirrter durch die Stille und Verlassenheit der endlosen Galerien. Weshalb begegnete man keiner Seele? Welcher Unfall mochte die Kameraden hinweggefegt haben? Ihr Entsetzen wurde noch gesteigert durch die Ungewißheit der Gefahr, durch die Bedrohung, die sie fühlten, ohne sie zu kennen.

Als sie endlich der Auffahrt sich näherten, verlegte ein Strom ihnen den Weg. Das Wasser reichte ihnen bis zu den Knien; sie konnten nicht mehr laufen und durchschritten mühsam die Flut, in der Gewißheit, daß eine Minute Verzögerung den Tod bedeute.

»Donner Gottes! Die Verzimmerung muß geborsten sein!« schrie Etienne. »Ich sagte es ja, daß wir alle das Leben lassen werden!«

Pierron hatte seit der Einfahrt mit Unruhe gesehen, wie die aus dem Schacht niederprasselnde Flut immer höher stieg. Während er mit zwei anderen die Karren zur Beförderung einhängte, blickte er empor; schwere Tropfen fielen ihm ins Gesicht, die Ohren summten ihm von dem Getöse. Was ihn noch mehr erzittern ließ, war die Wahrnehmung, daß die Senkgrube unter ihm, das zehn Meter tiefe Loch, sich füllte; schon quoll Wasser zwischen den Eisenplatten des Fußbodens hervor. Dies war ein Beweis, daß die Pumpe nicht mehr genügte, um das Wasser zu bewältigen; er hörte ordentlich, wie sie ermüdete, wie ihr der Atem ausging. Da benachrichtigte er Dansaert, der wütende Flüche ausstieß und erklärte, man müsse den Ingenieur erwarten. Zweimal erneuerte Pierron seine Warnungen, ohne bei Dansaert etwas anderes als ein verzweifeltes Achselzucken zu erreichen. Das Wasser stieg, was konnte er dagegen tun?

Jetzt erschien Mouquet mit dem Pferde Bataille, um es zur Arbeit zu führen. Er mußte das Tier mit beiden Händen festhalten, denn der alte, schläfrige Gaul bäumte sich plötzlich, streckte den Kopf nach dem [494] Schacht aus und ließ ein ängstliches Wiehern vernehmen.

»Was gibt's denn, Philosoph? Was ängstigt dich? ... Ach, weil es regnet? Komm, das geht dich nichts an.«

Das Tier zitterte am ganzen Körper; er mußte es mit Gewalt fortzerren.

Fast in demselben Augenblick, eben als Mouquet und Bataille in der Tiefe einer Galerie verschwunden waren, ertönte ein Krachen in der Luft, gefolgt von dem Poltern eines Sturzes. Ein Balken war losgerissen und fiel hundertachtzig Meter tief herab, während des Falles wiederholt an die Wände schlagend. Pierron und die anderen Verlader konnten noch rechtzeitig zur Seite springen, der schwere Eichenpfosten zertrümmerte nur einen leeren Karren. Zu gleicher Zeit erfolgte ein Wasserbruch; es schoß hervor wie bei einem geborstenen Damm. Dansaert wollte hinauf, um nachzuschauen; aber er sprach noch, als ein zweiter Balken herunterstürzte. In seinem Schrecken zögerte er angesichts der drohenden Katastrophe nicht länger und gab das Signal zur Auffahrt; gleichzeitig sandte er die Aufseher nach allen Richtungen aus, um die Leute auf den Werkplätzen zu benachrichtigen.

Jetzt folgte furchtbares Hasten und Drängen. Aus allen Galerien kamen Gruppen von Arbeitern im Eilschritt an und stürzten sich auf die Aufzugsschalen. Man rang auf Tod und Leben, um zuerst hinaufgeschafft zu werden. Einige, die auf den Einfall gekommen waren, durch den Leiternschacht aufzusteigen, kamen mit dem Rufe zurück, der Weg sei schon versperrt. Nach jeder Auffahrt einer Schale gab es neues Entsetzen: diese konnte noch durch; wer wußte, ob auch die nächste hinaufkam durch alle Hindernisse, die den Schacht verlegten? Der Einsturz oben schien fortzudauern; man hörte eine Reihe von dumpfen Schlägen; es waren die gespaltenen Hölzer, die unter wachsendem Rauschen der Wasser platzten. Eine Schale wurde bald außer Gebrauch gesetzt; sie glitt[495] nicht mehr zwischen den Leitpfosten, ohne Zweifel war sie gebrochen. Die andere streifte so heftig die Wände, daß ein Reißen der Kabel zu befürchten war. Aber es waren noch etwa hundert Leute hinaufzuschaffen, und alle schrien in Todesangst und klammerten sich aneinander, vom Wasser bedroht, mit Blut bedeckt. Zwei wurden von herabstürzenden Balken erschlagen; ein dritter, der sich an die Schale geklammert hatte, fiel aus einer Höhe von fünfzig Meter herunter und verschwand in der Senkgrube.

Dansaert bemühte sich, Ordnung zu schaffen. Mit einer Spitzhacke bewaffnet, drohte er, dem ersten, der nicht gehorche, den Schädel einzuschlagen. Er wollte sie der Reihe nach aufstellen und rief, die Verlader sollten zuletzt ausfahren, nachdem sie die Kameraden hinaufgeschafft hätten. Doch man hörte nicht auf ihn. Er hatte Pierron, der bleich und feige dastand, gewaltsam hindern müssen, mit den ersten auszufahren. Bei jedem Aufstieg mußte er ihn mit Hieben zurückjagen. Auch er selbst klapperte mit den Zähnen; noch eine Minute, und er war verschlungen; dort oben war alles geplatzt und geborsten, ein wilder Strom ergoß sich herab, dazwischen erfolgte ein mörderischer Sturz von Balken. Einige Arbeiter liefen eben noch herbei, als er, wahnsinnig vor Furcht, in einen Karren sprang, wohin Pierron ihm folgte. Die Schale stieg auf.

In diesem Augenblick erschien die Gruppe Etiennes und Chavals beim Aufzug. Sie sahen die Schale verschwinden und rannten hinzu; doch sie mußten zurückweichen, denn der letzte Rest der Verzimmerung stürzte herab und verrammelte den Schacht. Die Schale konnte nicht mehr niedersteigen. Katharina schluchzte, Chaval stieß fürchterliche Flüche aus. Es waren noch etwa zwanzig Arbeiter da; sollten die Vorgesetzten sie hier verlassen wollen? Vater Mouquet, der das Pferd Bataille – ohne Hast – wieder zurückgeführt hatte, hielt das Tier am Halfter; beide, der Alte und der Gaul, waren verblüfft angesichts des rasch steigenden [496] Wassers. Es reichte den Leuten jetzt bis zu den Schenkeln. Etienne stand mit zusammengepreßten Zähnen da und hob Katharina in seinen Armen empor. Die zwanzig heulten und schauten hartnäckig nach dem Schacht, diesem einstürzenden Loch, das einen Strom spie, und aus dem ihnen keine Hilfe kommen konnte.

Als Dansaert an das Tageslicht gelangte, sah er Negrel herbeieilen. Verhängnisvollerweise hatte ihn Frau Hennebeau damit aufgehalten, daß sie mit ihm Preiskataloge durchblätterte, um ihre Auswahl für die Hochzeitsgeschenke zu treffen. Es war schon zehn Uhr.

»Was gibt's?« rief er von weitem.

»Die Grube ist verloren«, rief der Oberaufseher.

Er erzählte stammelnd von der Katastrophe, während der Ingenieur ungläubig die Achseln zuckte. Man übertrieb sicherlich; er wollte sich überzeugen.

»Es ist doch niemand in der Grube geblieben?«

Dansaert geriet in Verwirrung. Nein, niemand. Er hoffe es wenigstens. Es sei immerhin möglich, daß einzelne Arbeiter sich verspätet hätten.

»Herrgott! Warum sind Sie dann heraufgekommen? Läßt man seine Leute im Stich?«

Sogleich erteilte er den Befehl, daß man die Lampen zähle. Man hatte am Morgen dreihundertzweiundzwanzig verteilt und fand nur zweihundertfünfundfünfzig vor; allein mehrere Arbeiter gestanden, daß die ihre unten geblieben und in dem Schrecken, in dem Gedränge ihnen aus der Hand gefallen sei. Man versuchte mit einem Namensaufruf vorzugehen, aber es war unmöglich, eine genaue Ziffer festzustellen; einzelne Bergleute waren davongelaufen, andere hörten ihre Namen nicht mehr. Man konnte sich über die Zahl der vermißten Kameraden nicht einigen; es waren vielleicht zwanzig, vielleicht vierzig. Eins war für den Ingenieur gewiß: es waren noch Leute in der Grube; man hörte ihr Schreien durch das Geräusch des Wassersturzes hindurch, wenn man am Eingang des Schachtes horchte.

[497] Die erste Sorge Negrels war, Herrn Hennebeau holen und die Grube schließen zu lassen. Aber es war zu spät; die Bergleute, die – wie von dem Krachen der Verzimmerung verfolgt – nach dem Dorf gerannt waren, hatten schon die Familien in Schrecken gejagt; ganze Scharen von Weibern, Greisen und Kindern liefen schreiend und jammernd herbei. Man mußte sie zurückdrängen; eine Reihe von Aufsehern wurde beauftragt, sie fernzuhalten, damit sie die Rettungsarbeiten nicht störten. Viele der Arbeiter, die heraufgeholt waren, blieben da, ganz verstört, ohne daran zu denken, ihre Kleider zu wechseln, im Bann des Entsetzens festgehalten vor diesem furchtbaren Loch, in dem sie fast getötet worden wären. Die Weiber umstanden sie flehend und fragten nach den Namen. War der unten? Und der? Und jener? Aber sie wußten nichts; sie stammelten nur und machten sinnlose Gebärden, als wollten sie ein immer wiederkehrendes, furchtbares Bild verscheuchen. Die Menge wuchs schnell an; auf den Straßen erhob sich furchtbares Gejammer. Oben in der Hütte des alten Bonnemort saß Suwarin auf der Erde. Er hatte sich nicht entfernt; er wartete und schaute.

»Die Namen! Die Namen!« schrien die Weiber mit tränenersticker Stimme.

Negrel erschien einen Augenblick und rief:

»Sobald wir die Namen wissen, werden wir sie bekanntgeben! Noch ist nichts verloren; alle werden gerettet ... Ich fahre ein.«

Die Menge wartete in stummer Angst. In der Tat schickte sich der Ingenieur mit ruhigem Mut zur Einfahrt an. Er hatte die Schale loshaken lassen und den Befehl gegeben, statt derselben eine Tonne an das Seil zu hängen; und da er vermutete, das Wasser werde seine Lampe auslöschen, befahl er, daß unterhalb der Tonne eine zweite Laterne angebracht werde.

Bleich und zitternd halfen mehrere Aufseher bei diesen Vorbereitungen.

[498] »Dansaert, Sie werden mit mir einfahren«, gebot Negrel kurz.

Als er sah, wie der Oberaufseher entsetzt wankte, schob er ihn mit einer verächtlichen Gebärde zur Seite.

»Nein, Sie wären mir nur im Wege ... ich will lieber allein hinunter!«

Schon stand er in dem engen Kübel, der am Ende des Seiles schwankte. Mit der einen Hand die Lampe haltend, mit der andern die Signalleine ergreifend, rief er dem Maschinisten zu:

»Langsam!«

Die Fördermaschine setzte sich in Bewegung; Negrel verschwand in dem Abgrund, aus dem noch immer das Geschrei der Unglücklichen herauftönte.

Oben war alles in Ordnung; er stellte fest, daß die Verzimmerung sich in gutem Zustande befinde. Im Schacht hin und her geschaukelt, drehte er sich nach allen Seiten und beleuchtete die Wände; das Sickerwasser zwischen den Rissen war so spärlich, daß seine Lampe nicht darunter litt. Aber als er in eine Tiefe von dreihundert Meter kam, erlosch sie, wie er es vorhergesehen; ein Wasserstrahl hatte den Kübel gefüllt. Und jetzt beobachtete er nur noch bei dem Schein der an der Tonne hängenden Lampe. Angesichts des furchtbaren Unglücks erbleichte und erschauerte der sonst so kühne Mann. Nur einige Stücke Holz waren geblieben, die übrigen waren hinabgestürzt; aus riesigen Höhlen ergoß sich feiner gelber Flugsand, während die Wasser des unterirdischen Meeres – dieses Meeres mit seinen der Oberwelt unbekannten Stürmen – in breiten Strömen, wie aus einer Schleuse, hinabstürzten. Er stieg noch tiefer, verloren inmitten dieser Höhlen, gepeitscht und im Kreise gedreht durch den Wassersturz, vom roten Stern des Lampenlichts geführt, das unter ihm hinabglitt. In der Ferne, im Spiel der großen, beweglichen Schatten glaubte er Straßen und Wegkreuzungen einer zerstörten Stadt wahrzunehmen. Da war keine menschliche Hilfe mehr möglich. Er bewahrte [499] nur noch eine Hoffnung: die gefährdeten Menschen da unten retten zu können. Je tiefer er hinabstieg, desto lauter hörte er das Schreien anwachsen. Er mußte haltmachen, ein unüberwindliches Hindernis verrammelte den Schacht, eine Anhäufung von gebrochenen Pfosten und Brettern, die geborstenen Holzwände des Schachtes, wirr vermengt mit Resten der Pumpleitung. Als er beklommenen Herzens dieses grauenhafte Wirrsal lange betrachtete, verstummte mit einem Male das Geheul da unten. Ohne Zweifel waren die Unglücklichen vor dem reißend anwachsenden Wasser in die Galerien geflohen, wenn das Wasser ihnen nicht schon in den Mund gedrungen war.

Er mußte sich entschließen, das Signal zur Auffahrt zu geben. Dann ließ er wieder haltmachen. Er befand sich unter dem betäubenden Eindruck dieses plötzlichen Unglücks, dessen Ursache er nicht begreifen konnte. Er wollte sich Aufklärung verschaffen und untersuchte die wenigen Stücke der Verzimmerung, die noch hielten. Zu seiner Überraschung fand er Einschnitte, die sich in bestimmten Zwischenräumen wiederholten. Da sein Lämpchen in der riesigen Nässe zu erlöschen drohte, tastete er mit den Fingern und erkannte genau die Spuren der Säge und des Bohrers: ein niederträchtiges Zerstörungswerk. Augenscheinlich war diese Katastrophe mit Absicht herbeigeführt worden. Er war wie versteinert; da krachten die Hölzer, der letzte Rest stürzte samt den Rahmen hinab und drohte ihn selbst mitzureißen. Sein Mut war zu Ende. Seine Haare sträubten sich, wenn er an den Menschen dachte, der dies verübt; er erschauerte in der grauenhaften Furcht vor dem Bösen, als ob der Mensch mit seiner unheimlichen Gewalt noch da sei in dem finstern Schlunde, um seine ungeheuerliche Missetat zu vollenden. Er schrie auf und riß mit wütender Hand an der Signalleine. Es war übrigens hohe Zeit, denn er sah hundert Meter höher, daß auch die obere Verzimmerung in Bewegung geraten war, die Fugen öffneten [500] sich, das geteerte Werg fiel heraus, Wasser brach hervor. In einer Stunde mußte die ganze Verzimmerung des Schachtes in Trümmer gehen.

Oben wurde Negrel von dem auf das äußerste erregten Herrn Hennebeau erwartet.

»Nun, was ist's?« fragte er.

Doch der Ingenieur blieb stumm, seine Kräfte drohten ihn zu verlassen.

»Es ist nicht möglich! ... Man hat dergleichen nie gesehen! Hast du alles genau untersucht?«

Er nickte und warf mißtrauische Blicke nach allen Seiten. Er wollte in Gegenwart der Aufseher, die zuhörten, keine Erklärungen geben und führte den Oheim beiseite. Dann erzählte er ihm leise ins Ohr den Anschlag, wie die Planken durchbohrt und durchsägt, die Grube abgeschlachtet worden, daß sie in den letzten Zügen lag. Der Direktor war bleich geworden und dämpfte gleichfalls die Stimme, wie von großen Verbrechen nur in aller Stille gesprochen wird. Es war nicht nötig, vor den zehntausend Arbeitern in Montsou Furcht zu zeigen; man werde später sehen, was zu tun sei. Sie fuhren fort zu flüstern, niedergeschmettert von dem Gedanken, daß ein Mensch den Mut gefunden habe da hinabzusteigen, wo er so zusagen in der Luft hing, und sein Leben zu wagen, um dieses furchtbare Werk zu verrichten. Sie begriffen diese Tollkühnheit der Zerstörung nicht; sie wollten an das Offenkundige nicht glauben, wie man Schilderungen bezweifelt, die von berühmten Ausfällen aus belagerten Festungen erzählen oder von Gefangenen, die durch dreißig Meter hoch gelegene Fenster entkommen.

Als Herr Hennebeau sich den Aufsehern näherte, war sein Gesicht von nervösem Zucken gefurcht. Er machte eine verzweifelte Gebärde und gab den Befehl, daß die Grube sofort geräumt werde. Es war ein trauriger Zug, stumm sahen alle rückwärts auf die großen leeren Ziegelbauten, die noch aufrecht standen, aber unrettbar verloren waren.

[501] Als der Direktor und der Ingenieur als die letzten vom Aufnahmesaal herunterkamen, empfing sie die Menge mit hartnäckig wiederholten Rufen:

»Die Namen! Die Namen! Sagt die Namen!«

Jetzt war auch Frau Maheu unter den Weibern. Sie erinnerte sich des Geräusches, das sie in der Nacht gehört; ihre Tochter und ihr Mieter mußten zusammen weggegangen sein; sie befinden sich gewiß in der Grube. Nachdem sie gerufen hatte, es geschehe ihnen recht, wenn sie unten blieben, die Herzlosen, die Feiglinge, war sie herbeigeeilt; zitternd vor Angst stand sie in der ersten Reihe. Sie wagte nicht mehr zu zweifeln; der Streit um die Namen ringsumher belehrte sie, daß Katharina unten war und Etienne gleichfalls. Ein Kamerad hatte sie gesehen. Aber hinsichtlich der übrigen war man nicht einig. Dieser nicht, jener ja; Chaval sei unten, meinte der eine, während ein Schlepperjunge schwor, mit ihm ausgefahren zu sein. Die Levaque und die Pierron hatten sich, obgleich keiner der ihrigen in Gefahr war, unter die übrigen gemengt und schrien am lautesten. Zacharias, der als einer der ersten ausgefahren war, küßte weinend sein Weib und seine Mutter, wenngleich er sonst den gegen alles gleichmütigen Menschen spielte. Neben der Mutter bleibend, teilte er ihre Angst, bekundete heftige Liebe für die Schwester und wollte nicht glauben, daß sie noch unten sei, solange die Vorgesetzten es nicht bestätigten.

»Die Namen! Die Namen! Um Gottes willen, sagt uns die Namen!«

So waren zwei Stunden verflossen. Im ersten Schrecken hatte niemand an den andern Schacht gedacht, an den alten Schacht von Réquillart. Herr Hennebeau verkündete eben, daß man das Rettungswerk von jener Seite versuchen wolle, da fünf Arbeiter sich aus der ersäuften Grube gerettet hätten, indem sie die morschen Leitern des alten Schachtes erstiegen. Man nannte den Vater Mouquet; dies überraschte alle, man hatte nicht geglaubt, daß er unten sei. Doch die Mitteilungen [502] der Geretteten vermehrten den Jammer: fünfzehn Kameraden hätten ihnen nicht folgen können; sie hätten sich verirrt, seien durch Verschüttungen abgeschnitten; es sei nicht möglich, ihnen zu Hilfe zu kommen, denn es ständen zehn Meter Wasser im Réquillartschacht. Man kannte jetzt alle Namen, und die Luft widerhallte von dem Jammergeschrei.

»Heißt sie schweigen!« wiederholte Negrel wütend. »Sie sollen hundert Meter zurückweichen, denn hier ist Gefahr. Drängt sie zurück!«

Man mußte sich dieser armen Leute erwehren; man jagte sie davon, um Tote vor ihnen zu verbergen. Die Aufseher mußten ihnen erklären, daß die ganze Grube einstürzen werde. Sie ließen sich schließlich Schritt für Schritt zurückdrängen, aber man mußte die Wachen verdoppeln, denn sie kamen unwillkürlich immer wieder, gleichsam angezogen durch die Grube. Etwa tausend Personen drängten sich auf der Straße; man lief aus allen Arbeiterdörfern herbei, selbst aus Montsou. Der Mann auf dem Hügel aber – der blonde Mann mit dem Mädchengesicht – rauchte Zigaretten, um sich die Zeit zu vertreiben, und wandte die hellen Augen nicht von der Grube.

Jetzt begann das Warten. Es war Mittag; niemand hatte gegessen, und dennoch entfernte sich niemand. Am nebeligen, schmutzig-grauen Himmel zogen langsam rostfarbene Wolken dahin. Hinter der Hecke der Rasseneurschen Schenke ließ ein großer Hund, den die Menge reizte, ein unaufhörliches, wütendes Gebell vernehmen. Die Leute hatten sich allmählich über die anstoßenden Felder verteilt und – in einer Entfernung von etwa hundert Meter – einen Kreis geschlossen. Mitten in dem Raum erhoben sich die Gebäude der Voreuxgrube. Fenster und Türen standen offen, die verlassenen Räume lagen wüst da. Eine rote Katze, die man vergessen hatte, witterte die Gefahr dieser Einsamkeit, sprang von einer Treppe herab und verschwand. Die Kesselfeuer waren ohne Zweifel eben erst [503] ausgegangen, denn der aus roten Ziegeln erbaute hohe Schlot sandte noch leichte Rauchwölkchen zu dem düsteren Himmel empor, während der Wetterhahn des Schachtturmes im Winde krächzte.

Um zwei Uhr hatte sich noch nichts gerührt. Herr Hennebeau, Negrel und andere Ingenieure, die herbeigeeilt waren, bildeten eine besondere Gruppe in schwarzen Röcken und Hüten. Auch sie wollten sich nicht entfernen; ihre Beine waren von Müdigkeit wie gebrochen; sie fieberten und waren krank, weil sie machtlos einem solchen Unglück beiwohnen mußten; sie tauschten nur wenige Worte im Flüsterton aus, als stünden sie am Bett eines Sterbenden. Die obere Verzimmerung mußte vollends zusammengebrochen sein; man hörte plötzlich laute, abgerissene Geräusche, wie wenn Gegenstände in die Tiefe stürzten; dann trat wieder tiefe Stille ein. Die Katastrophe wurde immer größer; der Einsturz, der unten begonnen hatte, rückte höher, näherte sich der Oberfläche. Eine nervöse Ungeduld hatte sich Negrels bemächtigt; er wollte alles sehen und wagte sich vor, als ihn mehrere an den Schultern faßten. Wozu denn? Er konnte nichts verhindern. Ein alter Bergmann täuschte indessen die Wachsamkeit der Aufseher und lief zur Baracke; doch kehrte er sogleich ruhig zurück, er hatte nur seine Holzschuhe geholt.

Es schlug drei Uhr. Nichts regte sich. Ein Platzregen hatte die Menge durchnäßt, ohne daß sie zurückwich. Rasseneurs Hund bellte wieder. Zwanzig Minuten später erschütterte ein erster Stoß die Erde. Der Voreuxschacht erzitterte, stand aber noch fest und aufrecht. Sogleich folgte ein zweiter Stoß, und ein langgedehnter Schrei ertönte: der Sichtungsschuppen hatte zweimal geschwankt und war dann mit ungeheurem Krachen eingestürzt. Unter dem ungeheuren Druck brachen die Balken und rieben sich so gewaltig aneinander, daß Funkengarben aufstoben. Von diesem Augenblick an hörte die Erde nicht mehr auf zu zittern; Stöße folgten auf Stöße, unterirdische Einstürze, begleitet von dem [504] dumpfen Grollen eines feuerspeienden Vulkans. Der Hund in der Ferne bellte nicht mehr, sondern stieß ein klagendes Geheul aus, wie um die Schwankungen der Erde anzukündigen, die er kommen fühlte; und die Weiber und Kinder, all das Volk, das zuschaute, konnte einen Jammerschrei nicht zurückhalten bei jedem Ruck. In weniger als zehn Minuten war das Schieferdach des Schachtturmes eingestürzt; der Aufnahmesaal und der Maschinenraum zeigten Risse, die sich zu großen Breschen erweiterten. Dann verstummten die Geräusche, und tiefe Stille trat ein.

Etwa eine Stunde lang wurde der Voreuxschacht in schrecklicher Weise in Stücke gerissen, wie von einem Barbarenheer bombardiert. Man schrie nicht mehr; der erweiterte Kreis von Zuschauern betrachtete still die Geschehnisse. Unter den Balken des Sichtungswerkes sah man zertrümmerte Karren und verbogene Trichter. Aber ganz besonders im Aufnahmesaal häuften sich die Trümmer mitten in einem Regen von Ziegeln, unter Mauerteilen, die in ganzen Stücken niedersanken und in Schutt zerfielen. Das eiserne Gerüst hatte sich geneigt und war halb eingesunken; eine Förderschale blieb daran hängen; oben baumelte das Ende einer abgerissenen Kette; überall lagen in wirrem Durcheinander Karren, gußeiserne Platten und Leitern. Durch einen seltsamen Zufall war die Lampenkammer verschont geblieben und zeigte links die hellen Reihen der Lichter. Im Hintergrund sah man die Maschine fest auf ihrem gemauerten Unterbau ruhen; die Kupferteile schimmerten; die großen stählernen Glieder hatten das Aussehen von unverwüstlichen Muskeln; eine ungeheure, gebogene Stange glich dem mächtigen Knie eines Riesen, der in gewaltiger Stärke ruhig daliegt.

Nachdem eine Stunde ohne Erschütterung verflossen war, schöpfte Herr Hennebeau wieder Hoffnung. Die Bewegung des Erdreiches mußte jetzt zu Ende sein, man werde wenigstens die Maschinen und den Rest der Gebäude retten können. Aber er verbot noch immer [505] jede Annäherung; er wollte noch eine halbe Stunde warten. Das Harren aber wurde unerträglich; die Hoffnung verdoppelte die Angst; alle Herzen schlugen stürmischer. Ein rasch anwachsendes Gewölk am Horizont beschleunigte die Dämmerung; ein düsterer Abend breitete sich über die Trümmer. Seit sieben Stunden standen die Leute da, ohne sich zu rühren und ohne zu essen.

Plötzlich wurden die Ingenieure, als sie sich vorsichtig näher wagten, durch eine letzte Erschütterung der Erde in die Flucht gejagt. Unterirdische Schläge wurden hörbar; auf der Oberfläche stürzten die letzten Gebäude zusammen. Zuerst wurden die Trümmer des Sichtungsschuppens und des Aufnahmesaales wie von einem Wirbelwind davongetragen, dann barst das Kesselhaus und verschwand. Jetzt kam die Reihe an den viereckigen Turm, in dem die Pumpe ächzte; er fiel nach vorn zu Boden wie ein Mensch, den eine Kanonenkugel niedergeworfen. Und dann bot sich ein fürchterlicher Anblick: man sah die Maschine, die zerrissen, mit ausgereckten Gliedern, auf ihrem Unterbau ruhte, gegen den Tod ankämpfen: sie setzte sich in Bewegung, streckte ihren Kolben aus, wie um sich zu erheben; doch sie sollte sterben, sie wurde zermalmt und verschlungen. Nur der dreißig Meter hohe Schlot stand noch aufrecht, wenngleich geschüttelt wie ein Mast im Sturm. Man glaubte schon, er werde zerbröckeln und als Staubwolke auffliegen, als er plötzlich mit einem Ruck gänzlich versank, von der Erde eingesogen, geschmolzen wie eine Riesenkerze; nichts ragte mehr hervor, nicht einmal die Spitze des Blitzableiters. Es war aus; das böse Ungetüm, das in der Grube hockte und sich mit Menschenfleisch nährte, ließ nicht mehr seinen lauten, langen Atem hören. Der Voreuxschacht war vollständig im Abgrund verschwunden.

Heulend floh die Menge. Die Weiber flüchteten mit den Händen vor den Augen. Der Schrecken jagte die Männer wie ein Häuflein welker Blätter. Man wollte[506] nicht schreien und schrie dennoch auf mit fuchtelnden Armen angesichts des ungeheuren Abgrundes, der sich aufgetan hatte. Dieser Krater – dem eines erloschenen Vulkans gleich – hatte eine Tiefe von fünfzehn Meter und dehnte sich von der Straße bis zum Kanal aus, mindestens vierzig Meter breit. Der ganze Werkhof war den Gebäuden nachgefolgt: die riesigen Gerüste, die Brücken mit ihren Schienen, ein vollständiger Zug, drei Waggons, ein ganzer Wald von geschnittenen Stangen: alles verschlungen wie Strohhalme. Man sah nur ein Wirrsaal von Balken, Ziegeln, Eisen, Mörtel. Das Loch rundete sich noch weiter aus; von den Rändern gingen Risse aus, verlängerten sich quer durch die Felder. Ein solcher Spalt reichte bis zur Schenke Rasseneurs, deren Stirnwand geborsten war. Sollte das ganze Dorf zugrunde gehen? Wie weit mußte man fliehen, um sicher zu sein an diesem Schreckensabend, unter diesem bleischweren Gewölk, das ebenfalls die Welt erdrücken zu wollen schien?

Negrel stieß einen Schmerzensschrei aus, und Herr Hennebeau, über dessen Antlitz helle Zähren liefen, wich weiter zurück. Das Unglück war noch nicht vollständig; einer der Dämme brach, und der Kanal ergoß sich plötzlich als schäumende Masse in einen der Risse. Er verschwand, stürzte hinein wie ein Wasserfall in ein tiefes Tal. Die Grube trank den Fluß; die Flut ersäufte die Galerien auf Jahre hinaus. Bald füllte sich der Krater; wo früher der Voreuxschacht gewesen, war jetzt nur schmutziges Wasser, jenen Seen gleichend, unter denen die verwunschenen Städte schlafen. Eine Stille des Entsetzens war eingetreten; man hörte nichts mehr als den Sturz dieses Wassers, das in den Eingeweiden der Erde brauste.

Jetzt erhob sich Suwarin auf dem Hügel, der gleichfalls gewankt hatte. Er hatte Frau Maheu und Zacharias erkannt, die schluchzend vor diesem Einsturz standen, unter sich die Unglücklichen, die dem Tode geweiht waren. Er warf seine letzte Zigarette weg und [507] entfernte sich – ohne einen Blick nach rückwärts – in die Nacht. Sein Schatten wurde immer kleiner und verlor sich schließlich in der Finsternis. Er ging fort, weit, weit, ins Unbekannte. Er ging mit ruhiger Miene ans Werk der Vernichtung; überallhin, wo es Dynamit gab, um Städte und Menschen in die Luft zu sprengen.

Viertes Kapitel

Noch in derselben Nacht, die dem Einsturz der Voreuxgrube folgte, war Herr Hennebeau nach Paris gereist, weil er die Verwaltungsräte persönlich von dem Unglück benachrichtigen wollte, noch ehe die Zeitungen die Meldung brachten. Als er am nächsten Tage zurückkehrte, fand man ihn sehr ruhig mit der Miene eines vornehm auftretenden Direktors. Er hatte sich augenscheinlich entlastet, von der Gunst der Herren nichts eingebüßt; im Gegenteil: vierundzwanzig Stunden später wurde die Verfügung unterzeichnet, die ihn zum Offizier der Ehrenlegion ernannte.

War der Direktor verschont geblieben, so wankte die Gesellschaft unter dem furchtbaren Schlag. Nicht wegen der Millionen, die sie verlor, sondern wegen der dumpfen, unaufhörlichen Furcht vor dem kommenden Tage angesichts der Vernichtung einer ihrer Gruben. Sie war so schwer getroffen, daß sie das Bedürfnis fühlte, Stillschweigen zu beobachten. Warum sollte man aus dem Banditen – wenn er schon entdeckt würde – einen Märtyrer machen, dessen furchtbarer Heldenmut ein ganzes Geschlecht von Brandstiftern und Mördern erzeugen würde? Sie hatte übrigens keine Ahnung von dem Schuldigen; sie glaubte an ein Heer von Verschwörern, weil sie nicht annehmen konnte, daß ein einziger Mensch die Kühnheit und die Kraft zu einem solchen Zerstörungswerke gefunden; das war eben der Gedanke, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ, [508] der Gedanke, daß ihre Gruben fortan von immer größerer Gefahr bedroht seien. Der Direktor hatte die Weisung erhalten, ein ausgebreitetes Spionagesystem einzurichten, dann einzeln und unauffällig die gefährlichen Männer, die er im Verdacht habe, daß sie an dem Verbrechen beteiligt seien, zu entlassen. Man begnügte sich mit dieser Säuberung, die man für einen Akt großer politischer Klugheit hielt.

Der Oberaufseher Dansaert wurde augenblicklich entfernt. Als Vorwand diente sein Verhalten in der Gefahr, die Feigheit des Führers, der seine Leute im Stich ließ: ein stillschweigendes Zugeständnis an die Grubenarbeiter, die ihn verabscheuten.

Im Volk waren indessen gewisse Gerüchte entstanden, und die Direktion war genötigt, einer Zeitung eine Berichtigung zu senden, um die Behauptung zu widerlegen, daß die Streikenden ein Pulverfaß hätten auffliegen lassen. Nach einer flüchtig durchgeführten Untersuchung kam der Regierungsingenieur in seinem Bericht zu dem Schlusse, daß man es mit einem natürlichen Bruch der Verzimmerung zu tun habe, herbeigeführt durch eine Verschiebung des Erdreichs. Die Gesellschaft hatte es vorgezogen zu schweigen und den Tadel wegen mangelhafter Aufsicht über sich ergehen zu lassen. Schon nach drei Tagen füllte die Katastrophe alle Pariser Blätter; man sprach nur noch von den Arbeitern, die in den Gruben dem sicheren Tode verfallen seien; die jeden Morgen veröffentlichten Depeschen wurden gierig verschlungen. In Montsou selbst lebten die Bürger in Furcht; bei dem bloßen Namen »Voreux« erstarb ihnen das Wort in der Kehle; es bildete sich eine Legende, die selbst die Kühnsten nur zitternd und im Flüsterton weitererzählten. Die ganze Gegend war von großem Mitleid für die Opfer ergriffen; es gab förmliche Wallfahrten zur verwüsteten Grube; ganze Familien wanderten herbei, um bei dem schrecklichen Anblick der Trümmer zu erschauern, die so schwer auf den unglücklichen Begrabenen lasteten.

[509] Deneulin, zum Abteilungsingenieur ernannt, trat nach der Katastrophe sein Amt an. Seine erste Sorge war, den Kanal wieder einzudämmen, denn der reißende Strom vergrößerte mit jeder Stunde die Schäden; etwa hundert Arbeiter wurden zur Herstellung eines neuen Dammes eingestellt. Zweimal wurde er durch die Gewalt der Flut weggerissen. Dann stellte man Pumpen auf; es war ein erbitterter Kampf; Schritt für Schritt wurde der verlorene Boden wiedererobert.

Noch weit größer war der Eifer, der an die Rettung der verschütteten Arbeiter gesetzt wurde. Negrel war beauftragt, äußerste Anstrengungen zu versuchen, und es fehlte ihm dabei nicht an hilfreichen Armen; im Gefühl der Brüderlichkeit boten alle Bergleute sich ihm an. Sie vergaßen den Streik, dachten nicht an Bezahlung; da es sich darum handelte, Kameraden zu befreien, die in Lebensgefahr schwebten, wollten sie ihre Haut wagen und kümmerten sich nicht darum, ob man ihnen etwas gab oder nicht. Alle waren da mit ihren Werkzeugen, in zitternder Erwartung, wo man das Rettungswerk in Angriff nehmen solle. Viele waren noch krank, von nervösem Zittern geschüttelt, mit kaltem Schweiß bedeckt, eine Beute fortwährender Schreckensgesichter. Aber sie erhoben sich von ihrem Lager und zeigten sich als die Eifrigsten im Kampfe mit der Erde, als hätten sie an ihr Vergeltung zu üben. Unglücklicherweise begann die Verlegenheit gleich bei der ersten Frage: Was war zu tun? Wie sollte man hinabgelangen? Auf welcher Seite sollte der Angriff auf das Gestein beginnen?

Negrel war der Meinung, daß kein einziger der Unglücklichen mehr am Leben sei. Die fünfzehn Leute waren sicherlich umgekommen, ertrunken oder erstickt. Allein bei diesen Grubenkatastrophen war es Pflicht, anzunehmen, daß die verschütteten Leute noch lebten. Er traf also seine Maßnahmen. Die Aufseher und die alten Bergleute, die er zu Rate zog, waren einhellig folgender Meinung: Vor dem steigen den Wasser hatten sich die Kameraden von Galerie zu Galerie in die Höhe [510] geflüchtet, bis zu den höchsten Schlägen, so daß sie ohne Zweifel in einem der obersten Gänge eingeschlossen waren. Dies stimmte übrigens mit den Berichten des Vater Mouquet überein, dessen verworrene Erzählung sogar die Annahme gestattete, daß in der Kopflosigkeit der Flucht die Schar sich in kleine Gruppen aufgelöst habe, die sich auf alle Stockwerke verteilten. Doch über die Frage, wo Rettungsversuche möglich seien, gingen die Ansichten der Aufseher auseinander. Da die der Erdoberfläche am nächsten gelegenen Gänge in einer Tiefe von hundertfünfzig Meter lagen, konnte man nicht daran denken, einen Schacht zu bauen. Es blieb daher nur Réquillart als einziger Zugang, von dem aus man sich nähern konnte. Das schlimmste war, daß die alte Grube, gleichfalls überflutet, mit dem Voreuxschacht nicht mehr in Verbindung war; über dem Spiegel der unterirdischen Wasser waren nur Bruchstücke von Galerien frei, die mit dem ersten Absatz zusammenhingen. Das Auspumpen mußte Jahre in Anspruch nehmen; der vernünftigste Entschluß war, die Galerien zu untersuchen, um zu sehen, ob diese nicht an die überschwemmten Gänge stießen, an deren Ende man die Grubenarbeiter vermutete. Bevor man zu diesem Schluß gelangte, hatte man lange hin und her gestritten, um eine Menge von undurchführbaren Vorschlägen zu verwerfen.

Negrel durchsuchte die staubigen Archive, und als er die alten Pläne der beiden Gruben entdeckt hatte, studierte er sie und stellte die Punkte fest, wo das Rettungswerk versucht werden müsse. Diese Arbeit erhitzte ihn allmählich; trotz seiner spöttischen Gleichgültigkeit für Menschen und Dinge wurde er von einem fieberhaften Eifer ergriffen. Als man in Réquillart hinabzusteigen versuchte, ergaben sich die ersten Schwierigkeiten; man mußte die Hindernisse wegräumen, welche die Mündung des Schachtes verlegten, die Schlehen- und Hagedornsträucher ausrotten, die schadhaften Leitern ausbessern. Dann begann die Einfahrt. [511] Der Ingenieur, der mit zehn Arbeitern hinabstieg, ließ sie mit ihren eisernen Geräten an gewisse Stellen der Ader klopfen, die er ihnen bezeichnete; und in der tiefen Stille drückte jeder ein Ohr an die Wand und horchte, ob auf das Klopfen keine Erwiderung käme; doch vergebens durcheilte man alle Galerien, kein Echo antwortete. Die Verlegenheit wuchs: an welcher Stelle sollte die Schicht angegriffen werden? Wem sollte man sich zu nähern suchen? Schien doch niemand da zu sein. Sie suchten indes hartnäckig weiter mit wachsender Sorge.

Vom ersten Tage an erschien Frau Maheu schon am ersten Morgen zu Réquillart. Sie setzte sich am Eingang des Schachtes auf einen Balken und rührte sich nicht bis zum Abend. Wenn ein Mann heraufstieg, erhob sie sich und befragte ihn mit den Augen: Nichts? Nein, nichts. Sie setzte sich wieder und wartete weiter ohne ein Wort, mit hartem, verschlossenem Gesichte. Auch Johannes hatte, als er sein Versteck aufgestöbert sah, herumzuschleichen begonnen mit der Verstörtheit eines Raubtieres, dessen Beute durch Spürhunde verraten ist. Er dachte an den kleinen Soldaten, der unter dem Felsen lag; er fürchtete, man könne den Schläfer dort in seiner Ruhe stören. Allein jener Teil der Grube war überschwemmt, und die Nachforschungen richteten sich mehr nach links, zur Westgalerie. Anfänglich war auch Philomene gekommen, um Zacharias zu begleiten, der mit zur Rettungsmannschaft gehörte; dann fand sie es langweilig, ohne Grund und ohne Nutzen zu frieren; sie blieb zu Hause und verbrachte ihre Tage lässig und gleichgültig, hustend vom Morgen bis zum Abend. Zacharias hingegen hatte keine Ruhe mehr; er würde die Erde gegessen haben, um seine Schwester wiederzufinden. In seinen Träumen sah und hörte er sie, durch den Hunger ganz abgemagert, die Kehle zerrissen von unausgesetzten, verzweifelten Hilferufen. Zweimal hatte er ohne Wahl und Regel nachgraben wollen, indem er behauptete, da müsse es sein, er fühle es. Der Ingenieur [512] ließ ihn nicht mehr hinabsteigen; er entfernte sich nicht von diesem Schacht, aus dem er verjagt worden; er hatte nicht die Ruhe, neben seiner Mutter sitzend zu warten; ein Bedürfnis zu handeln trieb ihn unablässig umher.

So war der dritte Tag herangekommen. Negrel war verzweifelt und beschloß, am Abend die Rettungsarbeit einzustellen. Als er mittags nach dem Imbiß mit seinen Leuten zurückkehrte, um einen letzten Versuch zu machen, sah er zu seiner großen Überraschung Zacharias ganz rot, gestikulierend und schreiend, aus der Grube hervorkommen.

»Sie ist unten, sie hat mir geantwortet!« schrie er. »Kommt! Kommt!«

Er war trotz der Abwehr des Wächters die Leitern hinabgeschlüpft und versicherte, daß man unten im ersten Gang der Wilhelmader gepocht habe.

»Wir sind dort zweimal vorübergekommen«, bemerkte Negrel ungläubig. »Doch wir wollen sehen.«

Frau Maheu hatte sich erhoben, und man mußte sie gewaltsam hindern hinabzusteigen. Sie wartete am Rande des Schachtes und blickte starr in die Finsternis.

Unten führte Negrel selbst drei Schläge in größeren Abständen, dann drückte er sein Ohr an die Kohlenwand und gebot den Arbeitern tiefstes Schweigen. Er vernahm keinerlei Geräusch und schüttelte den Kopf; augenscheinlich hatte der arme Junge geträumt. Zacharias wurde wütend und pochte seinerseits an die Wand; dann horchte er, seine Augen glänzten, ein freudiges Beben schüttelte seine Glieder. Jetzt machten die anderen Arbeiter den Versuch; alle vernahmen sehr deutlich die von fern kommende Antwort. Der Ingenieur war erstaunt; er drückte noch einmal das Ohr an die Wand und vernahm schließlich ein Geräusch, ein kaum hörbares gleichmäßiges Pochen, den wohlbekannten Hilferuf der Bergleute, den sie klopfen, wenn sie in Gefahr sind. Die Kohle vermittelt den Ton sehr weit, [513] mit der Klarheit des Kristalls. Ein Aufseher schätzte die Dicke des Blocks, der sie von den verunglückten Kameraden trennte, auf nicht weniger als fünfzig Meter. Und doch brach helle Freude aus unter den Arbeitern, als könnten sie ihnen schon die Hände reichen. Negrel mußte augenblicklich die Arbeiten in Angriff nehmen.

Als Zacharias oben seine Mutter erblickte, sanken sie sich in die Arme.

»Freut euch nicht zu früh«, sagte grausam Frau Pierron, die aus Neugier einen Spaziergang nach der Grube gemacht hatte. »Wenn Katharina doch nicht unten wäre, würdet ihr euch nachher grämen.«

Das war richtig, Katharina war vielleicht anderswo.

»Laß mich in Frieden!« schrie Zacharias wütend. »Sie ist da, ich weiß es.«

Frau Maheu hatte sich wieder gesetzt und wartete stumm mit unbeweglichem Gesicht.

Als die Nachricht in Montsou eintraf, liefen die Leute herbei. Man sah nichts, aber man blieb doch da; man mußte die Neugierigen in angemessener Entfernung halten. Unten wurde Tag und Nacht gearbeitet. Aus Besorgnis, daß man auf ein Hindernis stoßen könne, hatte der Ingenieur drei Wege in absteigender Richtung durch die Ader schlagen lassen, die nach dem Punkte liefen, wo man die eingeschlossenen Arbeiter vermutete. Ein einziger Häuer konnte in dem engen Schlauch die Kohle schlagen; alle zwei Stunden ward er abgelöst; die Kohle ward in Körben hinausbefördert, die von Hand zu Hand gingen, durch eine Kette von Menschen, die sich immer verlängerte. Anfänglich ging die Arbeit sehr rasch: man kam an einem Tage sechs Meter weit.

Zacharias hatte die Erlaubnis erhalten, mit zu der auserlesenen Mannschaft zu gehören, welche die Gänge anlegte, ein Ehrenposten, um den man sich stritt. Er wurde böse, als man nach den vorschriftsmäßigen zwei Stunden schwerer Arbeit ihn ablösen wollte. Er erbettelte von den Kameraden ihren Anteil an der Arbeit [514] und weigerte sich, die Spitzhacke aus der Hand zu legen. Sein Weg war den anderen bald voraus; er bearbeitete die Kohle mit einem solchen Feuereifer, daß man seinen fauchenden Atem hörte, der aus einer unterirdischen Schmiedeesse zu kommen schien. Als er schwarz und beschmutzt, von Müdigkeit betäubt, hervorkroch, sank er zu Boden; man mußte ihn in eine Decke hüllen. Dann stieg er – noch wankend – wieder hinab, und der Kampf begann von neuem, die schweren, dumpfen Schläge, die unterdrückten Klagen, ein siegreiches Kämpfen. Das schlimmste war, daß die Kohle jetzt hart wurde; zweimal zerbrach er die Geräte in seiner Verzweiflung, nicht rasch genug vorwärts zu kommen. Er litt auch durch die Hitze, die mit jedem Meter, um den er vorrückte, zunahm und unerträglich wurde in der Tiefe dieses engen Schlundes, wo es keine Luftströmung gab. Wohl war ein Handventilator in Tätigkeit gesetzt worden; allein die Lüftung wollte nicht recht gelingen; dreimal wurden ohnmächtige Häuer herausgeholt, die zu ersticken drohten.

Negrel lebte bei seinen Arbeitern in der Grube. Man brachte ihm seine Mahlzeiten; zuweilen schlief er zwei Stunden auf einem Bund Stroh, in seinen Mantel gehüllt. Der Mut wurde aufrechterhalten durch das Flehen der Unglücklichen da unten, durch den immer deutlicher vernehmbaren Anruf, den sie an die Kohlenwand schlugen, damit man sich beeile. Das Pochen tönte jetzt sehr hell, mit musikalischer Klangfülle. Es gab den Arbeitern die Richtung; bei diesem kristallhellen Geräusche drangen sie vor, wie man in den Schlachten bei Kanonendonner vorrückt. Jedesmal, wenn ein Häuer abgelöst wurde, stieg Negrel hinab, klopfte an die Wand und preßte sein Ohr daran; und jedesmal – bis jetzt – war rasch und dringlich die Antwort gekommen. Er hatte keinen Zweifel mehr; man bewegte sich in der rechten Richtung; aber welche verhängnisvolle Langsamkeit! Man werde gewiß nicht rechtzeitig ankommen. Wohl hatte man in zwei Tagen dreizehn [515] Meter geschlagen; allein am dritten Tage waren es nur fünf Meter, am vierten Tage nur drei. Die Kohle wurde immer dichter und härter, so daß man jetzt kaum zwei Meter bewältigte. An neunten Tage war man – nach übermenschlichen Anstrengungen – zweiunddreißig Meter tief eingedrungen, und man berechnete, daß man noch zwanzig Meter zu schlagen habe. Für die Gefangenen begann der zwölfte Tag, zwölfmal vierundzwanzig Stunden ohne Brot, ohne Feuer, in Finsternis! Dieser entsetzliche Gedanke trieb allen die Tränen in die Augen und verlieh den ermattenden Armen neue Kraft. Die fernen Schläge wurden seit gestern schwächer; man zitterte, daß sie ganz aufhören könnten.

Frau Maheu erschien jeden Tag, um sich an der Mündung des Schachtes niederzusetzen. Sie brachte auf ihrem Arm Estelle mit, die nicht vom Morgen bis zum Abend allein bleiben konnte. Stunde um Stunde verfolgte sie so die Arbeit, teilte Hoffnungen und die Entmutigung der Arbeiter. In den harrenden Gruppen und weit umher bis nach Montsou herrschte fieberhafte Erwartung. Alle Herzen des Landes schlugen dort unten unter der Erde.

Als man am neunten Tage zur Frühstücksstunde Zacharias rief, um ihn ablösen zu lassen, antwortete er nicht. Er war wie wahnsinnig und hieb unter fortwährenden Flüchen auf die Wand ein. Negrel, der einen Augenblick den Gang verlassen hatte, konnte ihn nicht zum Gehorsam bringen; es waren nur noch ein Aufseher mit drei Bergleuten da. Ohne Zweifel hatte Zacharias, weil er ein schlechtes Licht hatte und wütend war über den flackernden Schein, der ihn in der Arbeit hinderte, die Unklugheit begangen, seine Lampe zu öffnen. Man hatte es streng verboten, um schlagende Wetter zu verhüten; das Gas lagerte dicht in diesen engen luftlosen Schläuchen. Plötzlich gab es einen Schlag, eine Feuergarbe schoß aus dem Schlauch hervor, wie aus dem Rohr einer Kanone. Alles flammte; die Luft entzündete sich wie Schießpulver, von einem Ende der [516] Galerien bis zum andern. Der Flammenstrom riß den Aufseher und die drei Arbeiter mit sich fort, fuhr durch den Schlund empor und brach mit großer Gewalt hervor, Steine und Balkentrümmer weit umherstreuend. Die neugierig harrenden Leute ergriffen die Flucht; Frau Maheu erhob sich, das entsetzt aufschreiende Kind an ihre Brust drückend.

Als Negrel und die Arbeiter zurückkehrten, wurden sie von Zorn ergriffen. Sie stampften die Erde, wie eine Stiefmutter, die in wahnsinniger Laune der Grausamkeit ihre Kinder tötet. Man opferte sich auf, um Kameraden zur Hilfe zu eilen, und nun mußte man noch mehr Leute verlieren! Nach drei Stunden mühseliger und gefahrvoller Arbeit konnte man endlich eindringen und die Opfer herausschaffen. Weder der Aufseher noch die Arbeiter waren tot; doch waren ihre Leiber mit furchtbaren Wunden bedeckt, die einen abscheulichen Geruch von verbranntem Fleisch verbreiteten. Sie hatten Feuer getrunken, das ihnen die Kehlen verbrannte, stießen ein unablässiges Geschrei aus und flehten, man möge ihnen den Tod geben. Einer der drei Arbeiter war jener Mann, der während des Streiks die Pumpe zu Gaston-Marie mit seiner Hacke in Trümmer geschlagen hatte; die anderen hatten zerschundene Hände, weil sie Ziegelstücke nach den Soldaten geschleudert hatten. Die bleiche, bebende Menge entblößte das Haupt, als die Verunglückten vorübergetragen wurden.

Frau Maheu wartete aufrecht stehend. Endlich kam Zacharias' Leiche zum Vorschein; die Kleider waren verbrannt, der Körper unkenntlich. Der Kopf war nicht mehr da; er war infolge der Explosion verschwunden. Als man diese schaudererregenden Reste auf eine Tragbahre gelegt hatte, folgte die Maheu mechanisch, mit glühenden, tränenleeren Augen. Sie hielt die schlafende Estelle in den Armen und ging – eine Schmerzensgestalt mit fliegenden Haaren – davon. Als der traurige Zug im Dorf ankam, war Philomene wie vom Donner gerührt; [517] ihre Augen verwandelten sich in einen unversieglichen Tränenquell, und dies brachte ihr Erleichterung. Doch schon war die Mutter nach Réquillart zurückgekehrt; sie hatte dem Sohne das Geleit gegeben und kam jetzt zurück, um die Tochter zu erwarten.

Dann vergingen noch drei Tage. Unter unerhörten Schwierigkeiten hatte man das Rettungswerk wieder aufgenommen; die Rettungswege waren gücklicherweise durch die schlagenden Wetter nicht eingestürzt; aber es herrschte darin eine so schlechte heiße Luft, daß man noch weitere Ventilatoren hatte aufstellen müssen. Alle zwanzig Minuten wurden die Häuer abgelöst. Die Arbeit machte Fortschritte, man war kaum noch zwei Meter von den Kameraden getrennt. Allein man arbeitete jetzt mit schwerem Herzen und hieb nur auf die Kohle los, um an ihr Rache zu nehmen; denn das Klopfen hatte aufgehört, das helle Pochen war nicht mehr zu vernehmen. Es war der zwölfte Arbeitstag und der fünfzehnte nach der Katastrophe; seit dem Morgen war Totenstille eingetreten.

Der neuerliche Unglücksfall verdoppelte die Neugier der Bevölkerung von Montsou; die Spießbürger veranstalteten Ausflüge mit solchem Eifer, daß die Grégoire sich entschlossen, den übrigen zu folgen. Man vereinbarte einen Auflug, und es wurde bestimmt, daß sie in Wagen nach dem Schacht fahren sollten, während Frau Hennebeau die Damen Luzie und Johanna Deneulin mitbringen sollte. Herr Deneulin sollte ihnen seinen Werkplatz zeigen, dann wollte man über Réquillart zurückkehren, wo sie von Negrel erfahren würden, wieweit die Galerien gediehen seien, und ob er noch immer Hoffnung habe. Am Abend werde man zusammen speisen.

Als gegen drei Uhr die Grégoire und ihre Tochter bei der eingestürzten Grube den Wagen verließen, fanden sie Frau Hennebeau, die schon angekommen war. Sie trug eine marineblaue Toilette und schützte sich mit einem Schirm gegen die bleiche Februarsonne. Der [518] Himmel war klar, das Wetter mild wie im Frühjahr. Herr Hennebeau war in Gesellschaft des Herrn Deneulin; er hörte mit zerstreutem Sinn die Erklärungen, die der letztere ihm über die großen Anstrengungen gab, die man hatte machen müssen, um den Kanal einzudämmen. Johanna, die stets ein Zeichenalbum mit sich führte, entwarf eine Skizze, entzückt von dem furchtbar-schönen Motiv; während Luzie, die auf einem zertrümmerten Karren neben ihr saß, gleichfalls Rufe wohlgefälligen Erstaunens ausstieß. Der Damm war noch unfertig und ließ durch zahlreiche Risse Wasser durchsickern, das sich schäumend in die ungeheure Grube ergoß. Indes leerte sich der Krater allmählich; das Wasser wurde von der Erde eingesogen; es sank immer mehr, so daß das furchtbare Durcheinander am Boden der Grube sichtbar wurde.

»Es lohnt wahrlich nicht die Mühe, sich das anzusehen!« rief Grégoire enttäuscht.

Cäcilie, rosig in ihrer blühenden Gesundheit, war glücklich, die reine Luft einzuatmen; sie scherzte in ihrem Frohsinn, während Frau Hennebeau angewidert war.

»Es ist wirklich nicht hübsch«, sagte sie.

Die beiden Ingenieure lachten. Sie suchten die Besucher zu interessieren, führten sie überall umher und erklärten ihnen die Arbeit der Pumpe und der Ramme. Doch die Damen wurden unruhig; sie schauerten, als sie erfuhren, daß die Pumpen vielleicht sechs, sieben Jahre zu arbeiten hätten, ehe die Grube wieder in betriebsfähigen Zustand gebracht werden könne. Nein, sie wollten lieber an anderes denken; diese Verwüstung verursache nur schlechte Träume.

»Brechen wir auf«, sagte Frau Hennebeau und lenkte ihre Schritte zu dem Wagen.

Johanna und Luzie widersprachen. Wie, so schnell? Die Zeichnung war noch nicht fertig. Sie wollten bleiben; der Vater werde sie am Abend zum Essen begleiten. [519] Herr Hennebeau nahm allein mit seiner Frau in dem Wagen Platz.

»Gut, fahren Sie voraus«, sagte Herr Grégoire. »Wir folgen Ihnen bald; wir haben einen kurzen Besuch im Arbeiterdorfe zu machen, hoffen aber gleichzeitig mit Ihnen in Réquillart einzutreffen.«

Er stieg hinter Frau und Tochter ein; und während der andere Wagen längs des Kanals dahinfuhr, erklomm der ihre langsam den Hügel des Arbeiterdorfes.

Sie wollten den Ausflug mit einer milden Handlung beschließen. Der Tod Zacharias' hatte sie mit tiefem Mitleid für die unglückliche Familie Maheu erfüllt, von der in der ganzen Gegend gesprochen wurde. Sie beklagten nicht den Vater, diesen Räuber, diesen Soldatentöter, den man niedergeschlagen hatte wie einen Wolf. Nur das Schicksal der Mutter rührte sie, dieser armen Frau, die ihren Sohn nach dem Gatten verlor, und deren Tochter, in der Grube verschüttet, vielleicht auch schon eine Leiche war; außerdem sprach man von einem siechen Großvater, von einem Sohn, dem ein Einsturz die Beine zerschlagen, und von einer Tochter, die während des Streiks verhungert war. Hatte auch die Familie ihr Unglück zum Teil verdient, so hatten sie doch beschlossen, Mildtätigkeit und Versöhnlichkeit zu bekunden, indem sie selbst ein Almosen brachten. Unter einer Bank ihres Wagens lagen zwei sorgfältig eingehüllte Pakete.

Ein altes Weib zeigte dem Kutscher das Haus der Maheu, Nummer 16 im zweiten Block. Doch als die Grégoire mit ihren Paketen den Wagen verlassen hatten, klopften sie vergebens an; schließlich bearbeiteten sie die Tür mit ihren Fäusten, ohne eine Antwort zu bekommen; das Haus hallte trübselig wider wie eine durch den Tod geleerte, längst verlassene Wohnstätte.

»Es ist niemand da«, sagte Cäcilie enttäuscht. »Das ist aber ärgerlich! Was sollen wir mit all dem Zeug anfangen?«

[520] Plötzlich öffnete sich die Tür des Nachbarhauses, und die Levaque erschien.

»Ach, bitte tausendmal um Vergebung, gnädiger Herr und gnädige Frau! ... Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein! ... Sie suchen die Nachbarin? Sie ist nicht zu Haus; sie ist in Réquillart ...«

In reichlichem Wortschwall erzählte sie ihnen die Geschichte, wiederholte ihnen, daß man sich gegenseitig unterstützen müsse, daß sie Leonore und Heinrich bei sich behalte, um der Mutter zu ermöglichen, in Réquillart das Ergebnis der Rettungsarbeiten abzuwarten. Ihre Blicke waren auf die Pakete gefallen, und sie begann von ihrer armen, verwitweten Tochter zu sprechen, ihr eigenes Elend zu schildern, wobei ihre Augen habgierig leuchteten. Dann murmelte sie mit zögernder Miene:

»Ich habe den Schlüssel. Wenn die Herrschaften durchaus hineingehen wollen ... Der Großvater ist da!«

Die Grégoire sahen sie erstaunt an. Wie? Der Großvater wäre da? Es hat doch niemand geantwortet! Schlief er denn? Als die Levaque sich entschlossen hatte, die Tür zu öffnen, standen sie verblüfft auf der Schwelle.

Bonnemort saß allein da, mit weit offenen, starren Augen, vor dem kalten Kamin an seinen Stuhl gefesselt. Die Stube schien jetzt größer, weil die Möbel aus gefirnißtem weichen Holz und die Kuckucksuhr, die den Wohnraum einst belebt hatten, nicht mehr da waren; und an den Wänden mit dem grünlichen, rohen Bewurf war nichts geblieben als die Bildnisse des Kaisers und der Kaiserin, deren rote Lippen wohlwollend lächelten. Der Alte rührte sich nicht und zuckte nicht einmal mit den Wimpern, als durch die offene Tür das helle Tageslicht hereinfiel; er verharrte auf seinem Platz mit toter Miene, als habe er alle die Leute nicht gesehen. Zu seinen Füßen stand eine mit Asche gefüllte Schüssel.

»Achten Sie nicht darauf, wenn er nicht höflich ist«, bemerkte die Levaque in verbindlichem Ton. »Es scheint [521] in seinem Kopf nicht alles richtig zu sein. Seit vierzehn Tagen redet er nicht mehr.«

Plötzlich wurde Bonnemort von einer Erschütterung ergriffen; es war ein tiefes Röcheln, das aus dem Leibe zu kommen schien; und er spie in die Schüssel seinen dicken, schwarzen Speichel. Die Asche war davon durchtränkt. Dann versank er wieder in seine Unbeweglichkeit; er rührte sich nur von Zeit zu Zeit, um zu speien.

Verwirrt und angeekelt rangen die Grégoire nach einigen freundlichen und ermutigenden Worten.

»Seid Ihr erkältet, mein Lieber?« sagte der Vater.

Der Alte blickte starr auf die Wand und wandte nicht den Kopf. Es trat wieder tiefe Stille ein.

»Man sollte Euch einen Brusttee kochen«, fügte die Mutter hinzu.

Er bewahrte seine lautlose Starrheit.

»Papa,« flüsterte Cäcilie, »man hat uns ja erzählt, daß er krank sei; aber wir haben nicht mehr daran gedacht ...«

Sie unterbrach sich sehr verlegen. Nachdem sie einen Topf mit Rindfleisch und zwei Flaschen Wein auf den Tisch gestellt hatte, öffnete sie das zweite Paket und zog ein Paar riesiger Schuhe hervor. Es war das für den Großvater bestimmte Geschenk, und sie hielt ganz verwirrt einen Schuh in jeder Hand, während sie die geschwollenen Füße des armen Mannes betrachtete, der wohl nie wieder gehen sollte.

»Die Schuhe kommen etwas spät, nicht wahr, Alter?« bemerkte Herr Grégoire, um die Unterhaltung ein wenig zu beleben; »aber das schadet nichts; besser spät als nie.«

Bonnemort hörte nicht und antwortete nicht; sein furchtbares Gesicht behielt die Kälte und Härte eines Steines.

Da stellte Cäcilie leise die Schuhe neben die Wand. Doch sie hatte vergebens Vorsicht geübt, die Nägel klangen hell auf den Fliesen. Das plumpe Schuhwerk in der kahlen Stube war ein Gegenstand der Verlegenheit.

[522] »Ach, der dankt nicht!« rief die Levaque mit einem Blick voll Begehrlichkeit nach den Schuhen. »Es ist geradeso gut, wie wenn sie einer Ente Brillen schenkten.«

In diesem Ton fortfahrend, bearbeitete sie die Grégoire, um sie in ihre Behausung zu locken, wo sie sie milder zu stimmen hoffte. Endlich ersann sie einen Vorwand; sie rühmte Leonore und Heinrich als artige, niedliche, kluge Kinder, die auf alle Fragen gescheit wie die Engel zu antworten wüßten. Sie würden alles sagen, was der gnädige Herr und die gnädige Frau zu wissen wünschten.

»Kommst du einen Augenblick hinüber, Mädel?« fragte der Vater, der froh war hinauszukommen.

»Ja, ich folge euch sogleich«, antwortete Cäcilie.

Sie blieb mit Bonnemort allein. Was die Zitternde hier festbannte, war der Umstand, daß sie den Alten wiederzuerkennen glaubte. Wo hatte sie dies viereckige, fahle, von der Kohle besprenkelte Gesicht schon gesehen? Plötzlich erinnerte sie sich; sie sah eine heulende Volksmenge, die sie umgab; sie fühlte kalte Hände, die ihr den Hals preßten. Er war es; sie erkannte den Mann, sie betrachtete die auf den Knien ruhenden Hände, die Riesenfäuste des hockenden Arbeiters, dessen ganze Kraft in den Handknöcheln lag. Bonnemort schien allmählich zu erwachen; er bemerkte sie und betrachtete sie mit finsterer Miene. Eine Flamme stieg in seine Wangen empor; ein nervöser Ruck verzerrte seinen Mund, aus dem ein dünner Faden schwarzen Speichels floß. Zueinander hingezogen, verharrten sie regungslos, sie blühend, frisch und wohlgenährt in der langen Trägheit und dem gesättigten Wohlergehen ihres Geschlechts; er vom Wasser aufgedunsen, in der jämmerlichen Scheußlichkeit eines gequälten Tieres, verderbt vom Vater auf den Sohn durch ein Jahrhundert Arbeit und Hunger ...

Als die Grégoire, überrascht, Cäcilie nicht kommen zu sehen, nach zehn Minuten zurückkehrten, brachen sie [523] in furchtbares Geschrei aus. Cäcilie lag auf der Erde, mit blauem Gesicht, erwürgt; an ihrem Halse waren die roten Spuren einer Faust zu sehen. Bonnemort war neben ihr zu Boden gesunken und konnte sich nicht erheben. Noch waren seine Hände gekrümmt; er betrachtete die Menschen mit stumpfer Miene und weit offenen Augen. Im Sturze hatte er seine Schüssel zerschlagen; die Asche war verschüttet, und der Schmutz des schwarzen Speichels hatte die ganze Stube bespritzt. Das mitgebrachte Paar plumper Schuhe stand unberührt an der Wand.

Es ist niemals gelungen, den Sachverhalt dieses schrecklichen Ereignisses genau festzustellen. Warum hatte Cäcilie sich ihm genähert? Wie hatte der an seinen Stuhl gefesselte Bonnemort sie am Halse fassen können? Augenscheinlich mußte er, als er sie einmal festhielt, in blinder Wut sie immer stärker gewürgt, ihr Schreien erstickt haben und mit ihr zu Boden gestürzt sein, bis sie den Geist aufgab. Kein Geräusch, keine Klage war durch die dünne Scheidewand des Nachbarhauses gedrungen. Man mußte an einen plötzlichen Wahnsinnsanfall glauben, an unerklärliche Mordgier beim Anblick dieses Mädchens. Eine solche Wildheit mußte verblüffen bei diesem siechen Greise, der bisher als rechtschaffener Mensch gelebt, als fügsames Tier, allen revolutionären Gedanken fremd. Welches Rachegelüst – ihm selbst unbekannt – war aus seinem Innern in seinen Schädel emporgestiegen? Im Entsetzen über diese Schauertat gelangte man zu dem Schluß, daß ein unbewußtes Verbrechen geschehen, das Verbrechen eines Irrsinnigen.

Die Grégoire lagen schluchzend, vom Schmerz er stickt, am Boden vor ihrer angebeteten Tochter, dieser so lang ersehnten Tochter, die sie mit allem Guten überhäuft hatten, zu deren Bett sie auf Fußspitzen geschlichen waren, um sie schlafen zu sehen. Mit ihr sank auch ihr eigenes Dasein in Trümmer; wozu fortan noch leben, ohne Cäcilie?

[524] Die Levaque schrie außer sich:

»Der alte Lump! Was hat er da angerichtet? Wer hätte das vermuten können? ... Und die Maheu wollte heute abend gar nicht heimkehren. Soll ich sie holen?«

Die Eltern der Ermordeten antworteten nicht; sie waren vernichtet.

»Ja, es wird besser sein ... Ich gehe sie holen.«

Doch bevor sie hinausging, warf die Levaque ihre Blicke auf die Schuhe. Das Dorf war in Aufregung geraten, die Menge drängte sich schon vor dem Hause; wie leicht könnten die Schuhe gestohlen werden. Auch war bei den Maheu kein Mann mehr, um sie zu tragen. Vorsichtig trug sie die Schuhe weg; sie mußten Bouteloup genau passen.

Das Ehepaar Hennebeau wartete in Réquillart mit Negrel lange auf die Grégoire. Der Ingenieur war aus der Grube heraufgekommen und erzählte Einzelheiten: man hoffe noch am Abend des nämlichen Tages die Verbindung mit den Eingeschlossenen herzustellen, aber man werde sicherlich nur Leichen finden, denn die Totenstille dauere fort. Hinter dem Ingenieur saß die Maheu auf einem Balken und hörte mit bleichem Gesicht seine Mitteilungen an, als die Levaque ankam und ihr die Missetat des Alten erzählte. Sie machte nur eine gereizte und ungeduldige Bewegung, doch folgte sie der Levaque.

Fünftes Kapitel

In der Grube unten schrien die unglücklichen Verlassenen in ihrem Entsetzen. Das Wasser reichte ihnen jetzt bis zum Leib. Das Rauschen des unterirdischen Stromes betäubte sie; bei dem Absturz der letzten Reste der Verzimmerung glaubten sie, die Welt sei aus den Fugen gegangen. Was ihnen vollends den Verstand raubte, war das Gewieher der im Stall eingeschlossenen Pferde: der furchtbare, unvergeßliche Todesschrei von Tieren, die hingemordet wurden.

[525] Mouquet hatte Bataille freigelassen; das alte Pferd sah zitternd, mit weit offenen, starren Augen, das Wasser immer höher steigen. Der Aufzugsraum füllte sich sehr rasch; in dem rötlichen Licht der drei Lampen, die noch an der Decke hingen, sah man die grünliche Flut anwachsen. Als das Tier das eiskalte Wasser fühlte, rannte es plötzlich davon und verlor sich in einer der Abfuhrgalerien.

Die Flucht wurde allgemein; die Männer folgten dem Tier.

»Hier ist nichts mehr zu machen!« rief Mouquet. »Man muß sich nach dem Réquillartschacht wenden.«

Der Gedanke, daß sie sich durch die benachbarte alte Grube retten könnten, wenn sie dort hinkämen, bevor ihnen der Weg abgeschnitten würde, riß alle fort. Die zwanzig Arbeiter drängten vorwärts, in eine Kette aufgelöst, die Lampen hoch, damit das Wasser sie nicht auslösche. Glücklicherweise stieg die Galerie sanft an; sie konnten zweihundert Meter zurücklegen, immer mit dem Wasser kämpfend. Alter Aberglaube erwachte in den verstörten Seelen; sie beschworen die Erde, denn die Erde rächte sich und ließ Blut ausströmen, weil man ihr eine Schlagader durchschnitten hatte. Ein Greis stammelte längst vergessene Gebete und bog die Daumen nach außen, um die bösen Berggeister zu besänftigen.

Doch bei der ersten Wegkreuzung brach Streit aus. Der Stallwärter wollte links gehen, andere versicherten, daß man den Weg abkürze, wenn man rechts gehe. So verlor man eine Minute.

»Was geht's mich an, wenn ihr die Knochen laßt?« rief Chaval. »Ich gehe in diese Richtung.«

Er wandte sich rechts, und zwei Kameraden folgten ihm. Die anderen liefen weiter hinter Mouquet, der in der Réquillartgrube aufgewachsen war. Allein auch er schwankte und wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Die Köpfe wurden irre; die Alten erkannten die Gänge nicht mehr, deren Netz sich in ihrem Gedächtnis [526] verwirrt hatte. Bei jeder Abzweigung blieben sie stehen, unsicher, nach welcher Richtung sie sich wenden sollten.

Etienne lief als letzter, durch Katharina zurückgehalten, der Ermüdung und Angst alle Kräfte genommen hatten. Er wäre mit Chaval nach rechts geflohen, weil er glaubte, dies sei der richtige Weg; aber er hatte ihn laufen lassen, auf die Gefahr hin, in der Grube zu bleiben. Übrigens dauerte die Auflösung der Schar fort; wieder waren einige abgezweigt, und es blieben nur noch sieben Leute bei dem alten Mouquet.

»Häng dich an meinen Hals, ich werde dich tragen«, sagte Etienne dem Mädchen, als er sah, daß es nicht weiter konnte.

»Nein, laß mich«, flüsterte sie, »ich vermag nicht zu folgen und will lieber gleich sterben.«

Sie waren stehengeblieben und etwa fünfzig Meter hinter den anderen zurück. Er hob sie trotz ihres Widerstandes empor, als die Galerie plötzlich verrammelt wurde; ein ungeheurer Block war niedergestürzt und trennte sie von den anderen. Die Überschwemmung lockerte bereits die Felsen; auf allen Seiten erfolgten Einstürze. Sie mußten umkehren. Dann wußten sie nicht mehr, nach welcher Richtung sie laufen sollten. Es war aus; sie mußten den Gedanken aufgeben, durch den Réquillartschacht aufzusteigen. Ihre einzige Hoffnung war, die höher gelegenen Schläge zu erreichen, wo man sie vielleicht nach dem Sinken des Wassers befreien würde.

Etienne erkannte endlich die Wilhelmader.

»Jetzt weiß ich, wo wir sind«, sagte er. »Wir waren auf dem richtigen Wege, aber jetzt ist's vorbei! ... Laß uns geradeaus gehen; wir werden durch den Kamin hinaufklettern.«

Das Wasser reichte ihnen bis an die Brust; sie kamen sehr langsam vorwärts. Solange sie Licht hatten, wollten sie nicht verzagen; sie löschten eine Lampe aus, um das Öl zu sparen und im Bedarfsfalle die andere nachzufüllen. Sie hatten eben den Kamin erreicht, als ein [527] Geräusch, das hinter ihnen entstand, sie den Kopf zu wenden veranlaßte. Kamen etwa die Kameraden zurück, weil ihnen gleichfalls der Weg verrammelt worden? Fauchen wurde immer deutlicher vernehmbar; entsetzt schrien sie auf, als sie eine weißgraue, riesige Masse aus dem Dunkel auftauchen sahen, die zwischen den engen Verschalungen mühsam vordrang.

Es war Bataille. Den Aufzugsraum verlassend, war das Pferd wie rasend durch die finstern Galerien gerannt. Es schien seinen Weg zu kennen in der unterirdischen Stadt, die es seit elf Jahren bewohnte; seine Augen sahen klar in der ewigen Nacht, in der es lebte. Es rannte und rannte mit gesenktem Kopfe durch die engen Gänge, die sein großer Körper ausfüllte. Es folgte Weg auf Weg, Kreuzung auf Kreuzung: für das Pferd gab es keinen Aufenthalt. Wohin stürmte es? Weithin vielleicht, nach der Vision seiner Jugend, nach der Mühle, wo es zur Welt gekommen, am Ufer der Scarpe; nach der unklaren Erinnerung an die Sonne, die wie eine ungeheure Lampe in der Luft brannte. Es wollte leben; sein tierisches Erinnerungsvermögen erwachte; das Verlangen, die frische Luft der Ebenen einzuatmen, trieb es immer geradeaus, bis es das Loch entdeckte, den Ausgang nach dem Licht. In seiner Verzweiflung schwand die lange Ergebenheit; diese Grube tötete es, nachdem sie es geblendet hatte. Das Wasser reichte ihm bis zu den Schenkeln, bis zum Bauch. Doch als es tiefer in die Galerien eindrang, wurden diese enger; die Wölbung senkte sich, die Mauern legten sich vor. Das Pferd aber rannte weiter, rieb sich blutig an den Wänden, ließ Fetzen seiner Haut an der Verzimmerung hängen. Es war, als verenge sich die Grube von allen Seiten, um das Tier zu fangen und zu ersticken.

Etienne und Katharina sahen es auf sich zukommen und zwischen den Felswänden sich verfangen. Es war gestrauchelt und hatte im Sturz die beiden Vorderbeine gebrochen. Mit einer letzten Anstrengung schleppte es sich noch einige Meter weit; doch seine Lenden waren [528] kraftlos; es war von der Erde umfangen, erwürgt. Es streckte den Kopf aus und suchte mit großen brechenden Augen einen Spalt. Das Wasser bedeckte es rasch; es begann zu wiehern; und dann folgte dasselbe furchtbare Röcheln, mit dem die andern Pferde schon im Stall verendet waren. Es war ein schrecklicher Todeskampf, in dem das alte, zerschlagene, unbewegliche Tier in dieser Tiefe, fern vom Tageslicht, sich wand. Sein Notschrei wollte kein Ende nehmen; die Flut benetzte schon seine Mähne, als das Todesröcheln noch rauh aus dem weit offenen Rachen kam. Ein letztes Glucksen, wie wenn eine Tonne sich füllt; dann ward alles still.

»O mein Gott! Führ' mich weg«, schluchzte Katharina. »O mein Gott! Ich habe Furcht. Ich will nicht sterben ... Führ' mich weg! Führ' mich weg!«

Sie hatte den Tod gesehen. Weder der Einsturz des Schachtes noch die Überschwemmung der Grube hatte ein solches Entsetzen in ihr hervorgerufen wie das Sterben des Pferdes Bataille. Sie hörte noch immer seinen Schrei; er gellte ihr in den Ohren, ihr ganzer Leib zitterte.

»Führ' mich weg! Führ' mich weg!«

Etienne packte sie und trug sie weiter. Es war übrigens Zeit; das Wasser reichte ihnen bis zu den Schultern, als sie in dem Kamin emporkletterten. Er mußte ihr helfen, denn sie hatte nicht mehr die Kraft, sich an den Hölzern festzuhalten. Dreimal war sie nahe daran, ihm zu entgleiten und in die tiefe Flut zurückzufallen, die hinter ihnen grollte. Sie konnten einige Augenblicke ausruhen, als sie den ersten Gang erreichten, der noch vom Wasser frei war. Es erschien aber bald, und sie mußten wieder klettern. Der Aufstieg währte stundenlang; das Wasser jagte sie von Gang zu Gang, nötigte sie immer höher hinaufzuklettern. In der sechsten Galerie trat ein Stillstand ein, der sie mit neuer Hoffnung erfüllte; es schien, als bleibe die Wasserhöhe unverändert. Doch bald setzte ein stärkeres Steigen ein; sie mußten in die siebente, dann in die achte Galerie. Es [529] blieb ihnen nur noch eine einzige, und als sie dieselbe erreicht hatten, sahen sie mit Schrecken, wie das Wasser zollweise zunahm.

Jeden Augenblick erfolgten Einstürze mit hallendem Krachen. Die ganze Mine war erschüttert; ihr Inneres war zu schwach und sank in Trümmer unter dem Druck des Meeres, das sie ersäufte. Am Ende der Galerien sammelte sich die zurückgedrängte Luft, verdichtete sich und entlud sich in furchtbaren Explosionen zwischen den geborstenen und den eingestürzten Felsen.

Erschüttert und betäubt von diesem ewigen Getöse, faltete Katharina die Hände und stammelte unaufhörlich dieselben Worte:

»Ich will nicht sterben ... Ich will nicht sterben ...«

Um sie zu beruhigen, versicherte Etienne, daß das Wasser sich nicht mehr rühre. Die Flucht währte schon sechs Stunden; man werde ihnen sicherlich bald zu Hilfe kommen. Er sagte sechs Stunden, ohne es genau zu wissen, denn sie verloren das Bewußtsein der Zeit. In Wirklichkeit hatte ihr Aufstieg in der Wilhelmader einen ganzen Tag gedauert.

Durchnäßt und fröstelnd, richteten sie sich ein. Da sie barfüßig war, zwang er sie, seine Holzschuhe zu nehmen. Sie konnten jetzt geduldiger warten; sie hatten den Docht ihrer Lampe niedriger gestellt, daß sie nur das schwache Licht eines Nachtlämpchens gab. Doch beiden wurde der Magen von Krämpfen gequält, und jetzt erst wurden sie ihres großen Hungers gewahr. Im Augenblick der Katastrophe hatten sie noch nicht gefrühstückt, und sie fanden jetzt ihre Brotschnitten von Wasser durchweicht, in Brei verwandelt. Als sie gegessen hatte, schlief sie vor Ermüdung sofort auf der kalten Erde ein. Er fand in seiner fieberhaften Erregung keinen Schlaf und wachte bei ihr, den Kopf auf die Hände gestützt, mit stieren Augen.

Wie viele Stunden so verflossen, er hätte es nicht zu sagen vermocht. Was er wußte, war, daß vor ihm – [530] durch den Kamin aufsteigend – die schwarze bewegliche Flut wieder erschien, das Tier, dessen Rücken unaufhörlich anschwoll, um sie zu erreichen. Von Angst ergriffen, zögerte er, sie zu wecken. War es nicht grausam, sie in ihrer Ruhe zu stören, in ihrem tiefen Schlafe, der sie vielleicht in einen Traum von Sonne und frischer Luft wiegte? Er sann nach und erinnerte sich, daß die in diesem Teil der Wilhelmader angelegte schiefe Ebene am äußersten Ende eine Verbindung habe mit der schiefen Ebene, die für den Dienst des oberen Aufzugsraumes angelegt war. Er ließ sie noch lange schlafen, bis die Flut, deren Steigen er unablässig beobachtete, sie verjagte. Endlich hob er sie sanft auf, und sie fuhr in heftigem Frösteln zusammen.

»Ach, mein Gott, es ist wahr! ... Es beginnt wieder.«

Sie erinnerte sich und schrie auf, als sie sich von neuem so nahe dem Tode sah.

»Nein, beruhige dich«, murmelte er. »Man kann hindurchkommen, ich schwöre es dir.«

Um zu der schiefen Ebene zu gelangen, mußten sie bis zu den Schultern im Wasser gehen. Der Aufstieg begann durch den verzimmerten Schlund von hundert Meter Länge. Er kletterte hinter ihr und hielt sie mit dem Schädel fest, wenn ihre blutenden, zerschundenen Hände abglitten. Plötzlich stießen sie an Balkensplitter, welche die schiefe Bahn verrammelten. Erde war abgerutscht; ein Einsturz hinderte sie, höher hinaufzudringen. Glücklicherweise war eine Tür da, die in einen Gang führte.

Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen erblickten sie vor sich ein Lampenlicht. Ein Mann rief ihnen wütend zu:

»Gibt es noch mehr solche Dummköpfe wie ich?«

Sie erkannten Chaval; er war durch den Einsturz abgeschnitten worden; die zwei Kameraden, die mit ihm aufgebrochen, waren mit gespaltenem Schädel unterwegs liegengeblieben. Er selbst war am Ellbogen verletzt und hatte den Mut gehabt, auf allen vieren kriechend zurückzukehren, um ihre Lampen und Brotschnitten [531] an sich zu nehmen. Als er dann flüchtete, verlegte ein letzter Einsturz hinter ihm die Galerie.

Er weigerte sich, seine Vorräte mit den Leuten zu teilen, die aus der Erde hervorkamen. Er hätte sie umbringen mögen. Dann erkannte er die beiden, sein Zorn schwand, und er brach in boshaftes Gelächter aus.

»Ach, du bist's, Katharina? Du bist übel gefahren und kehrst zu deinem Mann zurück, wie? Gut, gut, wir wollen zusammen Hochzeit halten.«

Er tat, als sehe er Etienne nicht. Dieser war bestürzt über das Zusammentreffen und hatte eine Bewegung gemacht, um Katharina zu schützen, die sich an ihn schmiegte. Indes mußte er sich in die Lage finden. Er fragte einfach den Kameraden, als seien sie vor einer Stunde in bester Freundschaft geschieden:

»Hast du dich unten umgesehen? Kann man nicht durch die Schläge hindurchkommen?«

Chaval antwortete in seinem höhnischen Ton:

»Ach, die Schläge! Die sind sämtlich eingestürzt; wir befinden uns zwischen zwei Mauern, in einer wahren Mausefalle ... Aber du kannst über die schiefe Ebene zurückkehren, wenn du ein guter Taucher bist.«

In der Tat stieg das Wasser wieder, man hörte das Geplätscher. Der Rückweg war abgeschnitten. Er hatte recht, es war eine Mausefalle, vorn und hinten durch Felsen verrammelt. Kein Ausweg, die drei waren eingemauert.

»Du bleibst also da?« fuhr Chaval höhnisch fort. »Es ist das beste, was du tun kannst, und wenn du mich in Ruhe läßt, will ich nicht ein Wort mit dir reden. Es ist nur Platz für zwei Menschen hier ... Wir werden sehen, wer zuerst stirbt. Es sei denn, daß man kommt, uns zu retten, und das scheint mir schwer möglich.«

»Wenn wir an die Wand pochten, würde man uns vielleicht hören«, hub Etienne wieder an.

»Ich bin des Pochens schon überdrüssig ... Da, versuche es selbst mit diesem Stein.«

[532] Etienne hob das Stück Sandstein auf, das der andere schon zum Teil zerbröckelt hatte, und schlug damit an die Wand im Hintergründe den Hilferuf der Bergleute, das anhaltende Trommeln, womit die in Not geratenen Bergleute stets ihre Anwesenheit bekanntgeben. Dann drückte er das Ohr an die Wand, um zu horchen. Diesen Vorgang wiederholte er zwanzigmal, doch von außen kam keine Antwort.

Inzwischen richtete sich Chaval mit erheuchelter Ruhe häuslich ein. Zunächst stellte er seine drei Lampen an die Wand; nur eine brannte, die anderen sollten später an die Reihe kommen. Dann legte er auf einen Balken die zwei Brotschnitten, die er noch besaß. Das war sein Speiseschrank; bei kluger Wirtschaft werde er mit diesem Vorrat zwei Tage reichen. Zu Katharina sagte er:

»Die Hälfte ist für dich, wenn du gar zu hungrig wirst.«

Das Mädchen schwieg. Um das Maß ihres Unglücks vollzumachen, mußte sie sich nun zwischen diesen beiden Männern befinden.

Chaval und Etienne saßen einige Schritte voneinander entfernt auf dem Boden; keiner von beiden öffnete den Mund. Auf eine Bemerkung Chavals löschte Etienne seine Lampe aus, damit kein Licht verschwendet werde. Dann trat wieder Stille ein. Beunruhigt durch die Blicke, die ihr ehemaliger Geliebter ihr zuwarf, hatte Katharina sich in der Nähe des jungen Mannes ausgestreckt. Die Stunden gingen dahin; man hörte das leise Plätschern des unaufhörlich steigenden Wassers, während von Zeit zu Zeit dumpfe Stöße und fernes Getöse die letzten Einstürze der Grube kündeten. Als die Lampe ausgebrannt war und man eine andere öffnen mußte, um sie anzuzünden, wurden sie von der Angst vor schlagenden Wettern erfaßt; allein sie wollten lieber gleich in die Luft fliegen als in Finsternis bleiben. Es gab indes keine Explosion, sie flogen nicht in die Luft. Sie hatten [533] sich wieder auf der Erde ausgestreckt, und Stunde auf Stunde verrann.

Etienne und Katharina hoben den Kopf, als sie zu ihrer Überraschung ein Geräusch vernahmen. Chaval hatte sich entschlossen zu essen; er hatte die Hälfte einer Brotschnitte genommen und kaute seine Bissen lange, um nicht versucht zu werden, alles auf einmal zu verschlingen. Die zwei waren vom Hunger gefoltert und sahen ihm zu, wie er aß.

»Ist's wirklich wahr, du weist deinen Anteil zurück?« sagte er zu der Schlepperin mit seiner herausfordernden Stimme. »Du tust unrecht.«

Sie hatte die Augen gesenkt, weil sie fürchtete, daß sie der Versuchung nachgeben könne. Ihr Magen war von solchen Krämpfen durchwühlt, daß ihr Tränen aus den Augen rannen. Aber sie begriff, was er wollte. In den Blicken, mit denen er sie rief, loderte eine Flamme, die ihr wohlbekannt war, die Flamme seiner Eifersuchtsanfälle, in denen er sie mit Faustschlägen bearbeitete. Mein Gott! Konnte man denn nicht in Freundschaft aus dem Leben scheiden?

Etienne wäre lieber Hungers gestorben, ehe er Chaval um einen Bissen Brot angegangen wäre. Dumpfe Stille war wieder eingetreten; die Zeit verlängerte sich zur Ewigkeit; Minute reihte sich an Minute, eintönig und hoffnungslos. Ein Tag war vergangen, seitdem sie zusammen eingeschlossen waren. Die zweite Lampe erlosch, sie zündeten die dritte an.

Chaval griff seine zweite Brotschnitte an und brummte:

»So komm' doch, Dummkopf!«

Katharina fuhr zusammen. Etienne wandte sich ab, um ihr ihre Freiheit zu lassen. Als sie sich noch immer nicht rührte, sagte er leise:

»Geh hin, mein Kind!«

Da stürzten ihr die Tränen hervor, die sie fast erstickten. Sie weinte lange und fand nicht die Kraft, sich [534] zu erheben; sie wußte nicht mehr, ob sie Hunger habe, und litt unter einem Schmerz, der ihren ganzen Körper ergriffen hatte. Etienne hatte sich erhoben, ging hin und her und schlug den Hilferuf der Bergleute, wütend darüber, daß er den Rest des Lebens hier Seite an Seite mit dem verhaßten Nebenbuhler zuzubringen genötigt war. Wenn er zehn Schritte gemacht hatte, mußte er umkehren und gegen diesen Menschen stoßen. Und sie, das traurige Mädchen, um das sie noch unter der Erde stritten: sie werde dem letzten Lebenden gehören; dieser Mensch werde sie ihm wieder stehlen, wenn er zuerst von hinnen gehen sollte. Stunden folgten auf Stunden; das Zusammenleben wurde immer unerträglicher. Zweimal rannte Etienne gegen den Felsen, als wolle er sich mit Faustschlägen einen Weg bahnen.

Chaval hatte sich zu Katharina gesetzt und mit ihr die letzte halbe Brotschnitte geteilt. Sie kaute mühselig, und er machte sich für jeden Bissen mit einer Liebkosung bezahlt in seiner Eifersucht. Erschöpft ließ sie ihn gewähren; doch als er sie ergreifen wollte, klagte sie.

»Ach, laß mich, du zerbrichst mir die Knochen.«

Etienne zitterte am ganzen Leibe; er hatte die Stirn gegen die Hölzer gedrückt, um nichts zu sehen. Doch jetzt verließ ihn seine Ruhe, und mit einem Satz kam er zurück.

»Laß sie los!« schrie er.

»Was geht es dich an?« entgegnete Chaval. »Sie ist mein Weib!«

Er ergriff sie wieder und drückte sie an sich aus reiner Prahlerei; und während er seinen roten Schnurrbart auf ihren Mund preßte, fuhr er fort:

»Laß uns in Frieden und tue uns den Gefallen wegzuschauen!«

Doch Etienne rief mit bleichen Lippen:

»Laß sie los, oder ich erwürge dich!«

Hastig erhob sich der andere; er hatte an dem Zischen der Stimme des Kameraden erkannt, daß er ein Ende [535] machen wolle. Der Tod schien ihnen zu langsam zu kommen; jetzt, sofort mußte der eine dem andern Platz machen.

»Nimm dich in acht!« brummte Chaval. »Diesmal töte ich dich!«

Etienne war in diesem Augenblick wie toll. Roter Nebel trübte seine Augen; ein Blutstrom stieg ihm in die Kehle und drohte ihn zu ersticken. Das Bedürfnis zu töten erfaßte ihn unwiderstehlich, ein körperliches Bedürfnis, gleich dem Reiz der Schleimhaut, der einen Hustenanfall hervorruft. Er ergriff einen aus der Wand hervorragenden Schieferblock, lockerte ihn und riß ihn heraus; es war ein breites, schweres Stück. Er packte es mit verzehnfachter Kraft und schlug damit auf Chavals Schädel.

Dieser hatte nicht mehr Zeit gehabt zurückzuspringen; mit gespaltenem Schädel und zermalmtem Gesicht sank er zu Boden. Das Gehirn war zur Decke der Galerie emporgespritzt; ein roter Strahl schoß aus der entsetzlichen Wunde, gleich dem unaufhörlichen Strahl einer Quelle. Eine Blutlache entstand, in der das rauchige Licht der Lampe sich widerspiegelte. Schatten lagerte auf der gemauerten Höhle; die Leiche am Boden glich einem Haufen von Kohlenabfällen.

Etienne beugte sich nieder und betrachtete mit weit geöffneten Augen den Erschlagenen. So war es denn geschehen: er hatte getötet. Die verworrene Erinnerung an alle seine Kämpfe stieg in ihm auf; der unnütze Widerstand gegen das in seinen Muskeln schlummernde Gift, gegen den von seinem ganzen Geschlecht langsam angesammelten Alkohol. Seine Haare sträubten sich vor der Abscheulichkeit dieses Mordes; trotzdem seine bessere Einsicht sich dagegen auflehnte, schlug sein Herz stürmisch in der tierischen Freude, endlich seine Gier befriedigt zu haben. Dann stieg der Stolz des Stärkeren in ihm auf. Der kleine Soldat tauchte vor ihm auf, dessen Hals vom Messer eines Knaben durchbohrt war. Jetzt hatte auch er getötet.

[536] Katharina, die neben ihm stand, stieß einen Schrei aus.

»Mein Gott, er ist tot!«

»Bedauerst du ihn?« fragte Etienne wild.

Sie erstickte fast und brachte kein Wort hervor; dann wankte sie und warf sich ihm in die Arme.

»Ach, töte auch mich! Laß uns beide sterben!«

Sie umschlang ihn, hängte sich an seine Schultern, und auch er preßte sie an sich, und sie hofften so zu sterben. Doch der Tod hatte keine Eile; ihre Arme lösten sich wieder. Dann – während sie die Hände vor die Augen legte – schleppte er den Erbärmlichen fort und warf ihn in die schiefe Ebene hinab, um ihn aus dem engen Raum zu entfernen, wo sie noch verweilen mußten. Mit dieser Leiche zu Füßen wäre das Leben unmöglich gewesen. Sie entsetzten sich von neuem, als sie ihn ins Wasser fallen hörten, daß der Gischt hoch aufspritzte. Das Wasser hatte also auch dies Loch schon angefüllt; sie sahen es; es erreichte schon die Galerie.

Sie hatten die letzte Lampe angezündet, die das Wasser beleuchtete, das unaufhaltsam stieg. Zuerst reichte es ihnen bis zu den Knöcheln, dann bespülte es ihr Knie. Der Gang war abschüssig angelegt; sie flüchteten in den Hintergrund, und dies gewährte ihnen Ruhe für einige Stunden. Allein die Flut erreichte sie wieder; sie standen bis zum Gürtel im Wasser. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt betrachteten sie das unablässige Steigen des Wassers. Wenn es ihren Mund erreichte, war es aus. Die Lampe, die sie aufgehängt hatten, warf fahles, gelbes Licht auf die sich kräuselnde Wasserfläche; das Licht wurde immer blasser, sie sahen bald nur einen Halbkreis, der immer kleiner wurde, gleichsam verzehrt von dem Schatten, der mit der Flut zu wachsen schien. Plötzlich waren sie in Dunkel gehüllt, die Lampe war erloschen, nachdem sie den letzten Tropfen Öl aufgesogen hatte. Es war vollständige Nacht; die Nacht der Erde, wo sie schlafen würden, ohne jemals die Augen im Sonnenlicht wieder zu öffnen.

»Donner Gottes!« fluchte Etienne.

[537] Katharina suchte Schutz an seinem Körper. Mit leiser Stimme flüsterte sie das Wort der Bergleute:

»Der Tod löscht die Lampe aus.«

Doch bald erwachte ihr Lebenstrieb von neuem. Etienne begann mit dem Haken der Lampe heftig die Wand zu bearbeiten, um sie auszuhöhlen, und sie half ihm mit ihren Fingernägeln. So stellten sie eine Art Bank her, und als sie hinaufgeklettert waren, saßen sie mit hängenden Beinen und gebeugtem Rücken, denn die Wölbung zwang sie den Kopf zu neigen. Das Wasser benetzte jetzt nur ihre Sohlen; aber bald fühlten sie eisige Kälte an Knöcheln, Waden und Knien. Die Bank bedeckte sich mit glitschiger Nässe, so daß sie sich fest anklammern mußten, um nicht hinabzugleiten. Es war das Ende; wie lange würden sie aushalten können in dieser Nische, die ihr letzter Zufluchtsort war, wo sie nicht eine Bewegung zu machen wagten, erschöpft, ausgehungert, ohne Brot, ohne Licht? Sie litten hauptsächlich durch die Finsternis; es herrschte tiefe Stille; in der ersäuften Grube regte sich nichts. Sie fühlten jetzt unter ihren Füßen nichts mehr als dies Meer, dessen Flut aus den Tiefen der Galerien unablässig genährt wurde.

Die Qual ließ die Minuten rasch dahinschwinden anstatt sie zu verlängern. Sie glaubten erst seit zwei Tagen und einer Nacht eingeschlossen zu sein, während in Wirklichkeit schon der dritte Tag zu Ende ging. Alle Hoffnung auf Hilfe war geschwunden; niemand wußte, daß sie da seien; niemand hatte die Macht hierherzugelangen; wenn die Überschwemmung sie nicht verschlang, mußten sie vor Hunger umkommen. Ein letztes Mal waren sie auf den Einfall gekommen, den Hilferuf zu pochen; allein das Stück Sandstein war unten liegengeblieben. Wer würde sie übrigens hören?

Katharina hatte ihr schmerzendes Haupt mutlos an die Wand gelehnt, als sie plötzlich erbebte und sich aufrichtete.

»Horch!« sagte sie.

[538] Zuerst glaubte Etienne, sie spreche von dem leisen Geräusch, der steigenden Flut. Er log, um sie zu beruhigen.

»Mich hörst du; ich bewege die Beine.«

»Nein, nein, nicht das ... Da unten, horch!«

Und sie drückte das Ohr an die Kohlenwand. Er begriff und tat wie sie. Beklommenen Herzens harrten sie einige Sekunden. Dann hörten sie aus weiter Ferne drei Schläge, sehr leise und in großen Zwischenräumen. Aber sie zweifelten noch; ihre Ohren klangen; es war vielleicht ein Krachen in der Erde. Sie wußten nicht, womit sie pochen sollten, um zu antworten.

Etienne hatte einen Einfall.

»Du hast deine Holzschuhe; hebe die Füße und poche mit den Absätzen.«

Sie pochte den Hilferuf der Bergleute; und sie horchten und unterschieden abermals drei Schläge aus der Ferne. Zwanzigmal begannen sie von neuem, und zwanzigmal kam die Antwort. Sie weinten vor Ergriffenheit und umarmten sich, auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren. Endlich waren die Kameraden da; endlich kamen sie. Im Überströmen ihrer Freude und ihrer Liebe schwanden die Qualen des Harrens, die Wut über die lange vergebens wiederholten Anrufe, als ob die Retter den Felsen spalten könnten, um sie zu befreien.

»Ist es nicht ein Glück, daß ich den Kopf an die Wand gelehnt habe?« rief sie fröhlich aus.

»Du hast ein feines Ohr!« antwortete er. »Ich habe nichts gehört.«

Von diesem Augenblick an lösten sie einander ab; immer horchte einer, bereit, auf das leiseste Signal zu antworten. Bald hörten sie die mit der Spitzhacke geführten Hiebe; man begann die Rettungsarbeiten, eine Galerie wurde angelegt. Nicht das geringste Geräusch entging ihnen. Doch rasch sank ihre Freude. Vergebens lachten sie, um sich gegenseitig über ihre Stimmung zu täuschen; die Verzweiflung bemächtigte sich ihrer [539] wieder. Anfänglich ergingen sie sich in weitläufigen Erklärungen: man nähere sich ihnen augenscheinlich durch die Réquillartgrube; die Galerie senke sich durch die Kohlenschicht herab; vielleicht lege man mehrere an; denn es seien drei Männer bei der Arbeit. Dann redeten sie weniger, und schließlich schwiegen sie ganz, wenn sie die ungeheure Gesteinmasse berechneten, die sie von den Kameraden trennte. In der Stille spannen sie ihre Gedanken fort; sie berechneten, wie viele Tage und Nächte ein Arbeiter brauche, um einen solchen Block durchzuschlagen. Man werde sie nicht früh genug erreichen; sie würden bis dahin zwanzigmal gestorben sein. In düsterer Stimmung, ohne in ihrer erhöhten Angst ein Wort auszutauschen, antworteten sie auf die Anrufe mit einem anhaltenden Pochen der Holzschuhe ohne Hoffnung, nur in dem mechanischen Bedürfnis, jenen kundzugeben, daß sie noch lebten.

Es verging ein Tag und noch ein zweiter. Sie waren seit sechs Tagen in der Grube. Das Wasser, das ihnen bis zu den Knien reichte, stieg nicht mehr und sank auch nicht; ihre Beine schienen in dem eisigen Bade zu zerfließen. Auf eine Stunde konnten sie sie wohl heraufziehen, aber ihre Lage wurde dann so unbequem, daß sie, von schrecklichen Krämpfen erfaßt, die Beine wieder hängen lassen mußten. Alle zehn Minuten rückten sie auf den glitschigen Felsen hinauf. Die Kanten der Kohlenwand zerrissen ihnen den Rücken; sie fühlten im Nacken einen dauernden, heftigen Schmerz, weil sie immer gebeugt sitzen mußten, um sich den Schädel nicht einzustoßen. Das Atmen wurde immer schwieriger; die vom Wasser zurückgedrängte Luft verdichtete sich in dieser Glocke, in der sie eingeschlossen waren. Ihre gedämpften Stimmen schienen weither zu kommen. Ihre Ohren summten; es war, als hörten sie schrilles Sturmläuten, den Galopp einer Herde unter endlosem Hagelschauer.

Anfänglich litt Katharina furchtbar durch den Hunger. Sie fuhr mit den mageren, gekrümmten Händen[540] nach der Kehle, aus der ihr keuchender Atem hervorbrach, eine fortwährende, herzzerreißende Klage. Es war, als wolle man ihr mit einer Zange den Magen aus dem Leibe reißen. Etienne, der die nämlichen Qualen litt, tastete fieberhaft umher in der Finsternis, und als seine Finger auf ein morsches Stück der Verzimmerung stießen, zermalmte er es mit den Fingernägeln und gab eine Handvoll dem Mädchen, das den Holszstaub gierig verschlang. Zwei Tage lebten sie von morschem Holz; sie verzehrten das ganze Stück und waren trostlos, als es zu Ende war; sie zerrissen sich die Hände, um ein anderes Stück zu finden, es gelang aber nicht, die anderen Hölzer waren fest, ihre Fasern gaben nicht nach. Ihre Marter wurde immer größer; sie waren wütend, daß sie die Leinwand ihrer Kleidung nicht zerkauen konnten. Ein Ledergürtel, der die Jacke zusammenhielt, brachte ihnen kurze Hilfe. Er zerlegte ihn mit den Zähnen in kleine Fetzen, die sie zermalmte und verschlang. Es beschäftigte ihre Kinnladen; sie konnten sich einbilden, daß sie aßen. Als der Ledergürtel aufgezehrt war, machten sie sich wieder an die Leinwand, an der sie stundenlang sogen.

Doch diese heftigen Anfälle legten sich bald; der Hunger war nur noch ein tiefer, dumpfer Schmerz, das langsame, fortschreitende Ermatten aller Kräfte. Sie wären sicherlich ihren Leiden erlegen, wenn sie nicht Wasser gehabt hätten, soviel sie wollten. Sie brauchten sich nur zu bücken und konnten aus der hohlen Hand trinken. Dies taten sie auch unzählige Male, von einem solchen Durst gequält, daß all das Wasser nicht hingereicht hätte, ihn zu löschen.

Als Katharina am siebenten Tage sich bückte, um zu trinken, stieß ihre Hand an einen schwimmenden Körper.

»Schau ... was ist das?« sagte sie.

Etienne tastete in der Finsternis.

»Ich begreife nicht; es ist wie die Decke einer Lüftungstür.«

[541] Sie trank; doch als sie ein zweites Mal schöpfen wollte, traf ihre Hand wieder den Körper, und sie stieß einen furchtbaren Schrei aus.

»Mein Gott, er ist's!«

»Wer denn?«

»Er, du weißt! ... Ich habe seinen Schnurrbart gefühlt.«

Es war die Leiche Chavals, die, durch die Flut heraufgeschwemmt, bis zu ihnen gekommen war. Etienne streckte den Arm aus und fühlte nun auch den Schnurrbart und die plattgeschlagene Nase. Ein Schauer des Ekels und der Furcht schüttelte ihn. Von fürchterlichem Abscheu ergriffen, spie Katharina das Wasser aus. Es war ihr, als habe sie Blut getrunken, als sei jetzt all das tiefe Wasser vor ihr das Blut dieses Menschen.

»Wart'«, stammelte Etienne; »ich will ihn wieder fortschicken.«

Mit einem Fußtritte stieß er die Leiche weg; doch bald fühlten sie sie wieder an ihren Beinen.

»So geh doch zum Teufel!« rief Etienne.

Ein drittes Mal mußte er ihn herankommen lassen. Die Strömung schwemmte den Leichnam immer wieder herbei. Chaval wollte sich nicht entfernen; er wollte ganz nahe bei ihnen sein. Es war ein furchtbarer Genosse, der die Luft verpestete. An diesem Tage tranken sie nicht; sie kämpften gegen den Durst und wollten lieber sterben; erst am folgenden Tage zwang sie die Qual; sie stießen bei jedem Schluck die Leiche weg. Es war nicht der Mühe wert gewesen, ihm den Schädel zu zerschlagen, wenn er in seiner hartnäckigen Eifersucht wiederkam. Bis ans Ende wollte er da sein, selbst als Leiche, um sie zu ängstigen.

Noch ein Tag und wieder ein Tag. Bei jedem Kräuseln des Wassers empfing Etienne einen leichten Stoß des Mannes, den er getötet hatte; es war gleichsam die Berührung eines Nachbarn mit dem Ellbogen, zur Erinnerung, daß er da sei. Und jedesmal erbebte er. [542] Unaufhörlich sah er ihn, aufgedunsen, grün, mit dem roten Schnurrbart in dem zermalmten Gesicht. Dann verwirrten sich seine Erinnerungen; er hatte ihn nicht getötet; der andere schwamm einfach da herum und wollte ihn beißen. Katharina wurde jetzt von endlosen Weinkrämpfen geschüttelt, nach denen sie jedesmal in vollständige Erschöpfung versank. Sie verfiel schließlich in einen Zustand unbezwinglicher Schlafsucht. Er weckte sie; sie stammelte unverständliche Worte und schlief sogleich wieder ein, ohne auch nur die Augenlider zu heben. Aus Furcht, daß sie ins Wasser stürzen könne, hatte er seinen Arm um ihren Leib gelegt. Jetzt antwortete er allein auf den Anruf der Kameraden. Die Schläge der Spitzhacken kamen näher; er hörte sie jetzt hinter seinem Rücken. Aber auch seine Kräfte schwanden; er hatte den Mut verloren, noch länger zu pochen. Man wußte ja, daß sie da seien; wozu sollte er sich ermüden? Es interessierte ihn nicht mehr, ob man komme oder nicht. In bewußtlosem Hinbrüten verflossen Stunden, in denen er sich nicht mehr erinnerte, worauf er wartete.

Ein tröstlicher Umstand trat ein, der sie wieder ein wenig aufrichtete. Das Wasser sank, und Chavals Leiche entfernte sich. Seit neun Tagen arbeitete man an ihrer Befreiung, und sie machten zum erstenmal einige Schritte in der Galerie, als eine furchtbare Erschütterung sie zu Boden schleuderte. Sie suchten sich und hielten sich umfangen, fast den Verstand verlierend, und begriffen nicht, was geschehen war. Aber nichts rührte sich; das Geräusch der Spitzhacken hatte aufgehört.

Sie saßen in einem Winkel Seite an Seite, als Katharina plötzlich leise lachte.

»Draußen muß es schön sein ... Komm, laß uns hinausgehen«, sprach sie.

Etienne hatte anfänglich gegen den Wahnsinn gekämpft; allein er schien anzustecken, seinen fester sitzenden Schädel zu erschüttern; er verlor das genaue[543] Bewußtsein der Wirklichkeit. Alle ihre Sinne verwirrten sich, besonders die Katharinas, die von Fieber geschüttelt und von einem Bedürfnis nach Worten und Gebärden ergriffen wurde. Das Sausen ihrer Ohren war zum Plätschern eines Baches, zu einem Vogelgezwitscher geworden; sie roch den starken Geruch gemähten Grases und sah es ganz klar vor sich; große gelbe Flecke schwebten vor ihren Augen, so breit, daß sie sich draußen wähnte am Kanal, in den Feldern, an einem sonnenhellen Tage.

»Wie schön warm es ist! ... Laß uns beisammen bleiben; immer, ach immer!«

Er preßte sie an sich; sie schmiegte sich in einer langen Liebkosung an ihn und fuhr wie ein glückliches Mädchen fort zu plaudern:

»Wie dumm waren wir. Ich liebte dich sogleich, aber du hast es nicht begriffen und mir geschmollt ...«

Er wurde von ihrer Heiterkeit angesteckt und scherzte mit ihr.

»Du hast mich einmal geschlagen«, sagte er; »jawohl, auf beide Wangen geschlagen.«

»Weil ich dich liebte«, flüsterte sie. »Ich wehrte mich dagegen, an dich zu denken; ich sagte mir, es sei aus. Und im Grunde wußte ich dennoch, daß wir uns eines Tages finden würden. Es fehlte nur eine glückliche Fügung, nicht wahr?«

Ein Schauder erfaßte ihn; er wollte diesen Traum abschütteln; dann wiederholte er langsam:

»Man soll niemals sagen, daß alles aus ist; es genügt ein klein wenig Glück, und alles kommt wieder.«

»Du behältst mich also bei dir? Diesmal ist's wirklich wahr?«

Sie entglitt fast seinen Armen. So schwach war sie, daß ihre Stimme erlosch. Erschrocken hielt er sie fest.

»Du leidest?« fragte er.

Sie richtete sich erstaunt auf.

»Nein ... keineswegs ... Warum?«

[544] Doch diese Frage hatte sie aus dem Traum erweckt. Sie starrte in die Finsternis und rang die Hände in einem Anfall von Weinkrämpfen.

»Mein Gott! mein Gott! wie schwarz ist es!«

Fort waren die Felder, das wohlriechende Gras, der Vogelsang, das helle Sonnenlicht; geblieben waren die eingestürzte, ersäufte Grube, die stinkende Nacht, diese trübselig feuchte Gruft, in der sie seit so vielen Tagen mit dem Tode rangen. Die Verwirrung ihrer Sinne erhöhte jetzt die Schrecknisse; sie wurde vom Aberglauben ihrer Kindheit wieder erfaßt; sie sah den schwarzen Mann, den alten, toten Bergmann, der nach der Grube zurückkehrt, um schlechten Mädchen den Hals umzudrehen.

»Horch! Hast du gehört?«

»Nein, nichts; ich höre nichts.«

»Es ist der Mann, du weißt ja ... Schau, da ist er ... Die Erde läßt alles Blut fließen, um sich dafür zu rächen, daß man ihr eine Schlagader durchschnitten. Er ist da, schau; er ist schwärzer als die Nacht! ... Ach, ich habe Furcht! Ich habe Furcht! ...«

Sie schwieg, am ganzen Leibe zitternd. Dann fuhr sie in ganz leisem Tone fort:

»Nein; es ist noch immer der andere.«

»Welcher andere?«

»Der, der bei uns ist; der nicht mehr ist.«

Das Gespenst Chavals ließ sie nicht zur Ruhe kommen; sie sprach in verworrenen Worten von ihm; erzählte von ihrem Hundeleben, von dem einzigen Tage, an dem er sich in der Jean-Bart-Grube freundlich gezeigt hatte; und erzählte von den anderen Tagen, an denen es Schläge gegeben, und wie er sie mit seinen Liebkosungen überhäuft, nachdem er sie mit Faustschlägen und Fußtritten halb getötet hatte.

»Ich sage dir, er kommt und wird uns hindern, beisammen zu bleiben ... Die Eifersucht packt ihn wieder ... Schick' ihn weg! Behalte mich bei dir! Behalte mich ganz! ...«

[545] Fest hatte sie sich an ihn gehängt; sie suchte seine Lippen und drückte leidenschaftlich ihren Mund auf seinen Mund. Die Finsternis hellte sich auf; sie sah die Sonne wieder, sie fand das ruhige Lachen der Verliebten wieder. Im Angesicht des Todes wurden sie ganz wahr gegeneinander; sie wollten nicht sterben, ohne die grausame Nacht durch die Strahlen ihrer Liebe zu erhellen.

Dann war gar nichts mehr. Etienne saß auf der Erde immer in dem nämlichen Winkel, Katharina lag unbeweglich auf seinen Knien. So gingen viele Stunden dahin. Er glaubte lange, daß sie schlafe; als er sie berührte, fand er, daß sie kalt und starr sei. Sie war tot. Dennoch rührte er sich nicht, aus Furcht, sie zu wecken. Viele Gedanken kamen ihm: der Wunsch, mit ihr fortzuziehen, die Freude des Zusammenlebens, aber all das war nur vorübergehend, so unklar, daß diese Gedanken kaum seine Stirn streiften wie der Hauch des Schlafes. Er wurde immer schwächer; es blieb ihm so viel Kraft, um eine langsame Bewegung mit der Hand zu machen und sich zu überzeugen, daß sie daliege wie ein schlafendes Kind, in eisiger Starre. Alles versank in Nichts; die Nacht selbst war versunken; er war nirgends mehr, außerhalb des Raumes, außerhalb der Zeit. Etwas pochte neben seinem Haupt; es waren Schläge, die immer stärker, immer näher klangen; in unermeßlicher Mattheit war er anfänglich zu träge, um zu antworten; und jetzt wußte er gar nichts mehr; er träumte, daß sie vor ihm hergehe, und daß er das leise Klappern ihrer Holzschuhe höre. Zwei Tage vergingen so; sie hatte sich nicht mehr bewegt; er berührte sie mit mechanischer Bewegung, beruhigt, daß sie sich so still verhielt.

Jetzt fühlte Etienne eine Erschütterung. Er hörte Gemurmel von Stimmen; Felsen stürzten nieder und rollten zu seinen Füßen. Als er eine Lampe erblickte, begann er zu weinen. Seine blinzelnden Augen folgten dem Lichtschein, entzückt von diesem roten Punkt, der die Finsternis durchdrang. Doch schon trugen ihn Kameraden davon, und er ließ es geschehen, daß sie ihm [546] zwischen den zusammengepreßten Zähnen einige Löffel Fleischbrühe einflößten. Erst in der Galerie Réquillart erkannte er einen von ihnen, den Ingenieur Negrel, der vor ihm stand. Diese beiden Männer, die einander verachteten, der meuterische Arbeiter und der ironische Vorgesetzte: sie sanken einander laut schluchzend in die Arme, in mächtiger Erschütterung alles Menschlichen, das sich in ihnen barg. Es war eine unendliche Traurigkeit, das Elend ganzer Geschlechter, das Übermaß des Jammers, in den das Leben versinken kann.

Als man die tote Katharina hinaufgeschafft hatte, sank die Maheu mit lautem Wehgeschrei an der Leiche ihrer Tochter nieder, und ein Schrei folgte dem andern, lange, unaufhörlich. Mehrere Leichen waren zutage gefördert und auf der Erde niedergelegt worden: Chaval, den man von einem Einsturz erschlagen glaubte, einen Schlepperjungen und zwei Häuer, gleichfalls zerschmettert, mit leerem Schädel und aufgedunsenem Bauch. Mehrere Weiber in der Menge verloren den Verstand, rissen sich die Kleider vom Leibe und zerfleischten sich das Gesicht. Nachdem man ihn an das Lampenlicht gewöhnt und ein wenig mit Nahrung gestärkt hatte, erschien Etienne endlich, bis auf die Knochen abgemagert, die Haare gebleicht. Alle traten zitternd beiseite, als dieser Greis vorüberkam. Auch die Maheu unterbrach ihr Jammergeschrei, um ihn entgeistert mit stieren Augen anzuschauen.

Sechstes Kapitel

Es war vier Uhr morgens; die Kühle der Aprilnacht milderte sich beim Herannahen des Tages. Die Sterne flimmerten am klaren Himmel, während helle Morgenröte den östlichen Horizont purpurn färbte. Frösteln durchzog die schlafende schwarze Landschaft; man spürte jenes unbestimmte, verschwommene Geräusch, das dem Erwachen der Erde vorausgeht.

[547] Etienne folgte, wacker ausschreitend, der nach Vandame führenden Straße. Er hatte sechs Wochen im Krankenhaus zu Montsou zugebracht. Obgleich noch gelb und sehr mager, hatte er sich doch stark genug gefühlt aufzubrechen, und er brach auf. Die Gesellschaft, die noch immer für ihre Gruben zitterte und nach und nach gewisse Leute entließ, hatte ihn verständigt, daß sie ihn nicht länger in ihren Diensten behalten könne. Sie bot ihm übrigens eine Unterstützung von hundert Franken an mit dem väterlichen Rat, die Grubenarbeit aufzugeben, weil sie künftig für ihn zu schwer sei. Doch er hatte die hundert Franken zurückgewiesen. Pluchart rief ihn nach Paris in einem Brief, dem das nötige Reisegeld beigelegt war. Er sah endlich seinen alten Traum sich verwirklichen. Am vorhergegangenen Tage hatte er das Spital verlassen und in der Schenke der Witwe Désir übernachtet. Er war früh aufgestanden und hatte nur noch einen Wunsch: seinen Kameraden Lebewohl zu sagen, ehe er in Marchiennes den Achtuhrzug bestieg.

Auf der Straße, über welche die Morgenröte ihre Helle ausbreitete, war Etienne einen Augenblick stehengeblieben. Es tat so wohl, die frische Luft des Frühjahrs einzuatmen. Ein herrlicher Morgen kündigte sich an, es wurde allmählich heller, und mit der Sonne erwachte auch das Leben der Erde. Er nahm seinen Weg wieder auf, stieß mit seinem Stabe fest auf den Boden und schaute nach der Ferne, wo die Ebene allmählich aus den nächtlichen Dünsten auftauchte. Er hatte niemand wiedergesehen. Frau Maheu hatte ihn nur ein einziges Mal im Krankenhause besucht; sie hatte gewiß nicht wiederkommen können. Allein er wußte, daß jetzt das ganze Dorf der Zweihundertvierzig in die Jean-Bart-Grube einfuhr, und daß sie selbst die Arbeit wieder aufgenommen hatte.

Allmählich bevölkerten sich die Wege. Unablässig zogen Gruppen von Bergleuten bleich und still an[548] Etienne vorüber. Man sagte, die Gesellschaft treibe Mißbrauch mit ihrem Sieg. Nach einem zweieinhalb Monate währenden Ausstand waren die Bergleute, durch Hunger überwunden, wieder zu den Gruben zurückgekehrt und hatten sich dem Verzimmerungstarif fügen müssen, dieser versteckten Lohnverminderung, die jetzt, vom Blut der Kameraden befleckt, noch verhaßter war als früher. Man stahl ihnen eine Stunde Arbeit. Man zwang sie, ihren Eid, sich nicht zu unterwerfen, zu brechen, und dieser erzwungene Meineid bedrückte sie. Die Arbeit wurde überall wieder aufgenommen, in Mirou, Magdalene, Crèvecoeur, auf dem Siegesschacht. Nach allen Richtungen zog die Herde der Arbeiter auf den noch halbdunklen Wegen dahin; lange Züge von Männern mit zu Boden gesenkten Häuptern gleich dem Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird. Sie fröstelten in ihren Leinwandkitteln; sie kreuzten die Arme und krümmten den Rücken, auf welchem der zwischen Hemd und Jacke untergebrachte »Ziegel« einen Höcker bildete. Und diesen Massen, die stumm und düster, ohne Lachen, ohne Seitenblick zur Arbeit zurückkehrten, merkte man an, daß sie im verhaltenen Zorn die Zähne aufeinanderpreßten, daß ihr Herz von Haß geschwellt war, und daß sie nur den Geboten des Magens sich unterworfen hatten.

Je mehr er sich der Grube näherte, desto mehr sah Etienne ihre Zahl anwachsen. Fast alle gingen einzeln; die in Gruppen ankamen, lösten sich in eine Kette auf, erschöpft, überdrüssig der anderen und überdrüssig ihrer selbst. Er sah einen ganz alten Mann, dessen Augen wie glühende Kohlen unter der bleichen Stirn leuchteten. Ein anderer noch junger Arbeiter ließ ein ununterbrochenes, heftiges Schnaufen hören. Viele trugen ihre Holzschuhe in der Hand, und man hörte kaum den weichen Schritt ihrer mit dicken wollenen Strümpfen bekleideten Füße. Es war ein endloser Menschenstrom; der Marsch einer geschlagenen Armee, die gesenkten Hauptes dahinzieht, von dem geheimen Verlangen [549] beseelt, den Kampf wieder aufzunehmen und sich zu rächen.

Als Etienne im Jean-Bart ankam, tauchte das Werk im Dämmerlicht des Morgens auf; die an den Gerüsten hängenden Laternen brannten noch. Über den dunklen Gebäuden stieg ein leichter Rauch empor, einem weißen, zartrot gefärbten Federbusch gleichend. Er nahm seinen Weg über die Treppe des Sichtungswerkes, um sich nach dem Aufnahmesaal zu begeben.

Die Einfahrt begann eben, die Arbeiter kamen von der Baracke herab, um zum Einfahrtsschacht zu schreiten. In diesem Getümmel und Lärm blieb er einen Augenblick unbeweglich stehen. Rollende Hunde erschütterten den mit Eisenplatten belegten Fußboden, die Räder drehten sich und rollten die Kabel auf und ab inmitten des Getöses der Schallrohre, der Signalglocken und der auf den Signalblock niederfallenden Hämmer. Er fand das Ungeheuer wieder, das seine Ration von Menschenfleisch verschlingt, die auf und nieder steigenden Schalen, die unablässig ihre Last hinabführen mit dem leichten Schlucken eines gefräßigen Riesen. Seit seinem Unglücksfall hatte er eine nervöse Abscheu gegen die Grube. Bei dem Anblick der versinkenden Schalen drehte sich ihm das Innere um; er mußte den Kopf wegwenden, der Schacht erbitterte ihn.

In dem noch dunklen Aufnahmesaal, in dem die ausgebrannten Laternen fahles Zwielicht verbreiteten, bemerkte er kein befreundetes Antlitz. Die Bergleute, die hier mit nackten Füßen, mit Lampen in der Hand warteten, betrachteten ihn mit großen, unruhigen Augen, dann neigten sie das Haupt und wichen beschämt vor ihm zurück. Ohne Zweifel kannten sie ihn und hatten keinen Groll mehr gegen ihn. Sie schienen ihn im Gegenteil zu fürchten und erröteten bei dem Gedanken, daß er ihnen Feigheit vorwerfen könne. Ihre Haltung schwellte sein Herz mit Stolz; er vergaß, daß diese Elenden ihn gesteinigt hatten; er gab sich wieder seinem Traum hin, diese Leute in Helden zu verwandeln [550] und das Volk zu leiten, diese Naturkraft, die sich selbst verzehrte.

Wieder versank eine Schale mit ihrer Last, und als eben eine neue Gruppe heranrückte, erblickte er einen Arbeiter, der sein Gehilfe im Streik gewesen, einen Wackern, der geschworen hatte, lieber zu sterben, als sich zu ergeben.

»Du auch?« murmelte er betrübt.

Der andere erbleichte; seine Lippen zitterten; dann sagte er mit einer Gebärde der Entschuldigung:

»Was willst du? Ich habe ein Weib.«

In der neuen Schar, die aus der Baracke herankam, erkannte er jetzt alle.

»Du auch! Du auch! Du auch! ...«

Alle zitterten und stammelten mit erstickter Stimme:

»Ich habe eine Mutter, ich habe Kinder, ich muß Brot schaffen.«

Die Schale blieb jetzt länger unten. Sie warteten in düsterer Stimmung, in einem so tiefen Leid über ihre Niederlage, daß ihre Blicke es vermieden, den seinigen zu begegnen, und starr auf den Schacht gerichtet waren.

»Was ist mit Frau Maheu?« fragte Etienne.

Sie antworteten nicht. Einer machte ein Zeichen, daß sie bald komme; andere erhoben mitleidig die Arme und riefen:

»Ach, die arme Frau, welches Elend!«

Dann trat wieder Stillschweigen ein; als der Kamerad ihnen die Hand reichte, um ihnen Lebewohl zu sagen, drückten alle kräftig diese Hand und legten in den stummen Händedruck ihre Wut darüber, nachgegeben zu haben, und die fieberhafte Hoffnung auf Rache. Die Schale war wieder da, sie stiegen ein und versanken, von dem Abgrund verschlungen.

Jetzt erschien Pierron mit der frei brennenden Lampe der Aufseher, die an seiner Ledermütze befestigt war. Seit acht Tagen war er Gruppenvorsteher, und die Arbeiter traten beiseite, denn die Ehrenbezeigungen machten ihn stolz. Der Anblick Etiennes war ihm mißliebig; [551] er trat jedoch näher und beruhigte sich schließlich, als der junge Mann ihm seine Abreise ankündigte. Sie plauderten eine Weile. Pierron erzählte, sein Weib führe jetzt die Schankwirtschaft »Zum Fortschritt«; sie habe es den Herren zu danken, die sich ihr alle freundlich erzeigten. Doch er unterbrach sich um den Vater Mouquet auszuschelten, den er beschuldigte, daß er den Pferdedünger nicht zur rechten Zeit heraufgeschafft habe. Der Alte hörte unterwürfig diesen Tadel an; ehe er hinabfuhr, drückte auch er Etienne lange und warm die Hand, und auch in seinem Händedruck lag der verhaltene Zorn und die Verheißung künftigen Aufruhrs; diese Greisenhand, die in der seinigen zitterte, dieser alte Mann, der ihm den Tod seiner Kinder verzieh: sie riefen in Etienne eine so tiefe Bewegung hervor, daß er den Alten verschwinden sah, ohne ein Wort hervorbringen zu können.

»Kommt denn Frau Maheu heute nicht?« fragte er nach einer Weile den Aufseher.

Anfänglich tat Pierron, als habe er nicht verstanden, denn er meinte, es genüge, vom Unglück zu reden, um davon angesteckt zu werden. Dann sagte er, sich entfernend, als wolle er seinen Leuten einen Auftrag geben:

»Was? Die Maheu? Da ist sie ja.«

In der Tat kam eben die Maheu aus der Baracke herunter, mit der Lampe ausgerüstet, bekleidet mit dem Kittel und der Hose der Bergleute, das Haupt in die Lederhaube gehüllt. Gerührt durch das Schicksal dieser unglücklichen, schwergeprüften Frau, hatte die Gesellschaft in außerordentlicher Gnade gestattet, daß sie, obgleich schon vierzig Jahre alt, die Arbeit aufnehmen dürfe. Da es schwierig gewesen wäre, sie bei der Abfuhr zu beschäftigen, verwendete man sie zur Handhabung eines kleinen Ventilators, den man in der Nordgalerie in den sogenannten Höllenregionen aufgestellt hatte, wo eine andere Lüftungsvorrichtung nicht möglich war. In der Tiefe dieses glühenden Schlundes trieb sie bei einer Hitze von vierzig Grad, die ihr die Haut [552] röstete, zehn Stunden hindurch das Rad dieses Ventilators, daß ihr schließlich die Glieder im Leibe wie gebrochen waren. Mit dieser Arbeit erwarb sie täglich dreißig Sous.

Als Etienne sie bemerkte, so bejammernswert in ihrer Männerkleidung, Brust und Leib von der Feuchtigkeit aufgedunsen, war er tief ergriffen und stammelte einige unverständliche Worte, um ihr zu erklären, daß er fortziehe und ihr Lebewohl habe sagen wollen.

Sie schaute ihn an, ohne ihn zu hören, und sagte endlich, das Du beibehaltend:

»Du bist erstaunt, mich zu sehen. Allerdings hatte ich gedroht, den ersten der Meinigen, der einfahren werde, zu erwürgen – und jetzt fahre ich selber ein; ich müßte mich selber erdrosseln, nicht wahr? Ach, es wäre ja schon geschehen, wenn der Alte nicht da wäre und die Kleinen ...«

In langsamem, müdem Tone fuhr sie fort; sie entschuldigte sich nicht, sie erzählte nur leise, daß sie vor Hunger fast umgekommen seien, und daß sie sich endlich entschlossen habe, die Arbeit aufzunehmen, damit man sie nicht aus dem Dorf vertreibe.

»Wie geht es dem Alten?« fragte Etienne.

»Er verhält sich immer still und anständig, aber mit seinem Verstand ist es aus ... Wegen seines Verbrechens hat man ihn nicht verurteilt. Es war davon die Rede, ihn in ein Irrenhaus zu stecken, aber ich wollte es nicht; man hätte ihn dort vergiftet. Seine Geschichte hat immerhin viel Verdruß verursacht. Er wird niemals eine Pension bekommen; einer der Herren sagte mir, es sei unmoralisch, wenn man ihm eine Pension gebe.«

»Arbeitet Johannes?«

»Ja; die Herren haben für ihn eine Tagesarbeit gefunden; er verdient zwanzig Sous. Ich beklage mich nicht; die Herren haben sich gütig gezeigt, wie sie selbst erklärten. Die zwanzig Sous meines Jungen und meine dreißig dazu geben fünfzig. Wären wir nicht unsere sechs im Hause, würde man sich satt essen[553] können. Estelle ißt jetzt auch schon, und das schlimmste ist, daß man noch vier bis fünf Jahre warten muß, ehe Leonore und Heinrich stark genug sind, in die Grube hinabzusteigen.«

Etienne konnte eine schmerzliche Gebärde nicht unterdrücken.

»Auch sie!« rief er.

Eine helle Röte war in die fahlen Wangen der Frau Maheu aufgestiegen, während ihre Augen sich belebten. Doch sie senkte die Schultern wieder, gleichsam erdrückt von der Last des Geschickes.

»Was willst du? Sie nach den übrigen ... Alle haben die Knochen dabei gelassen. Jetzt sind sie an der Reihe.«

Sie schwieg. Es kamen Leute mit vollen Karren vorüber und störten sie im Gespräch. Durch die großen, staubigen Fenster drang das Tageslicht ein und hüllte die Laternen in graues Dämmern. Alle drei Minuten kam die Maschine wieder in Bewegung, die Kabel rollten ab, die Schalen fuhren fort, Menschen zu verschlingen.

»Vorwärts, Müßiggänger, beeilt euch!« rief Pierron. »Einsteigen, einsteigen! Wir werden heute nicht fertig.«

Die Maheu, die er besonders anschaute, rührte sich nicht. Sie hatte schon drei Schalen hinabsteigen lassen und sagte, gleichsam aus einem Traum erwachend und der ersten Worte Etiennes sich erinnernd:

»Also du gehst?«

»Ja, heute morgen.«

»Du hast recht, besser anderswo sein, wenn man es kann ... Es freut mich, dich noch einmal gesehen zu haben; du weißt nun wenigstens, daß ich keinen Groll gegen dich hege. Nach dem Gemetzel war ich einen Augenblick in der Stimmung, dich zu erwürgen; doch man überlegt die Dinge, nicht wahr? Und man findet schließlich, daß niemand schuld daran ist. Nein, nein, es war nicht deine Schuld, es war die Schuld aller Menschen.«

[554] Sie sprach jetzt ganz ruhig von den Toten, von ihrem Mann, von Zacharias, von Katharina; Tränen erschienen in ihren Augen erst, als sie den Namen Alzire aussprach. Sie hatte die Ruhe einer verständigen Frau wiedergewonnen und urteilte sehr klug über alle Dinge. Es wird den Spießbürgern kein Glück bringen, so viele arme Leute getötet zu haben; auch sie werden eines Tages bestraft; denn alles wird schließlich vergolten. Man wird es gar nicht nötig haben, sich einzumengen, der Bau wird von selbst in die Luft fliegen; die Soldaten werden auf die Herren schießen, wie sie auf die Arbeiter geschossen haben. In hundertjähriger Ergebung, in der ererbten Disziplin, die sie von neuem in das Joch beugte, war sie zu diesen Erwägungen gelangt, zu der Gewißheit, daß die Ungerechtigkeit nicht länger andauern könne, und daß, wenn es keinen gerechten Gott gebe, ein anderer erstehen werde, um die Armen und Elenden zu rächen.

Sie sprach leise, mit mißtrauischen Blicken. Weil Pierron sich näherte, fügte sie laut hinzu:

»Wenn du abreist, mußt du bei uns deine Sachen abholen ... Es sind noch zwei Hemden da, drei Taschentücher, eine alte Hose.«

Etienne lehnte es mit einer Handbewegung ab, diese geringen Habseligkeiten zurückzunehmen, die merkwürdigerweise dem Trödler entgangen waren.

»Nein, es lohnt nicht der Mühe; es soll für die Kinder zurückbleiben ... Ich werde mich in Paris mit dem Nötigen versorgen.«

Wieder waren zwei Schalen hinabgefahren, und Pierron entschloß sich, die Maheu direkt aufzufordern.

»Man erwartet Euch; ist bald genug geschwätzt?«

Doch sie wandte ihm den Rücken zu. Was hatte dieser Verräter den Eifrigen zu spielen? Die Einfahrt hatte ihn nicht zu kümmern. Seine Leute verabscheuten ihn schon genug. Sie blieb noch, mit der Lampe in der Hand, fröstelnd in dem ewigen Luftzug, wenngleich das Wetter schon milde war.

[555] Weder Etienne noch sie fanden weitere Worte. Sie standen einander gegenüber mit so schwerem Herzen, daß sie sich noch gern etwas gesagt hätten.

Endlich sprach sie, nur um etwas zu reden:

»Hör' einmal, habe ich dir schon erzählt? ... Philomene ist fort.«

»Wie, fort?«

»Ja, mit einem Grubenarbeiter aus dem Pas-de-Calais. Ich hatte Angst, daß sie mir die zwei Rangen vielleicht auf dem Halse lassen könne. Doch sie hat sie mitgenommen ... Ist das nicht drollig; ein Weib, das Blut speit und aussieht, als müsse es jeden Augenblick abfahren!«

Sie stand einen Augenblick nachdenklich da; dann fuhr sie langsam fort:

»Auch über mich wurde genug geredet! ... Erinnerst du dich? Mein Gott! Nach dem Tode meines Mannes hätte manches geschehen können, wenn ich jünger gewesen wäre; nicht wahr? Aber heute ist es mir lieber, daß nichts geschehen ist; wir würden nur Reue darüber empfinden.«

»Ja, wir würden Reue darüber empfinden«, wiederholte Etienne.

Das war alles; sie sprachen nicht mehr. Eine Schale erwartete sie; man rief sie zornig an und drohte ihr mit Strafe. Da entschloß sie sich und reichte ihm die Hand. Sehr ergriffen schaute er sie noch immer an, wie sie so arg mitgenommen, so abgelebt war, mit ihrem fahlen Antlitz, ihrem unter der blauen Haube hervorquellenden, farblosen Haar. Dieser lange, stumme Händedruck gab ihm die Hoffnung wieder auf den Tag, an dem man wieder anfangen werde. Er begriff vollkommen: in der Tiefe ihrer Augen lag ruhige Zuversicht. Auf baldiges Wiedersehen! sagte der stumme Blick; dann soll der Hauptstreich geführt werden!

»Ist das eine verdammte Müßiggängerin!« schimpfte Pierron.

[556] Die Maheu wurde zur Schale gedrängt und stieg mit vier andern ein. Man zog die Signalschnur, die Schale hakte sich los und versank in die Tiefe; man sah nur noch den rasenden Lauf des Kabels.

Etienne verließ die Grube. Unter dem Sichtungsschuppen sah er ein Wesen mit ausgestreckten Beinen mitten in einer dichten Kohlenlage auf der Erde sitzen. Es war Johannes, der als »Reiniger« angestellt war. Er hielt einen Kohlenblock zwischen den Beinen und säuberte ihn mit Hammerschlägen von den Schieferbruchstücken; feiner Kohlenruß legte sich so dicht auf sein Gesicht, daß der junge Mann ihn niemals erkannt haben würde, hätte der Knabe nicht die Affenfratze mit den weit abstehenden Ohren und den grünlichen Augen gehabt. Er lachte frech und zerschlug den Block mit einem letzten Streich, völlig eingehüllt von dem auffliegenden Kohlenstaub.

Als Etienne wieder draußen war, folgte er einen Augenblick nachdenklich der Straße. Gedanken aller Art jagten sich in ihm. Aber er hatte das Gefühl der frischen Luft, des freien Himmels, und schöpfte tief Atem. Die Sonne stieg siegreich am Horizont empor; frohes Leben erwachte in der ganzen Landschaft. Eine Goldflut ergoß sich von Osten nach Westen über die unermeßliche Ebene. Lebenswärme breitete sich immer weiter aus, die Seufzer der Erde, der Sang der Vögel, das Rauschen der Bäche und Wälder umfing ihn. Das Leben war schön; die alte Welt wollte einen neuen Frühling durchleben.

Von dieser Hoffnung durchdrungen, verlangsamte Etienne seinen Gang, und seine Augen schweiften nach rechts und links, in die Schönheit des Frühlings. Er dachte an sich selbst; er fühlte sich stark, gereift durch die harten Erfahrungen in der Grube. Seine Erziehung war beendet; er zog gerüstet weiter als denkender Soldat der Revolution, welcher der Gesellschaft den Krieg erklärt hat – der Gesellschaft, wie er sie sah, und wie er sie verdammte. In seiner Freude darüber, daß er sich [557] an die Seite Plucharts begab und – gleich Pluchart – ein Führer werden solle, formte er die Worte seiner künftigen Reden. Er gedachte sein Programm zu erweitern; die bürgerliche Verfeinerung, die ihn über seine Klasse erhoben hatte, jagte ihn in einen noch größeren Haß gegen das Spießbürgertum. Er fühlte das Bedürfnis, die Arbeiter, deren Elendgeruch er jetzt nicht mehr ertragen konnte, auf Ruhmeshöhe zu stellen, sie als die einzig Großen, als die einzig Fehlerlosen zu zeigen, als den einzigen Adel und die einzige Kraft, in der die Menschheit sich verjüngen könne. Schon sah er sich auf der Rednertribüne, mit dem Volke triumphierend, wenn das Volk ihn nicht verschlang.

Der Sang einer Lerche in großer Höhe ließ ihn emporblicken. Kleine rote Wölkchen, die letzten Dünste der Nacht, zerflossen in dem durchsichtigen Blau; die Gestalten von Suwarin und Rasseneur tauchten undeutlich vor ihm auf. Wenn jeder die Macht an sich riß, mußte alles mißlingen. Selbst die berühmte Internationale, welche die Welt hätte erneuern müssen, ging kläglich unter, nachdem ihre furchtbare Armee in inneren Kämpfen sich zersplittert hatte. Sollte Darwin recht haben, daß die Welt nichts sei als ein Kampf, in dem die Starken die Schwachen verschlingen – nur um der Schönheit und Fortpflanzung der Gattung willen? Diese Frage verwirrte ihn, obgleich er als ein mit seinem Wissen zufriedener Mann darüber hinwegging. Ein Gedanke verscheuchte alle seine Zweifel und entzückte ihn: der Gedanke, das erstemal, wenn er reden werde, seine ehemalige Theorie wieder aufzunehmen. Wenn eine Klasse ausgerottet werden mußte, werde sicherlich das lebenskräftige, noch junge Volk das in Genüssen erschöpfte Bürgertum verzehren. Neues Blut werde die neue Gesellschaft durchströmen.

Träumerisch ging er weiter, mit seinem Stock auf die Kiesel des Weges schlagend; als er die Blicke umherschweifen ließ, erkannte er die verschiedenen Teile der Gegend. Bei der »Ochsengabel« erinnerte er sich, daß [558] er dort den Befehl über die Scharen übernommen an jenem Tage, als die Gruben verwüstet wurden. Heute begann wieder die tierische, tödliche, schlecht bezahlte Arbeit. Ihm war, als höre er unter der Erde in einer Tiefe von siebenhundert Meter dumpfe, regelmäßige Schläge: es waren die Kameraden, die er vorhin hatte einfahren sehen, die schwarzen Kameraden, die in ihrer stummen Wut auf die Kohle losschlugen. Ohne Zweifel waren sie besiegt; sie hatten Geld und Tote auf der Wahlstatt gelassen; aber Paris wird die im Voreuxschacht gefallenen Schüsse nicht vergessen; aus dieser unheilbaren Wunde wird auch das Blut des Kaiserreiches ausströmen. Wenn die Industriekrise zu Ende geht und die Fabriken, eine nach der andern, wieder geöffnet werden, wird nichtsdestoweniger der Krieg erklärt und künftig kein Friede möglich sein. Die Bergleute kannten ihre Zahl, hatten ihre Kraft erprobt, hatten mit ihrem Schrei nach Gerechtigkeit alle Arbeiter von ganz Frankreich aufgerüttelt. Ihre Niederlage beruhigte denn auch niemand. Man begriff, daß die Revolution sich unaufhörlich erneuern werde, vielleicht morgen schon; mit dem allgemeinen Streik, mit dem Zusammenhalt aller Arbeiter, die, mit Hilfskassen ausgerüstet, monatelang Widerstand leisten würden. Wieder einmal war der zerfallenden Gesellschaft ein Stoß versetzt; sie fühlte, daß neue und immer neue Stöße kommen würden, bis der alte, erschütterte Bau zusammenstürzen werde wie der Voreuxschacht, der im Abgrund versunken war.

Etienne wandte sich links und schlug den Weg nach Joiselle ein. Er erinnerte sich; er hatte daselbst die Scharen verhindert, sich auf Gaston-Marie zu stürzen. In der Ferne sah er im hellen Sonnenlicht die Schachttürme mehrerer Gruben, den von Mirou rechts, den der Magdalenengrube und Crèvecoeur nahe beieinander. Überall summte und dröhnte die Arbeit; die Schläge der Spitzhacken, die er unter der Erde zu hören glaubte, fielen jetzt von einem Ende der Ebene bis zum andern. [559] Ein Schlag und noch ein Schlag und immerfort Schläge unter den Feldern, unter den Straßen, unter den Dörfern, die im Sonnenlichte lachten: die finstere Arbeit in unterirdischen Gefängnissen, erdrückt von der ungeheuren Masse der Felsen. Er überlegte, daß Gewalt die Dinge vielleicht nicht beschleunigen werde. Durchschnittene Kabel, losgerissene Schienen, zerschlagene Lampen: welch unnütze Arbeit! Wahrhaftig, es lohnt der Mühe, daß eine Schar von dreitausend Menschen verheerend durch das Land zieht! Sein Verstand reifte; er hatte sich der Racheglüste seiner Jugend entledigt. Jawohl, die Maheu mit ihrem gesunden Sinn hatte das Richtige getroffen: Man wird den Hauptstreich führen; man wird sich ruhig zu einem Heere vereinigen, wenn die Gesetze es gestatten; an dem Tage, wenn man sich stark genug fühlt und sieht, daß Millionen von Arbeitern einigen Tausenden von Nichtstuern gegenüberstehen, reißt man die Macht an sich und gebietet. Welch Erwachen der Wahrheit und Gerechtigkeit! Zur selbigen Stunde wird es aus sein mit dem gemästeten ungeheuerlichen Götzen, der in der Tiefe seines Heiligtums verborgen hockt, in jener unbekannten Ferne, wo die Armen und Elenden ihn mit ihrem Fleische nähren.

Etienne verließ jetzt den nach Vandame führenden Weg und erreichte die Heerstraße. Rechts lag in weiter Ferne Montsou, kaum noch sichtbar. Vor sich hatte er die Ruinen des Voreuxschachtes, dessen Pumpen drei Maschinen unablässig trieben. Dann folgten am Horizont die anderen Gruben: die Siegesgrube, Sankt-Thomas, Feutry-Cantel, während im Norden die Türme der Hochöfen und die Batterien der Koksöfen ihren Rauch in die klare Morgenluft sandten. Wenn er den Achtuhrzug nicht versäumen wollte, mußte er sich sputen, denn er hatte noch sechs Kilometer zurückzulegen.

Unter seinen Füßen dröhnten unaufhörlich die dumpfen Schläge der Spitzhacken. Die Kameraden waren alle da; er fühlte, wie sie ihm auf Schritt und Tritt folgten. War das nicht die Maheu unter diesem Rübenfelde, [560] mit gekrümmtem Rücken und heiserem Schnaufen, begleitet von dem Schnarren des Ventilators? Rechts und links und weiterhin glaubte er andere zu erkennen unter den Getreidefeldern, unter den Hecken, unter den mit jungem Laub bedeckten Bäumen. Die Aprilsonne stand jetzt hoch am Himmel, strahlte in vollem Glanze und erwärmte die fruchtbare Erde. Aus ihrem nährenden Schoß sproß das Leben hervor; die platzenden Knospen entfalteten sich zu grünen Blättern; die Felder erbebten unter der Üppigkeit der Gräser. Allenthalben dehnten sich die Körner und sprengten die Erde in ihrem mächtigen Bedürfnis nach Licht und Wärme. Strömende Säfte flossen in Flüsterstimmen dahin; das Geräusch der Keime glich einem unermeßlichen Kuß. Die Kameraden hieben heftig drauflos, immer vernehmlicher, als ob sie sich dem Erdboden näherten. Von diesem Getöse war die Landschaft erfüllt, die im Sonnenglanz des Frühlingsmorgens dalag. Menschen drangen zur Oberfläche, eine schwarze Armee von Rächern, langsam aus den Furchen hervorwachsend. Anschwellen würde dies Heer im Laufe der Jahrhunderte, und bald würde unter seinem Schritt die Erde erbeben.

[561]

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TextGrid Repository (2012). Zola, Émile. Romane. Germinal. Germinal. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-BC9F-F