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KRÖNERS TASCHENAUSGABE BAND 283 |#f0009 : RV|



HERBERT SEIDLER

DIE DICHTUNG

WESEN · FORM · DASEIN


ALFRED KRÖNER VERLAG STUTTGART

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© 1959 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart. Printed in Germany

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung der Union Druckerei GmbH Stuttgart

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INHALTSVERZEICHNIS


Einleitung1
Erster Teil

DIE FRAGE NACH DEM WESEN DER DICHTUNG


I. Die Dichtung im Rahmen der Kunst14

Allgemeines zum Kunstwerk14
Die einzelnen Künste und die Dichtung17
II. Dichtung und Sprache22

Sprache und Sprachwerk22
Sprachkunst und Dichtung33
Dichtung und andere Sprachkunstwerke37
III. Das Wesen der Dichtung47
IV. Die Dichtung und die geistigen Ordnungsleistungen51
Zweiter Teil

WIRKLICHKEIT UND MENSCH IN DER DICHTUNG


I. Dichtung und Wirklichkeit

61

Außersprachliche und sprachliche Wirklichkeit61
Außerdichterische und dichterische Wirklichkeit63
II. Die Verwesentlichung71
III. Dichtung als menschliche Schöpfung78

Die Persönlichkeit des Dichters78
Das dichterische Schaffen82
Das Dichtwerk als menschliche Schöpfung88
IV. Die menschlich-dichterischen Auffassungsweisen der Welt94

Der Ernst95
Die Heiterkeit109
Die Freiheit der geistigen Überlegenheit111

V. Das Weltbild der Dichtung

120
Dritter Teil

DICHTUNG ALS GESTALT


I. Allgemeine Einführung134

Dichtung als ästhetisches Gebilde134
Gehalt und Gestalt138
|#f0012 : RVIII|



II. Die sprachlichen Aufbaukräfte146

Sprachkunst und Stil146
Die Stilelemente156

Sprache als Erfahrungsgestaltung156
Sprache als Lautung179
Die Stilkräfte202

Ausruf, Anruf, Satzbewegung202
Das sprachliche Bild205
Das Zusammenwirken der Stilkräfte224
Stilarten229
Die sprachkünstlerische Gesamtgestalt233
Soziale und geschichtliche Bindungen des Stils241
III. Ganzheit und Einheit256

Einführung256
Der Aufbau261

Bindung261
Gespanntheit275
Die Art der Ganzheit280
Gestaltungsebenen284
Gestaltungsformen295
IV. Gesamtblick und Wertung317

Vielschichtigkeit der Dichtung317
Die Wertung325
Vierter Teil

ENTFALTUNG DER DICHTERISCHEN MÖGLICHKEITEN


I. Die Ausgangspunkte344

Vorfragen344
Die grundlegenden menschlichen Haltungen349
Die Urformen sprachkünstlerischen Gestaltens354
Die Arten der sprachkünstlerisch geformten Wirklichkeit356
Ausbildung geschichtlicher Gattungen und Arten361
Bildung von Typen370
II. Die Lyrik377

Schwierigkeiten der Bestimmung377
Versuch der Wesensumschreibung383
Gestaltungsfragen der Lyrik388
Die Sprache der Lyrik404
Die lyrischen Arten415
III. Die Didaktik438

Einführung438
Umgrenzung441
Die künstlerische Gestalt446
Arten450
|#f0013 : RIX|



IV. Die Epik456

Das Erzählen456
Das epische Werk467

Der Fortgang und seine Gestaltung467
Weltbildung482
Die epische Sprachkunst499
Verwesentlichung502
Die epischen Arten505

Kurzepik507
Großepik523
V. Die Dramatik564

Wurzeln des Dramas und Grundlegung565
Das dramatische Werk572

Schichten des Dramas573
Gestaltungskräfte des Dramas593
Das Ganze als wirkende Gestalt603
Die dramatischen Arten616

Überblick619
Die Hauptformen628
Fünfter Teil

DIE DICHTUNG IN DER GESCHICHTLICHEN

WIRKLICHKEIT


I. Die Dichtung im Rahmen der geschichtlichen Lage655

Grundsätzliches655
Der Mensch als Schöpfer656
Gesellschaft und Zeit in ihrem Verhältnis zur Dichtung658
II. Die Dichtung als Gebrauchsgut664

Dichtung als Wirtschaftsgebilde665
Dichtung als Lehrgut669
Die Dichtung im öffentlichen Leben671
III. Die Wirkung der Dichtung675

Die Begegnung mit der Dichtung676
Möglichkeiten und Grenzen dichterischer Wirkung678
Die Wertung der Dichtung im Lebenszusammenhang684
Der Lebenssinn der Dichtung687
Bibliographie691
Register705
|#f0014 : RX|



VORWORT



Der Plan der vorliegenden Arbeit reicht weit zurück. Nach der

Vollendung der „Allgemeinen Stilistik“ nahm er deutlichere Formen

an. In Vorlesungsreihen an der Universität Innsbruck gedieh

die Ausführung weiter. Die mannigfachen Bemühungen um eine

neue Poetik und deutliche Wandlungen in den grundlegenden

Überlegungen dazu drängten immer mehr nach einer abrundenden

Darstellung. Die Einladung des Verlages trieb endgültig zur Ausarbeitung.





Das Buch sollte ursprünglich „Poetik“ heißen. Was es bringt,

ist tatsächlich eine Poetik in der Art, wie ich sie auffasse; aber es

schien besser, einen allgemeineren, weniger belasteten Titel zu

wählen, denn die Arbeit versucht, eine Einführung in alle Fragen

zu geben, die die Dichtung an den denkenden Menschen stellt.

Das Buch wendet sich daher an alle Gebildeten, besonders an die

Studierenden aller Zweige der Philologie. In den Beispielen sollte

womöglich Einseitigkeit vermieden werden. Es ist verständlich,

daß ich von der echten und bedeutenden Dichtung aller Völker

und Zeiten auszugehen versuchte, nicht von Bedenklichem und

Gewagtem. Denn nur so ist ein erkennender Zugang zu Wesen,

Formen und Dasein der Dichtung zu gewinnen. Daß ich in den

Zitaten beinahe ausschließlich deutsche Belege wählte, ist einseitig.

Aber Übersetzungen sind immer fragwürdig und daher für unsere

Betrachtung selten vollwertig. Und durch Belege in verschiedenen

fremden Sprachen sollten die Anforderungen an den Leser nicht zu

hoch geschraubt werden; sie steigen ja an sich absichtlich im Lauf

der Darstellung. Zugleich bleibt es eine Selbstverständlichkeit, daß

jedem Menschen zunächst und vor allem sich von der Muttersprache

her der Weg zur Dichtung öffnet. So geht die Richtung

zwar von einem beschränkten Feld aus, zielt aber nichtsdestoweniger

doch zum Kern. Auch von ausgewählten Erscheinungen

aus kann Wesenserhellung betrieben werden. Und wenn das alle

Beflissenen von ihrer Muttersprache aus tun, so öffnet jeder auf

seiner Seite ein Tor zum Wahren und Wesenhaften und trägt zu

Erkenntnis bei.



Daher bin ich vor allem von der deutschen Forschung zur Dichtung

ausgegangen. Denn jede Sprachgemeinschaft stellt aus der

geistigen Welt ihrer Sprache andere Fragen und sieht und ordnet |#f0015 : RXI|



anders. Ich habe andere Bemühungen dankbar benutzt, besonders

die angloamerikanischen, die mir an meiner gegenwärtigen Wirkungsstätte

gut zugänglich waren. Ich habe von ihnen gelernt,

durch andere Blickeinstellungen der Gefahr vorgefaßter, einseitiger

und dann oft verkrampfter Stellungnahmen auszuweichen.



Dem Buch fehlen Anmerkungen und wissenschaftliche Nachweise.

Die Belege aus Dichtungen sind so gegeben, daß sie in jeder

Ausgabe gefunden werden können, aber sie beruhen natürlich auf

einwandfreien Texten. Der Fachmann wird bald erkennen, daß ich

nicht frischfröhlich ein System auf eigene Faust errichtete, sondern

auf den wissenschaftlichen Anschauungen unserer Zeit aufbaue.

Wie wir heute ─ und aus der Haut unseres Jahrhunderts kann auch

der Forscher nicht heraus ─ Dichtung sehen und werten, darum ging

es mir. Ohne die vielen Arbeiten zur Poetik wäre diese Überschau

unmöglich gewesen. Ich habe dankbar benutzt, was mir erreichbar

war, auch solche Arbeiten, denen ich auf dem hier gewählten

Standpunkt nicht voll zustimmen konnte, denn auch innerhalb

einer Sprachgemeinschaft gibt es verschiedene Sichten. Aber mit

Kenntnis wissenschaftlicher Arbeiten allein ist es in unserem Bereich

nicht getan: der Erforscher der Dichtung muß sich von ihr ergreifen

lassen, wenn er Brauchbares über sie sagen will. Das Schriftenverzeichnis

versucht im möglichen Rahmen Entscheidendes zu geben,

also nicht bloß Bücher, sondern auch Aufsätze. Der letzte Teil

über die geschichtliche Wirklichkeit der Dichtung ist zwar sehr

wichtig, aber zunächst mehr Versuch und Andeutung als Ausführung.

Denn da fehlen Vorarbeiten noch weithin.



Am Schluß muß ich dem Verlag meinen besonderen Dank aussprechen:

Für die Hilfe bei der Bereitstellung der Unterlagen, denn

ohne sie wäre hier eine solche Arbeit kaum möglich gewesen; weiter

für das Mitlesen der Korrekturen und die endgültige Ausarbeitung

des Registers, beides wieder geographisch bedingt; endlich für

alle Förderung, die nicht in bestimmten Angaben ausdrückbar ist.



Johannesburg in Südafrika, Oktober 1959



Herbert Seidler

|#f0016 : RXII|

|#f0017 : E1|



EINLEITUNG


Zu den großen Erhebungen und inneren Bereicherungen,

die uns Menschen beschieden sind, gehört die Kunst. Was

Kunstwerke uns bedeuten können, erfährt jeder für die künstlerischen

Werte aufgeschlossene Mensch immer wieder. Es

ist nun aber eine Eigentümlichkeit des geistig interessierten

Menschen, daß er alles, was ihm als Bedeutsames, Ergreifendes

entgegentritt, in seinem Wesen, in seinen systematischen

Zusammenhängen betrachten und denkend erfassen will. So

auch die Kunst. Die großen Kunsterlebnisse regen solchen

Menschen an, über die Bedingungen, die Möglichkeiten, die

Arten, ja sogar die Gesetze der Kunstwerke nachzudenken

oder sich darüber zu unterrichten. Man will von den Maltechniken,

von den Baustilen, von den Unterschieden zwischen

einer Symphonie und einem Oratorium, von den Möglichkeiten

der einzelnen Musikinstrumente etwas wissen. Nicht

daß solche Kenntnisse unmittelbar und sicher zu einem künstlerischen

Erlebnis führen könnten, geschweige denn, daß sie

es je zu ersetzen vermöchten; aber neben dem rein theoretischen

Interesse, das uns Menschen immer auch irgendwie bewegt,

können solche Einsichten und Übersichten künstlerische

Erlebnisse vielleicht manchmal vorbereiten, ja sogar vertiefen:

denn es öffnen sich so doch auch Blicke in die geistigen

Möglichkeiten des Menschen, in die Forderungen ans Können

und das Ringen um höchste Wertdarstellungen.



Das gilt auch für den Bereich der Dichtkunst. Kaum jemand,

der nicht irgendwie mit Werken der Literatur zusammenkommt:

pflichtgemäß in der Schule, zur Entspannung

an Abenden, zur Vertreibung der Langeweile auf der

Fahrt ins Geschäft, aber auch in Augenblicken höchster Gestimmtheit

und Bereitschaft für hohe Dichtung. Dabei

schweben immer gewisse allgemeinste und oft nur sehr oberflächliche |#f0018 : 2|



Kenntnisse vor. Der eine zieht Kriminalromane vor,

der andere Kurzgeschichten, wieder jemand lehnt lyrische

Gedichte oder Tragödien ab und findet Idyllen langweilig.

Im Autobus greift man kaum zu Versen, eher in seltenen

Augenblicken beseligter Stimmung. Hinter all diesen Neigungen

stecken irgendwelche Kenntnisse über Literatur, also

etwa über den Unterschied von Roman und Novelle, von

Vers und Prosa, von Kriminalroman und Lyrik. Zugleich

rühren die Menschen damit an eine der bedeutsamsten Entfaltungen

schöpferischer Kräfte: an die Möglichkeiten von

Dichtung, wie sie sich im Laufe der Kulturgeschichte offenbaren,

in der Bindung an die Tradition und hohe Vorbilder,

im Anstürmen gegen sie. All diese Kenntnisse, nicht über die

Geschichte der Literatur in einem Volk, nicht über den englischen

Roman im besonderen oder über Dante, sondern

über das Wesen und die Erscheinungsformen der Dichtung

überhaupt, können sich zu einem gewissen System zusammenschließen.

Eine solche geschlossene Darstellung der

Dichtung überhaupt nennen wir eine Poetik.



Aber mit diesem Wort hat es eine eigene Bewandtnis, es

steht heute in keinem guten Ruf. Das hängt mit der Geschichte

der Poetik
und auch mit den Wandlungen von der

Auffassung der Dichtung zusammen.



Man denkt da zunächst gleich an die berühmte Poetik des

Aristoteles. Tatsächlich finden wir schon in der Antike die

möglichen Arten, eine Poetik zu schreiben, vorgebildet. Das

Buch des Aristoteles ist nur als Bruchstück auf uns gekommen,

man betrachtet es als eine Art Anhang zu seiner Rhetorik

und Logik, manche dachten, es sei eine Art unvollständig

erhaltene Kollegheft-Skizze. Auf keinen Fall ist es ein Lehrbuch

für solche, die Dichter werden wollen, sondern eine

Beschreibung und Registrierung der von Aristoteles vorgefundenen

Arten und Formen. Dagegen ist der Brief des

Horaz an die Pisonen, als »ars poetica« bekannt, wirklich ein

Lehrbuch für angehende Dichter. Was Plotin in seinen Enneaden

über Dichtung sagte, konnte erst durch Shaftesbury im

18. Jahrhundert wirksam werden. Denn bis dahin blieben

Aristoteles und Horaz die Lehrmeister für die Poetik. Und |#f0019 : 3|



Poetik war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Anweisung

zum Abfassen von Dichtungen, gab die Regeln für die Arten,

stellte Gesetze auf, wie eine Tragödie zu schreiben sei, welche

Personen in einer Komödie vorkommen dürfen usw.



Aristoteles trat zunächst in der Dichtungslehre des Mittelalters

etwas zurück. Mitteilungen über Dichtung fand man

damals hauptsächlich in Dichtungen selbst, z. B. die berühmte

Beleuchtung der zeitgenössischen Ritterdichter durch Gottfried

von Straßburg vor der Darstellung der Schwertleite

des Helden im »Tristan«. Formale Betrachtungen standen im

Mittelalter im Vordergrunde. Die Achtung vor den überlieferten

Formen und Ordnungen ist ein Stück der religiösen

Erfahrung der Gesamtordnung des Seins: diese Gesamtordnung

offenbart sich eben auch auf dem Gebiet der Dichtung

in diesen geheiligten Ordnungen.



Die Zeit des Humanismus und der Renaissance stellt zwei

Möglichkeiten, Dichtung zu betrachten, gegenüber. Die eine

sieht das Schöpferische in den Dichtern, den Dichter als

Seher (vates). So vor allem Hieronymus Vida in seinem Werk

»De arte poetica« (1527), später auch Giordano Bruno in den

»Eroici furori« (London 1585). Aber diese Seite an der Dichtung

wurde damals nicht theoretisch erörtert, sondern die

andere: Dichtung als lehr- und lernbare Technik, sie betont

auch Vida. In diesem Sinne deutete man damals auch Aristoteles,

der damit seit Robortellis Kommentar 1548 zum Grundbuch

der abendländischen Dichtungslehre bis zu Herder

wurde. Bis zur Wende des 18. Jahrhunderts gab es über 100

Ausgaben und Übersetzungen (die erste deutsche von Curtius

1755 wurde noch von Goethe und Schiller benutzt). Aristoteles

brachte keinen Umbruch, sondern er wurde als Bestätigung

bereits bestehender Traditionen angesehen. Die bedeutendste

Poetik der Renaissance war die des Julius Cäsar

Scaliger 1561: Poetices libri septem. Ein Hauptbegriff der

damaligen Poetik war die Nachahmung (imitatio), womit

die Nachahmung der hohen Muster gemeint war.



Der Barock schließt sich wohl noch an die Überlieferung

an, erweitert aber die Sicht durch die Anfänge einer nationalen

Kulturpädagogik, durch christlich-moralische Forderungen |#f0020 : 4|



und durch höfisch-gesellschaftliche Formbildungen.

So erhielt die Barockpoetik einen mehr kompilatorischen

Charakter. Aber es treten damals schon erste Spuren eines

langsamen Zurückweichens der lehrhaften Poetik auf. Bei

Gryphius spürt man schon Ansätze zu einer irgendwie geahnten

Poetik als unmittelbaren Ausdruck des Kunstwollens.



Im Zeitalter der Aufklärung scheiden sich die Nationen

schon deutlicher: die französische Poetik arbeitet seit Boileau

mehr an einer gleichsam mathematischen Demonstrierbarkeit

der Regeln, England bringt eine Lockerung durch stärkere

Betonung des Gefühls und den im englischen Roman aufkommenden

Realismus. Welche Bedeutung die Bemühungen

um die Poetik in Deutschland während der Aufklärungszeit

hatten, ist bekannt. Es geht jetzt um eine mehr philosophische

Grundlegung der Poetik, und so wird die Ästhetik als

Wissenschaft vorbereitet. So im Streit Gottscheds mit den

Schweizern, von Johann Elias Schlegel besonders fürs Drama,

von Baumgarten und seinem Schüler Meier, dann vor allem

im Briefwechsel zwischen Lessing, Nicolai und Mendelssohn,

endlich in den Arbeiten Lessings, der um eine feste Ordnung

der Gattungen ringt. Dabei wird aber damals der Gattungsbegriff

noch nicht klar entwickelt, vor allem fehlt eine tiefere

Erkenntnis der Lyrik, die Didaktik ist noch überbetont.



Mit dem deutschen Idealismus, der im Sturm und Drang

sich gegen die Aufklärung durchsetzt und mit der Klassik

und vor allem mit der Romantik sich voll entfaltet, vollzieht

sich ein entscheidender Wandel in der Auffassung von der

Poetik. Herder, Goethe, Gerstenberg und Lenz setzen statt

Kritik Deutung, d. h. aber, daß es nicht mehr so sehr auf die

Aufstellung von Regeln ankommt, auch nicht mehr auf die

Dichtung als erlernbare Technik. Goethe und Schiller ringen

um eine tiefere Begründung der Gattungen und sehen die

Dichtungslehre schon in einem entscheidenden Zusammenhang

mit der Kulturphilosophie. Von jetzt an beginnt die

Philosophie ihren Anspruch als Grundlage jeder Poetik zu

stellen, eine Forderung, die noch an Heideggers Schriften zur

»Poetik« zu erkennen ist. Besonders die Romantik, sowohl

die Philosophen wie Schelling und Solger als auch alle Theoretiker |#f0021 : 5|



und Kritiker, vorab Friedrich Schlegel und Novalis,

geben ihrer Darstellung über Dichtung ein deutliches philosophisches

Gepräge. Damit ist zweierlei grundlegend geändert:

Poetik verliert ihren normativen Charakter als Lehranweisung

für eine vollkommene dichterische Technik, denn

das Wesentliche der Dichtung wird nun in ihrer Bindung an

die schöpferischen Kräfte des genialen Menschen gesehen. Zugleich

aber wendet man nun ─ und zwar deutlich mit der

Frühromantik ─ den Blick ab von der Dichtung als einem

Gebilde bestimmter Struktur, das auf tiefe Wirkung angelegt

ist, und sieht in ihr mehr die Offenbarung von Weltanschauungen.

Damit eben gerät sie eindeutig in den Bannkreis der

Philosophie.



Das führt nun zu einer verwirrenden Aufspaltung der

Fragen im 19. Jahrhundert: jede philosophische Richtung

stellt gleichsam ihre eigene Ästhetik und Poetik auf, dazu

kommen reiche Studien zur Poetik von Dichtern (z. B. Grillparzer,

Hebbel) und Programme von Gruppen, die auch

Feststellungen zum Wesen und den Erscheinungsweisen der

Dichtung enthalten. Drei Richtungen lassen sich jedoch herausschälen,

die auch für die spätere Entwicklung der Poetik

wichtig sind. Einmal die Richtung Hegels, vertreten vor

allem durch Moritz Carrière, die in den konkreten Arten

der Dichtung die Verwirklichung von Gattungsideen sehen

will, dann der fürs 19. Jahrhundert so bezeichnende Empirismus,

der das Sammeln und Ordnen von reinen Erfahrungen

als wesentliche wissenschaftliche Tätigkeit ansieht; er führt

daher die Dichtung auf geschichtliche und psychologische

Gegebenheiten zurück. Seine Vertreter sind vor allem Fr. Th.

Vischer und W. Scherer, der aber noch stark von romantischen

Kräften bedingt ist und für den Ehrfurcht vor dem Schöpferischen,

Gefühl und sittliche Blickrichtung wichtig sind. Endlich

als dritte Richtung die Bemühungen, die sich aus der

fortschreitenden Vertiefung der Psychologie ergeben; sie

führen schon ins 20. Jahrhundert herüber. Der Ausgangspunkt

ist Dilthey mit seiner geisteswissenschaftlichen Psychologie,

der also nicht mehr Elemente psychischer Vorgänge zur

Grundlage nimmt, sondern die seelischen und geistigen Vorgänge, |#f0022 : 6|



die zu den kulturellen Leistungen führen. Hier sucht

man nun nach Ordnungen von Dichtertypen, nach dem Wesen

des Kunstgenusses und damit nach den Wirkungen der

Dichtung. Diese Richtung führt über den Formalismus hinaus

und öffnet den Blick ins Lebendige. Aber im allgemeinen

tritt in der tatsächlichen wissenschaftlichen Arbeit die Poetik

als allgemeine Lehre von der Dichtung zurück gegenüber

der Fülle rein literaturgeschichtlicher Forschungen: der Positivismus

des 19. Jahrhunderts will eben sehen, wie es denn

eigentlich gewesen ist (Ranke), gegenüber dem 18. Jahrhundert,

das Normen für geistiges Schaffen zu geben suchte. Auch

die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts drängen die Poetik

und ihre Fragestellungen zurück. Man erforscht lieber geistesgeschichtliche

Zusammenhänge, in denen Dichter und ihre

Werke stehen, und geht weiter ins Metaphysische und Psychologische.

Aber gerade die Gefahr, Dichtungen immer mehr

als Symptome geistiger und philosophischer Zusammenhänge

zu sehen, also als Mittel zum Zweck, führt zu einer Reaktion:

man besinnt sich wieder auf das Wesen der Dichtung. Freilich

geht nun der Weg zunächst auf das Erfassen einzelner, konkreter

Dichtungen in ihrer künstlerischen Art, die sogenannte

Interpretation. Doch zeigen sich bald die Gefahren dieser

Tätigkeit. Einerseits spürt man wieder, daß auch Dichtungen

in geistigen und geschichtlichen Zusammenhängen stehen,

daß man sie gar nicht ganz in ihrem künstlerischen Sosein

verstehen kann, wenn man nicht auch diese Zusammenhänge

mindestens kennt, und daß es auf die Dauer unbefriedigend

ist, nur immer einzelne Dichtungen zu deuten und

Zusammenhänge zwischen ihnen gar nicht mehr sehen zu

wollen; andererseits haben gewissenhafte Interpreten bald erkannt,

daß Grundkenntnisse und Grundbegriffe allgemeiner

Art vorhanden sein müssen, wenn Interpretation nicht wissenschaftsfremde

Schwätzerei werden sollte. Aber gerade diese

Erkenntnis mußte zur Poetik, wie sie heute aufgefaßt wird,

hinführen: zu einer Wissenschaft vom Wesen, dem Dasein

und den Formen der Dichtung überhaupt. Über diese immerhin

beträchtlichen Umwege sind wir nun zu klaren Einsichten

über eine moderne Poetik gekommen. Zunächst negativ: |#f0023 : 7|



Poetik ist kein Lehrbuch mehr für Dichter oder solche, die es

werden wollen. Sie ist aber auch kein philosophisches System,

schon gar keine Metaphysik. Und positiv: sie forscht nach

dem Wesen der Dichtung. Nicht das konkrete Kunstwerk im

geschichtlichen Lebenszusammenhang untersucht sie, sondern

das Immerwährende, Gültige, Ewige an ihr und die Lebensbezogenheit

nur insofern, als eben auch sie zum Wesen der

Dichtung gehört.



So läßt sich im folgenden kurz umreißen, was eine moderne

Poetik zu sein und zu leisten hätte. Zunächst ist ihr Verhältnis

zu den anderen Wissenschaftszweigen, die sich mit Dichtung

beschäftigen, klar zu umreißen. Das ist nicht ganz einfach,

weil einmal Dichtung selbst als Kunst immer etwas Unsagbares,

Geheimnisvolles, Irrationales an sich hat, das gerade

bei rein denkerischer Haltung des Betrachtenden sich verflüchtigt;

damit entsteht die Gefahr, daß Wesentliches der

Dichtung dabei verlorengeht. Aber auch die Grenzen der

Dichtung zu anderen sprachlichen Gebilden sind fließend. Das

wird uns noch beschäftigen. Hier sei zunächst einmal ohne

Begründung festgehalten: Sprachkunstwerke (neben Dichtungen

z. B. Schilderungen, Reden, Briefe usw.) sind der

Gegenstand bestimmter wissenschaftlicher Bemühungen. Sie

bilden gemäß ihrer besonderen sprachlichen Struktur eine

Einheit. Alle Zweige wissenschaftlicher Bemühung um Sprachkunstwerke

fassen wir als Literaturwissenschaft zusammen.

Das Wesen der Sprachkunstwerke in seiner klaren Umschreibbarkeit

hat auch die Einheit dieser wissenschaftlichen

Zweige zur Folge. Aber es gliedern sich Teilaufgaben heraus.

Alle Fragen, die die Grundlagen dieser Wissenschaftszweige,

ihre Möglichkeiten, Aufgaben usw. betreffen, sucht die allgemeine

Literaturwissenschaft zu beantworten und zu ordnen.

Sobald wir das konkrete dichterische Kunstwerk betrachten,

betreiben wir Interpretation. Sie kann eine dreifache

Aufgabe haben: 1. Sie sucht dem Leser das Kunstwerk näherzubringen,

es ihm in all seinen Werten zu erschließen. So

erfüllt sie einen wichtigen bildnerischen Zweck im Hinblick

auf Wirkung und Lebenssinn der Dichtung. 2. Sie führt zu

allgemeinen Einsichten über Dichtung überhaupt und fördert |#f0024 : 8|



so die Poetik. 3. Sie läßt konkrete geschichtliche Gegebenheiten,

denn das sind Dichtungen auch immer, klarer erkennen

und bildet so eine notwendige Grundlage für literaturgeschichtliche

Betrachtung. Damit ergeben sich zwei weitere

Hauptzweige der Literaturwissenschaft: Poetik, die das Allgemeine

über Dichtung aussagt, das, was jeder Dichtung zukommt;

und Literaturgeschichte, die die geschichtlichen Zusammenhänge

bestimmter Dichtungsgruppen (nach Sprachen

oder nach Gattungen geordnet) erforscht. Zwischen diesen

Zweigen bestehen die mannigfachsten und engsten Bezüge,

keiner ist ohne den andern möglich. Die Verflechtung ist

schon daraus erkennbar, daß ja jede Dichtung selbst einerseits

ein ganz konkretes geschichtliches Gebilde ist, von dem

sich in den meisten Fällen der Verfasser, das Entstehungsjahr,

Entstehungsort, erste Veröffentlichung und Wirkung feststellen

läßt, daß sie aber andererseits ein in sich geschlossenes

Gebilde ist, das über den Alltag hinausführt und somit auch

in ihrem Tiefsten geschichtlicher Bindung und Einmaligkeit

enthoben ist. So zeigen sich zugleich die Gefahren, denen

Literaturgeschichte und Poetik ausgesetzt sind. Die Literaturgeschichte

kann über den Erfahrungstatsachen um Dichtungen

ihr Irrationales, Ewiges übersehen; die Poetik kann leicht

in andere allgemeine Fragestellungen hinübergleiten: in

Psychologie, Naturphilosophie und Metaphysik und auch in

unverbindlichen Ästhetizismus.



Die Berechtigung und Stellung der Poetik aber dürfte

klar sein. So wie man nach dem Wesen, dem Dasein und den

Erscheinungsweisen anderer Gegebenheiten in der Natur und

im Kulturleben fragen und aus diesen Fragen und den Antworten

darauf ganze Wissenschaften aufbauen kann, so kann

man das in bezug auf einen so klar umschriebenen Gegenstand,

wie ihn die Dichtung darstellt, auch tun.



Die Poetik gewinnt ihre Einsichten und Erkenntnisse aus

der genauen und wiederholten Anschauung möglichst mannigfaltiger

einzelner Dichtungen. Sie geht also vom konkret

Gegebenen aus und sucht daraus die möglichen allgemeinen

Aussagen über Dichtung zu gewinnen. Sie hilft sich dabei vor

allem durch Vergleiche vieler Dichtungen, sowohl in ihren |#f0025 : 9|



Ähnlichkeiten als auch in ihren Unterschieden. So gelingen

ihr Reihen- und Typenbildungen, die schon der erste Schritt

zum Allgemeinen sind. Insofern ist die Poetik induktiv. Aber

doch sind auch allgemeine Erkenntnisse, etwa über den Menschen

und seine schöpferischen Leistungen, über Kunst und

Kunstwerke, über die Gegenstandswelt, die den Menschen

umgibt, und über die Art, wie er sie erfaßt und erlebt, nötig,

um feste Grundlagen der Poetik zu bieten.



Auf diesem Weg zu den Einsichten über die Dichtung darf

man die Hilfe der Dichter nicht verachten. Freilich ist dichterische

Tätigkeit, also das Schaffen von Dichtungen, nicht

zu vergleichen mit der theoretischen Betrachtung von Dichtungen.

Man kann im Grunde vom Dichter ebensowenig

voraussetzen und erwarten, daß er neben dichterisch-schöpferischer

Tätigkeit auch Literaturwissenschaftler sei, als man

vom Literaturforscher verlangen darf, er müsse auch Dichter

sein. Gewiß kann beides zusammentreffen, aber kaum je in

gleichrangiger Weise. Und doch kommt es sehr häufig vor,

daß Dichter sich über ihr Schaffen und die ihm zugrunde

liegenden Gesetzlichkeiten Rechenschaft ablegen in Briefen,

Gesprächen, Tagebüchern, Essays und ganzen Abhandlungen.

Vor allem finden wir bei ihnen häufig Hinweise gerade auf

zwei ganz gegensätzliche Seiten der Dichtung: auf das Göttliche,

Ewige und Tiefe in ihr und auf die Kunstregeln bis

in alle Einzelheiten.



Die Aufgaben der Poetik sind sehr mannigfaltig. Man kann

auf der einen Seite die Grundgesetze, die Grundgegebenheiten,

die Bedingungen der Dichtung erforschen, auf der anderen

Seite die künstlerischen Möglichkeiten der Gestaltung

in alle Einzelheiten verfolgen und dabei zu Gruppen und

Typen verschiedenster Art kommen. Es scheint mir aber nicht

nötig, beide Seiten als Logik und Ästhetik der Dichtung

scharf zu scheiden. Eine andere Unterscheidung kennen wir

schon aus dem geschichtlichen Überblick. Die normative

Poetik, die Regeln des Schaffens zu geben versuchte, ist seit

dem deutschen Idealismus und der europäischen Romantik

von einer beschreibenden und verstehenden abgelöst worden,

die die tatsächlichen Gegebenheiten beschreibt und in ihrer |#f0026 : 10|



Bedeutung für dichterische Zusammenhänge deutet und versteht.

Die damit gewonnene Haltung und die sich daraus ergebenden

Erkenntnisse dürfen nicht mehr verlorengehen.

Und doch deutet sich in neuester Zeit ─ gleichsam in Spiralbewegung

auf neuer Ebene ─ eine Art Rückkehrmöglichkeit

zur früheren Form an. Man sucht neuestens wieder ein Kunstwerk,

also auch eine Dichtung, als ein Gebilde zu sehen, das

bestimmte Wirkungen erzielen will, besonders für die dramatische

und epische Dichtung gilt dies. So dachte noch

Schiller vielfach in seinen ästhetischen Schriften, und danach

richtete er sich als Dramendichter. Damit aber wäre gegeben,

daß man die Bedingungen der Wirkungsmöglichkeit von

Dichtung aufzeigen könnte, man könnte auf diese Weise zu

den notwendigen Abgrenzungen der Dichtung von anderen

Leistungen gelangen und damit endlich sogar Möglichkeiten

nichtdichterischer Einbrüche ins Gebiet der Dichtung erkennen.

Damit wären wirklich Ansatzpunkte einer neuen

normativen Poetik gegeben, die sogar vor Entartungserscheinungen

bewahren könnte. Aber das ist noch Zukunftsmusik.



Doch schon jetzt können die Leistungen einer Wissenschaft

von dem Wesen, dem Dasein und den Erscheinungsformen

der Dichtung, also der Poetik in unserm Sinn, umrissen

werden. Voraussetzung aber dieser Leistungen bleibt eines:

jede erkennende und im weiteren wissenschaftliche Tätigkeit

an der Dichtung muß sich bewußt bleiben, daß Dichtung

eines der höchsten Güter der Menschheit ist. Nur mit Ehrfurcht

darf sich auch der Erforscher der Dichtung ihr nähern.

Er muß wissen, daß viele Geheimnisse und Tiefen der Dichtkunst

dem erkennenden Auge des theoretischen Menschen

verschlossen bleiben müssen, sie hat er zu verehren. Die Ehrfurcht

vor der Dichtung bedingt aber zugleich, daß auch

immer vor jeder forschenden Betrachtung das unmittelbare

und möglichst tiefe Erlebnis der Dichtung stehen muß. Denn

nur in diesem Erleben ist uns Dichtung in ihrer Fülle und Tiefe

gegeben, und nur was uns gegeben ist, können wir erforschen.

Unter diesen Voraussetzungen kann die Poetik etwas

leisten. Sie ermöglicht wissenschaftliche Einsichten in das

menschlich so wichtige Phänomen der Dichtung. Jede Erkenntnis, |#f0027 : 11|



also auch die dieses bedeutenden Phänomens, hat

einen Wert. Allein schon so erscheint eine beinahe systematische

Poetik allen Einzelinterpretationen gegenüber als Ordnung

aller Einsichten in Dichtung gerechtfertigt. Freilich

müssen wir uns dessen bewußt bleiben, daß auch sogenannte

Allgemeineinsichten, die das Dauernde, Überalltägliche der

Dichtung ein für allemal feststellen wollen, immer geschichtlich

bedingt sind. Wir erleben und sehen heute Dichtung

anders, als das schon das 18. Jahrhundert vielfach tat, gewiß

aber ganz anders als vergangenere Zeiten. Dichtung ist für

uns vielfach eben eine andere Gegebenheit als früheren Zeiten,

daher werden auch unsere »allgemeinen« Einsichten anders

sein. Das ist das Schicksal jeder Forschung. Die endgültige

Wahrheit läge eben erst dem Geiste offen, der gleichsam alle

Möglichkeiten, Dichtung zu erleben und zu erfassen, umspannen

könnte. Jeder Forscher und jede Forschergeneration

bewegt sich gleichsam jeweils auf einem anderen Radius von

der Peripherie ins Zentrum. Trotzdem kann die Poetik

Grundlagen für jede weitere wissenschaftliche Tätigkeit auf

dem Gebiete der Literatur geben. Auch für die Literaturgeschichte

gilt das. Denn die geschichtliche Bedingtheit aller

Dichtung gehört ja auch zu ihrem Wesen, ist also auch in der

Poetik zu berücksichtigen. Vor allem aber ist die Poetik

wichtig für die Interpretation, da sie Grundlagen und Grundbegriffe

zum Verständnis der Dichtung gibt. Poetik und

Interpretation begegnen sich auf halbem Weg. Die Interpretation

führt zu Einsichten in Dichtung überhaupt, setzt

aber ein allgemeines Wissen von Dichtung voraus; die

Poetik dagegen fußt, um zu ihren allgemeinen Einsichten zu

kommen, auf der genauen Betrachtung von Einzeldichtungen.



Neben dem Erkenntniswert der rein wissenschaftlichen Erforschung

der Dichtung überhaupt kommt der Poetik aber

auch ein Dienstwert zu: sie vermag den, der tiefer in Dichtungen

eindringen will, der die Erlebnismöglichkeiten, die

sie bietet, reicher ausschöpfen will, in diesem Bestreben mannigfach

zu fördern. Denn sie weist ihn auf manches hin,

was er sonst übersehen würde und was doch sein Erleben

intensivieren kann.

|#f0028 : 12|



Zum Aufbau der vorliegenden Poetik ist noch einiges zu

sagen. Eine gleichsam einlinige Anlage von vorn nach hinten

ist unmöglich. Denn schon der Begriff Dichtung ist äußerst

reich und mannigfaltig. Man denke daran, wie Verschiedenartiges

unter ihm zusammengefaßt wird: ein altgermanisches

Heldenlied, »Ulysses« von Joyce, ein Volkslied, Boccaccios

»Decamerone«, Goethes »Iphigenie«, Hölderlins späte Hymnen,

Rilkes »Duineser Elegien«, Kafkas Romane neben denen

Stifters usw. Vor allem aber sind die Sichten, von denen aus

die Dichtung betrachtet werden kann, sehr verschieden. Zwei

sind immer wieder zu unterscheiden: jede Dichtung ist ein

konkretes geschichtliches Gebilde. Daraus ergeben sich Fragen

nach dem Entstehen und seinen Bedingungen bis hinein

in den Schaffensvorgang und nach der Wirkung von der

ersten Aufnahme bis in die letzten Anregungen in der Menschenseele

oder für andere Dichtungen. Dichtung ist aber

auch ein für sich bestehendes, dem Zeitfluß durch seine Gestalt

enthobenes Werk, und nur als solches kann sie ihren

ganzen Reichtum an Werten enthüllen. So werden wir gleichsam

verschiedene feste Standpunkte wählen, von denen aus

wir immer das Ganze der Dichtung anleuchten, soweit

das eben von diesem jeweiligen Standpunkt möglich ist.

In der Auswahl und Zahl dieser Standpunkte möchte eine

Gewähr dafür liegen, daß damit alle Seiten der Dichtung

wirklich zur Sprache kommen. So ergeben sich aber auch

Überschneidungen und Wiederholungen, da ja von jedem

Standpunkt immer wieder auch Gleiches, allerdings in verschiedener

Beleuchtung, gesehen wird. Nichts von einem

Standpunkt Gesehenes ist unbedeutend für die Sicht von einem

nächsten aus, es müßte gleichsam immer alles in einem überblickt

werden können, damit einseitige Auffassungen vermieden

werden.

|#f0029 : E13|



ERSTER TEIL

DIE FRAGE NACH DEM WESEN

DER DICHTUNG
|#f0030 : E14|



I

DIE DICHTUNG IM RAHMEN DER KÜNSTE


Allgemeines zum Kunstwerk


Die Feststellung, von der wir ausgehen, dürfte kaum einem

Widerspruch begegnen: Dichtung ist Kunst, sie gehört in

den Rahmen der Künste. Jede einzelne Dichtung ist daher

ein Kunstwerk, das kleinste lyrische Gedicht sowohl wie der

umfangreichste Roman ─ wenn er wirklich diesen Namen

verdient. So wird es ein erster Zugang zur Dichtung sein,

wenn wir sie als Kunst überhaupt sehen und ihre Stellung im

Rahmen der übrigen Künste erkennen.



Jeder Mensch steht immer einer Fülle von Erscheinungen

gegenüber. Mit ihnen muß er in irgendeiner Weise fertig

werden, um im Leben bestehen zu können. Das, was jedem

einzelnen begegnet, ist seine Welt. Alles, was ihm gegenübertritt,

bezeichnet er in der Sprache (nicht bloß in der deutschen)

sehr gut mit »Gegenstand«. Diese Gegenstände sind also sehr

verschieden und verlangen daher auch eine ganz verschiedene

Einstellung oder Erfassung durch den Menschen. Aber auch:

verschiedene Menschen erfassen denselben Gegenstand anders.

Wie verschieden wird ein und dieselbe Landschaft von

einem Bauern, einem Geschäftsreisenden, einem Geologen,

einem Techniker, einem Künstler und einem Priester gesehen

und erlebt. Für jeden von ihnen wird sie so zu einem anderen

Gegenstand. Wir gehen also zunächst am besten von der Art

des Erfassens eines Gegenstandes aus. Wir betrachten nicht

alle Schattierungen, sondern greifen drei heraus. Das eine

ist die praktische Erfassung: der Gegenstand wird als brauchbar

fürs praktische Leben erfaßt und demnach in der verschiedensten

Weise bewertet und verwendet, als technisches |#f0031 : 15|



Werkzeug, als Verkaufsgegenstand, um einem anderen zu

helfen usw. Das andere ist die rationale oder theoretische

Erfassung. Hier abstrahieren wir von allem Einmaligen und

Zufälligen, subsumieren ihn einem Begriff (z. B. die Landschaft

ist eine typische Kalklandschaft), indem wir von allem

absehen, was für diese Unterordnung überflüssig ist (Abstraktion),

und fügen ihn damit in eine begriffliche Ordnung

ein: er ist nun in einem von unserem Denken errichteten Zusammenhang

fest eingeordnet und ergänzt und bereichert

diesen rationalen Zusammenhang. Ganz anders ist folgende

Erfassung: wir lösen einen Gegenstand ─ einen Berg, einen

Wasserfall, einen Menschen ─ gleichsam von seiner Umgebung

heraus als ein Gebilde für sich, als ein Bild. Und wir

versenken uns schauend in dieses Gebilde. Wir denken nicht

mehr an seine Brauchbarkeit, wir abstrahieren es nicht mehr

auf einen Begriff, sondern erfassen es in seiner Fülle, im Zusammenklang

der Einzelheiten, in den möglichen Spannungen

und Widersprüchen, die sich uns zeigen. Dabei kommen

auch wir diesem Gegenstand nicht mehr als praktische oder

als rationale Wesen in dieser Schau entgegen, sondern öffnen

ihm unser ganzes Innere im Reichtum seelischer Haltungen

und Vorgänge. Es ist kein Zweifel: diese Art des Erfassens

ist ganz verschieden von den früher gekennzeichneten. Wir

nennen sie ästhetisch und geben damit dem Wort ─ im Zusammenhang

mit anderen heutigen Forschern ─ bewußt

seinen inneren Wert wieder zurück, den es vielfach aus verschiedenen

Gründen verloren hat. So entsteht also in dieser

besonderen Erfassungsweise ein ganz deutlich charakterisierbarer

Gegenstand, der ästhetische Gegenstand. Es ist ein in

sich selbst ruhendes, abgeschlossenes Gebilde von intensiver

Wirkung, weil eben andere Zusammenhänge ausgeschaltet

bleiben. Wir erleben, daß in diesem Gebilde etwas Tieferes

sich ahnen lasse, lebendig werde. Jedes Erfassen eines Gegenstandes

kann auch aus einer besonderen Gestimmtheit erwachsen,

der innerste Wesenskern des Menschen kann da

wirksam werden, das Gemüt des Menschen kann mitsprechen.

Aber viele Erfassungsakte können im alltäglichen Leben

dieses Mitschwingen des Innersten gleichsam ausschalten, es |#f0032 : 16|



ist nicht mehr nötig. Auf keinen Fall aber kann auf dieses

Mitschwingen des Innersten, das wir Gemüt nennen wollen,

in der ästhetischen Schau verzichtet werden. Es gehört wesenhaft

dazu. Aus ihm erwachsen dann ganz bestimmte, auf

diesen Gegenstand gerichtete Gefühle, die sich in ihrer Art

von den Gefühlen beim Erfassen eines neuen Gedankenzusammenhangs,

beim Fertigstellen eines nützlichen Gegenstandes,

beim Anschauen eines leidenden Mitmenschen deutlich

unterscheiden: es sind die ästhetischen Gefühle. In ihnen

erleben wir den Wert, der diesem ästhetischen Gegenstand

anhaftet, dessen Träger dieser Gegenstand ist, den ästhetischen

Wert. Dieser erlebte und in unserem Fühlen uns selbstverständlich

gegebene Wert ist gebunden eben an die Merkmale

des ästhetischen Gegenstandes, durch die er sich von anderen

Gegenständen unterscheidet: Fürsichsein, Bildhaftigkeit, innere

Fülle und Ahnenlassen eines Tieferen gerade in seiner

fülligen Gebildehaftigkeit. So wie man auch anderen Werten

ein bestimmtes Merkmal sprachlich gibt, also das Wahre,

das Gute, das Nützliche, das Heilige usw., so gibt es auch für

den ästhetischen Gegenstand eine solche Bezeichnung: das

Schöne. Freilich wird auch dieses Wort oft so verwendet,

daß man es manchmal am liebsten aus jeder ästhetischen Betrachtung

ausschlösse. Man muß aber darauf achten, daß

dieses Wort eben eine ganze Werteskala bezeichnet, an deren

einem Ende das Häßliche steht, daß es bei dieser umfassenden

Verwendung auf das Gebilde selbst ankommt, nicht auf

das, was ─ nun schon in rationaler Einstellung ─ in ihm dargestellt

wird, und daß wir es im umfassenden Sinne nehmen

und andere Arten des ästhetisch Wertvollen (das Erhabene,

Liebliche usw.) ihm einordnen. Der ästhetische Gegenstand

ist eben das Schöne.



Wir haben gesehen, daß ein und derselbe Gegenstand von

verschiedenen Menschen verschieden erfaßt werden kann.

Wer einmal den Wert des Wahren, des Schönen, des Guten

tief erlebt hat, drängt nun danach, diese Werte möglichst

rein zu erleben, daß die Gefahr, durch andere Erfassungsweisen

gestört zu werden, vermieden ist. So kommt es zu

menschlichen Werken, in denen eben diese reine Wirkung |#f0033 : 17|



möglich, ja das einzig Mögliche ist. Das sind auf dem Gebiet

des Ästhetischen die Kunstwerke. Sie haben alle Eigenschaften

mit anderen menschlichen Werken gemeinsam, nur eben daß

das Ästhetische das Wesenbestimmende ist. Im Kunstwerk

wird das Ästhetische (oder: das Schöne) vom Menschen ins

Werk gesetzt. Es erfüllt sich restlos im Ästhetischen, d. h.

also, es ist als Erscheinung gegeben, ist ein geschlossenes Gebilde,

das unser ganzes Menschliche zu erregen vermag, und

es läßt eben, indem es Erscheinung ist und darin sich erschöpft,

Tieferes ahnen, das aber in solchem Werk nur in der

Erscheinung gegeben ist. Während aber das Schöne in der

Natur oder am Menschenleib getrübt ist, da auch andere

Gesetzlichkeiten es bestimmen und daher auch andere Erfassungsakte

ihm angemessen sein können, ist es im Kunstwerk

in reiner Form da, es ist, eben deshalb, gesteigert und

vervollkommnet. Für den Künstler, der ein Kunstwerk

schafft, wird das Ästhetische zu einer Forderung, die er zu

erfüllen hat, wenn wirklich ein Kunstwerk entstehen soll.

In dieser Gebildehaftigkeit des Kunstwerks ahnen wir ein

erstes Mal etwas vom tiefen Sinn der Kunst: es gibt dem

Gestaltlosen Form, es bannt die Gefahren des Chaotischen.



Die einzelnen Künste und die Dichtung



Der Möglichkeiten, ästhetische Gebilde, also Kunstwerke

zu schaffen, gibt es viele, und man kann diese Möglichkeiten

nach verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Daraus ergeben

sich die verschiedenen Einteilungen der Künste. Man

kann etwa beachten, durch welche Sinne das Kunstwerk auf

den Menschen wirkt, man denke an den Unterschied von

Malerei und Musik. Die Dichtung kann von diesem Blickpunkt

aus aber nicht ganz erfaßt werden. Oder man teilt

nach den »Mitteln« ein, die dem Künstler bei der Gestaltung

zu Gebote stehen: Farben, Marmor, der menschliche Körper.

Aber bei der Musik ist es schon nicht mehr ganz einfach: sind

diese Mittel die Töne oder doch eher die Instrumente, die sie

erzeugen? Bei der Dichtung ist die Antwort gleich zur Hand: |#f0034 : 18|



die Sprache. Aber damit taucht das erste Mal das Problem

der Sprache auf, das von grundlegender Bedeutung für die

Dichtung ist. Die alte Einteilung, auf der noch Lessing fußt,

Künste des Raumes und der Zeit, ist jetzt in anderer, einleuchtender

Art wieder erwogen worden. Ein Gemälde, eine Plastik,

ein Bauwerk ruhen in sich, Musik, Tanz und Dichtung

haben das Eigenartige, daß sie als etwas Verlaufendes da sind,

einen Anfang und ein Ende haben. Es wäre nur sehr gezwungen

möglich, von Anfang und Ende bei einer Plastik, einem

Gemälde oder einem Bauwerk zu sprechen. Wir erkennen:

Gebildehaftigkeit, Insichgeschlossenheit, Fürsichsein als wesentliche

Merkmale eines Kunstwerks umfassen auch zeitlich

Verlaufendes. Ein Gedicht, eine Sonate sind trotz diesem Verlaufen

etwas in sich Geschlossenes, ein Gebilde, das in Erscheinung

tritt, von allen übrigen Gegenständen deutlich abgehoben

und in sich selbst vollkommen.



Wir haben hier nicht die Frage nach der Einteilung der

Künste endgültig zu lösen. Vielleicht ist das überhaupt nicht

möglich, wenn man daran denkt, daß neue Mittel neue Kunstarten

zu schaffen vermögen: Film, Hörspiel. Aber man kann

doch ziemlich sicher gehen, wenn man auf die eine Seite

Malerei und Graphik, Bildhauerkunst und Baukunst, auf die

andere Musik, Dichtung und Tanz stellt, ohne daß wir hier

auf eine vollständige Aufzählung Wert legen. Weil aber

allen Künsten das eine gemeinsam ist, daß in ihnen Kunstwerke

als ästhetische Gegenstände vom Menschen geschaffen

werden, daß sie also mit dem Ästhetischen wesentlich zusammenhängen,

ergeben sich mannigfache Beziehungen

zwischen ihnen. Man kann vor allem nach vier Richtungen

Zusammenhänge feststellen: Zusammenhänge der Kunstwerke

innerhalb von Gemeinschaften (Volk, Epoche),

Ähnlichkeiten im Werden, im schöpferischen Prozeß, der

zu Kunstwerken führt, Grenzformen zwischen den Künsten

(Lied, Oper, Ballett), vor allem aber Zusammenhänge im

Aufbau von Kunstwerken. Geschlossene und offene Formen,

harmonische und gespannte Komposition usw. sind Sichten,

die man auf verschiedene Künste anwenden kann.



Solche Vergleiche zwischen den Künsten können bereits |#f0035 : 19|



etwas über die Eigenart der Dichtung aussagen. Die Unterschiede

zwischen Dichtung und den sog. bildenden Künsten

(Malerei, Plastik, Baukunst) sind augenfällig. Lehrreich ist es

in dieser Hinsicht, Gemälde mit Dichtungen zu vergleichen,

aus denen sie eine Episode nehmen, oder Gedichte, die ein

Werk der bildenden Kunst in dichterische Kunst umzuformen

versuchen (z. B. manche Gedichte Rilkes). Besonders aber muß

auf eines hingewiesen werden. Wenn vom Erscheinen des

ästhetischen Gegenstandes, vom Bildhaften und dann besonders

von der Anschaulichkeit gesprochen wird, so sind das

Begriffe, die sofort einleuchten in bezug auf die bildenden

Künste. Man hat sie für die Ästhetik auch von der Betrachtung

dieser Künste gewonnen. Man muß sich schon für die

Musik, besonders aber für die Dichtung, vom Wörtlichen

dieser Begriffe lösen, wenn sie noch etwas sagen sollen. Denn

niemals ist etwa bloß im Akustischen, im Lautwerden von

Sprache allein das Ästhetische gegeben. Die Sprachklänge,

die Lautungen sind zwar, wie wir noch sehen werden, sehr

wichtig für die Dichtung, aber aus ihnen allein ist unmöglich

das Künstlerische in der Dichtung zu begründen. Sollen diese

Begriffe allgemein für den ästhetischen Gegenstand gelten,

dann muß ihnen ein weiterer Sinn unterlegt werden. Der

gewöhnliche Begriff des Anschaulichen ist für die Dichtung

nicht ohne weiteres brauchbar, auch wenn man damit nicht

nur das durch das Sehen Gegebene meint, sondern alles, was

unmittelbar durch die Sinne überhaupt vermittelt wird. Mit

beidem reichen wir nie ans Wesentliche der Dichtung heran.

Aber auch das Verhältnis zur Musik ist für uns sehr lehrreich.

Man weiß, daß beide Künste oft zusammentreffen. Aber

gerade dabei zeigt sich, daß ihr Zusammenwirken nur in

seltenen Fällen ganz rein und erfreulich ist, vielleicht am

ehesten beim schlichten Lied. Man weiß von der Fragwürdigkeit

rücksichtsloser Programmusik. Und das Problem der

Oper ist noch nie völlig gelöst, man denke an so verschiedene

Werke wie den »Don Giovanni«, den »Fidelio«, den »Tristan«

und den »Rosenkavalier«. Das Problem steckt eben darin,

wie Dramatik, mitteilbare Inhalte als Grundlage für Wortgebilde

und Musik zusammenwirken sollen. Auch bei großen |#f0036 : 20|



Chorwerken, wie den Passionsmusiken Bachs, den Messen

Bruckners, dem Deutschen Requiem von Brahms, hat man

doch immer wieder den Eindruck, daß der »Text« eine mehr

dienende Rolle hat, daß große Dichtung dazu nicht unbedingt

nötig ist. Ich erinnere hier an die ganz verschiedene

Deutung des Schlußsatzes der Neunten von Beethoven durch

Wagner und Nietzsche. Wagner, der ja theoretisch auch in

seinen Werken dem dichterischen Wort eine entscheidende

Rolle geben wollte, deutet hier die Musik aus den Versen

Schillers; Nietzsche dagegen sieht das Entscheidende im gespannt

erwarteten Einsatz eines neuen Instruments und Klangkörpers:

der menschlichen Stimme, wobei der Text sehr

untergeordnet erscheint. Wir müssen aber noch näher die

Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Musik und Dichtung

als Kunstgattungen beachten. Gemeinsam ist beiden

der Charakter des Verlaufs und die Hörbarkeit. Beide kennen

Rhythmus, Takt, Tonhöhe, Melodie. Aber damit sind wir

am Ende, und dazu treten nun wichtige Unterschiede. Die

Musik kennt kein solches Element wie das Wort. Laut und

Satz könnten zur Not mit Ton und Tonfolge bestimmter Art

verglichen werden. Aber dem Wort, das immer, wie wir

sehen werden, etwas Rationales in sich hat, entspricht nichts

in der Musik. Rhythmus und Takt sind in der Sprache und

der Sprachkunst nicht so festgefügt wie in der Musik, Tonhöhe

und Melodie spielen nicht die Rolle wie in der Tonkunst;

vor allem aber sind die Klangfarben in der Sprache viel bedeutungsvoller:

die feste Artikulation der Laute und Lautfügungen

unterscheidet diese Laute sowohl von den Tönen

als auch von den Geräuschen als ein bereits vom Menschen

geformtes Element, also etwas Geistiges.



Die bisherigen Überlegungen haben etwas ganz Entscheidendes

ergeben: die Dichtung scheint eine Sonderstellung

innerhalb der Künste zu haben, nicht nur durch die grundlegenden

Verschiedenheiten gegenüber den bildenden Künsten,

sondern auch durch weit- und tiefgehende Unterschiede

gegenüber der Musik. Daß sie auch Kunst ist, also ein ästhetischer

Gegenstand, willentlich vom Menschen geschaffen,

ist Voraussetzung, läßt sich aus dem Bisherigen schon erkennen, |#f0037 : 21|



wird aber im Laufe unserer Darlegungen immer deutlicher

werden. Der große Unterschied ruht, auch so viel ließ

sich andeutungsweise schon erkennen, in der Sprache. Während

Farben, Stein, Töne oder gar Erzeugung von Tönen

auf Instrumenten etwas Materielles sind, dem an sich kein

Sinn zukommt, ist Sprache als Sinnloses gar nicht denkbar,

Sinnhaftigkeit ist ein notwendiges Merkmal der Sprache.

Die Sprache ist selbst eine Schöpfung der Menschen, ist ein

reichgegliedertes Gebilde, das mit einer Sprachgemeinschaft

aufs engste zusammenhängt. Sprache ist ein kompliziertes

geistiges Gut! In ihr ist viel Geist, viel Schicksal, viel Ringen,

Wollen und Fühlen aufbewahrt. Niemals kann die Sprache

mit den »Mitteln« der anderen Künste auf eine Ebene gestellt

werden, denn sie ist selbst geistige Leistung von Gemeinschaften

und Ahnenreihen. Das bedingt von vornherein schon

eine ganz andere Ausgangslage für die Dichtung. Für den

Dichter scheint das zunächst ein Vorteil und ein Nachteil zu

sein: ein Vorteil, weil ein geistiges Gebilde von vornherein

ganz andere Möglichkeiten erschließt als eine Materie. Ein

Nachteil, weil die feste Prägung dieses geistigen Gebildes

Sprache ihn doch an unmittelbarer Ausdrucksgestaltung

hindern könnte. Auf keinen Fall darf man die Sprache als

Vehikel der Dichtung ansehen, wie das im 19. Jahrhundert

etwa Fr. Th. Vischer tat. Damals glaubte man, die Dichtung

sei im Kopfe des Dichters schon völlig fertig und werde dann

in Sprache gebracht. Viel bedenklicher aber ist für den Dichter

eine andere Tatsache im Zusammenhang mit der Sprache.

Sie ist doch eines der wichtigsten, gebrauchtesten und auch

mißbrauchtesten Werkzeuge des Alltags. Daß sie dabei abgeschliffen,

verunstaltet, vereinseitigt wird, ist ohne weiteres

einzusehen. Da taucht drängend die Frage auf: und dieses

»Ding« soll auch für Dichtung »brauchbar sein?« Die Antwort,

daß auch ein Sophokles, Dante, Hölderlin diese Sprache

»benützt« haben, zwingt zur weiteren: ist das eine andere

Sprache oder, wenn nicht, was geht da vor, wenn wir von

Gretchens Lied im Zwinger aufs tiefste erschüttert werden?

Mit anderen Worten: eine Besinnung auf das Wesen der

Dichtung verlangt zuvor eine auf das Wesen der Sprache.

|#f0038 : E22|



II

DICHTUNG UND SPRACHE


Sprache und Sprachwerke



Um einen Einblick in das Wesen der Sprache zu bekommen,

darf man nicht von der Meinung ausgehen, die Sprache sei vor

allem ein Mittel der Verständigung. Wir besinnen uns einen

Augenblick auf die Leistung des Wortes. Es ist eine eigenartige

Beobachtung: man merkt sich die Form eines Berges, den

man einmal gesehen hat, wenn man seinen Namen im Gedächtnis

behält. Sonst verschwimmt uns das Bild des Berges.

Das heranwachsende Kind lernt die Dinge kennen, behalten

und unterscheiden, indem es ihnen entweder übernommene

oder selbst gebildete Namen gibt. Wenn wir in der Dämmerung

einen zunächst undeutlichen Gegenstand gewahren und

ihn dann erkennen, so sprechen wir ─ wenn vielleicht auch

nur innerlich ─ bei dieser Erkennung seinen Namen aus. Wir

verallgemeinern: mit dem Wort heben wir aus dem Strom

der Erfahrungen bestimmte uns im Augenblick wichtige

Teile heraus und machen sie durch die Benennung zu »Gegenständen«.

Im Wort bewahren wir die so erfaßten Gegenstände

auf, und im Wort stehen sie uns geistig für später

jederzeit zur Verfügung. Das Wort umgrenzt also Erfahrungsstücke,

bewahrt vor Verschwommenheit der Erfassung,

macht diese Stücke zu Gegenständen und hebt sie in Dauerprägung

für jederzeitige spätere Verfügung aus dem vorbeifließenden

Strom heraus. Auf den gesamten Wortschatz

einer Sprachgemeinschaft hin betrachtet, heißt das: wir halten

die Gesamtheit der Erfahrungen in einer Fülle von Gegenständen

fest, im Wortschatz stehen uns die Gegenstände

unserer Welt jederzeit zur Verfügung. Wir erzeugen uns so

die Glieder einer geistigen Welt, ohne die wir die wirkliche

nie bewältigen könnten. Die Zusammenhänge zwischen

diesen Gegenständen und ihren Aufbau zur Gesamtheit |#f0039 : 23|



unserer Welt leisten wir in den höheren Formen der Sprache,

in den Sätzen und Satzzusammenhängen.



Aber das ist nur die eine Seite. Wir deuten auch die Welt

in der Sprache. In den Worten umgrenzen wir nicht nur

Erfahrungsstücke zu Gegenständen, sondern formen auch

unsere Einstellung zu diesen Gegenständen mit hinein. Wenn

der Inder ─ um das berühmte Beispiel Wilhelm Humboldts zu

bringen ─ den Elefanten als den Zweizahnigen bezeichnet, so

hat er ein Merkmal, das ihm persönlich besonders wichtig

schien, zum Namen gemacht. Die Blume, die wir Deutsche

»Vergißmeinnicht« nennen, heißt beim Franzosen »myosotis«,

d. h. Mausöhrchen. Da wird deutlich, daß ─ mindestens im

Akt der Wortschöpfung ─ ein ganz anderes Erleben bei der

Benennung mitwirkte, daß die Erfassung des Gegenstandes

aus ganz anderen innersten Haltungen geschah und daß diese

innerste Haltung, dieses Gemüthafte (Gemüt immer im Sinne

des innersten Wesens eines Menschen genommen) mit in den

Gehalt des Wortes eingegangen ist. Bei Worten wie Heimweh,

Meeresrauschen, Einöde, Sonnenstrahl fühlen wir alle,

daß da die Erlebnisweise mitwirkt. Die innere Teilnahme am

Erfassungsakt geht in das Wort mit ein. So hat Sprache immer

zwei Richtungen: wir richten uns mit ihr auf einen Gegenstand

unserer Erfahrungswelt (das können auch innere Vorgänge

sein), zugleich aber formen wir in sie auch die Wirkung

ein, die vom Gegenstand auf uns geht. Man kann also

wirklich sagen: »Sprache ist Vollzug der menschlichen Weltbegegnung,

der sich selbst erleuchtet« (Liebrucks). Indem wir

uns zur Sache verhalten, verhalten wir uns zugleich zu uns

selbst. Und in der Rede kommt dann noch als drittes die Richtung

auf den Angesprochenen, auf das Du hinzu.



Der enge Zusammenhang von Welterfassung und Sprache

soll auf dem Gebiete des Wortschatzes noch durch eine

Beobachtung herausgearbeitet werden, durch die der sogenannten

Feldgliederung. Ein Erfahrungsbereich läßt sich in

verschiedener Weise aufgliedern: in wenige oder mehrere

Gegenstände, wobei aber jedesmal der ganze Bereich, aber

eben in verschieden großen Teilen berücksichtigt wird; oder

mehr von einem gemüthaften oder rationalen Standpunkt; |#f0040 : 24|



oder von einem landwirtschaftlichen im Gegensatz zu einem

technischen usw. Das alles wird dauerhaft geprägt in den

Worten. Man nennt diese sprachliche Aufgliederung eines

Erfahrungsbereichs die Feldgliederung. Sie kann sehr verschieden

sein und offenbart in dieser Verschiedenheit eben

eine Verschiedenheit des Welterfassens, wir können nun

schon sagen: des Weltbildes. Eigenartig ist hier die Aufgliederung

der Farbeindrücke. Im Mittelalter erfaßte man am

Regenbogen nur die Farben rot, gelb und grün, während man

heute üblicherweise am Spektrum rot, orange, gelb, grün,

hellblau, dunkelblau und violett, also »die sieben« Farben

unterscheidet. Das heißt also, der Erfahrungsbereich des

Regenbogens wurde früher anders aufgeteilt als heute. Wo

aber bleiben die Farben rosa, lila und braun in dieser Aufgliederung?

Und auch die einzelnen Sprachgemeinschaften

gliedern anders. Was für die eine schon gelb ist, kann für die

andere noch orange sein usw. Die Griechen kannten ein Farbwort,

das unübersetzbar ist. Die Engländer gliedern den

Bereich des deutschen »braun« in drei Farben auf: hazel,

auburn, bay neben brown. Natürlich kann man das zur Not

übersetzen; aber wenn ich hazel mit rötlich-braun wiedergebe,

so ist der Gehalt doch ganz anders als das englische

hazel, weil im deutschen Wort sowohl das rötlich als das

braun mitklingt, nicht aber der Haselbusch usw. Für das

deutsche »rosa« hat der Engländer rose und pink. Oder: den

Bereich »Fleisch« gliedert der Franzose und Engländer in

lebendes und totes (als Speise) auf: englisch flesh neben meat,

französisch chair neben viande. Ganz eigenartig gliedert der

Römer Blut auf: sanguis ist in den Adern, cruor ist das ausfließende

Blut. Umgekehrt gliedert sich das englische to

grind in drei Verba auf: schleifen, mahlen, knirschen, das

französische gazouiller in rieseln und zwitschern. Aber es

kommt auch vor, daß bestimmte Bereiche, die in einer

Sprache gestaltet und aufgegliedert werden, also im Weltbild

dieser Sprachgemeinschaft eine Rolle spielen oder einfach da

sind, in einer anderen Sprache gar nicht da sind, d. h. von

dieser Sprachgemeinschaft gar nicht erfaßt werden. Sie sind

für sie nicht lebensnotwendig. Man spricht von blinden |#f0041 : 25|



Flecken im sprachlichen Weltbild. Daraus ergeben sich die

vielen Unübersetzbarkeiten. Das grönländische »nunatak«

bezeichnet einen aus dem Inlandeis herausragenden Berg. Vor

allem geistige und seelische Gehalte können in der einen

Sprache geprägt werden, in der anderen fehlen, d. h. dieser

Bereich wird eben ganz anders erfaßt und gegliedert. Unübersetzbar

sind: griech. eudaimonia, logos (in einem großen Wörterbuch

werden für dieses Wort u. a. folgende deutsche dem

Schüler vorgelegt: Wort, Beredsamkeit, Lehrsatz, Rechenschaft,

Verhältnis, Vernunft); lat. pietas, virtus; frz. esprit, glorie,

élan; engl. spleen, cant, bluff; dt. Heimat, Stimmung, Gemüt.

Diese paar Beispiele zeigen, wie schon in diesen verhältnismäßig

einfachen Bereichen und nahverwandten Sprachen

Unterschiede bestehen: nicht bloß in der Sprache, sondern

eben durch sie in der Welterfassung und im Weltbild.



Der Mensch kann der Reizüberflutung durch die Welt um

ihn nur Herr werden, wenn er sie geistig bewältigt und sie

sich damit zur Verfügung stellt. Die Welt geistig zu erfassen

ist dem Menschen aber ausschließlich in der Sprache möglich.

Sprache ist also das typisch menschliche Organ der Welterfassung.





Ursprünglich ist diese Welterfassung (geistige Bewältigung

der Erfahrungen) ein sehr umfassender Akt, d. h. es sind dabei

alle Seelenkräfte beteiligt, das Erkennen und Beurteilen ist da

zugleich ein gefühlsmäßiges Stellungnehmen, das Innere des

Menschen ist in seiner Fülle beteiligt. Wo ist diese Ursprünglichkeit

zu finden? Jederzeit beobachtbar ist sie im Kind. Wir

wissen, daß etwa im Wörtchen »heiß«, das ein kleines Kind

spricht, nicht nur ein Merkmal festgehalten wird, also eine

bloße Aussage vorliegt, sondern daß damit das Kind auch

gefühlsmäßig Stellung nimmt: Ablehnung, Furcht, Spannung

usw. Aber auch sonst treffen wir Lagen im Menschenleben,

wo diese volle Erfassung der einströmenden Welt durch die

Sprache noch da ist. Im Affekt, beim Ausdruck höchster

Freude, in furchtbarer Not, kurz auch in dem, was Jaspers als

Grenzsituationen bezeichnet, ist in der sprachlichen Formung

mit der gegebenen Situation in ihrer ganzen Fülle, die also

hier der Gegenstand der augenblicklichen Welterfassung ist, |#f0042 : 26|



auch das ganze Innere, das Gemüt, das Wahrnehmen, Vorstellen

und das Denken des Erfassenden mitgestaltet. Wir

können vermuten, daß es so beim Urmenschen war, daß es

heute noch bei Naturvölkern so ist. Solche Sprachprägung

kann man Ursprache nennen, nämlich ursprünglichste

Sprachformung. Der Ausdruck »Ursprache« bezieht sich also

nicht nur auf den Urmenschen und er ist auch beileibe kein

Ausdruck bloß phantastischer Haltung im Gegensatz zu

wissenschaftlicher.



Aber aus dieser ursprünglichen Haltung, die wir ursprüngliches

Erleben nennen können und die ihre Prägung in der

Sprache findet, gliedern sich mit der Zeit verschiedene Möglichkeiten

des Erfassens aus, die dann selbstverständlich auch

sprachlich sich ausformen. Man kann sie auf zwei hauptsächliche

zurückführen. Wenn dieses Erfassen den gemüthaften

Anteil zurückdrängt, so daß es ein rein urteilendes

Feststellen wird, daß also die rationalen Seiten des Menschen

allein in Anspruch genommen werden, nennen wir dieses

Erfassen Erkennen. Die Grundhaltung des Menschen bei

solchem Erkennen ist das Denken. Dabei muß allerdings

terminologisch folgendes beachtet werden: »Denken« wird in

zweifacher Weise verwendet: einmal in diesem strengen Sinn

als urteilendes, erkennendes Verhalten. So wollen wir das

Wort hier brauchen. Aber vielfach findet man es auch in

einem weiteren Sinn, nämlich ungefähr dem entsprechend,

was wir hier Erfassen nennen, d. h. also alles geistige Bewältigen

der Welt. Nur in diesem Sinn kann man sagen, daß der

geistige Aufbau der Welt in der Sprache ein Erkenntnis- oder

Denkakt ist. Die strenge Form des Denkens ist dann das logische

Denken, das sich genau nach den Gesetzen richtigen

Denkens verhält (Logik). Daneben aber findet sich auch in

weit entwickelten Geistes- und Zivilisationslagen immer noch

eine andere Art des Erfassens, nämlich mit starker und unmittelbarer

Anteilnahme des Gemüts: der Anblick von etwas

Furchtbarem, Großartigem, Überraschendem, Heiterem geschieht

beim Menschen unmittelbar immer aus gemüthafter

Haltung. Wir nennen es das Erleben. Daß auch hier erkennende

Akte mit einfließen, ist klar, muß aber betont werden. Alle |#f0043 : 27|



diese Erfassungsakte geschehen normalerweise in der Sprache,

wenn auch nicht immer dabei gesprochen wird; sobald es

aber zu einer geistigen Bewältigung der Situation kommt,

geschieht es in Sprache. Da diese Grundhaltungen und die

entsprechenden Bezeichnungen dafür fürs folgende wichtig

sind, seien sie nochmals kurz überblickt: jedes geistige Bewältigen

des Erfahrungsstroms, das für die Erhaltung des

Menschen als Lebewesen ja unbedingt notwendig ist, nennen

wir Erfassen. In ursprünglichen Situationen ist dieses Erfassen

sehr komplex; es enthält Urteile, also rein rationale Feststellungen,

und starke Teilnahme des Gemüts noch ungegliedert

in einem Akt, den wir das ursprüngliche Erleben

nennen. Wird das Gemüthafte aus diesem Erfassungsakt ausgeschaltet,

so daß nur die rationalen Seiten am Erfassungsakt

da sind, also die Urteile, dann ist es das Erkennen. Die Grundhaltung

für dieses Erkennen nennen wir das Denken. Ob es je

ganz frei von Gemütsbestandteilen im wirklichen Leben vorkommt,

ist allerdings fraglich, aber rein theoretisch nehmen

wir diese Form des Erfassens als einen Grenzfall an. Die höchste

Form dieses Denkens ist das logische Denken nach den Gesetzen

des richtigen Denkens. Wenn jemand über eine Aufgabe

nachdenkt, muß das noch nicht logisch oder wissenschaftlich

sein, aber Denken ist es auf jeden Fall. Bleibt aber

das Gemüthafte im Erfassungsakt immer noch, ja bestimmt es

den Erfassungsakt in seiner Art, ohne daß rationale, also

denkerische Bestandteile ausgeschaltet sein müssen (es wahrscheinlich

auch nie sind), dann sprechen wir von Erleben.



Die Sprache wird jeweils Wirklichkeit in sprachlichen

Darstellungen, die von einfachsten Äußerungen bis zu umfangreichsten

Büchern reichen. Wir sprechen hier, weil

damit vom Menschen in der Sprache etwas verhältnismäßig

Abgeschlossenes geleistet wird, von Sprachwerken. Welche

Art von Wirklichkeit diese Sprachwerke, ob gedruckt oder

bloß gesprochen, haben, ist eine wichtige Frage, die wir aber

noch aufschieben. Daß sie existieren, ist sicher. Daß »Faust«,

Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung«, ein behördlicher

Erlaß und Parlamentsreden ein Dasein haben, bezweifelt

niemand. Und das genügt vorläufig.

|#f0044 : 28|



Aber etwas anderes ist jetzt wichtiger, weil es uns der

Dichtung näherführt. Die Erfassungsmöglichkeiten des Erlebens

und Erkennens sind, da Welterfassung dem Menschen

nur sprachlich möglich ist, zugleich sprachliche Gegebenheiten.

Daher müssen sie sich auch in den Sprachwerken

auswirken. Wir beginnen zur kurzen Beleuchtung mit

zwei scharfen Gegensätzen. Zuerst das polizeiliche Protokoll

über einen Verkehrsunfall. Die Sprache hat hier ganz bestimmte

Aufgaben zu erfüllen: sie muß Vorkommnisse mitteilen, und

zwar so, daß der Leser sich ein klares, wahres und vollständiges

Bild machen kann. Die Sprache hat hier eine deutliche

Dienstrolle, sie muß Feststellungen, Wahrnehmungen, Beobachtungen

usw. mitteilen, so daß diese Feststellungen, Wahrnehmungen,

Beobachtungen einem anderen zugänglich sind.

Zugleich ist klar, daß hier das Gemüt keine Rolle spielt. Es

hängt ein solches Sprachwerk also mit dem früher erwähnten

Erkennen zusammen. Solche Sprachgebilde, in denen die

Sprache ausschließlich die Funktion einer Mitteilung hat, gibt

es eine Menge. Nur einige Beispiele: Ein Anschlag am schwarzen

Brett einer Behörde, Zeitungsanzeigen, Mitteilungen, die

sich zwei Bekannte auf der Straße machen, ein Lehrbuch der

Geographie, eine Unterrichtsstunde, ein Lehrbuch der Logik

usw. In allen diesen Sprachgebilden weist die Sprache auf

etwas hin, was außerhalb ihrer liegt. Hat die Sprache die Aufgabe

erfüllt, auf diese Sachverhalte hinzuweisen, dann ist sie

gleichsam überflüssig. Sicher ist auch, daß für solche Mitteilungen

bestimmte Normen herrschen, die erfüllt sein

müssen, wenn die Mitteilung wirklich ihren Zweck erfüllen

soll. Ein Gerichtsurteil zeigt, wenn es seinen Zweck richtig

erreicht, eine andere Darstellungsweise als ein kaufmännischer

Brief, dieser ist wieder anders als ein technisches Gutachten,

die Rede eines Rechtsanwalts befolgt andere Normen als eine

wissenschaftliche Darstellung usw. Aber nochmals: in allen

diesen Sprachgebungen erfüllt Sprache einen Dienst, sie

weist auf etwas hin, was außerhalb dieser Sprachgebung liegt,

sie ist Mittel zum Zweck. Während nun in Gebilden der

Ursprache, wie wir sie gefaßt haben, die Sprache alle ihre

Kräfte entfaltet, vor allem auch das Gemüthafte mitgestaltet, |#f0045 : 29|



werden in den eben erörterten Formen viele der Kräfte, die

in der Sprache ruhen, ausgeschaltet. Nur mehr das an ihr wird

verwertet, was zum Zweck der Darstellung von etwas

Außersprachlichem nützlich ist. Da diese Art sprachlicher

Werke heute bei der weit entwickelten Zivilisationslage an

Menge unbedingt herrscht, haben wir damit einen Zug in

jeder Sprachentwicklung mit aufgegriffen: die Sprache zu

einem immer vollkommeneren Werkzeug im Dienst der

Mitteilung und der äußerlichen Verständigung zu machen; ihre

Formengebung ist nur mehr von wirtschaftlichen Gesetzen

im weitesten Sinn beherrscht. Es genügt zu wissen, was der

Sprechende meint, je deutlicher und einfacher er es sagt,

desto besser. Wir sprechen von der fortschreitenden Ökonomisierung

der Sprache.



Aber nun ein möglichst scharfes Gegenbeispiel zum Polizeibericht,

von dem wir ausgegangen sind:



Über allen Gipfeln

Ist Ruh,

In allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest du auch.
(Goethe)



Jeder, der für Dichtung aufgeschlossen ist und die deutsche

Sprache kennt, wird sofort erkennen, daß es hier nicht genügt,

einen Sachverhalt festzustellen und zu akzeptieren: daß über

den Bergen Ruhe herrscht, daß der Wind die Baumwipfel

nicht mehr bewegt, daß die Vögel schon in ihren Nestern

schlafen und daß auch der Mensch bald schlafen wird. Je

mehr diese »Paraphrase« als Schändung des Gedichtes empfunden

wird, desto besser für das, was wir hier herausarbeiten

wollen: Man kann unmöglich hier von einem nüchternen

Sachverhalt reden, der in verschiedenen sprachlichen Formen

mitgeteilt werden könnte. Denn in jeder anderen ginge viel

von dem verloren, was dieses Gedicht ist. In diesen wenigen

Versen ist Sprache viel mehr, als daß sie bloß in der zweckmäßigsten

Form etwas mitteilen wollte. Eine Fülle sprachlicher |#f0046 : 30|



Kräfte wirken hier, und in ihrem Zusammenwirken

entsteht etwas Neues. Weisen wir bloß auf einiges hin: die

Einfachheit und Weite der Worte, die einfachste, aber jedem

Menschen wichtige Bereiche erfassen; das Schreiten vom

weitesten (Gipfel) über das engere (Wipfel) zum stillen Leben

im Wald (Vögelein) und endlich bis in die Seele des Menschen

hinein. Die Schlichtheit des Satzablaufs, der gar nicht einfacher

sein könnte; der wunderbare Rhythmus, der eben verlangt,

daß der zweite Vers so kurz ist, weil eine tiefe Pause

hier folgt und ergriffenes Sprechen das Tempo verlangsamt;

der völlig geänderte, lieblichere Rhythmus des Verses von den

Vöglein; die Spannung, daß am Schluß Satzbau und Vers

nicht zusammenfallen, sondern das »balde« gerade so, daß es

noch im vorigen Vers gesprochen wird, auf das Folgende und

Endgültige mit leichter, ergriffener Spannung hinweist.

Endlich der wundervolle Zusammenklang der Vokale: wie es

im ersten Vers aufsteigt bis zum hellen i, im zweiten aber

gleich herabsinkt zum u (wie anders würde das Wort »Stille«

statt »Ruhe« wirken!), wie es dann nochmals ansteigt, dann

aber immer voller wird (au, ö, ei) und wie aus dem vollen a

des vorletzten Verses nun wieder zweimal im Schlußvers das

u aufklingt und so zurückbindet zur »Ruh« des Anfangs und

zur Fülle des au mit dem Schlußwort. Das sind nur einige

nüchterne Angaben. Sie zeigen aber: hier entfaltet die Sprache

ihre volle Kraft, alle ihre Werte der Lautung, des Rhythmus,

des Klanges; die Worte selbst sind keine Begriffszeichen,

sondern in ihnen lebt mehr, auch unser Gefühl wird durch

jedes von ihnen und durch ihren Zusammenklang erregt, der

Rhythmus und die Satzbewegung leiten unser Gemüt, unser

Innerstes wird geheimnisvoll angesprochen von Abendruh

und Lebensabend. Solche Sprachgebung vermittelt keinen

Sachverhalt, will nichts Wissens- oder Brauchenswertes mitteilen.

Wer danach fragt, was hier die Sprache vermittelt, geht

völlig fehl. Sondern: aus den Kräften der Sprache entsteht

hier ein Gebilde, das ganz in sich ruht, das nicht nach außen

weist ─ es geht uns doch nichts an, was das für Gipfel und

Wipfel sind, wo sie liegen, und ob es Finken oder Meisen

waren draußen in der Wirklichkeit. Man kann auch nicht im |#f0047 : 31|



Sinne des 19. Jahrhunderts (Sprache als Vehikel) fragen, wie

dieses Gedicht im Innern Goethes ausgeschaut habe, bevor er

ihm diese Sprachform gegeben habe. Im Sprachwerk ist alles

gegeben, und außer ihm ist nichts. In diesen Klängen und

Rhythmen, in diesen Wortgehalten und Satzbewegungen

wird die ganze Sehnsucht des Menschen nach Ruhe und das

Gefühl der nahenden Lösung Gestalt, ohne diese Sprachform

haben wir nichts und mit ihr alles. Wir »brauchen« sonst

nichts, aber wir werden innerlich ergriffen. Vom konkreten

Sinn jedes Wortes ─ natürlich muß man einmal gelernt und

wahrgenommen haben, was ein Gipfel und ein Vogel ist ─

bis in die tiefsten seelischen Schwingungen, die unser Innerstes

ergreifen, ist alles da: »Erst in der Spannung zwischen gestalthaft

Herausgestelltem und dem Dunkel des Urgrunds, aus

dem jenes hervorgeht, vermag dichterische Sprache ihre

Fülle und den ihr eigentümlichen Rhythmus zu erreichen, der

sie so scharf abhebt von der Sprache als bloßem Mitteilungs-

und Ausdrucks-Vehikel« (Allemann).



Wir halten den Polizeibericht und Goethes Gedicht nebeneinander:

dort Mitteilung einer Sache, die ganz außerhalb der

Sprache liegt; hier Gestaltung eines Gebildes nur in der

Sprache und mit ihren Kräften, das als sprachliches und nicht

mit der Wendung auf etwas außerhalb der Sprache wirkt und

unser Tiefstes ergreift. Wir nennen diese zwei gegensätzlichen

Sprachwerke Sachdarstellung und Sprachkunstwerk. Die Struktur

der Sprache, die ein solches Kunstwerk schafft, nennen

wir die Sprachkunst. Wir vermeiden für den Augenblick

noch den Ausdruck Dichtung, obwohl diese Verse Goethes

reinste Dichtung sind.



Nun aber müssen mögliche Mißverständnisse ausgeschaltet

werden. Es gibt nicht zwei Sprachen, Sachdarstellung und

Sprachkunst, jedes der Goetheworte könnte in einer ganz

nüchternen Sachdarstellung stehen, und warum ein Polizeibericht

nicht in einem Roman. Auch wird es in der denkbaren

Fülle von Sprachwerken wenige reine Sachdarstellungen und

reine Gedichte geben. Der Augenzeugenbericht eines erregten

Zuschauers des Unfalls wird schon auch manches in der Wortwahl,

im Rhythmus und im Satzablauf von der inneren |#f0048 : 32|



Erregung, vom Gemüthaften des Zeugen gestalten. Und wenn

von den zwei sich begegnenden Bekannten der eine dem

anderen mitteilt, daß er das große Los gewonnen habe, wird

es auch keine »reine« Sachdarstellung sein. Man horche auf

das Gekeife von Marktweibern, auf den Streit von Gassenjungen,

und man wird überzeugt sein, daß auch noch in der

Alltagssprache Entfaltung aller Kräfte der Sprache vorkommt.

Und noch in der reinsten Dichtung ist ein letzter rationaler

Kern eben in dem enthalten, was wir die Wortbedeutung

nennen. Sondern wir sehen eine Linie allmählicher Übergänge

vor uns, an deren einem Ende die Mitteilung steht »Morgen

findet auf dem Dorfplatz ein Schweinemarkt statt« und an

deren anderem die Engelchöre aus Goethes Faust II erklingen.

Und wir verdichten diese beiden Grenzen zu Typen, in denen

wir bestimmte Sprachgestaltungen möglichst rein und scharf

fassen und gleichsam über die alltägliche Wirklichkeit in die

Bereiche des Allgemeinen, Ideellen heben. Mögen sie auch

im alltäglichen Sprachleben sehr selten sein ─ ganz fehlen sie

nie! ─ sie helfen uns, die Struktur tatsächlicher Sprachgebilde

und Sprachwerke in ihrer Art besser zu erkennen. Wir haben

einen Hintergrund, auf dem die Eigenart eines Gedichtes

klarer von der einer Sachdarstellung abgehoben werden

kann.



Selbstverständlich gibt es Sprachwerke, die beide Strukturen

vereinigen: Sachdarstellung und Sprachkunst. Es kommt

dann darauf an, welche in der Sprachgebung das entscheidende

Gewicht hat. Unsere Aufstellung von Idealtypen gestattet,

gerade auch solche Gebilde zu charakterisieren. Diese Scheidung

deckt sich nicht mit der Einteilung menschlicher Leistungen

nach dem Wertgesichtspunkt, etwa wirtschaftliche,

wissenschaftliche, soziale, vitale und religiöse Werte und die

dazugehörigen Leistungen. Unsere Scheidung geht vom

Sprachlichen aus. Sie überschneidet sich mit der nach Wertklassen

vielfach. Denn sie fragt immer: welchen Sinn hat in

diesem Sprachwerk die Sprache. Dient sie zum Mitteilen von

etwas Außersprachlichem, dann ist es Sachdarstellung. Dieses

Außersprachliche kann ein wirtschaftliches, ein politisches,

ein technisches, ein religiöses Werk sein. Wird aber in der |#f0049 : 33|



Sprache durch die Vollentfaltung ihrer Kräfte eine Welt für

sich aufgebaut, die nur in diesem Sprachwerk da ist und nicht

außerhalb, dann ist es Sprachkunst. Da können theoretische

und soziale und politische und religiöse Werte auch mitklingen.

Sie alle aber sind eingefügt in ein ästhetisches Gebilde,

eben ins Sprachkunstwerk.



Sprachkunst und Dichtung



Unsere Betrachtung hat uns im Augenblick, wo wir die

Bedeutung der Sprache für die Dichtung und für ihre Sonderstellung

im Rahmen der Künste erkannt haben, von den

Grundfragen der menschlichen Sprache bereits bis zu einem

so reinen Gedicht geführt, wie es das betrachtete war. Nun

aber müssen wir die beiden Begriffe Sprachkunst und Dichtung

beleuchten. Die Sprachkunst ist die Grundlage für die

Dichtung, nur in dieser Struktur gründet die Dichtung. Es

gibt keine Dichtung, die nicht Sprachkunst ist. Aber, wie wir

bald sehen werden, es gibt außer der Dichtung auch noch

andere Sprachkunstwerke. Und die Sonderstellung der Dichtung

innerhalb der Sprachkunstwerke ist theoretisch nicht

ganz einfach, so sehr wir uns im bestimmten Einzelfall meist

klar darüber sind. Auf alle Fälle können wir sagen: Dichtungen

sind die intensivsten Sprachkunstwerke. In ihnen ist

die Struktur der Sprachkunst am reinsten vorhanden und am

entschiedensten. Dichtungen offenbaren etwas Seiendes, teilen

nicht etwas mit, was brauchbar wäre.



Die Einsicht wird noch deutlicher, wenn wir die Struktur

des Sprachkunstwerks noch genauer beleuchten. Vor allem

sind hier drei wichtige Sprachkräfte am Werk: 1. Das

Schöpferische. Es liegt ja an sich schon im Wesen der Sprache

begründet, denn ursprünglich ist eben Sprache Gestaltung

der Welt in geistiger Fassung. Erst später, im Ökonomisierungsvorgang,

verarmt die Sprache zur bloßen Mitteilungsfunktion.

Aber im Sprachkunstwerk wird die Sprache selbst

wieder schöpferisch. Aus ihren Kräften heraus baut sie eine

geistige Welt auf. 2. Die Fülligkeit. In der Sprachkunst |#f0050 : 34|



wirken sich alle Kräfte der Sprache aus. Nicht immer alle

überhaupt, aber: nie bloß die Funktionen der Mitteilung von

etwas Außersprachlichem. 3. Dadurch ergibt sich, daß in der

Sprachkunst eben auch die tiefsten Seelenkräfte eingeformt

sind, d. h. aber das Gemüt, der Wesenskern des Menschen.



Gerade diese drei Kräfte machen nun aus einem Sprachwerk

ein Sprachkunstwerk. Das Fundamentale beim Sprachkunstwerk

ist die schöpferische Weltgestaltung. Die Sprache

hat nicht die Aufgabe, etwas zu bezeichnen, sondern sie steht

hier noch in ihrer ursprünglichsten Funktion, aus Welterfahrung

und -erfassung eine neue, geistige Welt aufzubauen.

Daher haben die Merkmale jedes Sprachwerks hier im Sprachkunstwerk

ihre besondere Färbung. Diese Merkmale sind:



1. Der Wirklichkeitsbezug. Er ist gegeben durch die

Sprache. Denn in der Sprache steckt ein rationales Element.

Jedes Wort ist ja geschaffen aus einem Bezug zur Wirklichkeit,

um ein Stück aus ihr zu umgrenzen und herauszuheben.

Ohne diesen Bezug zur Wirklichkeit hätten Worte gar keinen

Sinn. Aber es handelt sich nicht um Nachahmung der Wirklichkeit;

das Wort »Fenster« hat mit dem bezeichneten Gegenstand

nicht die geringste Ähnlichkeit. Sondern es ist Neugestaltung

mit anderen Mitteln, Neugestaltung in einem

geistigen Raum, der eben durch die Sprache geschaffen wird.

Im Sprachkunstwerk ist dieser Wirklichkeitsbezug nun bestimmter

Art. Er ist ästhetisch, nicht theoretisch oder rational

wie in der Sachdarstellung. Das grundlegende rationale

Element der sogenannten Wortbedeutung bleibt bestehen,

aber es genügt nicht mehr. Es werden Kräfte im Worte wirksam,

die in der Sachdarstellung als unnötig ausgeklammert

sind. In »Gipfel«, »Ruhe«, »schweigen« usw. in Goethes Gedicht

handelt es sich nicht um bloße Bezeichnungsgebilde,

gar um Begriffsträger im logischen Sinn, sondern um mehr,

das da aus dem Gesamt des Gedichts wieder lebendig wird.

Das für sich bestehende, geschlossene Gebilde bekommt

innere Fülle und seelischen Reichtum.



2. Die Verwesentlichung. Wieder ist das ein Zug, der der

Sprache überhaupt, also jedem Sprachwerk eigen ist. Wenn

ich »Haus« sage, so ist der Hörer nicht mehr gezwungen, an |#f0051 : 35|



ein ganz bestimmtes Haus zu denken oder gar es anzusehen.

Auch wenn keines zu sehen ist, versteht er das Wort und

stellt sich dabei doch nicht anschaulich ein konkretes Haus vor.

Sondern das Wort paßt, wie man volkstümlich sagt, gleichsam

auf alle Häuser. Genauer gesehen: ich habe mit diesem

Wort ein Stück aus dem Erfahrungsstrom herausgegrenzt zu

einem nun geistig verfügbaren Gebilde, das jederzeit verwendbar

ist und ganz allgemeinen Bezug gewinnt: über die

konkrete Einmaligkeit ist das Wort hinausgehoben ins Allgemeine,

Dauernde. Das Wesenhafte des Hauses ist damit sprachlich

»aufgehoben«. Hier greifen wir eine der bedeutendsten

Leistungen der Sprache: Schaffung einer jederzeit verfügbaren

geistigen Wirklichkeit über den konkreten Einzelheiten

des Alltags, die uns aber erst zu Herren über diese

Einzelheiten macht. Im Sprachkunstwerk aber hat diese Verwesentlichung

eine ganz bestimmte Art. Im praktischen Leben

heißt sie: mit der Sprache ganz allgemein über alles reden

können, sich verständigen können. Gerade in der Verallgemeinerung

liegt die Möglichkeit der Verständigung. Im

wissenschaftlichen Sprechen und Schreiben heißt Verwesentlichung:

Einordnen in die allgemeinen, streng sogar in die

logischen Begriffe, in das System der Begriffe. Im Sprachkunstwerk

aber meint Verwesentlichung: ins volle Bild der

dauernden Wesenheiten heben, das zu einmalig Konkrete ganz

abstreifen oder ganz unterordnen, das Skelett der wesentlichen

Merkmale der Begriffe beseitigen und die Fülle des

Bildes schaffen mit dem Heraufholen aus den Tiefen des

Gemüts. Der volle Gehalt des Wesenhaften wird lebendig,

nicht ein Begriffssystem.



3. Das menschliche Werk. Die in der Sprache aufgebaute

Welt ist eine, die der Mensch aufgebaut hat. Aber im alltäglichen

verliert das Sprachgebilde diesen Bezug zum Menschlichen.

Was soll denn noch Menschliches an der Sprachäußerung

»zweimal zwei ist vier« liegen. Gewiß ist diese Einsicht

eine menschliche Leistung, aber in dieser Formel, jederzeit

gebrauchbar, ist diese menschliche Herkunft völlig verflüchtigt.

Anders im Sprachkunstwerk. Gewiß ist es zum

Erleben des Goethegedichts nicht nötig, zu wissen, wo, wann |#f0052 : 36|



und wie Goethe diese Verse das erstemal geschrieben hat.

Aber zum Gedicht gehört es wesenhaft, zu spüren, daß da

ein tiefes Inneres eines Menschen überhaupt zu sprachlichem

Gebilde geworden ist. Die Du-Anrede schon ist etwas deutlich

Menschliches, das Erleben der tiefen, lösenden Wirkung

der Abendnatur, besonders greifbar im Rhythmus, der zwar

in der Sprache hier dauernde Gestalt geworden, der aber im

Innersten ein menschlicher ist.



4. Gestalt. Jedes Sprachwerk bringt ein Stück Welterfahrung

in dauernde Gestalt. Daß diese Gestalt ganz besonderer

Art ist im Vergleich zu Gestaltungen in einer toten Materie,

daß sie nämlich die Bewegung, die jede sprachliche Leistung

ist, auch in sich mit aufnimmt, haben wir schon einmal

erwähnt. Aber immerhin: in einem Brief wird das Berichtete

eine jederzeit nachprüfbare Gestalt, ebenso in einem Geschichtsbuch

unser Wissen usw. Wieder ganz besonderer

Art ist nun die Gestalthaftigkeit im sprachlichen Kunstwerk.

Goethes Verse sind ein in sich gerundetes Ganzes, das gerade

in dieser Gestalt, in diesem Satzverlauf, in diesem Rhythmus,

in diesem Zusammenwirken der Wortgehalte eben schon

alles ist, indem es soviel Menschliches in sich, in dieser Gestalt

erscheinen läßt.



Wir überblicken: der Wirklichkeitsbezug, die Verwesentlichung,

das Menschliche der Leistung und die Gestalthaftigkeit

sind Merkmale, die aus dem Wesen der Sprache jedem

Sprachwerk zukommen. Aber im Sprachkunstwerk haben

diese Merkmale ihre besondere Eigenprägung und Intensität,

die auch nur aus den Möglichkeiten der Sprache erwachsen,

aus dem Schöpferischen, dem Fülligen und dem

Gemüthaften, und damit zu einem ästhetischen Gegenstand

werden. Die höchste Intensität und Reinheit dieser

Merkmale machen nun ein Sprachkunstwerk zu einer Dichtung:

der Wirklichkeitsbezug zeigt sich da in Lebensfülle,

die Verwesentlichung als das Offenbaren des Ewigen, des

Seins, das Menschliche als das Tiefe und Ergreifende und

die wirkende Gestalt als jene In-Sich-Geschlossenheit, die in

höchster Vollendung alles in sich hat und nicht mehr nach

außen weist. Auch dieser Weg war ein Versuch, beschreibend |#f0053 : 37|



und tastend sich dem Wesentlichen der Dichtung zu nähern.



Die vier Merkmale aber haben zugleich angedeutet, in

welchen Richtungen wir dann weiterzuschreiten haben.

Denn sie haben bereits gezeigt, welche Fragen wir anzugehen

haben: Wirklichkeitsbezug, Verwesentlichung und Menschlichkeit

gehen wir im zweiten Teil der Reihe nach an, die

künstlerische Gestalt im dritten und vierten.



Dichtung und andere Sprachkunstwerke



Da unsere Hauptaufgabe die Betrachtung der Dichtung

bleibt, wollen wir sie noch zuerst abheben von anderen

Bereichen, die vielfach damit im Zusammenhang stehen,

auch oft verwirrt werden.



Die Scheidung zwischen Prosa und Dichtung ist nicht

brauchbar, auch dann nicht, wenn man Prosa als Nichtdichtung

auffaßt. Den rein lautungsmäßigen Unterschied zwischen

Vers und Prosa beleuchten wir erst später. Aber es gibt

auch Verse, die keine Dichtung sind. Früher lernte man in

der Lateingrammatik Merkverse über die Geschlechter der

Substantiva, z. B.



Die Männer, Völker, Wind

Und Flüsse Maskulina sind.

Die Weiber, Bäume, Städt' und Land

Und Inseln weiblich sind benannt.


Das sind Verse, aber sicher keine Dichtung. Umgekehrt ist

der »Werther«, der »Hyperion«, aber auch »Effi Briest« und

der »Zauberberg« usw. sicher Prosa, aber ebenso gewiß

Dichtung.



Wohl aber muß der Bezug Dichtung ─ Sprachkunstwerk

noch beachtet werden. Ganz einfach läßt sich sagen: jede

Dichtung ist ein Sprachkunstwerk, es gibt keine Dichtung,

die nicht auch Sprachkunst wäre. (In der Ästhetik des 19.

Jahrhunderts wäre das möglich gewesen, da ja die Sprache

bloß als das Vehikel für die Dichtung in die Öffentlichkeit angesehen

wurde.) Aber: es gibt viele Sprachkunstwerke, die |#f0054 : 38|



keine Dichtung sind. Das Kennzeichnende für ein Sprachkunstwerk

ist eben die Sprachstruktur. Sobald die Sprache

mehr ist als bloß Verständigungsmittel, mehr will als bloße

Mitteilung eines gedanklichen Zusammenhangs, sobald die

Sprache in ihrer Fülle wirkt und eine Welt in sich durch diese

Kräfte aufbaut, sobald dabei das Menschliche und Gemüthafte

wichtig wird, sprechen wir von Sprachkunstwerk.

Freilich gibt es Übergänge und Mischformen. Ein Geschichtswerk

(Thukydides, Tacitus) kann unter Umständen schon

ein Kunstwerk sein, ebenso eine geographische Landschaftsschilderung.

Die geschichtlichen Gestalten und Landschaftsformen

gewinnen da durch die Fülle und Kraft der Sprache

Eigenleben, man vergißt vielleicht schon beinahe die gemeinte

Wirklichkeit außerhalb der Sprache, man spürt das

Ergriffene und das Gemüt. Es ist aber auch möglich, daß

sprachkünstlerische Einsprengsel sich in Sachdarstellungen

finden. Einschübe von Sachdarstellung in Dichtung, also

das Umgekehrte, haben wir später zu prüfen. Aber gerade die

klare Erkenntnis der sprachlichen Eigentümlichkeiten der

Sachdarstellung und der Sprachkunst hilft uns, eben die

sprachliche Eigentümlichkeit solcher Grenzfälle oder Mischwerke

zu beurteilen und zu werten.



Auch die Übergänge von Sprachkunst überhaupt zu Dichtung

im engeren Sinn sind nicht einfach festzustellen. Ganz

allgemein mag als Richtlinie gelten: sobald das sprachkünstlerische

Gebilde so wirkt, daß es nicht mehr auf Außersprachliches

hinweist, sobald man in der sprachlichen Welt eingeschlossen

bleibt, liegt schon Dichtung vor. Sicher sind die

Grenzen fließend. Zwei Beispiele. Wenn man im Briefwechsel

zwischen Goethe und Schiller liest, nimmt man die

sprachlichen Gebilde doch für eine Mitteilung von etwas

Außersprachlichem. Sie sind sicher keine Dichtung. Bei

manchen Briefen von Goethe an Frau von Stein, besonders

den ersten aus Italien, mag man schon zweifeln. Sie sind sicher

Sprachkunstwerke, aber manchmal vergißt man über der

künstlerischen Gestalt dieser Briefe schon den realen Bezug

zur Außenwelt. Die Briefe aber, die den »Werther« oder den

»Hyperion« bilden, sind Dichtung. Wir denken gar nicht |#f0055 : 39|



daran, ob diese Gestalten in der Wirklichkeit einmal existiert

haben, sie sind eine Wirklichkeit kraft der Sprache und

nur in ihr. Die Landschaften bauen sich aus Sprachkunst auf,

und zu fragen, welche Landschaft gemeint sei und ob sie

gut geschildert sei, wäre völlig abwegig. Lehrreich ist der

Anfang des »Jürg Jenatsch« mit der berühmten Schilderung

der Landschaft um den Julierpaß. Der Julierpaß und das Land

Bünden werden gleich zu Anfang genannt; die Säulenstümpfe,

die am Schluß erwähnt werden, kann man heute noch sehen;

und die Licht- und Schattenwirkungen wird man ohne

weiteres an einem Hochsommertag dort auch noch erleben

können. Eine kurze Vorbemerkung, daß da jemand seine

tatsächliche Reise schilderte, fehlt. Aber nun das Entscheidende:

die Gewalt und die unheimliche Bewegung dieser Hochgebirgslandschaft

wirken nicht deshalb so eindrucksvoll, weil

man in jedem Zug den deutlichen Hinweis auf die geographische

Wirklichkeit erkennt, sondern weil hier in der inneren

Kraft der Sprache eine neue Wirklichkeit ersteht, die nicht

schwächlich in Sprache nachgeahmt wäre, weil diese Wirklichkeit

aus der Bewegung und dem Innersten der Sprache

herauswächst und somit eigentlich mit der Außenwelt kaum

mehr etwas zu tun hat. Und nun kommt das zweite: die

Stelle steht im Präteritum: »stand« usw. Das Abrücken in

eine andere Zeitebene entfernt ─ auch eben deshalb, weil keine

Vorbemerkung hinweist, es sei die Erinnerung eines Reisenden

─ von der außersprachlichen, geographisch feststellbaren

Landschaft und erleichtert das Heraufwachsen einer sprachlichen

Welt. Noch mehr aber wirkt auch die Einstellung des

Lesers, mit der er beginnt: Er ist sich dessen bewußt, daß er

jetzt einen Roman, also eine Dichtung liest. Keine dieser

Antriebskräfte allein genügt, um von vornherein ein Sprachgebilde

als Dichtung zu erfahren, keine einzelne Form, etwa

das Präteritum, nicht der volle Lautungscharakter der Stelle,

nicht jedes sprachliche Bild für sich, nicht die Erwartung des

Lesers beim Beginn der Romanlektüre, sondern alle zusammen.

Die sprachlich-stilistischen Züge dieser Stelle stempeln

sie sofort zum Sprachkunstwerk, aber die Nennung geographischer

Namen legt noch einen Bezug zur außersprachlichen |#f0056 : 40|



Wirklichkeit nahe. Die andere Zeitebene und die

Erwartung am Beginn einer Dichtung ─ hier eines Romans ─

aber drängen diesen Bezug zurück, die mächtige sprachliche

Gestaltung kann nun sofort in ihrer Geschlossenheit und in

ihrem Fürsichsein wirken. Man erkennt schon daran, daß

Dichtung ein sehr mannigfaltig geschichtetes Gebilde ist.



So ist das Gebiet der Sprachkunstwerke sehr umfassend,

freilich zahlenmäßig nicht annähernd den Sachdarstellungen

gleichkommend. Und es sind ganz unmerkliche Übergänge

aus dieser Sprachstruktur in jene, man kann sich eine Linie

immer größerer Sprachmächtigkeit vorstellen, bis endlich die

völlig geschlossene Sprachwelt da ist, die Dichtung. Um einen

ungefähren Überblick über die Möglichkeiten von Sprachkunstwerken

zu gewinnen, die noch nicht als Dichtung anzusprechen

sind, kann man etwa mit dem italienischen Philosophen

Benedetto Croce, der sehr strenge Maßstäbe an wirkliche

Dichtung legt, folgende Bereiche unterscheiden. Er

nennt sie die Literaturbereiche, meint aber deutlich eben

Werke, die sich durch ihre Sprachstruktur als Sprachkunstwerke

ausweisen. Zunächst die literarische (also sprachkünstlerische)

Gestaltung des Gefühls; etwa in Bekenntnisschriften,

künstlerischen Liebesbriefen, religiösen Schriften

der Mystiker usw. Dann die oratorische Literatur. Die großen

rednerischen Werke, etwa des Demosthenes, des Cicero, die

Predigten und Schriften Luthers und Eckharts, aber auch

Sprachkunstwerke zur Verherrlichung (etwa Goethes Schrift

über deutsche Baukunst, manche Stellen aus Winckelmanns

»Geschichte der Kunst des Altertums«, Erinnerungen an

große Tote usw.), auch manche philosophische Abhandlungen

zur sittlichen Erhebung (etwa Platons Dialoge, Lessings

»Erziehung des Menschengeschlechts«, Stifters Beschreibung

der Sonnenfinsternis; Croce rechnet dazu auch Schillers Dichtungen

und Manzonis Roman »I promessi sposi«). Weiter die

höhere Form der Unterhaltungsliteratur; hier trennen sich

freilich die Anschauungen; denn wenn Croce hier alle

Romane, Dramen und Epen der Weltliteratur hereinnimmt

außer eben den allerhöchsten Leistungen, dann wird der

Bereich der Dichtung so eingeengt, daß er für weitere Betrachtung |#f0057 : 41|



beinahe unergiebig bleibt. Aber immerhin kann

man etwa an Romane Paul Kellers, an manches von Ebner-

Eschenbach, von Heyse und Geibel und an die Flut guter

Unterhaltungsromane denken, auch an die Kalendergeschichten

(Hebel, Gotthelf, Anzengruber, Rosegger). Endlich die

Lehrliteratur; wir würden sagen: die sprachkünstlerische

Sachliteratur, also Landschaftsschilderungen, Charakteristiken

von großen Persönlichkeiten, Reisebeschreibungen

(etwa die des Orientalisten Fallmerayer, oder die »Wanderungen

durch die Mark Brandenburg« von Fontane), sprachkünstlerische

Darstellungen großer geschichtlicher Ereignisse

usw. Das Gemeinsame an all diesen Werken oder Teilen

von ihnen, das sie eben zu Sprachkunstwerken macht, ist die

Tatsache, daß die sprachliche Gestaltung hier weit über die

bloße Mitteilung von Gedanken usw. hinausgeht, und sich

also die Sprache nicht im rein ökonomisierten Zustand bloß

auf das in ihren Formmöglichkeiten beschränkt, was zu

solcher Mitteilung genügt. Wo außerhalb reiner Dichtung in

Prosa schon sprachkünstlerische Möglichkeiten stecken, deute

die folgende Liste an, wobei es bei manchen Kleinformen oft

gerade auf die scharfe, zugespitzte und damit »packende« Gestaltung

ankommt: Anekdoten, Streiche, Schwänke, Bildnisse,

Fragmente, Essays, Botschaften, Vorträge, Reden,

Kundgebungen, Predigten; Aphorismen, Sprüche, Sprichwörter,

Rätsel, Schwüre, Flüche, Formeln.



Etwas aber muß noch betont werden: Sprachkunstwerke

müssen nicht schriftlich fixiert sein. Wir wissen, daß das

selbstverständlich für Dichtung auch gilt. Man denke an

die ganze altgermanische Dichtung, besonders das Heldenlied

und viele Volkslieder. Spätere schriftliche Aufzeichnung

ist eine geschichtliche, gelehrte oder pädagogische Angelegenheit,

die aber nicht erst aus dem jetzt Aufgeschriebenen

Dichtung macht. Aber auch Sprüche, sprachlich geformte,

aber nie aufgeschriebene Einfälle, heftige, kraftvoll geführte

Gespräche, edle Konversation: das alles können schon kleine

Sprachkunstwerke sein.



Mit der Frage der Aufzeichnung von Sprachkunstwerken

berühren wir die Ausdrücke Literatur und Schrifttum. Sie |#f0058 : 42|



können beide als völlig gleichbedeutend angesehen werden.

Auch ihr Ursprung ermöglicht das: Literatur, ein Lehnwort

aus dem Lateinischen, bezeichnet ursprünglich Schreibunterlage,

dann Schreibmaterial, endlich das Geschriebene. Beim

deutschen Wort ist die Ableitung klar. Ganz allgemein bezeichnen

also diese beiden Worte alles Aufgeschriebene. Das

ist so mannigfaltig, besonders etwa, wenn man daran denkt,

was heute alles gedruckt und geschrieben wird, daß es nur

mehr dann unter einen Hut gebracht werden kann, wenn man

es in einer Geschichte des Druckens als Unterlage braucht

oder wenn es Quelle sprachlicher und sprachgeschichtlicher

Studien ist. Deshalb haben sich bald drei Sonderbedeutungen

entwickelt. Nur müssen wir eben beachten, daß alle diese Bedeutungen,

die ursprüngliche und die gleich zu nennenden

Sonderbedeutungen, nebeneinander gebraucht werden. Die

erste Sonderbedeutung meint alles Aufgeschriebene, das von

geistiger Bedeutung ist. So wird es etwa aufgefaßt, wenn man

von römischer und griechischer Literatur spricht: man bezieht

hier Rhetorik, Historiographie, Gesetzschreibung, auch philosophische

und naturwissenschaftliche Schriften ein. Das gilt

für alte Völker (auch etwa noch fürs Germanische, Altfranzösische,

Altenglische usw.), die man in ihrer gesamten geistigen

Entwicklung und Leistung so am besten überblicken

kann. In neueren Zeiten ginge das schon ins Uferlose.



Die zweite Sonderbedeutung gilt für die Wissenschaft:

man meint mit Literatur das wissenschaftliche Schrifttum

eines bestimmten Gebietes. Aber mit der dritten nähern wir

uns wieder unseren Problemen. Wenn man einen Buchtitel

wie »Geschichte der deutschen Literatur« liest, denkt man

sofort, daß man hier vor allem über deutsche Dichtung unterrichtet

werde. Freilich könnte jedes solche Buch zeigen, daß

sogar innerhalb seines Umfangs der Begriff »Literatur« sich

wandelt: in der ältesten Zeit werden sogar Wörterbücher

(Glossen), Marktbeschreibungen, Urkunden hereinbezogen,

im zwanzigsten Jahrhundert nur mehr Dichtungen, während

noch im 18. Jahrhundert Herders ganzes Schaffen genau dargestellt

wird. Das hängt einerseits mit dem wachsenden

Stoffreichtum, andererseits mit der Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung |#f0059 : 43|



zusammen. Je mehr sich aber die

Wissenschaften gemäß den Gegenständen, die sich wissenschaftlich

erforschen lassen, ausgliedern und entfalten, desto

strenger muß nach einem in sich geschlossenen Gegenstand

jeder Wissenschaft, also auch der Literaturwissenschaft, gefragt

werden. Und da ergibt sich für heute folgende Feststellung:

Alle Sprachwerke können in zwiefachem Sinn

Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung sein: 1. Ihrem

Inhalt entsprechend gehören sie in die einzelnen Fachwissenschaften:

die philosophischen Schriften des Aristoteles in die

Philosophie und Philosophiegeschichte, die Gesetzessammlungen

zur Rechtswissenschaft, mathematische Werke zur

Mathematik usw. 2. Als Sprachgebilde können sie Grundlagen

für sprachwissenschaftliche Untersuchungen bilden,

sowohl geschichtlicher als grammatischer Richtung. Ganz

anders aber steht es mit Sprachkunstwerken. Gewiß kann ein

»Werther« wichtig für die Geschichte des deutschen Wortschatzes

und Satzbaus sein, er ist eine wertvolle Quelle für die

Sozial- und Geistesgeschichte des späten 18. Jahrhunderts.

Aber damit ist sein Wesen und seine Bedeutung noch lange

nicht erschöpft, weil wir dieses Werk mit diesen zwei Gesichtspunkten

überhaupt noch gar nicht in seinem Wesen,

eben als Sprachkunstwerk betrachtet haben. Und so wird heute

mit Recht Literaturgeschichte, überhaupt Literaturwissenschaft

ausschließlich auf Sprachkunstwerke bezogen, vielfach noch

enger sogar auf Dichtung. Nur für größere geistige Zusammenhänge,

in die wir Dichtungen hineinstellen, ziehen wir

auch andere, geistig bedeutende Schriftwerke heran.



Endlich sind noch einige Randerscheinungen zu beleuchten,

gerade weil sie heute für das allgemeine Lesepublikum wichtig

sind. Auch hier sind klare Grenzen nicht zu ziehen, denn auch

hier gibt es die Zone der unmerklichen Übergänge. Um diese

literarischen Randerscheinungen also beurteilen zu können,

und das heißt für uns, auf reine Dichtung auszurichten,

müssen wir immer vom Wesen des Sprachkunstwerkes als

eines ästhetischen Gebildes aus den Kräften der Sprache und

von der Dichtung als der reinsten und höchsten Form der

Sprachkunstwerke ausgehen.

|#f0060 : 44|



Für unsere Zwecke unterscheiden wir zwei Gruppen. In der

ersten wird durch eine bestimmte Artbezeichnung im Untertitel

irgendwie ein Anspruch erweckt, als Dichtung zu gelten,

oder der Leser ist bis zu einem gewissen Grade berechtigt,

eine solche zu erwarten. Solche Titel sind: Roman, historicher

Roman, Novelle, Drama, Trauerspiel, Komödie, Lustspiel

usw. Von gewagteren wollen wir schweigen. Diese Bezeichnungen,

mit denen wir uns noch ausgiebig beschäftigen

müssen, spielen in der Dichtungslehre eine große Rolle. Man

hat mit ihnen ganz bestimmt Arten von Dichtungen bezeichnet

und tut es heute noch. Aber mit der Zunahme der Buchproduktion,

besonders mit der immer wachsenden Flut von

Romanen und mit bestimmten Entwicklungen der Geschmacksrichtungen

umgreifen diese Bezeichnungen heute

deutlich (aber teilweise schon früher) manche literarische

Produkte, deren dichterischer Wert zumindest zweifelhaft ist.

Sie segeln unter einer Marke, die ursprünglich für Dichtung

geprägt war. Als ihre drei wesentlichen Formen erscheinen:

die Unterhaltungsliteratur, der Kitsch, der Schund.



Die Unterhaltungsliteratur bedient sich aller Formen, am

seltensten der lyrischen, am häufigsten der erzählenden. Vom

Standpunkt des Lesers aus ist es das Schrifttum, das ihn unterhält,

zu dem er greift, um sich zu entspannen, also leicht Ansprechbares,

Gefälliges oder auch Spannendes in einem dem

Berufsalltag abgewandten Sinn (Kriminalromane). Das sagt

noch nichts über den dichterischen Wert, man denke an

Erzählungen Hebels, Gotthelfs, Roseggers. Und diese Unterhaltungsliteratur

hat etwas sehr Wesentliches mit Dichtung

gemeinsam: sie schafft eine eigene Welt durch die Sprache,

man wird durch sie nicht auf die Alltagswirklichkeit verwiesen,

oder, wie in den banalen Geschichtsromanen, man

formt sich die geschichtliche Wirklichkeit nach den Anweisungen

des Romans um, hält sie für die reale Wirklichkeit

und spürt nicht, daß man sich in einer durch den Autor in der

Sprache geschaffenen bewegt. Der Mangel an Tiefgang, die

Seichtigkeit scheint manchem schon der strikte Beweis zu

sein, daß es keine Dichtung ist. Aber erstens wollen wir die

leichte Muse, die erheitert und dadurch erhebt, nicht zu rasch |#f0061 : 45|



aburteilen, Anmut und Frohsinn müssen nicht undichterisch

sein. Zweitens ist die entscheidende Frage immer, ob es dem

Autor gelungen ist, aus den Kräften der Sprache eine Eigenwelt

aufzubauen in der ganzen Fülle und Insichgeschlossenheit,

die wir eben dem ästhetischen Gegenstand zugewiesen

haben. Je vollendeter dieses Sprachkunstwerk, desto mehr

wird es sein und bedeuten. Sprachliche Gestaltungskraft kann

auch in Kriminalromanen da sein und sie zur Dichtung

erheben. Man denke daran, wie gern Schiller nach kriminalistischen

Fällen gesucht hat und wieviel Derartiges etwa in

»Luise Millerin« und noch im »Demetrius« Kunst geworden

ist. Maßstab bleibt immer die echte künstlerische Gestaltung.

Was das ist und inwiefern in einer solchen auch eine wertvolle

und tiefe, auf jeden Fall verwesentlichte Welt erscheint, das

werden wir noch zu überlegen haben.



Unstreitig eine Stufe tiefer steht der Kitsch, in allen literarischen

Formen vom schmachtenden Liebeslied bis zum großtuerischen

Roman und zur tränenseligen Tragödie. Der

Kitsch in allen Formen, die ja weit über das Literarische

hinausreichen, ist ein Erzeugnis der Zivilisation, der Verstädterung.

Im Laufe der Zivilisation geht die Bewältigung der

Umwelteinwirkungen, die in frühen Stufen zugleich das

Innerste des Menschen aufgewühlt hat, durch Ausbildung

rasch funktionierender, rational ausgearbeiteter Hilfen immer

glatter vonstatten, das Gefühl wird kaum mehr beansprucht

und droht zu verkümmern. Aber das Gefühl will Nahrung

und schafft sich Ersatz. Diesem Ersatz fehlt aber der tiefe

Untergrund, er ist leer, lebensfern und verspielt. Man hat das

sehr schön am Vergleich mit der griechischen Säule gezeigt

(Riezler). In ihr wirken Maß, Harmonie, Heiterkeit und Leichtigkeit

deshalb so lebendig, weil irgendwie das Maßlose, Zerrissene,

Tragische, Schwere überwunden und eben doch noch

spürbar ist. Fällt aber dieser Untergrund weg, ist das Süße,

Sehnsüchtige, Schaurige für sich allein da, dann ist es leer.

Kitsch kommt nicht aus der Tiefe, wirkt nicht in sie, regt

aber wohlig äußere Gefühlsschichten an. Im Kitsch haben wir

es wohl mit einem erscheinenden Gegenstand zu tun, aber in

dieser Erscheinung offenbart sich nichts mehr, die Erscheinung |#f0062 : 46|



bleibt leer, die üblichen Formen des Lieblichen, Sehnsüchtigen,

Unheimlichen sind Hülsen, daher wertlos.



Gehört der Schund noch in unseren Bereich? Auch er

bemäntelt sich mit Hüllen der Poetik, nennt sich Roman,

Novelle, Balladensammlung usw. Wir sprechen von Schund,

wenn bestimmte Seiten und Triebe des Menschen erregt

werden, die an sich natürlich sind, aber in ihrer Vereinzelung

unsittlich werden: das Kriminelle, Sexuelle usw. Und da

gibt es nun sofort einen sehr brauchbaren Vergleich, der den

Schuld in seinem Wesen enthüllt. Es dürfte wohl kaum gewagtere

Situationen geben, als sie in manchen der Boccaccio-

Novellen vorkommen. Aber warum werden die nicht als

Schund bezeichnet? Weil es Kunstwerke sind! Aber hier

könnte man den Einwurf machen, wir seien der Ansicht,

schöne Form rechtfertige und entschuldige jede gehaltliche

Unsittlichkeit und Unmöglichkeit. Aber gerade hier können

wir tiefer ins Wesen des Kunstwerks hineinsehen. Es dürfte

kaum einen Schundroman geben, der »künstlerisch« vollendet

wäre. Denn höchste Lebendigkeit, Fülle und Gestaltetheit der

Sprachgebung ist eben immer zugleich Erscheinen eines

Tieferen und wirkt daher auf die Tiefen des Menschen. Wo

bloße Formglattheit oder -korrektheit nach Regeln und

Mustern oder gekonnte Glätte oder Raffiniertheit vorliegt,

fehlt eben gerade das, was den ästhetischen Gegenstand ausmacht:

daß alle diese Schönheit zugleich ein Tieferes,

Hintergründiges offenbart, das nicht als Selbständiges noch

dazu käme, sondern eben in dieser vollendeten Gestalt allein

und sonst nirgends im Rahmen dieses Kunstwerks da ist. Mit

anderen Worten: Besinnung auf die Grundgesetze des ästhetischen

Gebildes offenbart immer zugleich dessen Bedeutsamkeit

und hebt es damit in höhere menschliche Bereiche, denen

der Schund völlig fern steht. Schund ist nie Kunst, eben aus

dem Wesen der Kunst heraus, höchstens mehr oder weniger

raffinierte Imitation.



Eine zweite Gruppe von sprachkünstlerischen Randerscheinungen

umfaßt die sogenannte Tendenzdichtung. Es sind

Sprachwerke, die im üblichen Kleide der Dichtung auftreten:

als Roman, Drama, Lyrik usw., in sprachkünstlerischer Form, |#f0063 : 47|



das heißt also unter Einsatz der vollen Kräfte der Sprache.

Aber sie verfolgen damit einen bestimmten Zweck: Politische

Meinungsbildung zumeist, oder Verbreiten und Aufdrängen

weltanschaulicher Ansichten und Lehren. Auch hier

sind die Grenzen fließend. Sprachkunstwerke können solche

Gebilde ohne weiteres sein: sie teilen eben nicht bloß mit,

sondern gestalten durch die Kraft der Sprache geradezu eine

lebendige Wirklichkeit in Farben, die auf den Aufnehmenden

in besonderer Weise wirken sollen. Ob das aber Dichtung ist,

ist eine andere Frage. Soweit die Absicht, eine bestimmte

Meinung aufzudrängen, im Vordergrund steht, kann es sich

kaum mehr um die Gestaltung einer in sich geschlossenen

Welt handeln, es ist dann keine Dichtung. Aber wenn die

Gestaltung so ist, daß nun aus der Kraft der Sprache eine

eigene Welt ersteht, die dann allerdings so eindringlich

bestimmte Züge herauskehrt, daß der Aufnehmende davon

im Innersten berührt wird, dann ist es Dichtung. Es kann

also echte Tendenzdichtung geben. Aber der Maßstab liegt

nicht im Wert dessen, was da gepredigt werden soll, sondern

in der Frage, ob es den Gesetzen echter Dichtung entspricht.

Kleists »Hermannsschlacht« dürfte ein großes Beispiel echter

Tendenzdichtung sein.



III

DAS WESEN DER DICHTUNG



Es ist leicht, große Dichtungen als solche zu erkennen, aber

sehr schwer, wissenschaftlich genau zu bestimmen, was

Dichtung ist. Und zwar deshalb, weil hier theoretische,

streng rationale Haltung etwas erfassen soll, was eben in seiner

ganzen Art nicht theoretisch, nicht rational ist, wenn auch

solche Elemente eingebaut sein können. Man kann sich theoretisch

solchen Phänomenen nähern, muß sich aber immer

bewußt bleiben, daß man das eigentliche Wesen selbst auf

diese Weise nie vollständig in den Griff bekommt. Dichtung |#f0064 : 48|



kann annähernd wissenschaftlich umschrieben, in ihrem

tiefsten Wesen aber nur in ganz bestimmter Haltung erlebt

werden. Der Wert wissenschaftlicher Annäherung ist aber

nicht zu verkennen: es ist die theoretische Klärung eines weiten

und bedeutenden Lebensgebietes, also ein völlig berechtigtes

wissenschaftliches Unternehmen. Denn es ist ein Zug des

Menschen, auch theoretisch die erfahrene Welt zu bewältigen.

Wichtiger aber scheint mir folgendes: es gehen so viele

Meinungen über Dichtung um, die weder auf tiefem dichterischem

Erleben noch auf klarer theoretischer Einsicht beruhen.

Sie stiften Verwirrung und können, wenn sie in

Kreise Verantwortlicher eindringen, wie es etwa Kritiker

sein sollen, zu gefährlichen Mißverständnissen, Trübungen

und Fälschungen führen. Klarheit ist hier nötig.



Es ist am besten, von einem konkreten Beispiel einer

Wesensbestimmung der Dichtung auszugehen. »Dichterische

Gestaltung ist kein Umweg zu einem auch ohne sie erreichbaren

Ziel, sondern ist eine schlechthin einzigartige, eine

unersetzbare und unübersetzbare Weise der Seinserhellung«

(Pfeiffer). Abgesehen davon, daß diese unersetzbare Weise

gar nicht genannt, das Wesen also nur annähernd umschrieben

wird, erinnert diese Bestimmung an eine andere, nämlich von

Martin Heidegger: »Indem der Dichter das wesentliche Wort

spricht, wird durch diese Nennung das Seiende erst zu dem

ernannt, was es ist, und wird so bekannt als Seiendes. Dichtung

ist worthafte Stiftung des Seins.« Da drängt sich eine

wichtige Frage auf: ist Dichtung immer so aufgefaßt worden?

Paßt diese Bestimmung auf einen großen Teil des Minnesangs

und der Barocklyrik? Wenn nicht, dann müßte man die

Umschreibung weiterspannen, so daß alle Auffassungen einbegriffen

werden. Aber es ist fraglich, ob das möglich ist, ob

wir uns eben nicht damit begnügen müssen, aus unserer Sicht

und Kenntnis Zugang zum Wesen zu suchen, so wie andere

Zeiten aus ihrer getan haben und tun werden. Wir müssen

eben auch damit rechnen, daß sich das Wesen der Dichtung je

in verschiedenen Erscheinungsweisen, gleichsam Brechungen,

gemäß verschiedenen geschichtlichen und individuellen

Lagen zeigt. Damit ist aber noch nichts gewonnen.

|#f0065 : 49|



Eine andere Seite bietet sich, wenn man zwei sehr entgegengesetzte

Auffassungen vergleicht. Beide sind sie schon

in der Antike zu finden. Man bezeichnet den Dichter einmal

als vates, als den Seher, der vom göttlichen Hauch berührt

ist, ein andermal als artifex, als einen, der ein künstliches

Werk herstellt. Beide Auffassungen sind einseitig, aber beide

enthalten auch etwas Richtiges. In verschiedenen Epochen

sind bald die eine, bald die andere in den Vordergrund gedrängt

worden. Der deutsche Sturm und Drang, Herder

und der junge Goethe an der Spitze, haben dem vates wieder

zu Ehren verholfen. Aber die mittelalterliche Dichtungslehre,

ebenso der Barock, aber auch der moderne Begriff der Montage

in der Lyrik ─ wir werden davon noch zu sprechen haben

─ zeigen den Dichter als technischen Meister, der mit

gegebenen Bildern, Vergleichen, Vers- und Strophenformen,

mit besonderen Schmuckformen Gedichte herstellt. Die Auffassung

des Dichters als artifex übersieht aber das Wesen der

Sprache: daß Worte nicht bloß Material sind, sondern auch

Seelisches in sich eingeformt haben, und daß jede Sprache

das Weltbild einer Gemeinschaft prägt. Umgekehrt aber

übersehen die Anhänger des vates-Begriffes, daß immerhin

Kunst von Können kommt und ein bestimmtes technisches

Können, eine technische Beherrschung gewisser Formen usw.

erfordert. Auch der alte Goethe hat das genau erkannt. Dichtkunst

wie jede andere Kunst ist durch ihre künstlerische Formung

irgendwie auf Wirkung bedacht. Man hat diesen Wirkungsfaktor

dann vor allem immer wieder verkannt, wenn

man Dichtung als Ausdruck persönlichen Seelenlebens angesehen

hat. Das beginnt schon im Sturm und Drang, setzt

sich aber dann in der gesamteuropäischen Romantik immer

mehr durch. Es schien sogar abwegig, nach Wirkung überhaupt

zu fragen. Man vergaß, daß das große Dichter immer

wieder taten: Dante, Petrarca, Tasso, Racine, Lessing, Schiller.

Heute kann man beobachten, daß man dieser Seite wieder

mehr Aufmerksamkeit widmet. Dichtung ist also immerhin

ein Gebilde, das in seinen Formen auf bestimmte Wirkungen

hinarbeitet. Freilich, wenn nur das Formale an der Sprache

betont wird, kann man zu Fehldeutungen kommen: Geibel |#f0066 : 50|



etwa über Grillparzer stellen. Sprachliche Gestaltung enthält

immer ihre volle Kraft durch das, was in der Sprache Gestalt

gewinnt. Mit anderen Worten: Wir müssen beide Seiten, den

göttlichen Hauch, den wir in der Dichtung spüren, und das

Kunstkönnen, durch das wir eben diesen göttlichen Hauch

erfahren, in einen Blick bekommen. In der vollen Einheit

beider greifen wir etwas vom Wesen der Dichtung.



Es gibt nun noch weitere Auffassungen von Dichtung, die

auch zwei Seiten an der Dichtung unterscheiden. Sicher ist

mit solcher Zweiseitigkeit der Sicht etwas gewonnen: es

können so verschiedene Spielarten dichterischen Gestaltens

gefaßt werden, je nach der Art, welche Seite nun vorherrscht

und wie stark. Auch ist diese Zweiseitigkeit zu begreifen:

was im ästhetischen Gegenstand, also auch in der Dichtung,

volle Einheit und Fülle ist, kann in theoretischer, begrifflicher,

unterscheidender Betrachtung nie in eines gefaßt werden,

sondern spaltet sich für den begreifenden Verstand eben

auf. Da heißt es einmal, Dichtung sei visionäres Schauen des

Wesens der Dinge und das Reden davon in Bildern; ein

andermal: Dichtung ist Wahrheit, weil sie Wesentliches

gestaltet, und zugleich Spiel als freies, nicht zweckgerichtetes

Gestalten des Geistes. Jedesmal werden mit jeder Seite wichtige

Züge der Dichtung erfaßt. Aber erst wenn wir imstande

sind, die volle höhere Einheit, die diese zwei Seiten im Dichtwerk

bilden, mitzuerfassen, sind wir dem Wesen der Dichtung

nähergekommen. Nur in der sprachlichen Gestaltung

(das Wort »Reden« würde besser vermieden) schauen wir

das Wesen der Dinge (in anderen Geisteshaltungen können

wir das auch auf andere Weise tun), nur in freier Geistesgestaltung

wird das Wesentliche offenbar (wiederum kann

es in anderer Haltung auf andere Weise geschehen). Gerade

eben in der völligen Geschlossenheit und Einheit sprachlichen,

geistigen Gestaltens und Schauens auf Tieferes besteht das

Wesen der Dichtung; Wahrheitseröffnung nur in der bestimmten

sprachlichen Formung.



Versuchen wir, alles Wesentliche zusammenzufassen. Drei

Züge scheinen sich besonders scharf abzuheben als Wesensmerkmale

der Dichtung. 1. Dichtung ist ein Sprachkunstwerk. |#f0067 : 51|



Sie baut sich auf den Werten und Kräften der Vollsprache

auf, in der sich Welterfassung in ganzer Fülle und aus

allen menschlichen Haltungen aufbaut, die noch nicht zu

einem bloßen Zeichensystem für Mitteilungszwecke verarmt

ist. 2. Dichtung errichtet eben aus dieser Sprachstruktur eine

völlig in sich geschlossene, in sich ruhende Welt, in der jeder

Verweis oder Bezug auf eine andere Welt völlig eingeformt

ist ins Ganze, so daß mit keinem Wort mehr auf diese »Außenwelt«

hingezeigt wird, daß sie zum Erleben der Dichtung

völlig unnötig ist, wenn die Dichtung nur als Sprachgebilde

verstehbar ist. 3. Dichtung offenbart in dieser ihrer Geschlossenheit

und Gebildehaftigkeit und in den Kräften der Sprache

Tieferes, wir sehen im Kunstgebilde jeder Dichtung das

Wesen der Dinge erscheinen.



Mit diesem letzten Punkt aber berühren wir ein Problem,

das einer Klärung bedarf. Nämlich die Frage, wie sich Dichtung

zu diesen letzten Dingen, die in ihr erscheinen, verhält:

zu Metaphysik, Religion und Weltanschauung.



IV

DIE DICHTUNG UND DIE GEISTIGEN

ORDNUNGSLEISTUNGEN



Bevor wir den Bezug der Dichtung zu den Bereichen der

Religion, der Metaphysik, der Sittlichkeit usw. klären können,

seien die Begriffe überblickt, wie wir sie hier verwenden.

Der Mensch ist jeden Augenblick der Wirklichkeit um ihn

gegenübergestellt, er muß sie in irgendeiner Weise, rein physisch

oder geistig, bewältigen, um bestehen zu können. Das

ist im wahrsten Sinn ein Fassen des uns Gegenübertretenden:

Welterfassung. Sie ist im Grunde und ursprünglich eine Begegnung

der Fülle der Außenwelt mit der Fülle unseres Inneren,

ein Erleben. Daraus sondern sich im Laufe der Entwicklung

drei Hauptformen der Bewältigung oder Erfassung |#f0068 : 52|



aus: die praktische, die theoretische und die ästhetische. Aus

dieser Erfassung steigt der Mensch dazu auf, in den gesamten

Erfahrungsstrom eine Ordnung zu bringen. Das ist die Weltordnung

im weitesten. Dieser hohen geistigen Leistung liegen

zwei Haltungen zugrunde, und danach können wir zwei

solcher umfassender und für die Menschheit im tiefsten lebenswichtiger

Ordnungssysteme unterscheiden. Die eine Grundhaltung

möchte ich die Frömmigkeit nennen. Es ist das Urgefühl

der Ehrfurcht vor dem Hohen und Geheimnisvollen,

das uns hinter aller Erfahrung aufzudämmern scheint. Daraus

wächst die Religion. Die andere Haltung geht gewiß auch

auf die Ehrfurcht zurück, aber hier verehrt der Mensch nicht

bloß, er dringt vor, er forscht: die philosophische Haltung.

Daraus wächst die Metaphysik. (Das ist keine geschichtliche

Konzeption, sondern der Versuch eines möglichst einfachen

Überblicks). Aus der Welterfassung unmittelbar entspringt

das Tätigsein des Menschen, er greift gestaltend in die Welt

ihm gegenüber ein: Weltgestaltung. Halt und Sicherheit bekommt

sie, wenn sie auf einer Weltordnung gegründet ist.

Während sich aus der Weltordnung für den Menschen ein

Welt- und Lebensbild gibt, arbeitet er als Gestaltender

Grundsätze des Handelns heraus, es entwickelt sich die Sittlichkeit,

es entsteht eine Welt- und Lebensanschauung, die

immer auf die Antriebe zum Handeln ausgerichtet sind.



Welche Stellung hat nun die Kunst? Schematisch läßt sich

etwa sagen: Selbstverständlich baut sie auf der ästhetischen

Welterfassung auf. Und sie gehört zur Weltgestaltung. Sie

baut eben eine Welt aus dem ästhetischen Erleben heraus.

Aber diese Weltgestaltung im Kunstwerk ist als menschliches

Werk erst dann von Gewichtigkeit, läßt erst dann

Tieferes in der Gestalt erscheinen, wenn eine religiöse oder

metaphysische Weltordnung zugrunde liegt. Das heißt natürlich

nicht, daß der Künstler ein Religionsstifter oder Metaphysiker

sein muß. Aber er wird wie jeder tiefer veranlagte

Mensch in frommer oder forschender Haltung sich den

letzten Welträtseln gegenüber verhalten; sie sind ihm nicht

gleichgültig.



Tatsächlich aber gibt es im wirklichen Leben allerhand Verquickungen. |#f0069 : 53|



Sind Platons Gespräche Kunstwerke oder Metaphysik?

Ist ein großer katholischer Festgottesdienst in einer

herrlichen Kathedrale ein Kunstwerk oder ein religiöses

Ereignis? Diese Fragen können zumindest gestellt werden.

Die Antworten werden der inneren Einstellung des Antwortenden

gemäß verschieden sein. Aber es gibt eine Schöpfung

des Menschen, wo wir vielleicht alle drei Bereiche vereinigt

finden können: wo aus tiefer Frömmigkeit ein erstes forschendes

Deuten der Welt erwächst und diese Deutung in

greifbaren Gestaltungen dauernde Prägung findet: der Mythos.

Er spannt alle Phänomene in einen in sich vollkommenen

Kosmos in einer unvergänglichen, stets gegenwärtigen

Zeit. Erst in der späteren Entwicklung der Menschheitsgruppen

sondern sich die Bereiche, entstehen Religionen,

beginnen die Metaphysiker, Systeme zu errichten, und gestalten

die Künstler Welten in ästhetischer Schau. Daraus

mag auch ersichtlich sein, daß in fortgeschrittenen Kulturlagen

kaum jemals mehr ein echter Mythos entstehen kann.

Die großen Versuche mythischer Dichtungen (Spitteler,

Däubler, Mombert usw.) sind persönliche Kunstwerke, die

auf religiösen Werten und metaphysischen Begriffen als

einem Bildungsgut aufgebaut sind. Nur wenn der Dichter

das tatsächliche Leben und seine Bedrängnisse in sein Kunstwerk

einformt, können Gebilde entstehen, die für die moderne

Lage ähnliche Funktionen haben wie früher der Mythos,

so etwa Goethes »Faust«.



Damit läßt sich eine grundlegende Einstellung zum Bezug

von Religion, Metaphysik und Kunst finden. Das Kunstwerk

ist ein ästhetisches Gebilde: aus dem Ergreifen eines geschlossenen

Weltausschnitts in seiner Fülle und aus dem ganzen

Reichtum des schöpferischen Innern formt sich ein klar umschriebenes

Ganzes. Welche formenden Kräfte maßgebend

sind und wie sie zusammenwirken, ist eine Frage der einzelnen

Kunstgattungen und ist auch für die Dichtung zu

stellen. Die Gebildehaftigkeit ist das grundlegende Gesetz

des Kunstwerks. Aber es ist nicht bloß Form, sondern bedeutende

Form, im Erscheinen öffnet sich Tieferes. Es können

also im Kunstwerk auch religiöse Werte, metaphysische |#f0070 : 54|



Sichten und sittliche Antriebe erscheinen. In einer Dichtung

kann die Haltung der Frömmigkeit lebendig werden, in

einem Sonett des Gryphius kann uns in der Bildkraft der

Sprache, im Rhythmus, in den Spannungen des Aufbaus das

Vanitas-Erleben aufbrechen, die Verehrung des Ewigen lebendig

werden. Im dramatischen Gespräch zwischen Faust und

dem Erdgeist erleben wir an der unmittelbaren Gewalt dieses

Gesprächs, am rhythmischen Auf und Ab und an der Einprägsamkeit

der sprachlichen Bilder etwas von der Hintergründigkeit

der Welt, wir sagen: sie wird Bild in diesen

Versen. Gesellschaftliche und sittliche Fragen liegen den naturalistischen

Dramen G. Hauptmanns zugrunde, im ästhetischen

Gebilde seiner Dramen sind sie aufgehoben im dreifachen

Hegelschen Sinn: nicht mehr nur als solche uns unmittelbar

gegeben, aber doch aufbewahrt in diesem Kunstgefäß

und damit zugleich aus dem Alltag emporgehoben.



Aber theoretisch muß die Trennung klar sein: im Kunstwerk,

in der Dichtung haben wir es mit einem geschlossenen

Gebilde eigner Gesetzlichkeit zu tun, in das andere Wertgebiete

als Glieder und zugleich entsprechend umgeformt

eingefügt sind. Wir gehen noch kurz auf die einzelnen Zusammenhänge

ein.



Dichtung und Religion. Zunächst ist die Dichtung ein weiterer

Bereich als die Religion. Gewiß kann das Heilige in der

Dichtung aufgehoben sein. Aber wenn nur das Heilige in

die Dichtung eingeformt würde, fielen weite Bereiche aus

der Dichtung weg. Etwa die Rokokogedichte der Anakreontiker,

die Satiren des 16. Jahrhunderts, viele Novellen Gottfried

Kellers usw. Andererseits gibt es eine Menge engster

Bezüge. Gewiß sind gereimte und versifizierte Gebete meist

keine Dichtung, aber sie können es sein. Man denke an Paul

Gerhards »O Haupt voll Blut und Wunden«. Die Visionen

der Katharina Emmerich sind in der Nachschrift Clemens

Brentanos Kunstwerke sprachlicher Art. Ob sie Dichtungen

oder religiöse Erbauungsschriften sind, läßt sich nicht ohne

weiteres ausmachen, es kommt auch auf den an, der sie liest

und hört. Erst wenn man sich über die Grundgesetzlichkeiten

eines religiösen Gutes und einer Dichtung klar ist, kann von |#f0071 : 55|



hier aus Entscheidenderes gesagt werden. Einige allgemeine

Feststellungen können getroffen werden. Dichtung muß zunächst

immer den Wertmaßstäben entsprechen, die an eine

Dichtung in erster Linie gelegt werden müssen. Ob sie auf

theologischen Einsichten und religiösem Glauben gründet,

ist eine für das Wesen der betreffenden Dichtung sekundäre

Frage. Ob Gertrud Le Forts Roman »Der Kranz der Engel«

der katholischen Dogmatik entspricht, ist für den dichterischen

Wert des Werks nicht maßgebend. Umgekehrt versuchten

immer wieder Gruppen von religiös betroffenen Menschen,

religiöse Erneuerung in dichterischer Form zu bieten. Hier

werden die Kunstformen der Dichtung Mittel zum Zweck,

und damit ist schon der Weg von der reinen und echten

Dichtung weg beschritten. Die Religion verehrt das Wesenhafte

und Ewige, die Dichtung aber macht es in sinnbildlicher

Gestaltung als wirkende Urkraft lebendig.



Dichtung und Metaphysik. Hier geht es vor allem um die

Frage, ob die Dichtung so wie ein metaphysisches System

Wahrheit biete und beanspruche. Wieder muß auf den fundamentalen

Unterschied von Dichtung gegenüber denkerischen

Werken hingewiesen werden. Metaphysik denkt das Wesenhafte,

Dichtung gestaltet es. »Ein ewiger Streit besteht seit

Platon zwischen dem Dichter und dem Denker. Aber der

Dichter ist der Überlegene, denn die Probleme lösen sich

ihm nicht im Begriff, sondern in der Gestalt. Die Arbeit des

Gedankens ist nie am Ende, aber das Gebilde des Dichters ist

vollendete Form. Er sagt das Unsagbare in der Sprache der

Symbole. Wir empfangen aus seiner Hand ein gegliedertes

Gefüge der Welt, gereinigt von allem Faserwerk philosophischer

Begriffe« (Curtius). Und Hofmannsthal sagt: »Wir

vermögen nur die Gestalt zu lieben, und wer die Ideen zu

lieben vorgibt, der liebt sie immer als die Gestalt. Die Gestalt

erledigt das Problem, sie beantwortet das Unbeantwortbare.«

Dichtung ist nicht Philosophie, auch schon deshalb nicht, weil

viele Gedichte gar keine philosophischen Probleme stellen,

das »Heidenröslein« und »Wanderers Nachtlied« haben nichts

mit Philosophie zu tun, aber doch öffnet sich in ihnen als

einem dichterischen Gebilde Tieferes, wird das menschliche |#f0072 : 56|



Innere lebendig. Auch geht es nicht darum, den einen Begriff

der Wahrheit in der Dichtung zu finden. Letztes, Ewiges

spiegelt sich in den dichterischen Gebilden in mannigfachster

Weise je nach den Gattungen und Arten und ihren Formgesetzlichkeiten,

je nach der Persönlichkeit des Schöpfers, je

nach den geschichtlichen Lagen. Gewiß vermag die Dichtung,

eben als Kunst, Letztes in ihrer Gebildehaftigkeit, in ihrem

jeweiligen Dasein ahnen zu lassen, es im wahrsten Sinn zu entdecken.

Und wenn Heidegger in bezug auf das griechische

Wort aletheia von der Wahrheit als dem Unverborgenen

spricht, so ist das richtig, darf aber nicht zu eng mit Sprache

und Dichtung als den, wie Heidegger manchmal darstellt,

einzigen ent-bergenden Kräften in Zusammenhang gebracht

werden. In der Sprache, wie sie eben zu ihren Wortschöpfungen

kam, ist immer ein Blick ins Wesenhafte aufbewahrt, aber

es gibt viele Blicke aus vielen sehr verschiedenartigen Ausgangspunkten

in das Innerste, und in fortgeschrittenen Zivilisationslagen

ist es nicht mehr leicht, die entbergende Kraft

der Sprache selber wieder freizumachen von all dem, was

sie eher zu einer verhüllenden macht. Auch gibt es andere

Möglichkeiten als bloß die Dichtung, Wahrheit zu finden

und darzustellen. Bleiben wir beim Wort Goethes: »Der Dichtung

Schleier aus der Hand der Wahrheit.« Im tiefsten offenbart

eben jede Dichtung Letztes, Wesenhaftes, Ewiges. Aber

in ganz verschiedener Weise ist der Schleier der Gestalt fähig,

dieses Letzte erscheinen zu lassen. Im Schleier hat der Dichter

das Sinnbild für die dichterische Gebildehaftigkeit geschaffen,

durch die das Wesen durchscheint. Aber wie es erscheint,

hängt von der Beschaffenheit des Schleiers ab. Noch ein

anderes Bild drängt sich auf. Faust wendet sich bei Sonnenaufgang

geblendet vom strahlenden Gestirn ab, ihm ist es

dann gegeben im Lichterspiel. Dieses Lichterspiel läßt uns

die Sonne ahnen: »Am farbigen Abglanz haben wir das

Leben.« Wir dürfen von der Dichtung keine theoretische

Wahrheit verlangen, keine nackte Übereinstimmung mit dem

real Seienden, keine Beschränkung der Fabulierlust im Märchen.

Aber gerade beim Märchen greifen wir leichter, worin

wir dichterische Wahrheit finden: In der Übereinstimmung |#f0073 : 57|



mit dem Leben im Grundsätzlichen, Wesentlichen, sowohl

was die vom Dichter geschaffenen menschlichen Gestalten

als auch was die Situationen, Handlungen usw. anlangt. Das

ist die innere Notwendigkeit. Wir werden beim Begriff der

Wirklichkeit noch darauf zurückkommen. Also auch hier

wieder: es kommt auf die künstlerische Formwerdung an. Je

vollendeter die Gestalt, desto durchscheinender wird sie sein,

desto erscheinender wird das Wahre in ihr. Das ist eben das

Wesen der ästhetischen Gestalt.



Dichtung und Weltanschauung. Alles Vorangehende läßt uns

nun auch leichter und klarer zu dieser viel umstrittenen Frage

Stellung nehmen: Soll Dichtung Welt- und Lebensanschauung

bieten und damit auch auf das sittliche Handeln wirken?

Sicher ist. Dichtung hat nicht die Aufgabe, Weltanschauung

zu lehren oder zu propagieren, sie ist keine Ethik und hat

keine sittlichen Anweisungen zu geben. Sie ist Kunst und ruht

daher als Gebilde in sich. Aber: wie wir bald sehen werden,

greift Dichtung ins Leben hinein und läßt sich von dort her

anregen. Sie gestaltet in ihrer Weise Leben, vor allem formt

sie vielfach Menschen, und diese Menschen stehen ─ im Rahmen

der geschlossenen dichterischen Wirklichkeit ─ in einer

Welt, nehmen zu ihr Stellung und handeln in ihr nach bestimmten

sittlichen Grundsätzen, so ähnlich wie im alltäglichen

Leben. Dichtung stellt uns also Bilder von lebenden

und handelnden Menschen vor. Da aber dieses Bild von allem

Zufälligen, vom Verwirrenden des bloßen Alltags abgehoben

ist und Wesenhaftes schauen läßt, kann Dichtung gleichsam

Idealbilder menschlichen Seins und Handelns vor uns hinstellen.

Sie werden zu Leitbildern unseres eigenen Daseins und

sittlichen Handelns und können in ihrer Reinheit dann wirklich

entscheidend auf uns Menschen wirken. Es sei aber gleich

vermerkt, daß das nicht sein muß, daß Dichtung nicht

immer Ideal- und Leitbilder aufstellt und damit nicht immer

uns unmittelbar sittlich beeinflußt. Wir werden diese Frage

der menschlichen Wirkung der Dichtung am Schluß des

Ganzen zu betrachten haben. Aber immerhin, sie kann es tun,

und damit ist die Möglichkeit einer Beziehung von Dichtung,

Weltanschauung und Sittlichkeit gegeben: im Kunstgebilde |#f0074 : 58|



der Dichtung erscheinen Leitbilder unseres Seins und Tuns,

die auf unser Inneres eben deshalb besonders tief wirken

können, weil sie vom Wust der nüchternen und verwirrenden

Realität befreit sind.



Dichtung ist also ein Kunstgebilde, das eigenen Gesetzen

unterworfen ist. Aber in der Dichtung erleben wir durch ihre

und in ihrer Gestalt das Tiefere, was das Menschenleben bewegt,

was hinter ihm im Geheimen und Letzten wirkt, und

werden dadurch ergriffen und in unserem menschlichen

Dasein bestimmt und geführt. Die Dichtung führt uns in

ihrer Weise über den Alltag ins Hohe, Ewige und damit

Wahre. Doch damit greifen wir voraus.

|#f0075 : E59|



ZWEITER TEIL

WIRKLICHKEIT UND MENSCH

IN DER DICHTUNG
|#f0076 : E60|



Man weiß, daß Goethe »Wanderers Nachtlied II« zuerst auf

eine Bretterhütte auf dem Gickelhahn im Thüringer Wald

geschrieben hat, daß Zuckmayer mit seinem Schauspiel »Des

Teufels General« ganz bestimmte geschichtliche Ereignisse

und Persönlichkeiten im Auge gehabt hat. Also steht Dichtung

in engem Zusammenhang mit der uns umgebenden

Wirklichkeit. Aber damit sind ganz bestimmte Fragen aufgerollt,

die den oft erörterten Bezug des Inhalts von Dichtungen

zur Realität betreffen. In den möglichen Antworten

kann man zwei Extreme unterscheiden: Man hört die Ansicht,

daß Dichtung wie jede andere Kunst Nachahmung der

Wirklichkeit und desto vollkommener sei, je mehr sie sich

dieser Wirklichkeit annähere. Dagegen fordern Vertreter

der sogenannten abstrakten Kunst, daß sie sich von jeder

banalen Wirklichkeit loslösen müsse, daß sie gar nichts mit

ihr gemein haben dürfe. Nicht gerade auf dem Wege zwischen

diesen beiden Gegensätzen liegt die Auffassung, daß

Dichtung ein Gebilde für sich ist, daß sie als solches, nicht in

bezug zu einer Außenwelt zu erfassen sei.



In welchem Zusammenhang eine bestimmte Dichtung zur

Wirklichkeit steht, in welchem also die Dichtung überhaupt

zur Wirklichkeit, ist eine wichtige Frage. Ihre Betrachtung

führt tiefer ins Wesen der Dichtung hinein. Immer aber ist

in den folgenden Erörterungen die künstlerische Gestalt der

Dichtung mitzudenken. Bei allen Wirklichkeitsbezügen darf

nie bloß an den sogenannten »Inhalt« einer Dichtung gedacht

werden, sondern muß sie als ganzes, also vor allem als

künstlerisches Gebilde gesehen werden.

|#f0077 : E61|



I

DICHTUNG UND WIRKLICHKEIT


Außersprachliche und sprachliche Wirklichkeit



Da wir hier nicht in die philosophischen Fragen um das

Wesen des Seins und der Wirklichkeit (Ontologie) eindringen

wollen, seien bloß einige einfache Feststellungen gemacht.

All das, was wir Menschen daseiend annehmen unabhängig

von uns und ohne von uns wahrgenommen zu werden, ist

Realität. Das aber, was uns erscheint, was wir auffassen, was

also für uns da ist und somit auf uns wirkt, ist Wirklichkeit.

Aber die Trennung ist trotzdem schwierig: denn auch die

Realität kann, wenn wahrgenommen, zur Wirklichkeit werden,

und Irreales, Eingebildetes, Wahngebilde wirken auf

uns ein, wären also Wirklichkeit, ohne Realität zu sein. Um

diesen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, wollen wir

eine andere, für unsere Zwecke vollkommen ausreichende

Scheidung vornehmen. Alles, was unabhängig von unserer

geistig- sprachlichen Erfassung, ohne also geistig von uns aufgenommen

und geordnet zu werden, da ist, ist für uns außersprachliche

Wirklichkeit.



Wir haben schon gesehen, daß der Mensch alles, was ihm

begegnet, nach dem Grad der Wichtigkeit, die es für ihn

gewinnt, auch bewältigt, erfaßt und ordnet, daß er diesem

Geordneten eine Prägung verleiht, die es ihm ermöglicht,

es immer zur Verfügung zu haben. Diese Welterfassung geschieht

durch die Sprache. In den Farbworten entsteht für

uns die Ordnung der Farben, und diese Ordnung bleibt

durch die Farbworte zu unserer dauernden Verfügung;

ebenso ist es mit den Tieren, den Pflanzen, mit den Formen

der Berge usw. Vor allem aber alle inneren Vorgänge (Gefühle,

Strebungen) und die Leistungen des Menschen, seine

Werkzeuge usw. erhalten ihre Ordnung und geistige Verfügbarkeit

durch die Sprache. Der gesamte Bestand einer bestimmten |#f0078 : 62|



Sprache ist also nicht ein geregeltes Gebäude für

sich, sondern in ihm errichtet der Mensch eine geistige Zwischenwelt

(Weisgerber), die Ansichten und Ordnungen, in

denen er die ihm entgegentretende Welt (außersprachliche

Wirklichkeit) aufnimmt, ordnet und zur dauernden Verfügung

hält. Damit entsteht eine geistige Welt, durch die allein

der Mensch mit der außersprachlichen Wirklichkeit in Berührung

kommt, ein Gebilde, in dem sich außersprachliche

Wirklichkeit und menschliches Innenleben begegnen. Und

diese geistige Welt ist sprachlich geprägt. Die sprachliche

Wirklichkeit ist bereits eine geistig geordnete und gefügte

Welt. Im Wort »Pupille« (das kleine Püppchen, das sich im

Auge spiegelt) sehen wir eine bestimmte menschliche Art,

dieses »Ding« der Außenwelt zu erfassen, ebenso im Rhythmus

der Sprache, in der Satzbewegung. So liegt in der sprachlich

geprägten geistigen Welt schon eine Art Kunstwerk vor:

ein Bild der außersprachlichen Wirklichkeit wird in den Gehalten

der Worte geformt, im Rhythmus, in den Wortfügungen

und Satzbewegungen spiegelt sich auch, wie wir

die Welt aufnehmen, erfassen, wie wir zu ihr stehen. Wir

wollen diese Tatsache, daß in der Sprache eine erste geistige

Formung der auf uns zuströmenden Welt geschieht, im

Auge behalten.



Aber diese sprachliche Wirklichkeit ist nicht möglich ohne

die außersprachliche. Zum Worte »Hund« kommen wir nie,

ohne nicht einmal diese von jeder menschlichen Sprache

völlig unabhängige Realität wahrgenommen und erfaßt zu

haben usw. Alle Worte der Sprache und alle Sprachgebilde

stehen in einem ursprünglichen Bezug zur außersprachlichen

Wirklichkeit, denn in ihnen wird sie ja dem Menschen dauernd

zur Verfügung gestellt. Daher kommt es ja auch, daß

mit Sprachgebilden auf Außersprachliches hingewiesen wird.

Mit der Warnung »Hier steht ein Baumast vor« weise ich

energisch auf eine Realität hin. Der Hinweis hat nur Erfolg,

wenn der Hörer mich versteht, d. h. wenn er vor allem das

Wort »Baumast« von dem Zusammenhang lösen konnte, in

dem er es zum erstenmal erfuhr, wenn also mit ihm jederzeit

auf einen Baumast hingewiesen werden kann. In einer Erzählung |#f0079 : 63|



aber weist ein Satz »An dieser Stelle ragte ein Baumast

vor« auf keine außersprachliche Realität mehr hin, die im

Augenblick beachtet werden müßte. Ein Sprachwerk ist also

in seiner Ganzheit ein geistiges Gebilde für sich, eine sprachliche

Wirklichkeit, die allerdings eine außersprachliche Wirklichkeit,

wenigstens in den Elementen des Sprachwerks (den

einzelnen Worten etwa) zum Ausgang hatte; aber der Bezug

muß im Augenblick des Aufnehmens des Sprachwerks nicht

mehr nötig sein. Wie verwickelt die Lage ist, erkennt man

daran, daß ein Sprachwerk, also etwa ein Buch, das man

angreift, zerreißt, kauft, einbindet usw., wiederum eine außersprachliche

Wirklichkeit ist, die dann ─ wie wir das im Augenblick

hier tun ─ wieder sprachlich erfaßt werden kann.



Außerdichterische und dichterische Wirklichkeit



Die vorangegangenen Überlegungen erleichtern das Verständnis

der Beziehungen zwischen Dichtung und Wirklichkeit.

Es muß aber immer beachtet werden, daß Dichtung

Kunst durch Sprache und sprachliche Gestaltung an sich

schon geistige geformte Wirklichkeit ist. Ganz einfach erfassen

wir als außerdichterische Wirklichkeit all das, was jeweils

nicht in einer Dichtung gestaltet ist. Die historische

Gestalt Egmonts ist nicht eine Gestaltung durch Dichtung,

sie ist außerdichterisch. Aber Goethes Egmont ist eine durch

Dichtung geschaffene Gestalt, sie ist nicht mehr außerdichterische,

sondern dichterische Wirklichkeit. Das in einer Dichtung

Gestaltete ist also dichterische Wirklichkeit. Da aber

diese Gestaltung durch das Ganze der Dichtung, also nicht

bloß durch die Wortgehalte und Fügungen, nicht bloß

durch die Satzbewegungen und durch die Lautungen, sondern

auch durch das Verhältnis der Glieder, durch die inneren

Spannungen, durch das Hinstreben auf gewisse Punkte usw.

geformt wird, können wir jede konkrete Dichtung selbst als

dichterische Wirklichkeit bezeichnen. Freilich kann auch jede

solche Dichtung selbst wieder eine außersprachliche Wirklichkeit

sein, wenn wir an das Buch »Faust« als greifbaren |#f0080 : 64|



Gegenstand denken. Dichtung als Gestalt ist auf sprachliche

Formung aufgebaut: ohne Sprache keine Dichtung. Damit

hat also Dichtung unmittelbar sprachliche Wirklichkeit zur

Grundlage und erst über sie hinaus außersprachliche.



Dichtung ist als Kunstwerk also zunächst immer ein Gebilde

für sich. Das betrifft auch das, was in der Dichtung

gestaltet ist, den sogenannten Gehalt. Sich etwa Ȇber allen

Gipfeln ist Ruh« in einer tatsächlichen Situation auf einem

Hügel gesprochen zu denken, ist ganz unmöglich. Es weisen

diese Verse nicht auf eine konkrete Situation einer Außenwelt

hin. Diese dichterische Wirklichkeit ist als Ganzes,

wenn sie wirklich als solches aufgenommen werden soll, nur

in ästhetischer Wahrnehmung zugänglich. Das erkennende

Bewußtsein tritt zurück, eine Einordnung dieses »Gegenstandes«

in einen objektiv-begrifflichen Zusammenhang findet

nicht statt, es wird gar nicht getan, als ob es sich um einen

rationalen Erkenntnisakt handle; aber man hebt den Gegenstand

als Welt für sich in seiner inneren Fülle heraus, er wirkt

ausschließlich in dem, als was er uns erscheint, und die emotionalen

Seiten des Auffassens treten in den Vordergrund.

Ganz scharf ausgedrückt: zum dichterischen Erleben von

Goethes »Egmont«, von Zuckmayers »Des Teufels General«,

von Th. Manns »Zauberberg« oder von Stifters »Witiko« ist

irgendein Wissen von einer bestimmten Außenwelt nicht

nötig. Die Dichtung ruht völlig geschlossen in sich.



Und doch besteht auch hier ein Bezug zur außerdichterischen,

ja zur außersprachlichen Wirklichkeit. Jede Dichtung

bezieht ihr gesamtes Material aus einer außerdichterischen

Wirklichkeit. Nicht nur, daß die in den gerade früher erwähnten

Werken gestalteten Vorgänge irgendwie Tatsachen

der Außenwelt zum Ausgangspunkt haben, der dann allerdings

in jeder guten Dichtung völlig überformt und damit

unwesentlich wird, sondern das hängt aufs tiefste damit zusammen,

daß Dichtung Kunst in Sprache ist. Wir haben jetzt

an das zu denken, was wir gerade früher über den Bezug

sprachlicher Gestaltung zu Außersprachlichem gesagt haben.

Worte wie Gipfel, Wipfel, Vögelein, ruhen usw. sind an ihrem

schöpferischen Ausgangspunkt, im Augenblick, wo sie geschaffen |#f0081 : 65|



wurden (so wenig dieser Augenblick als etwas

Historisches faßbar ist), daraus entstanden, daß ein Erfahrungsstück

durch sie aus dem Erfahrungsstrom herausgehoben

und als jederzeit verfügbares geistiges Gebilde geprägt wurde.

Ohne diesen Bezug zu einer außersprachlichen Wirklichkeit

wären sie nicht. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich gleich

der weitere, viel wichtigere: durch dieses ständige Schöpfen

der sprachlichen Formung aus dem Erfahrungsstrom steht

sprachliches Gestalten unmittelbar mit dem Leben in Berührung,

denn das Erfassen der auf uns zuströmenden Welt

und unser geistiges Antworten darauf ist ein Gutteil menschliches

Leben. So erkennen wir: Dichtung steht als Kunst in

der Sprache, aus dem Wesen der Sprache und ihres Schöpfertums

heraus im engen Lebenszusammenhang.



Nun aber ein weiterer Schritt: wenn auch die dichterische

Wirklichkeit gleichsam ihre Wurzeln bis in die außerdichterische

notwendig hinabreichen läßt, so ist die geschlossene

Welt, die nun kraft der Sprache in der Dichtung vor uns

ersteht, keinesfalls eine, die von Gnaden dieser außerdichterischen

ihre Wirkung hätte oder gar auf sie verwiese, als

ob sie stellvertretend für sie da wäre. Ein solches »als ob«

der dichterischen Welt müssen wir ganz ausschalten. Die Feststellungen,

die etwa in Sätzen eines Romans gemacht werden,

beziehen sich nicht wie in der Alltagssprache auf einen Sachverhalt

in der außersprachlichen Welt, sondern verbleiben

in ihrem Aussagewert ganz in der durch die Dichtung geschaffenen

und repräsentierten Welt. Es geht auch nicht an,

diese Welt der Dichtung etwa als Illusion, als bloß fingiert

anzusehen, weil ihr in der außerdichterischen Wirklichkeit

nichts entspreche. Natürlich gibt es Illusionen in einer Dichtung:

wenn eine Gestalt der Dichtung träumt oder sich

Dinge einbildet, die ─ im Raum der dichterischen Welt ─

nicht sind. So wenn Othello an die Untreue seiner Gattin

glaubt, wenn Rustan in Grillparzers »Traum ein Leben« in

seinem Traum ein ganzes wirres Leben mitmacht. Aber

Dichtung selbst ist nie Illusion. Denn das Kriterium für eine

solche ist immer das Messen an der Realität, und ein solches

Messen kommt hier nicht in Frage. Illusion löst immer Enttäuschung |#f0082 : 66|



aus, wenn man sie als solche erkennt. Aber Enttäuschung

zu erleben, wenn einer erfährt, daß es eine Brigitte

in der außerdichterischen Wirklichkeit nicht gibt, wäre so

töricht, wie darüber enttäuscht zu sein, daß der Apfel auf

einem Gemälde nicht genießbar ist. Die Welt einer Dichtung

ist nicht eine, in der wir leben sollen, sondern eine, die wir

schauen sollen, im Sinne der ästhetischen Wahrnehmung.



Die Verschiedenartigkeit von dichterischer und außerdichterischer

Welt, die In-sich-Gerundetheit der dichterischen

Welt, also einer Dichtung, und die Tatsache, daß trotzdem

Dichtung als Sprachkunst zur außerdichterischen in dem Bezug

steht, daß diese jene fundiert: das muß für das folgende

festgehalten werden. Zunächst klären sich nun zwei bekannte

Fachausdrücke: Stoff einer Dichtung ist das außerdichterische

Rohmaterial, z. B. die Geschichte Wallensteins für Schillers

Drama. Wie aber die Handlung, das Ereignis in der Dichtung

durchgeführt ist, also das, was man in einer sogenannten Inhaltsangabe

greift, nennen wir die Fabel. Das ist also bereits

gestalteter Stoff. Woher der Dichter den Stoff nimmt, also

welche außerdichterische Wirklichkeit ihn zur Schöpfung

anregt, ist gleichgültig. Es können die Natur und ihre Bereiche

sein, Menschen und Menschenschicksale. Aber auch

ein anderes Kunstwerk kann Stoff für Dichtung sein: man

denke an die Musikwerke im »Doktor Faustus«, an Bildwerke

als Anregungen für Lyrik. Aber es scheint, daß solche

Kunstwerke als Stoff für Dichtung wohl deshalb nicht sehr

günstig sind, weil sie ja selbst schon künstlerische Gestaltung

sind, also durch Dichtung neuerlich, freilich anders, geformt

werden. Beim Dinggedicht werden wir noch mehr davon

hören. Hier bietet sich ein erster Anlaß, auf die Geschichtsdichtung

hinzuweisen, also auf Dichtung, deren Stoff geschichtliche

Vorgänge sind. Man hat über Geschichtsdichtung

oft den Stab gebrochen, und das sicher mit Recht, wo

die Sachdarstellung eines geschichtlichen Ereignisses bloß in

schöne Worte und phantasiemäßige Verbrämungen gekleidet

wird. Aber warum sollte dieser »Stoff« nicht auch Anregung

zu einer dichterischen Welt geben? Warum nicht

etwa überhaupt geschichtliches Werden als solches, wie in |#f0083 : 67|



Stifters »Witiko«? Freilich: oft ist dieser geschichtliche Stoff

selbst schon geformter Stoff, aber nicht künstlerisch geformt,

sondern wissenschaftlich geordnet und zu einem geistigen

Zusammenhang gefügt. Damit allerdings treten für

die Dichtung, die eine solche geistige geformte Welt zur

Ausgangslage nimmt, neue Fragen und Schwierigkeiten auf.



Die Beziehung zwischen außerdichterischer und dichterischer

Welt führt zum viel erörterten Begriff der Nachahmung

oder Mimesis. Es handelt sich hier nicht darum, daß

der junge Künstler sich große Vorbilder nehmen solle, sondern

daß der Dichter in seiner Welt die Außenwelt nachahmen

solle. Der Ausdruck Mimesis spielt seit dem Altertum

in der Kunsttheorie eine große Rolle. Davon, daß Dichtung

ein Stück Außenwelt nachahmen solle, ist man heute auf alle

Fälle abgekommen. Aber man versucht, den Ausdruck Mimesis

wegen seines ehrwürdigen Alters und der Autorität

des Aristoteles zu retten, d. h. man versucht auf die verschiedenste

Weise, ihm einen neuen Gehalt zu geben. Gewiß hat

von Aristoteles bis Schiller dieser Begriff eine große Rolle

gespielt. Es fragt sich aber, ob es aus unsrer heutigen geistigen

Lage noch notwendig und möglich ist, mit ihm an die Dichtung

heranzutreten, Dichtung zu begreifen. Wir stehen hier

an einer Stelle, wo wir die geschichtliche Bedingtheit jeder

Erkenntnisleistung spüren. Unnötig aber scheint es, neuen

Wein in alte Schläuche zu füllen und dem Wort Mimesis

neuen Gehalt zu geben. So sei etwa die Darstellung eines

bereits im Geiste des Schöpfers geordneten Wirklichkeitszusammenhangs

Nachahmung. Andere verwerten den Begriff

Mimesis mit mehr Recht nur für die bildenden Künste.

Wieder andere suchen den Begriff des Nachahmens aus dem

Worte Mimesis auszuscheiden ─ um dadurch Aristoteles zu

retten, und sagen sehr richtig: die (außerdichterische) Wirklichkeit

sei der Stoff des dichterischen Schaffens; wozu aber

da noch den sehr klar geprägten Gehalt des Wortes »Nachahmung«

bemühen? Wir rühren hier eigentlich schon an die

Geheimnisse des dichterischen Schöpfungsprozesses. So viel

ist klar: der Stoff ist für den Dichter wirklich nur Rohstoff,

das Material, aus dem er ein Kunstwerk schafft, und zwar aus |#f0084 : 68|



einer ganz bestimmten Weltsicht heraus und mit Mitteln und

unter Gesetzen, die dem Kunstwerk, hier der Dichtung,

gemäß sind. Wir ziehen den Ausdruck Gestaltung vor: von

der außerdichterischen Wirklichkeit gebotener Stoff wird

zu einem Kunstwerk gestaltet, zu einer Dichtung, die nun

ihre eigene Welt ist.



Aber wir müssen die Beziehung zwischen außerdichterischer

und dichterischer Wirklichkeit noch einen Augenblick

weiter verfolgen. Denn anscheinend gibt es da doch Unterschiede

in den Beziehungen. Man vergleiche etwa Storms

bekanntes Lied »Am grauen Strand, am grauen Meer« (Die

Stadt) mit dem Märchen vom Dornröschen. Sicher liegen

auch diesem Märchen außerdichterische Wirklichkeitselemente

zugrunde. Kaum ein Satz, kein Wort, das nicht einen

Bezug zu Stücken unserer Erfahrungswelt hätte. Und gerade

in den beim Erleben des Märchens mitklingenden Vergleichen

der dichterischen Welt mit unserer alltäglichen liegt

ein Reiz im Aufnehmen der Märchenwelt. Völlige Beziehungslosigkeit

ist schon der Sprache wegen unmöglich, und

etwa »sinnlose Worte« zu prägen, wäre das Ende der Sprache,

das wären ja gar keine Worte mehr. Und doch haben wir

den Eindruck, daß wir mit Storms Gedicht näher an einer

erlebten Außenwelt stehen als mit der Welt des Märchens.

Man hat neuerdings versucht, darauf eine Scheidung der

Dichtungsgattungen aufzubauen: in der einen handele es

sich um ganz persönliche Aussage, in der anderen um Fiktion.

Aber das Stormgedicht ist auch dann als Kunstwerk wirksam,

wenn wir das persönliche Erlebnis des Dichters (aber nicht

das Menschliche!) ausschalten. Es ersteht in diesen Versen eine

wunderbar geschlossene Welt, zwar kleinsten Maßes, aber

tiefster Eindruckskraft. Auch der lyrische Dichter (Goethe,

Mörike, Eichendorff) baut in seinen wenigen Versen eine

Welt auf, die als Dichtung in ihrer Geschlossenheit lebt. Daß

wir hier auch unmittelbar ein menschliches Herz schlagen

hören, ist allerdings wesentlich. Was in epischer und dramatischer

Dichtung als Welt ersteht, nennt man heute häufig

mit dem englischen Wort fiction. Mit Fiktion wird hier dann

eine besondere Art dichterischer Welt verstanden: eine Welt, |#f0085 : 69|



in der etwas vor sich geht, in der Menschen handeln und

leiden. Mit anderen Worten: die dichterische Welt besteht

hier in Vorgängen und Handlungen von Menschen. Wir

sind bei der alten Unterscheidung von Lyrik einerseits und

Epik und Dramatik andererseits, indem diese Handlung darstellen.

Die Überlegung hat uns zweierlei gezeigt: 1. Daß

es sich in jeder Dichtung um eine geschlossene, nur in der

Dichtung bestehende Wirklichkeit handelt. 2. Daß es aber

Unterschiede gibt im Bezug zur außerdichterischen Welt, vor

allem Unterschiede im Grad, mit dem Menschliches beinahe

in Persönliches übergeht. Es sind unmerkliche Übergänge.



Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Zusammenhang.

Wir Menschen erfassen die uns entgegentretende Welt

nicht als ungegliedertes Strömen, sondern unsere Art der Erfassung

erfolgt nach bestimmten Gesetzlichkeiten: wir stellen

im Erfassen Ordnungen, Gliederungen der erfaßten Wirklichkeit

her. Wir erleben den Erfahrungsstrom als in der Zeit

verlaufend. Wir können uns Vorgänge und Handlungen gar

nicht anders als zeitlich denken. Dabei gibt es verschiedene

Spielarten, wie dieses zeitliche Verlaufen erlebt werden kann.

Wir fügen weiter diesen Erfahrungsstrom, den wir erfassen,

in einen Raum ein und gliedern ihn in bezug auf Raum. Wir

stellen endlich andere Zusammenhänge her, etwa ursächliche:

wir ordnen im Erfassen solchen Erfahrungsstrom nach Ursachen

und Wirkungen. Und nun das Entscheidende: Unser

menschliches Erfassen von irgendwelcher Wirklichkeit ist

unbedingt auf diese Gesetzlichkeiten der zeitlichen, räumlichen,

ursächlichen usw. Erfassung angewiesen. Diese Gesetzlichkeit

menschlichen Erfassens, die ja Kant zu einer

großen Erkenntnislehre ausgebaut hat, gilt also für jede

Wirklichkeit, die wir erfassen, auch für die dichterische. Sie

gilt aber auch für das Gestalten solcher dichterischen Wirklichkeit,

das ja in irgendeiner Weise immer Erfassen voraussetzt.

Nur so ist es möglich, daß dichterische Wirklichkeit

auf uns wirkt. Auch sie ist ein nach bestimmten Kategorien

der Zeit, des Raumes, der Ursächlichkeit usw. gebautes Gefüge.

Hier stehen wir nun ganz unmittelbar vor einem sehr

engen Zusammenhang zwischen außerdichterischer und |#f0086 : 70|



dichterischer Welt. Besser: beide Wirklichkeiten sind eben

für uns Menschen denselben Gesetzen unterworfen. Gerade

darin ruhen aber besondere Möglichkeiten der Dichtung,

wie wir noch sehen werden. Denn dem gestaltenden Menschen

wird die Zeit, nach deren Gesetzen er einmal formen

muß, selbst zu einer Kraft, aus der er Wirkungen herausholen

kann. Die Zeitgestaltung in der Dichtung bietet ungeahnte

Möglichkeiten: es können Zeitschichten nebeneinander

gelegt, Zeitabfolgen vertauscht, es kann gerafft und

gedehnt werden, und endlich bestehen die mannigfaltigsten

Beziehungen zwischen der in einem Roman etwa dargestellten

Zeitlänge und der Dauer der Lektüre. Ähnliches gilt

für die Raumgestaltung, besonders im Drama. Aber auch

das Kausalitätsgesetz kann in der Dichtung modifiziert werden.

Es entziehen sich uns Zusammenhänge, Tatsachen prallen

scheinbar beziehungslos aufeinander, und doch kann uns der

Dichter ahnen lassen, daß tiefere Zusammenhänge bestehen, daß

ein großes waltendes Gesetz hinter allem verborgen ist. Alle

diese Möglichkeiten sind aber dichterisch nur deshalb gegeben,

weil sie eben auf dem Hintergrund unseres gewohnten zeitlichen,

räumlichen, kausalen usw. Erfassens erst sich abheben und

damit wirksam werden. Nur weil wir gewohnt sind, Vorgänge

zeitlich in einer Linie verlaufend zu erfassen, fallen uns

freie Zeitgestaltungen auf und werden daher wirksam.



Zu weit aber scheint es zu gehen, wenn man diese gestalterische

Neuarbeit des Dichters als Verfremdung oder gar

als Deformation bezeichnet. Gewiß können uns dichterische

Wirklichkeiten Glieder und Elemente der außerdichterischen

Welt in neuartiger Fügung bringen, und der dadurch entstehende

Verfremdungseindruck kann künstlerisch bedeutsam

sein. Aber Deformation hieße doch wieder, die Welt

der Dichtung an der der Realitäten messen: früher verlangte

man Mimesis, heute Deformation. Dichterische Welt hat

einen Zusammenhang mit der Außenwelt und mit ihren

Gesetzen. Nur durch diesen Zusammenhang vermag gerade

die schöpferische Freiheit in der Gestaltung der dichterischen

Welt ihre Werte und Wirkungen zu entfalten. Wo er ganz

verlorengeht, zerbricht uns auch die dichterische Welt.

|#f0087 : E71|



II

DIE VERWESENTLICHUNG



Eine Dichtung ist wie jedes Kunstwerk als ein abhebbarer

Gegenstand ein Stück Realität. Sie baut auf Wirklichkeit auf,

gestaltet aber, von ihr ausgehend, auf ihre Weise und mit

ihren Mitteln für den Betrachtenden eine neue Welt, die für

sich besteht. Diese Welt der Dichtung weist nun ein neues

Merkmal auf. Wir wollen es an Mörikes »Septembermorgen«

erkennen:



Im Nebel ruhet noch die Welt,

Noch träumen Wald und Wiesen.

Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,

Den blauen Himmel unverstellt,

Herbstkräftig die gedämpfte Welt

In warmem Golde fließen.


Gewiß bauen diese Verse auf der außersprachlichen Wirklichkeit

auf. Am sinnfälligsten: wir müssen die Worte verstehen,

und das können wir nur, wenn wir sie mit einmal erfahrenen

Wirklichkeitsstücken in Beziehung bringen. Aber in diesem

Gedicht ersteht eine Wirklichkeit für sich. Sie baut sich auf

aus dem reichen Gehalt der Worte, in dem auch Gefühle

lebendig werden; im Zusammenwirken der Worte: man

beachte besonders die beiden letzten Verse; aus dem Reichtum

der Klänge, besonders der abwechslungsreichen Vokale,

im Klang der Konsonanten, etwa deutlich im letzten Vers;

endlich im Rhythmus. Die Welt, die hier ersteht, knüpft als

solche nicht an einen bestimmten Herbstmorgen an, sondern

es wächst aus dem sprachlichen Gefüge, in dem alle eben erwähnten

Kräfte und noch mehr zusammenwirken, ein Gebilde

auf, in dem uns der Zauber, das Ergreifende, die Fülle

und die Schönheit eines Herbstmorgens überhaupt erscheinen,

und zwar nicht in Realitätsstücken, sondern in der

Sprache, die in ihrem Sein Außen- und Innenwelt vereint.

Es erscheint dem Menschen in dem nur ihm eigenen Gebilde,

also für ihn, gleichsam das Wesen des Herbstes in bestimmter |#f0088 : 72|



Sicht. Diese dichterische Welt weist aber nicht mehr zurück

auf die reale Welt, sondern in höhere Sphären. Sie verwesentlicht

uns das, was uns sonst in Wahrnehmungen aus der realen

Welt gegeben ist.



Diese Verwesentlichung ergibt sich schon aus der Sprache.

Wir erkennen es schon an den Worten. In ihnen wird ja

nicht bloß ein einmaliger Bezug zu einem Wirklichkeitsstück

gestiftet, sondern was als Gehalt aus der Realität in ein Wort

eingefangen wird, gilt für alle möglichen Verwendungen und

Gelegenheiten; mit »Wald« und »Nebel« ist nicht bloß

»dieser Wald« und »dieser Nebel« gemeint, wie das im alltäglichen

Sprachverkehr möglich ist, sondern hier ist das

Wesen, das Dauernde von Wald und Nebel im Worte geprägt

und aufgehoben. Auch die Gefühlsbezogenheit dieser

Wesenheiten wirkt sich im Worte aus. Noch mehr im Zusammenwirken

der Worte, dann aber auch in der Lautung

dieses Sprachgebildes, wozu auch der Rhythmus gehört;

in ihm lebt und bewegt sich der Zauber des Herbstmorgens.

Die Verwesentlichung der in der Dichtung neugestalteten

Welt ist also in erster Linie schon durch das Wesen der Sprache

gegeben. Aber auch andere Gestaltungskräfte wirken da

mit, besonders in größeren Dichtungen; etwa die Figuren

oder die Abfolge der Handlungsglieder, oder die besondere

Gestimmtheit der einzelnen Vorgänge, die entstehenden

Spannungen usw.



Da also in jeder Dichtung eine Welt von Wesenheiten

ersteht, erhebt sich Dichtung über das Alltägliche, Zufällige

und Vergängliche. Allerdings gibt es verschiedene Grade in

der Lostrennung vom Vergänglichen, in der Schaffung einer

reinen Welt der Wesenheiten. Hier liegt eine Wurzel des

Gegensatzes von Realismus und Idealismus in der Dichtung.

Aber auch die verschiedene Verbindlichkeit, die Dichtung

erstellt. Ein kleiner Unterhaltungsroman gestaltet diese Welt

des Wesentlichen mehr spielerisch, zur Erheiterung und

Unterhaltung. Goethes »Iphigenie« läßt diese Welt in ihrem

ganzen Ernst und Gewicht vor uns emporwachsen. Daß allerdings

dieses Ewige in einer Dichtung nun doch wieder nur

gebrochen erscheint, ist ein Stück Tragik aller menschlichen |#f0089 : 73|



Welt: denn dieses Absolute verkörpert sich doch in einem

endlichen Werk, das mit den Zufälligkeiten des Alltags in

mannigfacher Weise verflochten ist. Aber umgekehrt ist

gerade die Gestaltung eines Absoluten in der Dichtung die

Ursache dafür, daß Dichtungen auch Ideale vor uns aufstellen

können und damit unmittelbar unsere Lebensführung

beeinflussen. Diese Ideale erscheinen im Kunstwerk in ihrer

ganzen Fülle und wirken damit auf unser ganzes Wesen, auch

aufs Gemüt. Doch nochmals sei betont, daß Dichtungen

nicht immer Ideale aufstellen. Die Verwesentlichung aber ist

ein Kernmerkmal der Dichtung.



Damit hängt es auch zusammen, daß in der Dichtung Urbilder

ältester Erlebnisbereiche aufsteigen können. Das, was

an Urerlebnissen die ältesten menschlichen Gemeinschaften

ergriffen hat, lebt im Innersten auch in jedem späteren Individuum.

Es bildet damit ein Stück vom Wesenskern. Die

Dichtung greift durch das Merkmal der Verwesentlichung in

diese Bereiche hinein und hebt sie im ästhetischen Erscheinen

empor. Damit offenbart die Dichtung, wie und daß jedes

Einzelleben in höheren Zusammenhängen ruht.



Hinter dem Vordergrund der Dichtung öffnet es sich also.

Tieferes tritt damit ans Licht, ins Unverborgene. Das Wesen

der Dinge, gleichsam als ihr tiefer Ursprung, offenbart sich.

Darin besteht die Wahrheit einer Dichtung, zugleich ihre

Wirksamkeit und damit Wirklichkeit.



Dieses Emporführen aus der Gewöhnlichkeit in das Absolute

führt nun zu einem für die Dichtung sehr wichtigen

Begriff, zum Symbol. Denn vielfach setzt man Symbolik mit

Verwesentlichung gleich. Wir müssen uns daher schon an

dieser Stelle mit der Frage des Symbols abgeben.



Das Wort »Symbol« bedeutet ursprünglich etwas Hinzugeworfenes:

ein Ding zum anderen gelegt, bildet eine Einheit.

Damit wird schon angedeutet, daß das eine Ding auf das

andere, das es ergänzen soll, hinweist. So sind wir auf dem

Weg zur weitesten Bedeutung des Wortes Symbol: Zeichen.

Das rote Licht ist im Verkehr das Zeichen für Halt; der

Buchstabe a ist das Zeichen für den Laut a; die Ziffer 3 ist das

Zeichen für die Zahl 3; die chemische Formel H2O ist das |#f0090 : 74|



Zeichen für eine bestimmte Verbindung von Wasserstoff und

Sauerstoff. Eine bestimmte Frauengestalt auf einem Gebäude

ist das Zeichen für die Gerechtigkeit. Wenn man nun all

diese Zeichen auch als Symbole bezeichnet, entsteht für die

Betrachtung der Kunst eine Unzukömmlichkeit. Denn ohne

Zweifel sind das Symbol der Glaskugel in Raabes »Hungerpastor«,

die symbolische Bedeutung der Novelle »Die

wunderlichen Nachbarskinder« in Goethes »Wahlverwandtschaften«,

die Symbole von Lampe und Meer in Grillparzers

»Des Meeres und der Liebe Wellen« mehr als bloße Zeichen:

sie sind durch ihr Dasein nicht bloß Hinweis auf ein anderes,

das eigentlich gemeint ist, sondern haben auch Selbstwert

und wirken viel voller als ein mageres Zeichen, sie sind auch

gemüthaft. Wir wollen das Wort Symbol als ein umfassenderes

und tieferes Wort vom rationalen und konventionellen

Zeichen deutlich abtrennen. Symbole in der Kunst sind mehr

als Zeichen. Damit ist aber auch klar, daß auch Allegorie und

Symbol nicht dasselbe sind. Eine blinde Frauengestalt mit

einer Waage auf einem Gerichtsgebäude bedeutet die Gerechtigkeit.

Diese Gestalt hat nur insofern Sinn, als man sie

für ein Zeichen der Gerechtigkeit ansieht. Der Knabe Lenker

in Faust II kann auch als Allegorie für die Dichtung angesehen

werden, aber er wirkt auch dichterisch ohne diesen

Bezug. Die Gleichstellung von Zeichen und Symbol nimmt

keine Rücksicht auf die Fülle, Tiefe und Selbstbedeutsamkeit

des Symbols. Die Gleichstellung von Allegorie und Symbol

tut dasselbe, im Bereich der Kunst.



Damit berühren wir die Frage, welche Bedeutung die

Symbolik im Bereich der Kunst hat. Goethe sagt in den

»Maximen und Reflexionen«, Symbolik sei es, wenn das

Besondere das Allgemeine offenbare; A. W. Schlegel in den

Berliner Vorlesungen, wenn ein Äußeres, Sinnliches etwas

Inneres, Übersinnliches offenbare. Von hier, besonders von

Goethe ausgehend, hat man grundsätzlich jede Dichtung als

symbolisch angesehen und sie so umschrieben: »Dichtung ist

die Darstellung, Vergegenwärtigung des allgemeinen Menschenwesens

und Menschengeschicks als individuelle Existenz

und individuelles Geschick, oder Vergegenwärtigung |#f0091 : 75|



der Kollektivpsyche durch die Individualpsyche. ─ Dies ist das

kennzeichnende und unterscheidende Merkmal aller Dichtung

gegenüber den anderen Kunstgattungen« (Beriger).

Das ist anfechtbar: denn diese Bestimmung kann auch für

Plastik und Malerei gelten. Was aber wichtiger ist: diese

Auffassung von Symbolik kommt dem ganz nahe, was wir

hier Verwesentlichung nennen: daß also in der Dichtung,

allerdings in verschiedenen Graden, nicht konkrete Wirklichkeit

erscheint, sondern Wesenhaftes, daß in der künstlerischen

Gestaltung das Dauernde, Absolute greifbar wird. Da aber

auch der Begriff des Symbols für die Dichtung sehr wichtig ist,

scheint es ungünstig, ihn völlig mit diesem Merkmal der Verwesentlichung

zusammenzuwerfen. Denn zum Begriff des

Symbols gehört notwendig ein zweiter, ohne den Symbol

nicht denkbar ist: der einer bestimmten, deutlichen Gestalthaftigkeit.

Damit aber ergibt sich: ein Grundmerkmal der

Dichtung überhaupt, damit jeder Dichtung ist die Verwesentlichung.

Aber nicht jede Dichtung muß in ihrer Ganzheit

schon ein Symbol sein. Man wird das nur dann sagen können,

wenn eine Dichtung durch ihre klar umrissene Gestalt einen

bestimmten tieferen Sinn offenbart. Wohl aber sind Symbole

in der Dichtung von großer Bedeutung.



Ohne jetzt schon auf die künstlerischen Formen und Möglichkeiten

der Symbole in Dichtung einzugehen, müssen doch

einige allgemeine Angaben in diesem Zusammenhang gemacht

werden. Denn tatsächlich gehört das Wesen des Symbols

auch in den Bereich der Verwesentlichung als eine ihrer

besonderen Möglichkeiten. Folgende Kennzeichen kommen

dem Symbol in der Dichtung zu: zunächst eine klar umrissene

Gestalthaftigkeit; Symbol ist etwas Geschlossenes, ein deutlich

abhebbares Gebilde, nicht ein allgemeines Charakteristikum

der Dichtung. Dann ist es ein ästhetisches Gebilde; also

kein einfaches konventionelles Zeichen wie eine Formel, ein

Lichtsignal usw. Es liegt in ihm eine innere Fülle, vor allem

wirkt es durch diese innere Fülle und seine Anlage auf den

ganzen Menschen, nicht nur auf den Verstand, sondern vor

allem auf das Gemüt. Endlich wird durch ein Symbol vermöge

eben dieser angegebenen Merkmale ein anderes enthüllt. Das |#f0092 : 76|



ist ihm als ästhetischem Gebilde, wie wir es gefaßt haben,

schon eigen. Aber dieses andere ist nicht als etwas Ungreifbares,

Geheimnisvolles aufzufassen, sondern ist eben infolge

der Gebildehaftigkeit des Symbols selbst auch klarer umrissen,

ein durch das Symbol eben abhebbares Stück der Tiefe der

Welt. Freilich ist dieser tiefere Sinn des Symbols nicht rein

rational umschreibbar, sonst würde ja auch ein Zeichen dafür

genügen. Weil es nicht ausschließlich den Verstand anspricht,

ist auch ein rationales Zeichen unfähig, es zu deuten. Darin

ruht auch die Schwierigkeit, ein Symbol zu erklären.



Wenn wir die Kräfte beachten, die ein solches symbolisches

Gebilde in der Dichtung aufbauen, so können wir verschiedene

Arten von Symbolen unterscheiden: solche, die rein in

den sprachlichen Möglichkeiten begründet sind, so etwa die

sprachlichen Bilder von Meer und Licht im erwähnten Grillparzerdrama;

weiter können bestimmte Glieder in der Gesamtanlage

einer Dichtung symbolischen Wert haben; oder

auch bestimmte Gestalten in einer epischen oder dramatischen

Dichtung.



Der Zusammenhang zwischen dem symbolischen Gebilde

und dem in ihm lebendigen Sinn kann verschieden sein.



Füllest wieder Busch und Tal

Still mit Nebelglanz,

Lösest endlich auch einmal

Meine Seele ganz.
(Goethe, An den Mond)



Nichts im Bild weist deutlich hinter das sprachlich Gebildete.

Aber wir fühlen deutlich, daß in diesem Gebilde und

in diesem Naturbild etwas Tieferes mitklingt, das im Gegensatz

zwischen Mond und Fluß greifbarer wird, ohne daß es

irgendwie außerhalb des Bildes liegt. Das Bild wirkt auch,

wenn das Tiefere in ihm nicht erlebt wird, freilich nicht so

intensiv. Man kann von immanentem Symbol sprechen.



Gelassen stieg die Nacht ans Land,

Lehnt träumend an der Berge Wand ...


   (Mörike, Mitternacht)



Hier wird der Gehalt des Wortes Nacht deutlich zu einem

Menschenwesen verdichtet, und nur im Miterleben dieses |#f0093 : 77|



Menschlichen wird der symbolische Gehalt greifbar. Man

könnte von einem metaphorischen Symbol sprechen. Einen

Schritt weiter führen uns die Gestalten Vergils und Beatricens

in Dantes »Divina Commedia«. Während Vergil noch als

menschliche Gestalt allein wirksam bleibt, ohne daß unbedingt

die menschliche Vernunft als tieferer Sinn miterlebt

werden muß, wirkt Beatrice etwas blaß, wenn nicht ihr

tieferer Sinn, die göttliche Liebe etwa, zugleich auch lebendig

wird. Hier weisen eben bestimmte Züge der Symbolgestalt

deutlich auf den tieferen Sinn, ohne den diese Züge leer

wären. Man spricht vom transzendenten Symbol. Wenn

solche Züge eines dichterischen Gebildes sich im Lauf der

Tradition fest ausgebildet haben, wenn sie also von vornherein

auf einen Sinn hinweisen, entsteht die Allegorie. Wir

finden sie vor allem im religiösen Spiel, so besonders bei

Calderón. Auch in Hofmannsthals »Jedermann« und »Welttheater«

treten sie auf. »Glaube«, »Mammon«, »Buhle« usw.

sind im Stück nur sinnvoll als personenhafter Hinweis auf

Glauben, Reichtum, Liebesleidenschaft usw. Je leerer diese

Gestalten als Menschen sind, desto nüchterner wird die

Allegorie. Aber große Dichter vermögen diesen allegorischen

Gestalten, die also ihren Sinn ausschließlich im Hinweis auf

etwas anderes haben, solches Leben zu geben, daß sie trotzdem

dichterisch sehr wertvoll sind, so vor allem Calderón,

Dante, Hofmannsthal, Goethe.



Die Bedeutung der Symbolik im Gesamt eines dichterischen

Kunstwerks haben wir später zu betrachten.



All das, was wir über das Merkmal der Verwesentlichung

gesagt haben, also über das Hinausgreifen der Dichtung über

den bloßen Wirklichkeitszusammenhang, ermöglicht ein

erstes Mal, Andeutungen von Wertunterschieden innerhalb

des Bereiches der Dichtkunst zu machen. Denn zweifellos ─

ein Ergebnis innerer Erfahrung ─ sind Dichtungen um so

wertvoller, je enthüllender sie sind und je tiefer sie uns in die

ewigen Geheimnisse blicken lassen. Das hat mit ihrem Umfang

kaum etwas zu tun, wohl aber mit ihrer künstlerischen

Gestaltung, wie wir später immer wieder erkennen werden.

|#f0094 : E78|



III

DICHTUNG ALS MENSCHLICHE SCHÖPFUNG


Die Persönlichkeit des Dichters



Es könnte unmodern, um nicht zu sagen unzeitgemäß

erscheinen, in einer Poetik vom Dichter und gar von seiner

Persönlichkeit zu sprechen. Wir werden es auch nur kurz tun.

Aber wir müssen auch darauf unseren Blick werfen, wenn wir

Dichtung in ihrem Wesen erfassen und sehen wollen. Daher

interessiert uns hier nicht die Frage, wie man etwa zu einer

Dichtung den unbekannten Dichter findet, also zum Nibelungenlied

den Dichter, oder wie man alle Einzelheiten zu

einer Dichterbiographie zusammentragen kann. Sondern:

jede Dichtung ist Menschenwerk, und um dieses Menschliche

am Werk zu erkennen, müssen wir auch einen Augenblick auf

die Persönlichkeit des Dichters von diesem Blickpunkt aus

achten. Denn daß Dichtungen sich auch im Menschlichen

unterscheiden, können ein paar einfache Überlegungen

zeigen. Die Versuche der Faustdramatisierungen in der

Sturm- und Drangzeit (Maler Müller und Goethe) unterscheiden

sich bis in die Form hinein auch durch die Art, wie

die beiden Dichter die Sache angepackt haben. Die augenfälligen

Unterschiede in der Art, wie Kleist und Stifter

erzählen, sind nicht bloß durch Stoff, Zeit, Raum usw.

erklärbar, sondern offenbaren menschliche Unterschiede.

Trotz aller Eigenart moderner Lyrik, die dazu geführt hat,

sie in ihrer Struktur stark von der des späten 18. und des

frühen 19. Jahrhunderts abzuheben, kann man doch Dichterpersönlichkeiten

auch an der Gestaltung, am Rhythmus, an

den Bildern unterscheiden: wieder wirkt da etwas Menschliches

hinein.



Wir verweilen also beim Dichter, nicht als Menschen, den

man dokumentarisch feststellen kann, sondern als Schöpfer

von Kunstwerken. Aber auch in diesem engen Bereich treffen |#f0095 : 79|



wir auf einen Wandel in den Auffassungen vom Dichter. Vom

Hellenismus bis zum Ende des Rokoko in der zweiten Hälfte

des 18. Jahrhunderts sieht man im Dichter vor allem einen

gelehrten Könner, von Geschmack und Wissen geleitet. Mit

Young in England, mit Rousseau in Frankreich und mit

Goethe und Herder und den Dichtern um diese beginnt eine

völlig andere Auffassung, allerdings nicht das erste Mal in der

Geschichte der antiken und abendländischen Dichtung:

Dichten ist innerer Schöpferdrang, ist Inspiration, der Dichter

ein Seher, ein Begeisterter. Diese Auffassung wird in der

Romantik besonders ausgebaut und wirkt noch bis zu George

und Rilke weiter. Aber schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts

bereitet sich eine neuerliche Änderung vor, vor allem mit

Baudelaire (Fleurs du mal, 1857): der Dichter ist wieder der

große Könner, ein Feinmechaniker. Besonders Benn in der

Theorie und etwa Thomas Mann in der Praxis betonen das.

Aber geschichtlich gehen diese Unterschiede nicht glatt auf:

der Dichter als gottbegnadeter Seher, das war nicht nur die

Meinung der Goethezeit (Hölderlin), sondern auch bei den

alten Griechen und Römern, im Mittelalter und auch im

Barock finden wir sie. Und umgekehrt haben Dante, Calderón,

Goethe und Rilke sehr wohl um die strengen Gesetze und

die Arbeitsforderungen in ihrer Kunst gewußt.



Aber der Gesamtblick auf die großen Dichter, auf ihre

Werke, ihre Äußerungen dazu und auch auf das, was die

Forschung dazu beigetragen hat, läßt doch eine allgemeine

Kennzeichnung der Merkmale zu, die einen Dichter auszeichnen.

Schöpfertum ist ein zu umfassender Ausdruck; er

gilt nicht nur für alle großen Künstler, sondern auch für

Philosophen, Naturforscher, Staatengründer und Religionsstifter.

Aber alle diese Menschen sind nichts Außernormales

oder gar Abnormales, eher etwas Übernormales, Steigerungen

menschlicher Anlagen und Kräfte in besonderem Maße.

Darin liegt der Bezug zu Geisteskrankheiten, die uns heute

auch als Überentwicklungen bestimmter Angelegenheiten im

Menschen erscheinen. Das ist die einzige Beziehung zwischen

Schöpfertum und Geisteskrankheit, um die wir uns in einer

Poetik zu kümmern haben. Der Dichter ist ein Künstler. |#f0096 : 80|



Daher treffen auf ihn zunächst die Züge zu, die den Künstler

überhaupt charakterisieren. Das erste ist die Offenheit für die

Welt um uns, das innere Ergriffensein davon, wenn auch diese

innere Weltbegegnung sich nur auf ein kleines Gebiet beschränkt:

Weltoffenheit. Das zweite ist die Fähigkeit, dieses

Erfaßte in sich einzubilden, das seelische und geistige Gesamtgefüge

dadurch zu bereichern und dann das Erfaßte und Eingeformte

zu neuen Gestalten umzubilden. Das alles faßt man am

besten unter Einbildungskraft zusammen. Soweit nur das

Umbilden, also das Kombinieren und Neuformen vorhandener

Elemente beachtet wird, ist das die Phantasie. Dazu

kommt als drittes der innere Drang, das Eingebildete zu

offenbaren: der Ausdrucksdrang. Man kann in ihm die drei

Funktionen der Entladung, der Steigerung und der Übertragung

erkennen. Das vierte aber ist die Gestaltungskraft.

Kunstwerke sind nicht bloß Ausfluß, sondern Gebilde, in

ihnen gerinnt all das Erwähnte zu vollendeter Prägung. Man

erkennt leicht, daß in irgendeiner Weise beinahe jeder

Mensch solche Fähigkeiten hat. Das Übernormale, die Stärke

und das Zusammenwirken machen den Künstler aus. Beim

Dichter tritt nun hinzu, daß all dieses Schaffen, und zwar nicht

bloß Ausdrücken und Gestalten im Raum der Sprache geschieht:

wie mehr oder minder bei jedem Menschen, aber

eben wieder in besonders ausgezeichneter Weise.



Das reiche Gefüge und Ineinanderwirken verschiedener

innerer Kräfte im Dichter führt nun dazu, Typen von Dichtern

zu unterscheiden, deren Eigenart sich dann auch in der

Gestalt ihrer Schöpfungen offenbart. Typenaufstellungen

nach streng und ausschließlich psychologischen Blickpunkten

sind heute in den Hintergrund getreten. Aber immerhin sind

mehrere Gesichtspunkte möglich. Da gibt es zunächst Unterschiede

je nach der Stärke, in der die eben erwähnten Merkmale

im Gefüge des schöpferischen Geistes vorherrschen. So

überwiegt etwa im jungen Werfel der Ausdrucksdrang, bei

George die Gestaltungskraft. Es kann im selben Dichter auch

zu Strukturwandlungen kommen, man denke an die vorwiegende

Ausdrucksstärke in Goethes »Schwager Kronos«

gegenüber dem Gestaltungswillen in der »Natürlichen |#f0097 : 81|



Tochter«. ─ Eine andere Unterscheidung ist durch die Begriffe

Genie, Talent und Dilettant angedeutet. Vielleicht könnte man

sie so umschreiben: höchste Entfaltung und Harmonie aller

künstlerischen Merkmale ─ Gestaltungsfähigkeit übertrifft

inneren Reichtum und Ausdrucksdrang ─ Ausdrucksdrang

und Gestaltungskraft sind nur schwach entwickelt. Mehr auf

das künstlerische Schaffen achtet folgende Scheidung (Walzel):

die einen Dichter betonen in ihrem Werk vor allem das

ruhende Sein, das Schaffen anderer ist gekennzeichnet durch

Rauschhaftigkeit und Lebenssteigerung, andere endlich gestalten

ruhiges Wachsen und Werden. Eine sehr tiefgreifende

und weitblickende Typologie verdanken wir jetzt Walter

Muschg (Tragische Literaturgeschichte). Gewonnen hat er sie

nicht aus Spekulation und Deduktion, sondern aus geschichtlicher

Rundsicht. In der Geschichte und im Leben entfalten

und verschlingen sich diese Urformen des Dichtertums in der

mannigfachsten Weise in den verschiedenen Räumen, Zeiten

und Gemeinschaften. Ausgangspunkt ist die Weihe, die ein

Dichter durch seine schöpferische Gabe empfängt. Sie zeigt

sich in drei Urformen. Der Dichter als Magier ist durch

Ekstase, durch den Durchbruch in höhere Bereiche, durch

Entrückung gekennzeichnet. Er kann so auch uns Menschen

entrücken. Shakespeare erscheint als Beispiel der ungeheuren

magischen Kraft des dichterischen Wortes. Dem Dichter als

Seher ist die unmittelbare Schau des Jenseitigen gegeben, ihm

kommt die Inspiration zu: die griechischen Tragiker, Dante,

Hölderlin. Den Dichter als Sänger treibt die Freude am Dasein:

»Ich singe wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet.«

In der Entwicklung der Zivilisation verblassen die Urformen,

näherliegende Vorbilder und aktuelle Probleme drängen vor,

Entweihung setzt ein. Aber auch in dieser Entweihung sind

die großen Urformen ─ abgewandelt ─ noch erkennbar: aus

dem Magier wird der Gaukler, der mit seinem Können spielt.

Ein solcher Dichter steht immer vor dem Abgrund. Aus den

Sehern werden die Priester unter den Dichtern: die Psalmisten

oder Schiller. Und im Zeitalter des Literaturbetriebs wird aus

dem Sänger der Poet, der in allen Sätteln gerecht ist. Urformen

und geschichtliche Abwandlungen verquicken sich in |#f0098 : 82|



dieser großen Schau, auch das ein Zeichen, daß Dichtung

immer nur in geschichtlicher Wirklichkeit Ereignis wird.



Das wirkt sich auch insofern aus, als ja jeder Dichter in

einer bestimmt geschichteten und gearteten Gemeinschaft

leben muß, er ist stark gesellschaftlich bedingt. Da er in der

Dichtung verwesentlicht, die Gesellschaft aber geschichtliche

Realität ist, steht er als Schöpfer immer auch der Gesellschaft

gegenüber. Er steht immer kritisch zu ihr, will an ihr

heilen, bessern, tadeln, spotten. Besonders in der heutigen

Zeit, die eine so ungeheure Verästelung der menschlichen

Gruppen zeigt, gerät er oft in schwere Lagen, wenn er sich die

Freiheit des Menschen als Schaffender wahren will. Aber

schon Goethe hat im »Tasso« die Tragik der Gegensätzlichkeit

zwischen der Gesellschaft und dem Genie gestaltet, das

zugleich immer in einer Gemeinschaft steht. So überkommen

auch ihn alle menschlichen Schicksale, vor allem in der engsten

Form der Gemeinschaft, und doch der innigsten, der

Liebe. Fügt er sich ein, kann es Glück, aber auch Beugen und

Einschlafen bedeuten. Widersetzt er sich, so sind Armut,

Leiden und Schuld sein Schicksal. Und all das formt auch mit

an den Kunstwerken, die er als solch erdgebundener Mensch

schafft.



Das dichterische Schaffen



Die Psychologie des dichterischen Schaffens ist nicht unsere

Aufgabe, sie dient auch nicht vor allem dem Verstehen des

dichterischen Kunstwerks. Das Werk in seiner vollendeten

Prägung ist unser Hauptgegenstand. Aber in der geschlossenen

Gestalt der Dichtung bleiben vielfach Spuren des Weges

zu ihr zurück. Auch hier ergeben sich viele Fragen. Nur die

für uns wichtigsten seien kurz gestreift.



Der allgemeine Weg zu einer Dichtung kann durchaus verschieden

sein. Das eine Mal führen immer neue Stöße in immer

neue Richtungen aus jedesmal anderen Situationen zum vollendeten

Werk, wobei nur der weiteste Rahmen oder eine

ungefähr umschriebene Gestalt die Einheit für alle diese

Schaffensstöße bildet; so sehen wir heute das Werden von

Goethes »Faust«. Ein anderes Mal erleben wir die intensive, in |#f0099 : 83|



einem Zug hingerissene Komposition wie bei Goethes

»Werther«. Andere Dichter schaffen große Werke mit

Schematen und Übersichten, so oft Schiller und Jean Paul

seinen »Titan«. Auch im einzelnen sind die Formen des

Schaffens verschieden. Der magische Dichter schafft rauschhaft,

er wird vom Schaffenstriebe überwältigt. Für den mystischen

Dichter ist Kunstschaffen Gottesdienst, ein Weg zur

Reinigung. Das Schaffen des Sängers ist eher ein glückhafter

Naturvorgang. In allem künstlerischen Schaffen liegt auch der

Wille zur Vollendung, dieser Drang nach Vollendung gibt

auch dem Schaffensprozeß eine bestimmte Färbung. Der

Sinn des dichterischen Schaffens kann durchaus verschieden

sein. Er kann wie bei Goethe oft im Mut zum Schöpfertum

liegen, bei anderen in einer Art Resignation, »nur so« mit

dem Leben fertigzuwerden. Für andere wieder ist Dichten

erlösende Selbstdarstellung und oft mit Opfer und Gebet zu

vergleichen; oder auch das Glück, so Schönheit zu erleben.

Es muß also der Sinn durchaus nicht immer im Blick auf die

anderen Menschen liegen, aber auch das ist durchaus möglich.

Dichter wollen oft die Welt durch ihr Werk verändern, sie

fühlen einen heiligen Auftrag im Dienst der Gemeinschaft,

oder es kommt auf das für die Aufklärung bezeichnende

docere cum delectatione hinaus.



Auch die Beteiligung der seelischen und geistigen Kräfte am

Schaffensvorgang ist nicht bei allen Dichtern gleich. Aus

ungeahnten Tiefen der Seelengründe, aus dem, was die

Psychologie das Unbewußte und das Unterbewußte nennt,

kann plötzlich oder langsam eine erste Anregung oder ein

erstes ungefähres Bild des zu Schaffenden aufsteigen. Sicher

kann es sich dabei oft um Verdrängtes handeln, also um Eindrücke

oder Erregungen, die früher einmal aus bestimmten

Gründen in diese Tiefen begraben worden sind. Auch Gestaltungsantriebe

können von daher aufsteigen. Aber immer

wieder wirken auch die Schichten des Bewußten mit. Es

können ganz bestimmte Gefühle, die mit äußeren Eindrücken

zusammenhängen, unmittelbarer Anlaß für ein Gedicht sein,

oft sogar äußere Anregungen und Aufträge den Dichter zum

Schaffen veranlassen. Vor allem aber spielt das Bewußtseinsleben, |#f0100 : 84|



also neben den Gefühlen der Wille und alle möglichen

rationalen Vorgänge, beim Ausgestalten, beim Planen, Entwerfen

und Feilen eine Rolle. Hier lassen sich nie bestimmte,

ein für allemal geltende Feststellungen treffen. Von unenthüllbaren

Geheimnissen des Schöpferischen, von der hohen Glut

und inneren Erhobenheit bis zur handwerklichen Plage um die

Einzelheiten: alles kann da am Schaffen einer Dichtung mitwirken.

In dieser Hinsicht sind die einzelnen Dichter ganz verschieden

von einander: vom rauschhaften Hinwerfen bis zum

handwerklich Tüchtigen gibt es die verschiedensten Verflechtungen

der zusammenwirkenden Kräfte.



Auch der Schaffensprozeß selbst hat uns hier nur am Rande

zu beschäftigen. Den inneren Raum, in dem sich das Werk

bildet, haben wir eben angedeutet. Wie der Schaffensprozeß

verläuft, läßt sich auch nur in allgemeinsten Zügen angeben.

Denn das vollendete Werk selbst sagt kaum etwas darüber

aus; seine strahlende Schönheit muß nichts von den Mühen

und Leiden des Schaffens verraten. Berichte des Dichters

selbst können einiges ergeben, wenn er sich dazu geäußert

hat, oft auch Selbstbeobachtungen bei bloß bruchstückhaften

und nie weiter gediehenen Schaffensvorgängen.



Jedenfalls ist der Schöpfungsvorgang bei einem menschlichen

Werk überhaupt von Wachstumsvorgängen in der

Natur schon grundsätzlich dadurch verschieden, daß dort,

wie gering auch immer der Anteil sein mag, der Wille, das

Bewußtsein eine entscheidende Rolle spielt. Der künstlerische

Vorgang, also auch der dichterische, ist von jedem anderen

Werkschaffen des Menschen dadurch abgehoben, daß er nicht

Realitäten, sondern ästhetische Erscheinungen schafft, wenn

diese auch nur an Realitäten wirklich werden: in den Farben,

im Marmor, auf dem Papier. Aber die Menschen, die ein

Maler, Bildhauer, Dichter schafft, sind keine realen, und doch

sind sie nicht minder wirklich: in ihrem bloßen Erscheinen

schon wirken sie. Ganz grob und vereinfachend kann man

zwei Stufen des dichterischen Schaffens unterscheiden: den

Anstoß und die Ausarbeitung. Es muß nicht sein, daß diese

sich immer zeitlich klar trennen lassen, es kann sogar sein, daß

mehrere Anstöße da sind.

|#f0101 : 85|



Den entscheidenden Anstoß, gleichgültig in welcher Form

er auftritt, nennen wir die Inspiration. Sie ist natürlich abzuheben

von allem Göttlichen und auch von mystischen Vorgängen.

Aber auch bloße Automatismen führen nie zu Dichtungen.

Man kann nur ungefähre Angaben machen, die nie ein

Schema oder Klischee sein sollen: irgendein gerichtetes Vorfeld

ist da, eine latente Spannung und innere Sammlung. Mit

Goethe könnte man von einer systole, einem Zusammenziehen

aller Kräfte reden. Und dann springt etwas plötzlich

ins Dasein und entfaltet von diesem Augenblick an als

Schaffenskeim eine bestimmt gerichtete Wirksamkeit. Eine

Anregung von außen mag meist dabei im Spiel sein, ein

Stoff, der nun in diesem Augenblick zum Motiv wird, also

zur Bewegkraft, an der sich ein bestimmter Gehalt ansetzt.

Und dann beginnt die diastole, etwas schießt an, nimmt rasch

an Umfang zu. Mit diesem Stadium verbindet man oft den

Ausdruck des Erlebnisses: jede Dichtung entspringe aus einem

Erlebnis. Um diesen Begriff hat sich im letzten halben Jahrhundert

in der Poetik ein Streit entfacht. Vor dem Durchbruch

des Irrationalismus am Ende des 18. Jahrhunderts hat

man kaum davon gesprochen. Mit dem Sturm und Drang

aber setzt eine Dichtensweise ein, die diesem Begriff größte

Bedeutung im Dichten gibt. Man denkt vor allem immer

wieder an entscheidende Jugenderlebnisse Goethes (mit Friederike

Brion, mit Charlotte Buff), die nun sein ganzes Dichten

ausgelöst haben sollen und in irgendeiner sublimierten Form

immer wieder in dichterischer Weise auftauchen. Dilthey hat

in einem bekannten Werk (Das Erlebnis und die Dichtung)

diese Zusammenhänge herausgearbeitet. Heute findet diese

Auffassung, ein klar erkennbares persönliches Erlebnis liege

jeder Dichtung zugrunde, vielfach schärfste Ablehnung.

Drei Einwände werden vor allem gemacht: 1. Gedichte seien

nachweisbar auch aus äußeren Anlässen, aus Aufträgen, aus

Mode und Zeitvertreib entstanden. 2. Der Erlebnisbegriff sei

rein individuell und verkenne tiefere und allgemeinere Zusammenhänge.

3. Dichtung könne auch aus Situationen und

Haltungen entstehen, die nichts mit Gefühl zu tun hätten,

sogar aus innerer Kälte, und die Arbeit am Gedicht habe nichts |#f0102 : 86|



mit Gefühl zu tun. Gerade die moderne Lyrik sei dadurch

vielfach gekennzeichnet. Schon aus diesen Einwänden ersieht

man, daß der Erlebnisbegriff selber schwankt. Dilthey sieht in

ihm einen Lebensmoment, in dem sich dem Dichter ein Zug

des Lebens offenbare. Andere treffen Scheidungen: Ermatinger

unterscheidet Stofferlebnis, in dem ein Stück Welt den

Anstoß gibt, Gedankenerlebnis, das von einem geistigen Zusammenhang

angeregt wird, und Formerlebnis, wo die

künstlerische Gestaltung den Dichter ergreift. J. Körner unterscheidet

zwischen Erlebnissen aus der Realität und solchen aus

der Phantasie, Gundolf Erlebnisse aus wirklicher Weltbegegnung

und Bildungserlebnisse aus der Begegnung mit Menschenwerken.

Man hat bald erkannt, daß sich diese Scheidungen

nie allgemein und scharf durchführen lassen. Bei einiger

Überlegung, was wir unter Erlebnis zu verstehen haben, ist

dieser Begriff aber noch durchaus brauchbar.



Jedesmal, wenn wir einem Stück Welt, äußerer oder

innerer, begegnen, sprechen wir von Erfahrung. Wenn diese

Erfahrung tief in unser Inneres eindringt, auf tiefe Seelenkräfte

wirkt und sie erregt, sprechen wir von Erlebnissen. Sie

können in verschiedener Hinsicht sehr mannigfaltig sein. Sie

bewegen sich einmal zwischen den Polen stärkster und deutlichster

Ausprägung als einmaligen Seelenvorgangs und

schwacher, mehr verfließender Andeutung. Sie können nur

bestimmten Individuen zukommen oder auch einer ganzen

Gemeinschaft. Sie können sich bewegen zwischen klarer bewußter

Ausgeprägtheit und Regungen im Unterbewußten,

sie können von einem Stück der Außenwelt ausgehen oder

von inneren Vorgängen. Solch ein Erlebnis wird auch

dann vorhanden sein, wenn Dichtung aus einem Auftrag

erwächst; denn nur, wenn dieser Auftrag irgendwie ins Innere

des Dichters greift, dort einen tieferen Vorgang auslöst, wird es

zu einem Kunstwerk kommen. Und auch Distanz, Kälte,

Verzweiflung, Grübeln sind seelisch tiefe Reaktionen, ebenso

der Fanatismus des Gestaltens. Man darf bei den Worten

Erlebnis und Gemüt nicht immer an warme, liebe Gefühle, an

Weinen, Rührung und Gemütlichkeit denken, sondern da

sind tiefste Schichten unseres Innern, unser Wesensgrund |#f0103 : 87|



angesprochen. So kann man doch wohl sagen, daß ein oder

mehrere Erlebnisse im Stadium des Anstoßes am Werk sein

werden: ein Stück Welt öffnet sich uns und beginnt in unserem

Innern zu wirken und zu formen. Aber auch der Schaffensvorgang

selbst kann ein Erlebnis sein.



Damit betrachten wir schon den Vorgang der Ausarbeitung.

Auch in diesem Stadium werden immer wieder ─

besonders bei einer größeren Dichtung ─ Inspirationsstöße

kommen. Sie werden sogar eher kommen im Arbeiten, im

Ringen um die Ausgestaltung als in ergebenem Zuwarten.

Die dichterische Ausarbeitung kann mehr rauschhaft oder

mehr spielerisch oder auch rational angestrengt sein. Nie wird

sie sich völlig von allen tiefen Anstößen befreien können.

Dauernd müssen dem Dichter alle Forderungen der Kunst

gegenwärtig sein, im Ringen um ihre Erfüllung, um ihr

richtiges Verhältnis von der kleinsten Einzelheit bis zum

großen Zusammenhang besteht großenteils die Arbeit. Hier

spüren wir, daß Kunst von Können kommt, daß auch der

Dichter um Regeln wissen und geübt und gelernt haben muß.

Gerade die Sprache stellt in ihrer Eigenart den Dichter immer

vor schwere Aufgaben. Sie legt ihm Fesseln an durch ihre

Gesetze, die nicht durchbrochen sein dürfen, aber auch durch

ihre ernüchternde Abgeschliffenheit im Alltagsgebrauch. Er

muß um die Möglichkeiten und Geheimnisse wissen, die

trotz allem immer in ihr liegen, und wie sie am besten zur

vollen und gemäßen Wirkung kommen können. Freilich

wenn das Machen der Dichtung als rationalistischer, ja ökonomischer

Produktionsprozeß angesehen wird, als Tendenz,

als Fabrikation vorhandener Wortware, dann ist das eine

Vereinseitigung, eine Übertreibung dieser einen Seite des

dichterischen Schaffensvorgangs. Das menschliche Innere, die

Seele, das Gemüt in jenem tiefen und weiten Sinn, wie wir es

hier fassen wollen, ist immer am Werk, wo ein Kunstwerk

entsteht ─ oder es entsteht kein Kunstwerk. Jede Dichtung ist

ein menschliches Werk, aber eines, an dem das Innerste und

Wesentliche des Menschen beteiligt ist.

|#f0104 : 88|



Das Dichtwerk als menschliche Schöpfung



Gerade die Menschlichkeit des dichterischen Werkes muß

herausgestellt werden, da heute in dieser Hinsicht Mißverständnisse

drohen. Seit dem Irrationalismus, besonders seit

der Romantik ist dieses Menschliche an der Dichtung stark

betont worden. Ganz eindringlich und eindeutig sagt einmal

Goethe über einen Roman: »Alle die Herren irren sich, wenn

sie glauben, sie beurteilen ein Buch ─ es ist eine Menschenseele«.

Das hat dann dazu geführt, daß man das Erlebnis, das

einer Dichtung zum Anstoß diente, immer mehr betonte

gegenüber dem abgeschlossenen Kunstwerk. Endlich erschloß

man aus Dichtungen Züge und Ereignisse aus dem Leben des

Dichters. Dichtungen wurden zu Dokumenten für das Leben

einer feststellbaren Person. Alles an einer Dichtung wurde für

die Biographie des Dichters ausgeschrottet. Man vergaß darüber

das Kunstwerk, wie es in seiner dauernden Gestalt als etwas

für sich vor uns steht. Wir sind heute darüber hinaus, Dichtung

nur als biographisches Dokument zu sehen. Das bleibt

sie für den Psychologen und Biographen, aber damit ist sie

in ihrem Wesen als Kunstwerk nicht erfaßt. Dichtungen in

ihrem Dasein, in ihrem abgeschlossenen Gefüge, in ihrer

dauernden Gestalt, in ihrem tiefen Sinn und Wert sind keine

Beweise und Dokumente. Die konkrete Person des Dichters

bleibt aus ihnen ausgeschlossen. Auch die Auffassung ist bedenklich,

daß der Blick des Theoretikers kalt sei, der des

Dichters voll Liebe auf dem Menschen ruhe. Ist der Blick des

Dichters in die Abgründe des Menschentums bei einem Jago,

Macbeth, Richard III. auch voll Liebe? Ist der Blick Kafkas

und Thomas Manns auch durch die Liebe gekennzeichnet?

Auch den liebenden Blick des Dichters müssen wir als durchgehenden

Wesenszug im dichterischen Schaffen ausschalten.

Es liegt auch hier der Fehler zugrunde, daß man das Schaffen

aus dem tiefsten Seelengrund dem aus irgendwelchen liebevollen

Gefühlen gleichsetzt.



Man kann es daher begreifen, wenn moderne Theoretiker

dieses Rührselig-Gefühlhafte scharf aus dem Wesen der Dichtung

ausscheiden. Aber sie geraten ins Gegenteil. Man spricht |#f0105 : 89|



oft von Enthumanisierung, von Entpersönlichung in der Dichtung,

auch in der Lyrik. Jede Dichtung sei ein gänzlich für sich

abgeschlossenes Gebilde, ja ein Ding, das gar keinen Bezug

mehr zum Menschen, ja zum Menschlichen habe.



Aber dem halten wir entgegen: Jede Dichtung ist Menschenwerk.

Und daran muß sich die Frage anschließen: ist das auch

für das Dasein und für die künstlerische Beschaffenheit einer

Dichtung von Bedeutung? Zunächst schon eine Tatsache:

jedes Menschenwerk unterscheidet sich von einem Gebilde

der Natur dadurch, daß es einer menschlichen Leistung entspringt.

Und dieses menschliche Schaffen und Wollen prägt

auch dem fertigen Werk bestimmte Züge auf. Das gilt für

alle menschlichen Werke. Auch einem wissenschaftlichen

Werk spürt man in seiner Art die menschliche Art des Verfassers

an. Man vergleiche die Schriften von Spinoza, Kant

und Fichte. Man weiß auch, daß gestiftete Religionen die

Züge ihres Gründers aufweisen. Bis zu gewöhnlichen Geräten

kann man gehen, um auch da Merkmale des Verfertigers zu

entdecken. Aber: bei all diesen Werken könnte man, wenn

man ihren Sinn herausstellen will, von diesen menschlichen

Zügen absehen. Sie würden in ihrem Wesentlichen nicht

davon berührt. Nicht so bei der Dichtung, wohl überhaupt

bei der Kunst. Die ästhetischen Gebilde greifen immer tief

ins Menschliche hinein: sie danken ihr Dasein der Begegnung

einer gewissen Fülle des Äußeren und Inneren.



Bei der Dichtung nun kann dieses Menschliche ausführlicher

begründet werden. Es ist durchaus verständlich, wenn

strenge Naturwissenschaftler und Philosophen zu einem

Zeichensystem kommen wollen, das nur die Sachverhalte

darstelle: etwa die chemischen Formeln, die Versuche schon

des Leibniz und der modernen Logistiker. Sie wollen von der

Sprache loskommen. Sie behaupten, wegen der Unzulänglichkeiten

der Sprache. Was kann man schon mit »Vergißmeinnicht«,

»Stiefmütterchen« als wissenschaftlichem Ausdruck

anfangen! Man greift in der Botanik zum lateinischen Fachausdruck.

Der sei international und zugleich für uns heutige

nicht mehr mit störenden Gefühlstönen belastet. So die strenge

Wissenschaft. Und sie hat recht. Nicht aber wegen der Unzulänglichkeit |#f0106 : 90|



der Sprache ─ sondern wegen ihrer Menschlichkeit.

Denn wir wissen bereits, daß in den Worten nicht bloß

ein Stück des Erfahrungsstroms herausgeschnitten und dauerhaft

geprägt wird, sondern daß dabei auch unsere Einstellung

zu diesem Erfahrungsstück mit eingeformt wird. Und das

auch in der Wortfügung, im Rhythmus, in der Lautung, in

der Satzbewegung. Sprache ist das typisch menschliche Organ

der Welterfassung. Nur eine ökonomisierte Sprachgebung

kann dieses Menschliche ausschalten, freilich nie ganz. Sobald

aber die Sprache in ihrer Vollkraft wieder da ist, wie das

wesenhaft bei der Dichtung der Fall ist, sind auch diese

menschlichen Züge des Welterfassens wieder da! Nicht mehr

bloß Mitteilung von auch formelhaft Ausdrückbarem, sondern

Vermittlung von Mensch zu Mensch. »Das ist ein ekelhafter

Mensch!« und: »Mir tut dieses arme Wesen so leid!«

Hier sind nicht begrifflich und logisch formulierbare Aussagen

über einen Menschen gemacht, sondern hier leben je

zwei Menschen: der, von dem die Rede ist, und der Sprechende.

Aber das spürt auch der Hörende, er hört das Menschliche

überhaupt heraus, das da Gestalt wird, auch in ihm wird

es gefühlhaft aufgerufen. Durch den Grundzug der Verwesentlichung,

der schon der Sprachgestaltung überhaupt

eigen ist, werden auch diese fallweisen menschlichen Züge ins

Allgemeine gehoben. »Die dichterische Sprache ist eine

Sprache von Mensch zu Mensch« (Fritz Strich). An einem

Gedicht von Goethe oder Eichendorff kann das leicht nachgewiesen

werden. Wie aber in der sogenannten modernen

Lyrik, die ja das Menschliche ausschalten soll? Wir greifen zu

Versen von Gottfried Benn, nicht zu solchen, wo auch bei

ihm das Menschliche deutlich ergreift, sondern zu den »radikalen«;

an ihnen und von ihnen ausgehend sei das Menschliche

an jeder Dichtung, und zwar an ihr als abgeschlossenem

Gebilde, aufgezeigt. Eines der Gedichte mit der Überschrift

»Quartär« lautet:



Die Welten trinken und tränken

sich Rausch zu neuem Raum

und die letzten Quartäre versenken

den ptolemäischen Traum.
|#f0107 : 91|



Verfall, Verflammen, Verfehlen ─

in toxischen Sphären, kalt,

noch einige stygische Seelen,

einsame, hoch und alt.


Gewiß ist in diesem Gedicht nicht von Menschlichem die

Rede. Nur in den letzten zwei Versen tauchen »stygische

Seelen« auf, und sie erscheinen in bestimmter Beleuchtung:

als einsam, hoch und alt. Aber auch sie sind in einen viel

größeren, in einen kosmischen Zusammenhang als verhältnismäßig

Unbedeutendes eingefügt. Insofern ist Menschliches

hier tatsächlich ausgeschaltet. Das ist aber gerade für die Lyrik

in dieser äußerlichen Form gar nicht so selten, und vor allem

nicht bloß modern. Manches Beispiel reiner Naturlyrik aus

früherer Zeit könnte auch als Beispiel dienen. Damit ist aber

die Hauptsache noch gar nicht berührt. Auf sie stoßen wir

erst, wenn wir auf die künstlerische Gestaltung achten. In ihr

als einem Menschenwerk muß sich nun das Menschliche

zeigen. Prosaisch gesagt, entwirft hier Benn ein Bild einer

späten Erd- und Weltenzukunft. Dieses Bild ist in seiner

Gesamtheit von einem bestimmten Menschen geprägt; andere

würden diese Spätzeit anders sehen. Es ist also dies Bild eine

rein menschliche Reaktion aus dem Inneren auf das, was Wissenschaft

als zukünftige Realität ahnen läßt. Dieses Menschliche

wird aber noch viel deutlicher, wenn wir auf die Einzelheiten

achten. Gewiß hat Benn wissenschaftliche Fachausdrücke

verwendet: Quartär, ptolemäisch, toxisch. Denn

auch vor diesen durch die moderne Wissenschaftsentwicklung

aufgegliederten Bereichen macht Erfahrung, macht auch

das Erleben nicht halt. Aber auch diese Fachausdrücke bekommen

im Zusammenhang des Gedichts tieferen Gehalt, sprechen

innerste Bereiche an. Die Spätzeit zeigt uns aber der

Dichter in geradezu erschütternden Bildern: die Welten

trinken sich einen Rausch an und erringen neue Räume, das

ptolemäische Weltbild, an sich nur mehr ein Traum, versinkt.

Das Endchaos ist eindringlich verdichtet in die drei Worte des

fünften Verses, wobei gerade das mittlere Wort mit seiner

Kraft die beiden anderen aus der Verflachung herausreißt.

Und wie sieht er den Menschen? In kalter, giftiger Luft noch |#f0108 : 92|



einzelne, die schon mehr Seelen der Unterwelt hinter dem

Styxfluß sind, »einsame, hoch und alt«. Diese grandiose Schau,

wie sie schon in einer ersten Schicht erscheint, offenbart

gerade im Ergreifenden der Bilder zugleich menschliche

Ergriffenheit. Nicht nur ein Bild der Endzeit, sondern auch

der menschlichen Erschütterung darob. Diese Ergriffenheit ist

so stark, daß sie zur kräftigsten Gestaltung greift. Zunächst im

Rhythmus. Die ersten zwei Verspaare bilden je einen Satz, die

Sinnbewegung geht über zwei Verse und wird so breit und

mächtig, zumal die beiden Verspaare selbst wieder zu einem

größeren Ganzen zusammenschwingen. Dann aber beginnt

die Bewegung zu stocken. Man beachte rein äußerlich die

Zahl der Satzzeichen im zweiten Teil: es ist kaum mehr

die Satzgestalt da, sondern ein heftiges Aneinanderstoßen

einzelner Worte. Dazu kommt der Wortgehalt des letzten

Verses, der nun das Tempo sehr verlangsamt. Also nach dem

breiten Strömen der ersten Hälfte ein beginnendes Stocken

und endlich starke Verlangsamung: so klingt das Ganze müde

aus. Die Eindringlichkeit beinahe aller Worte, in diesem

Rahmen auch der Fremdworte ─ das Fremdartige dieser

fremden Zukunftswelt noch mehr heraustreibend ─ wird nun

noch durch ihren Lautungswert erhöht. Man beachte, wie

klangreich und dadurch eindrucksvoll viele Worte sind. Der

tiefe Eindruck wird aber noch verstärkt durch die wirkungsvollen

Bindungen der Worte: der Stabreim im ersten und

zweiten Vers, der noch viel weiter ausgreifende im fünften

Vers, und endlich die Endreime. Tränken und Versenken

klingen auch im Gehalt zusammen, ebenso wie Raum und

Traum. Vor allem aber die Reimkunst im zweiten Teil: das

Zusammenwirken von kalt und alt, und mitten in sie hineingestellt

die Seelen, noch dazu im gespannten Reim zu Verfehlen.

Daß ein Mensch den Blick gegenüber diesem ungeheuren

Ende offenhält, daß er es so eindringlich sieht und gestaltet,

daß er im Gestalten es in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit

erst recht herausstellt und im Herausstellen ihm zu stehen

vermag, aufrecht bleibt vor dieser Größe, und zwar als

Schaffender ─ das alles lebt auch in diesen Versen und ist in

ihnen dauernde Gestalt geworden.

|#f0109 : 93|



Was an diesen Versen angedeutet worden ist, könnte an

vielen anderen auch gezeigt werden. Viele Sprachgebilde

ließen noch weitere Stilzüge des Menschlichen deutlich

werden. Etwa der menschliche Wert der »ich«- und »du«-

Formen, die immer sofort das Menschliche in einem Redenden

und einem Angeredeten verdeutlichen; in der Epik tritt

dazu dann noch der Standpunkt des Erzählers, der vielfach

eben als menschliches Wesen in seinem Erzählen das Erzählte

in eine bestimmte Atmosphäre taucht. Das Drama ist ja dann

schon aus seinem Wesen heraus ganz in eine menschliche

Stimmung getaucht. Und gerade im modernsten Drama

finden wir häufig Züge, die auch den Dichter als die gestaltende

Persönlichkeit ahnen lassen.



Wir können zusammenfassen. In der künstlerischen Gestaltung

einer Dichtung wird Menschliches lebendig und

greifbar, so daß Dichtung nie bloßes, un-menschliches Ding

ist. Auch dort, wo groteske Fratzen alles beherrschen, spürt

man den Schauder oder das kalte Grinsen eines Menschen mitbeben.

Man kann umgekehrt sagen, daß nur da eine bedeutsame

künstlerische Form erwächst, wo ein starkes Persönlichkeitsbewußtsein

am Werk ist. Dichtung ist also immer auch

Ausdruck eines Menschlichen; erst dieses gibt ihr das Leben

und die tiefe Wirksamkeit. Aus der inneren Dynamik des

schöpferischen Menschen geht die Bewegung über in das

Kunstwerk; das Leben der Verba, der Fluß und die Kraft des

Rhythmus, die Dynamik des Satzablaufs, das alles sind Züge

am Werk, in denen menschliches Leben spürbar ist. Im Ablauf

und Aufbau einer Dichtung ist der schöpferische Wille spürbar,

und zwar in seinen verschiedensten Schattierungen. Man

stelle die »Räuber« neben die »Iphigenie«, die Prometheushymne

neben das Mondlied, den »Michael Kohlhaas« neben

die »Brigitta«. Damit erst entsteht die Geschlossenheit des

Kunstwerks. »Was dem Kunstwerk die innere Durchsichtigkeit

gibt, so daß alle Zusammenhänge und die Einheit des

Ganzen sichtbar werden, ist nicht die Verwandlung der Welt

noch die Wallung der Seele, sondern die innere Gerichtetheit

des schaffenden Geistes. Von einer unsichtbaren Lichtquelle

her wird alles Geschehen so beleuchtet, werden die Wertakzente |#f0110 : 94|



so verteilt, daß der Blick heimlich gelenkt wird nach

dem Ziel, das dem Dichter als die Vollendung des Daseins

erscheint« (Spoerri).



IV

DIE MENSCHLICH-DICHTERISCHEN

AUFFASSUNGSWEISEN DER WELT



Auf einer höheren Ebene treffen sich Mensch und Wirklichkeit

in der Dichtung, wenn wir fragen, wie sich ihre Begegnung

auswirkt. Und zwar auf den Menschen, der der Welt

begegnet, und auch auf die Wirklichkeit, die der bestimmt

geartete Mensch erlebt und aus dem Erleben für sich geistig

formt. Wir kommen hier zu den Fragen ─ um andeutend nur

einige zu streifen ─ der Tragik, des Humors, der Komik, der

Groteske usw.



Dabei ist folgender entwicklungsgeschichtlicher Tatbestand

festzuhalten: Bei den zu besprechenden Auffassungsweisen

handelt es sich zunächst um solche, die in den Dichtungen

gestaltet sind. Die Haltung des Tragischen z. B. ist also zunächst

nur in den Tragödien vorhanden. Da der Mensch aber

aus der tiefen Einsicht in die Welt, die er aus der Dichtung

schöpft, bestimmte Haltungen und Weltzusammenhänge

erahnt, werden diese dann auch im Leben selbst erfahren, man

erlebt Tragisches im Leben, in der sogenannten Realität; und

damit setzt dann auch die philosophische, vor allem die metaphysische

Betrachtung dieser Zusammenhänge ein. Hier, in

einer Poetik, wollen wir bei Betrachtung dieser Auffassungsweisen

immer so eng als möglich im Rahmen der Dichtung

bleiben.



Ein System dieser Auffassungsweisen ist kaum zu schaffen.

Die Möglichkeiten der dichterischen Weltauffassung sind so

mannigfaltig und vor allem so verschlungen, daß jeder Versuch

eines Systems als rationales Gerüst gegenüber Kunst und

Leben scheitern muß. Es ist uns darum zu tun, eine möglichst |#f0111 : 95|



vollständige und klare Übersicht zu schaffen, in deren Rahmen

dann mögliche Ergänzungen einbaubar sind. Denn es

scheint auch so, daß sich manche Auffassungen erst im Laufe

bestimmter Entwicklungen entfalten können, also von keinem

geschichtlichen Standpunkt aus jeweils eine absolute Vollständigkeit

zu erreichen ist.



Man kann die möglichen dichterischen Weltauffassungen

vor allem von zwei Seiten sehen. Zunächst liegt diesen Auffassungen

als Unterlage eine innere Haltung des Menschen

zugrunde. Sie ergibt sich aus dem Zusammentreffen bestimmter

innerer Angelegtheiten mit einer in sehr weitem Rahmen

bestimmt gearteten Welt. Es ist hier nicht die Frage, ob das

jeweils genau die bestimmte Haltung des Dichters oder des

Lesers oder einer Person in der Dichtung selbst ist, sondern

auch hier wieder treffen wir auf ein allgemein Menschliches,

das grundsätzlich möglich ist und hier im Gesamt des dichterischen

Werkes, nicht bloß aus seinem Gehalt, lebendig wird.

Aus dieser inneren Haltung baut sich eine bestimmte Weltsicht

auf. Damit ist nicht ein objektiver, realer Bestand gemeint,

sondern Weltaufbau im Geist. Unser Weltbild ist

immer nicht bloß durch reale Außenweltgegebenheiten bestimmt,

sondern aus geistiger Bewältigung dieser Gegebenheiten.

Weltauffassung oder Weltsicht enthält immer neben

verarbeiteten Gegebenheiten auch die Gestimmtheit, in der

und durch die die Verarbeitung vollzogen worden ist. Umgekehrt

kann dann diese Weltauffassung selbst wieder auf die

innere Haltung des Menschen einwirken.



Im großen versuchen wir hier, diese Möglichkeiten auf

drei Grundgegebenheiten zurückzuführen: auf die Haltung

des Ernstes, der Heiterkeit und der betonten geistigen Überlegenheit.





Der Ernst



Es ist nicht nötig, die innere Haltung des Ernstes, mit der

wir Erfahrungen machen, näher zu beschreiben. Jeder kann

sie an sich erfahren, der eine mehr, der andere weniger. Eine

gewisse Schwere und Getragenheit der Stimmung ist kennzeichnend, |#f0112 : 96|



auch jegliches Fehlen des Spielerischen, meist auch

das Lachen. Aber gleich hier erkennt man: diese Haltung

färbt auch auf die Welt ab, die in solcher Gestimmtheit aufgefaßt

wird. Der Volksmund sagt sehr richtig, man sehe die

Welt durch eine dunkle Brille.



Eine Steigerung erfährt diese Haltung im Pathos. Das vielgebrauchte

Wort ist seit der Poetik des Aristoteles in der

Dichtungslehre üblich. Ursprünglich verbindet sich in ihm die

Vorstellung des Leidens und der Handlung: eine Begebenheit,

ein Unfall führt zum Leiden. Goethe versteht darunter schwere

sittliche Unfälle, wie sie etwa geradezu in einem Titel schon

ausgedrückt sein können (»Bruderzwist«). In der Tragödie ist

dann im Zuge der Verwesentlichung eine Steigerung davon

gestaltet: ein besonders hohes Leiden und ein ungeheurer

Fall. Der Tragödienheld ist also der von einem ungeheuren

Fall Betroffene. Erst daraus hat sich dann später der Begriff

ausgebildet, den wir heute als Pathos bezeichnen. Aus dem

Erleben solchen Pathos in der Tragödie ergab sich deutlich

eine bestimmte Haltung, in die wir durch solches Pathos versetzt

werden: eben das, was wir heute Pathos nennen, eine

starke Gehobenheit. Ursprünglich gehört das Wort also der

Kunst, vor allem der Bühne an. Daher kommt es, daß es auch

die Darstellungsart durch den Schauspieler bezeichnet, die uns

diesen ungeheuren Fall besonders eindringlich erleben lassen

kann. Von diesem Hintergrund und Sinn losgetrennt, entwickelt

sich dann eine bestimmte Art zu sprechen und sich

zu gebärden, die man pathetisch nennt und die dann hohl

wird, wenn kein tiefer Hintergrund mehr durchscheint:

falsches Pathos; dieses hat das Wort überhaupt etwas in Verruf

gebracht. Aber die pathetisch-gehobene Haltung, um die

sich auch Schiller als Theoretiker bemüht hat, besteht. Sie

bezeichnet immer eine bestimmte Höhe über dem Alltag, sie

kommt dem gesteigerten Menschen zu, der von dem bewegt

ist, was sein soll. Daher erwächst dem echten Pathos auch der

Charakter der Unbedingtheit.



Daraus entspringt nun die Weltauffassung des Erhabenen.

Der pathetische Mensch oder der Mensch im Zustand des

Pathos sieht vor allem Weltzusammenhänge des Erhabenen, |#f0113 : 97|



er sieht die Welt also überhaupt als Erhabenes, anderes geht

in seine Weltauffassung nicht ein. Voraussetzung für eine solche

Weltsicht ist der Zug des Menschen zum Großen. Dieser Zug

ist ihm ein seelisches Bedürfnis. Der Drang zum Großen läßt in

solch erfaßter Welt das Gewaltige in den Vordergrund treten:

Gewitter, Meeressturm, Urgebirge, aber auch im Menschen:

das hohe Planen, die kühne Tat usw. Damit öffnet sich aber

ein Hintergründiges, das in dieser Sicht des Erhabenen offenbar

wird. Ästhetische Gebilde des Erhabenen sind eben dadurch

ausgezeichnet, daß in ihrer Gestalt Hintergründiges

greifbar wird. So dringt solche Weltauffassung zum Überirdischen,

zum Ewigen. Damit zeigt sich, wie von den ästhetischen

Gebilden des Erhabenen her ein Weg zum Religiösen

betretbar ist. Die Haltung, mit der der Mensch dem Erhabenen

entgegentritt, ist durch eine Spannung gegeben: Widerstreben

und Zustimmung treffen zusammen. Widerstreben

gegen das, was uns vernichten und zermalmen könnte (Blitzschlag,

Hochflut, Erdbeben, grauenhafte Kühnheit), und doch

Zustimmung, da dieses Große uns innerlich erhebt, da wir

doch einen Aufschwung erleben. Wir fühlen also neben der

Bedrohung auch eine innere Überlegenheit, durch die wir

dieser Größe gewachsen sind.



Nicht bloß Dinge und Verhältnisse der Natur können als

erhaben aufgefaßt werden, sondern auch Menschen und ihr

Tun und Sein. Wir nennen dann dieses Tun heroisch. Das

wäre eine engere Auffassung des Wortes »Held«, das ja sonst

oft die Hauptperson einer epischen oder dramatischen Dichtung

bezeichnet. Die Spannung im Wortgehalt erleben wir,

wenn wir etwa einen Johannes Vokerath in G. Hauptmanns

»Einsamen Menschen« oder einen Ulrich in Musils »Mann

ohne Eigenschaften« als Helden bezeichnen. Wirkliche erhabene

Menschen bewundern wir, sie ragen, oft auch nur

durch eine Seite ihres Wesens, die auch rücksichtslos hervorgetrieben

sein kann, über das Menschliche hinaus. Ihr Einsatz

für höchste Werte reißt auch uns mit. Aber es macht einen

Unterschied aus, worin sie dieses Höchste sehen. Hier liegen

die Wurzeln der gesamten Heldendichtung und ihrer Spielarten.

Wenn sich Heldentum auch verzerren kann durch |#f0114 : 98|



Übersteigerung, Vereinseitigung und Wertunsicherheit,

wenn der Begriff des Helden auch verfälscht werden kann,

besteht doch kein Anlaß, über Heldendichtung den Stab zu

brechen. Die Helden einer Ilias, einer Edda, eines Cid liegen

über kleinlichem Mäklertum. Auch der Märtyrer ist in seiner

übermenschlichen Unbedingtheit für höchste Werte ein

Held.



Aber diese Überlegungen führen auch dazu, verschiedene

Arten des Erhabenen zu erkennen; einige seien herausgegriffen:

die innere Größe (eines Sokrates oder Seneca); das

Ernste, Feierliche, Überragende, Tiefsinnige (etwa in Dantes

Divina Commedia), das in sich Geschlossene, Vollkommene

(des Parthenon, der Sixtinischen Kapelle); das Überlegene,

das Imponierende, Begeisternde (Schlußsatz der Neunten),

das Ungeheure, Gewaltige, Furchtbare (Naturmächte, Macbeth).

Hier setzt aber etwas Neues an: das Erschütternde. Und

mit ihm kommen wir in weitere Bereiche des Ernstes.



Man kann den ewigen Kreislauf des Lebens, in dem jedes

einzelne Ereignis unbedeutend wird und alles in diesem Kreis

wiederkehrt, durchaus mit tiefem Ernst erfassen. Wenn aber

das Leben als ein fortlaufendes erfaßt wird, wenn immer neue

Situationen den Menschen an den Abgrund führen, entsteht

eine große Unruhe aus dem Ernst. Wird diese Unruhe gesteigert,

so kann die Erschütterung entstehen.



Wenn diese Haltung der Erschütterung maßgebend ist für

die Bildung einer Weltsicht, so bekommt die Welt eine

eigenartige Färbung, in der manches als entscheidend heraustritt,

anderes ganz in den Hintergrund. Wir betreten den

Raum des Tragischen und der Tragik.



Er gehört zu den vielbehandelten in der Geschichte der

Poetik, auch stoßen sich hier und folgen einander die mannigfachsten

und oft entgegengesetztesten Auffassungen. Wir

werden erkennen, daß Tragisches nicht nur in der Tragödie

gestaltet wird, sondern auch in anderen Dichtungen. Wir

heben also diese Weltauffassung so gut wie möglich von der

reinen Tragödiendichtung ab, bleiben uns aber immer bewußt,

daß Tragik am reinsten und ausschließlichsten in der Kunstform

der Tragödie lebt. Es wird also manches aus dem Fragenkreis |#f0115 : 99|



an einem späteren Zeitpunkt neu oder nochmals beleuchtet

werden.



Ein Blick auf die Geschichte der Auffassung von Tragik

zeigt eine eigenartige Entwicklung. Sie setzt mit der Poetik

des Aristoteles ein. Diese selbst und die Geschichte ihrer Deutung

bis zur unmittelbaren Gegenwart wäre ein Kapitel für

sich. Entscheidend aber ist, daß Aristoteles selbst von Tatsachen

ausgeht und solche feststellt, keine Forderungen aufstellt.

Die Tragödie war eine gegebene Dichtform von bestimmter

Wirkung. Auf diese Gemütswirkung hin war die

Tragödie angelegt. Man sagt, daß Aristoteles diese Wirkung

in Furcht und Mitleid sah. Es ist die Frage, ob diese Übersetzung

das Wesentliche der griechischen Worte phobos und

eleos trifft. Bei Betrachtung der Tragödie werden wir noch

einiges hören. Gegenstand der Tragödie ist der Mensch in

einer vernichtenden Lage. Tragödie als bestimmte Form von

bestimmter Wirkung: das ist der Inhalt aller Aristoteles-

Kommentare seit Robortelli (1548 in Florenz) und aller anderen

Tragik-Theorien bis zur deutschen Klassik, auch noch

bei Schiller. Noch manche Theoretiker späterer Zeit legen

diesen Blickpunkt an, in neuester Zeit sogar wieder entschiedener

(O. Mann). Schiller selbst sieht aber das Tragische auch

schon im Bereich der menschlichen Sittlichkeit aus seiner

idealistischen Philosophie. Damit wird deutlich das Tragische

aus der Dichtungslehre im engen Sinn gelöst. Denn tatsächlich

sind ja in der Tragödie, die einen Menschen in vernichtender

Lage zeigt, auch Seinsprobleme gestaltet. Allerdings

werden sie zunächst bewußt erlebt und gestaltet nur in der

Tragödie. Aber allmählich lernt man aus ihr solche Zusammenhänge

im Leben überhaupt zu sehen, und damit wird

Tragik eine Sache der Philosophie. Das beginnt bei Friedrich

Schlegel und erreicht die volle Entfaltung mit Hegel. Statt

Darstellung des Scheiterns in der Kunstform der Tragödie

nun eine allgemein menschliche Konzeption der Tragik aus

einer bestimmten Weltsicht. Tragik wird damit eine Kraft

in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit, eine geschichtliche

Realität. Die Tragödie hat nun diese tragische

Weltanschauung zu gestalten. Wir sehen das in Versuchen |#f0116 : 100|



der Romantik, vor allem aber bei Hebbel, der in seinen Tagebüchern

und Aufsätzen eine Metaphysik des Tragischen versucht.

Aber auch die Philosophen Scheler und Jaspers betrachten

das Tragische an hervorragender Stelle im Rahmen

ihrer Philosophie. So gewinnt man heute den Eindruck,

Tragik sei zunächst ein Begriff in einer philosophischen Weltanschauung,

und tragische Dichtung gestalte aus solcher

Sicht.



Die kurzen Andeutungen über die Geschichte dieses Problems

zeigen eine große Verwirrung und Mannigfaltigkeit

der Anschauungen über Tragik. Aus ursprünglichen Zügen

in der Dichtform der Tragödie, also aus einem ästhetischen

Problem, ist die Tragik durch Heraufheben bestimmter Seinsverhältnisse

eine Frage des Menschseins überhaupt geworden,

und jede Weltanschauung nimmt neu dazu Stellung.



Doch heben sich Grundzüge deutlich heraus. Tragik ist

nicht Merkmal realer, vom Menschen unabhängiger Tatbestände,

sondern eine Grundgestimmtheit des Menschen.

Es spricht sich in ihr eine tiefste Haltung des Gemüts aus, natürlich

jeweils in einem Akt der Weltbegegnung. Diese

Haltung erst bestimmt Welterfassung und Weltgestaltung

des Menschen. Die gleichen objektiven Tatbestände können

vom einen Menschen tragisch, von einem anderen komisch

erlebt und gestaltet werden. Man denke an das Motiv des

Richters, der selber der Schuldige ist: Kleist schreibt eine

Komödie, C. F. Meyer eine tragische Novelle. Wir wollen

festhalten: in der Dichtung kommen diese Verhältnisse am

reinsten heraus, treten sie uns in ihrem Wesenhaften entgegen.

Und hier wieder am klarsten und verdichtetsten in der Tragödie.

Daher werden wir auch später noch darauf zurückkommen

müssen.



Wir versuchen diese tragische Grundgestimmtheit, die zu

tragischer Weltsicht führt, näher zu bestimmen. Alle Theorien

und jede Erfahrung zeigen schon oberflächlich ein Unlustgefühl.

Das ist aber viel zu allgemein und sagt noch kaum

etwas. Auch der Ausdruck »traurig« ist noch zu wenig, zu

allgemein, zu verwaschen. Erst das Scheitern eines Menschen

führt uns näher. Wir haben es im Tragischen mit einer tiefsten |#f0117 : 101|



Erschütterung zu tun. Aller Sinn, den wir unserem Dasein

geben, scheint zu zerbrechen. Das Daseinsfundament ist vernichtet.

In dieser vernichtenden Lage fühlen wir unser Dasein

bedroht. Die Außenwelt wirkt hier mit, aber auch unsere

Reaktion darauf. Dieses Erlebnis der Daseinsbedrohung haben

wir besonders in sogenannten Grenzsituationen, in Situationen

also, in denen der Mensch aller Daseinsstützen beraubt, nackt,

ganz auf das Menschliche in sich verwiesen ist. Wesentliche

Grenzsituationen sind nach Jaspers: Kampf, Tod, Zufall,

Schuld. Goethe hat am 6. Juni 1824 zum Kanzler Müller

gesagt: »Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren

Gegensatz.« Damit ist Tragik auf eine knappe Formel gebracht.

Aber die tragische Erschütterung ist noch durch

einige Merkmale genauer zu bestimmen. Das eine ist die

Dignität des Falles (Lesky): die Erschütterung ist um so

tiefer, je bedeutsamer das Ereignis, je größer das Leiden, je

tiefer der Fall. Das andere ist die Tatsache, daß diese Erschütterung

dadurch zustande kommt, daß dieses Erschütternde

immer zu unserem eigenen Sein, zu unserer Welt in

unmittelbaren Bezug tritt; ein Zug des Menschentums wird

hier getroffen, der auch in uns ist, auch in uns ist das Dasein

bedroht. Eine besondere Steigerung endlich tritt ein, wenn der

Held der tragischen Dichtung selbst das Tragische miterlebt,

wenn auch er von der tiefen Erschütterung betroffen wird.

Denn damit erleben wir unmittelbar gerade das Menschliche

dieser Situation, wie der Mensch sich darin verhält. Aus der

Beschaffenheit einer Grenzsituation und der Tiefe der Erschütterung,

die wir in einer tragischen Dichtung erleben,

stoßen wir unmittelbar ins Absolute vor. Da letzte Sinngebung

bedroht und in Frage gestellt ist, erleben wir hier im

Kunstwerk Religiöses. Das Heilige tritt uns in solcher Dichtung

in den zwei Formen des Tremendum und des Fascinosum

(R. Otto) deutlich entgegen. Zweierlei wollen wir nochmals

bei dieser tiefen tragischen Erschütterung hervorheben.

Obgleich es nicht in erster Linie auf das vom Menschen Unabhängige

und Reale ankommt, so sind doch nicht alle Tatbestände

gleich geeignet, Tragik auszulösen. Aber auch

Unterschiede zwischen den Menschen bestehen. Hier offenbaren |#f0118 : 102|



sich nicht nur Unterschiede in der dauernden Grundgestimmtheit

von Menschen, sondern auch solche der Größe

und Tiefe des Menschentums; man vergleiche Tragödien

von Kleist und von Raupach.



Bestimmte Verhältnisse im Leben, vor allem in dem in der

Dichtung gestalteten Leben, spiegeln solche Grundsituationen

besonders deutlich, unauflösbare Widersprüche leuchten hier

auf, die uns tragisch erschüttern. So die Spannungen zwischen

der gefühlten menschlichen Freiheit und der mannigfachen

Notwendigkeit, der wir unterworfen sind; zwischen Sinn

und Sinnlosigkeit, wobei hier schon die Pole von göttlicher

Vorsehung und reinem Nihilismus sichtbar werden; zwischen

Leid und Trost; endlich zwischen menschlicher Selbstbehauptung

und gottgewollter Vernichtung. In jeder tragischen

Dichtung finden wir Elemente, Motive, Glieder, Stimmungen,

die die tragische Erschütterung besonders wachrufen.

Da gibt es eine Art tragische Atmosphäre, die schaurigunheimlich

das ganze Geschehen umhüllt und begleitet, etwa

im »Agamemnon« des Aischylos oder in Dantes Hölle. Oder

die Tragik kann aus Kampf und Kollision herauswachsen.

Aus Kampf zwischen geschichtlichen Mächten, etwa des

einzelnen mit Allgemeinerem oder der Gesellschaft, oder

zweier sich ablösenden Daseinsformen (»Don Carlos«); oder

aus dem Kampf des Menschen mit Göttern (Hippolytos in

der »Phèdre«) oder zwischen Göttern und göttlichen Prinzipien

überhaupt, wobei der Mensch nur der Schauplatz ist.

Auch die verschiedensten Beziehungen von Sieg und Unterliegen

enthalten Anstöße zum Tragischen: der Unterliegende

kann noch im Scheitern siegen, oder es siegt ein Allgemeines,

oder es siegt höchstens ein Transzendentes, nichts Irdisches;

in Sieg und Niederlage kann eine neue geschichtliche Ordnung

gestiftet werden.



Endlich muß noch die Schuld betrachtet werden. Es bedeutet

eine Verengung der Tragik, wenn unter Schuld nur

eine sittliche gemeint ist. Die Auffassung, daß in der Tragödie

eine sittliche Schuld begangen und gebüßt würde, setzt in der

Spätantike mit Seneca ein und wird dann mit der christlichen

Sündenauffassung in die spätere Tragödientheorie übernommen. |#f0119 : 103|



Im Zeitalter des aufkommenden Bürgertums, also im

19. Jahrhundert vor allem, wird dann dieser Blick neuerlich

wichtig: nicht mehr das Dasein des Menschen wird tragisch

erlebt, sondern seine sittliche Haltung: entweder wird das

Tragische versittlicht oder sittliche Fragen werden ins Tragische

hineingezogen; das endet im sittlichen Relativismus,

wo jeder sittlich recht hat. Aber von sittlicher Schuld im

genauen Sinn des Wortes ist im Tragischen nicht die Rede.

Schon Aristoteles spricht nicht von sittlicher Schuld, sondern

von einer hamartia, einem Verfehlen, das subjektiv nicht anrechenbar

ist, aber objektiv einfach besteht. So deutlich in

der Schuld des Ödipus. Diesem Verfehlen liegt die Gefährdetheit

des Menschen zugrunde, und diese erschüttert uns. Es

kann das Dasein des Menschen selbst schon Schuld sein, durch

seine Herkunft (z. B. Antigone) oder durch das Sosein eines

bestimmten Charakters (Hamlet); aber auch die Handlung

des Menschen kann ein Verfehlen sein, etwa durch Verletzung

höchster Gesetze (so im »Ödipus«), endlich kann

auch eine sittlich notwendige Handlung Schuld werden.



Nun aber tritt uns ein großes, vielleicht das entscheidende

Problem im Bereich des Tragischen entgegen. Es beginnt

mit der Frage: was treibt den Menschen zu solchen Erlebnissen

der tiefsten Erschütterung in der Kunst? Warum lesen

wir tragische Romane und Tragödien, warum gehen wir ins

Theater, um uns aufs tiefste erschüttern zu lassen? Daß gerade

tiefer veranlagte Menschen, ganz gleichgültig welcher

Berufe, zu solchen Dichtungen greifen, ist Tatsache. Wir

wissen, daß Schiller ganz klar auch diese Frage erörtert hat:

»Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen.«

Aus dem Wesen des Tragischen als einer tiefen Erschütterung

über die Daseinsbedrohung ergibt sich eine genauere

Fassung der Frage. Der Mensch ist in solchen Situationen

in eine Entscheidung gestellt: wie geschieht das Durchhalten

der tragischen Erschütterung? Wir stoßen damit auf

das Erlebnis der Katharsis, das ja auch, seit Aristoteles dieses

Wort in die Debatte geworfen hat, viel Staub aufgewirbelt

hat.



Vor allem wollen wir festhalten, daß es sich in all diesen |#f0120 : 104|



Fragen um das Durchhalten des Menschen handelt, der die

daseinsbedrohende Erschütterung erlebt; das wird immer der

sein, der die Dichtung auf sich wirken läßt. Manchmal können

diese Möglichkeiten des Durchhaltens auch an einer Person

der Dichtung, besonders an der Hauptfigur, zu erfahren

sein. Dann wirkt das aber nur um so stärker auf den Erlebenden

zurück. Die Hauptfrage bleibt: wie halten wir die

tiefe Erschütterung durch, die uns beim Erleben des »Ödipus«

von Sophokles überkommt? Daß Ödipus selbst, die Hauptgestalt

des Dramas, auch diese Erschütterung furchtbar erlebt,

und mit ihm auch andere Figuren des Werkes, und daß er

sie und wie er sie durchhält, ist eines der größten Erlebnisse,

die Tragödien auslösen können ─ weil uns dieses Durchhalten

vorgelebt wird, weil wir dadurch gezwungen werden, es

selber mitzuerleben; die Kunst wirft uns durch das, was in

diesem Kunstgebilde erscheint, in tiefe Not und führt uns

wieder durch das, was in ihm erscheint, aus ihr heraus. Daß

wir das alles nicht realiter erleben an Menschen, die es auch

realiter durchmachen, gibt dem künstlerischen Erleben die

Reinheit, die Wesentlichkeit, die Befreitheit vom Schockhaften

der Realität, der gegenüber wir auch noch mit ganz

anderen als solchen künstlerischen Erlebnissen reagieren

müßten. Die Erschütterung muß deshalb nicht geringer sein,

sie ist nicht irreal, illusorisch, sondern auch wirklich, aber rein

auf das Wesentliche abgestellt, in der Erscheinung umschlossen.





Wir fühlen uns nach dem Erleben einer großen tragischen

Dichtung trotz aller Erschütterung irgendwie anders: vertieft,

gehoben, klarer, ja gestärkt trotz allem oder in allem

Leiden. Das ist mit dem Wort Reinigung (Katharsis) gemeint:

wir haben in wesenhafte Bereiche blicken können, sie haben

sich vor uns enthüllt. »Die Tragödie will mehr: die Katharsis

der Seele. Was zwar diese Katharsis sei, wird auch durch

Aristoteles nicht klar. Jedenfalls aber ist sie ein Ereignis, das

das Selbstsein des Menschen angeht. Es ist ein aus dem Erleben

nicht bloß des Zuschauens, sondern des Betroffenseins

hervorgehendes Offenwerden für das Sein, eine Aneignung

des Wahren durch Reinigung von dem Verschleiernden, |#f0121 : 105|



Trübenden, Vordergründigen unserer uns verengenden und

blind machenden Daseinserfahrungen« (Jaspers).



Grundsätzlich sind drei Arten des Durchhaltens einer tragischen

Erschütterung möglich. Sie sind zwar theoretisch rein

zu scheiden, aber in den tatsächlichen Kunsterlebnissen sind

die Grenzen fließend. 1. Das Verzweifeln: alles wird unbedingt

negativ beurteilt, vollendete Sinnlosigkeit bricht hervor,

jedes letzte Ziel ist dem Menschen geraubt. Die Haltung des

Nihilismus scheidet aber bei der Frage der Tragik aus: denn

das Bekenntnis zur Sinnlosigkeit (wie etwa in Sartres »Huis

clos«) ist kein Durchhalten, sondern ein Zerbrechen. Freilich

muß beachtet werden, daß das Erleben der Sinnlosigkeit

zum dunklen Drang nach neuer und umfassenderer Sinngebung

führen kann, der dann aus dem bloßen Nihilismus

hinausführt. So wirkt sich das in den Tragödien Georg

Büchners aus. Die Gefahr des Nihilismus ist bei jedem tiefen

tragischen Erleben vorhanden.



2. Das Bestehen der Erschütterung. Der Mensch durchschreitet

hier nicht etwa die Erschütterung und gelangt hinter

ihr in einen neuen Zustand, sondern er hält sie durch, er

bleibt in ihr, und doch erlebt er dabei eine Erhebung. Worin

diese Erhebung in der Erschütterung gründet, ist schwer zu

sagen. Aristoteles und viele nach ihm sahen sie in einer Befreiung

von zu starken Affekten. Hegel denkt daran, daß im

Untergang des Endlichen der Mensch die Wahrheit und Wirklichkeit

des Unendlichen zu schauen bekomme. Das führt

schon tiefer. Vor allem kann diese Erhebung an der Art erlebt

werden, wie der Held einer Tragödie untergeht: er erfährt

und bejaht im Scheitern die ewigen Gesetze, die göttliche

Weltordnung. Das trifft für den »Ödipus« des Sophokles zu.

Noch mehr aber ist gerade dieses Werk ein Beleg für eine

weitere, wohl für die entscheidende Ursache der inneren Erhebung

im Scheitern. In der tragischen Erschütterung wird

das Innerste, Letzte, Entscheidendste des Menschentums freigelegt.

Im Durchhalten zeigt sich die Kraft des Menschen

überhaupt, auch das Furchtbarste zu bestehen. So offenbaren

sich wohl Abgründe, aber auch Kraft, Höhe und Möglichkeiten

des menschlichen Innern. Damit aber bejaht der |#f0122 : 106|



Mensch in der Erschütterung sein Leben, das Leben überhaupt.

Nietzsche hat davon gesprochen, daß im tragischen

Erfahren das dionysische Lebensgefühl wachse. Das großartige

Beispiel bleibt eben Ödipus: er bricht an der Furchtbarkeit

dessen, was ihn getroffen hat, nicht zusammen, sondern

offenbart im Richteramt gegen sich die Größe des

Menschentums, das die Schuld anerkennt, aber an den Göttern,

die sie verhängt haben, und an sich selbst verzweifelt

er nicht. Und uns, den von seinem Leiden Erschütterten,

widerfährt dasselbe. Im Scheitern und allein durch dieses

Scheitern, durch das Schicksal der Vernichtung ergreift uns

die Idee und Höhe des Menschentums. Damit aber verliert

tragische Erschütterung, verlieren Scheitern und Untergang

ihre Sinnlosigkeit: ein neuer Sinnbereich öffnet sich: nur

so Wesen und Möglichkeiten des Menschentums zu erleben.

In dieser unbedingten Doppelheit der Erschütterung und

ihres Durchhaltens liegt wohl die eigentliche Tragik.



3. Das Durchschreiten der Erschütterung. Hier wird die

Erschütterung in einem anderen überwunden und zurückgelassen.

Man zieht sich aus der Erschütterung in einen Bereich

zurück, der uns über das Tragische hinauskommen läßt.

Wir überwinden die Tragik, indem wir sie verlassen. Schon

in der griechischen Tragödiendichtung finden wir diese Art

der Tragik: aus Scheitern und Leiden wird neue Ordnung

und Recht. Das gestaltet Aischylos in den »Eumeniden« und

Sophokles im »Ödipus auf Kolonos«. Wir erkennen, daß

hier tragische Erschütterung bestanden wird durch die Ausrichtung

auf ein Jenseits: Himmel, Gott, Positivität der göttlichen

Seinsordnung, eine Wertwelt, hohe Ideen, das Geistige

überhaupt. Das entfaltet sich vor allem in zwei Formen der

Tragödie. Zunächst in der christlichen. Über die Möglichkeit

der Tragik im Rahmen christlicher Weltanschauung gehen die

Meinungen auseinander. Die einen halten es für unmöglich,

daß eine existenzbedrohende Lage und die daraus erwachsende

Erschütterung, in dem dem Menschen alles Jenseitige

schwinde, mit dem Christentum vereinbar sei. Andere betonen,

daß es auch im Christentum die tiefe Erschütterung

der Gottverlassenheit gebe, wie sie ja schon in den Berichten |#f0123 : 107|



von Gethsemane und Golgatha heraustrete. Freilich: der echte

Christ vermag die Erschütterung zu durchschreiten. Aber es

wäre wohl eine Verengung, wenn man allen Dichtungen,

in denen die Erschütterung überwunden würde, Tragik abspräche.

Denn auch ─ und das ist die zweite Form ─ in der

mehr philosophischen Tragödie, besonders in der des deutschen

Idealismus, wird im Rückgriff auf eine höchste Wertwelt,

auf das Geistige überhaupt die Erschütterung überwunden.





In der Wirklichkeit der dichterischen Gegebenheiten gibt

es die reinen Fälle des Verzweifelns, des Durchhaltens und

des Durchschreitens nicht allzu oft. Es gibt zahllose Übergänge.

Auf der einen Seite steht etwa Kleists »Penthesilea« in

ihrer radikalen Tragik, die aber durchaus nicht in den Nihilismus

führt, auf der anderen Goethes »Iphigenie«, die am Ende

des vierten Aufzugs im Monolog Iphigeniens und dem darauf

folgenden Parzenlied die Tragik unbedingt streift, aber dann

zur vollen und beglückenden Lösung hindurchschreitet. Je

mehr die neue Weltordnung, die eine neue Sinngebung über

der alten, zerstörten ermöglicht, benannt werden kann, je

klarer und greifbarer sie sich als erlösend offenbart, desto

mehr führt eine solche Dichtung über reine Tragik hinaus.

Das ist keine Frage des Werts, sondern eine verschiedener

dichterischer Möglichkeiten.



Wir erkennen an ihnen, wie uns die Frage des Tragischen,

die uns im Lauf der Betrachtung ins Weltanschauliche geführt

hat, wieder zurück zu verschiedenen Arten dichterischer

Gestaltung bringt. Denn gerade die verschiedenen

möglichen Gewichtsverteilungen von Erschütterung und

Erhebung, entweder im Lauf der Handlung oder in bestimmtem

Zusammenklang, ergeben die verschiedensten Spielarten

dichterischer Anlage. Aber noch etwas anderes ist zu beachten.

Es gibt Menschen und Zeiten, die kaum solche tiefen

Erschütterungen erleben, denen also Tragik und Tragödiendichtung

fernerstehen. Andererseits vermögen oft Zeiten

und Menschen Weltzusammenhänge tragisch zu erleben, die

anderen nicht so erscheinen, und umgekehrt. Gottsched

deutet den Ödipus in seiner »Kritischen Dichtkunst« in einer |#f0124 : 108|



uns heute ganz fremden Weise: er sei weder ganz schuldig

noch ganz unschuldig, also ein Charakter von mittlerer Gattung

(damit nimmt Gottsched einen Begriff des Aristoteles

auf); seine Laster stürzten ihn ins Unglück, nämlich seine

Hitzigkeit. Und dann wörtlich: »Denn hätte er nur niemanden

erschlagen, so wäre alles übrige nicht erfolgt. Er hätte

sich aber billig vor allen Todtschlägen hüten sollen: nachdem

ihm das Orakel eine so deutliche Weissagung gegeben hatte.«

Wie anders hat noch der Barock mit »terreur« und »admiration«

den Ödipus erfahren und wie anders wir. Der

Rationalismus der Aufklärung schafft dem Menschen so

viele Sicherungen, daß er kaum mehr durch Abgründe erschüttert

wird, und wenn die Gefahr dazu bestünde, sichert

er sich eben durch Vernunftgründe und moralische Regeln.

Auch hier wieder greifen wir die geschichtliche Bedingtheit

auch so allgemein menschlicher Erlebnisse.



Die Frage nach dem Sinn solcher tragischen Erschütterungen

und ihres Bestehens ist eigentlich schon durch die Betrachtung

des Bestehens beantwortet. Tragik ergreift das

menschliche Gemüt mit aller Macht. Es ist vielleicht zu wenig,

wenn man nur von einer großen Trauer spricht, die uns überkommt.

Es greift tiefer und wirkt bedrohlicher. Es geht um

letzte Bestände des Menschen, und damit reicht eben Tragik

schon ins Religiöse. Der Mensch hat den hohen geistigen

Drang, alles ihn Treffende auf seinen Sinn hin zu ordnen und

zu bewältigen. In diesen Fragenbereich greift der Dichter

des Tragischen und wird damit vor eine Entscheidung gestellt:

bleibt die Welt auch im Scheitern sinnvoll oder verliert

sie den Sinn? Dadurch aber werden wir Menschen, die

wir tragische Erschütterungen erleben, in höchste Seinsbereiche

geführt. In diesen aufwühlenden Erlebnissen erahnen

wir letzte Zusammenhänge und Höhen. Und in diesem Erahnen

wächst dem Menschen innere Kraft und großer geistiger

und seelischer Reichtum zu. Das Erleben des Tragischen

in der Dichtung führt uns damit überhaupt dem Lebenssinn

der Dichtung nahe.

|#f0125 : 109|



Die Heiterkeit



Es bleibt immer entscheidend, wie der Mensch auf Lagen,

in die er gerät, mit seinem Innersten antwortet. Eine ganz

andere Antwort, als das Schwere ernsthaft zu erleben, ist die

Heiterkeit. Aus ihr heraus wird der Mensch die Welt ganz

anders sehen und dann auch gestalten. Wir wollen uns davor

hüten, die Heiterkeit gegenüber dem Ernst abzuwerten und

für oberflächlicher zu nehmen. Denn wir denken mit Heiterkeit

nicht so sehr an eine vitale, beinahe untermenschliche

Fröhlichkeit, die ja auch mitklingen kann, sondern an eine

Stimmung und Gesamthaltung, die den Menschen als geistiges

Wesen kennzeichnet. Wir kennen sie aus Mozart, an

Watteau, auch an pompeianischen Wandmalereien, aus den

Idyllen von Salomon Geßner.



Die besondere Form der Heiterkeit, die für die Dichtung

von großer Bedeutung ist, ist der Humor. Auch er bietet der

Betrachtung, ähnlich wie Tragik und Komik, erhebliche

Schwierigkeiten. Vor allem die Beziehungen zur Komik.

Vielfach sieht man den Humor im Zusammenhang mit dieser,

ja geradezu als eine Spielart davon. Daß enge Bindungen

bestehen, ist sicher. Aber es bleibt fraglich, ob man so weit

gehen darf zu sagen: ohne Komik des Gegenstandes kein

Humor und ohne Humor des Auffassens keine Komik

(N. Hartmann). Denn man muß dagegen feststellen: ein

humorvoller Mensch erregt kaum Komik, man lacht mit

ihm, nicht über ihn, und ein komischer Mensch ist kaum

humorvoll. Humor ist eine menschliche Haltung. Das Entscheidende

am Humor ist der Mensch, und zwar seine Gestimmtheit

im Sinne Heideggers. Im Humor wird der ganze

Mensch im Bezug zur ganzen Welt sichtbar. »Der Humor

gleicht der milden Sonne über einer mit allerlei sonderbarem

Getier belebten Landschaft« (Lützeler). So entsteht eine bestimmte

seelische Atmosphäre. Ihr Ausdruck ist das Lachen.

Aber auch darunter ist sehr Verschiedenes zu verstehen.

Sicher ist das Lachen eine Erleichterung, eine Art Lebensbewältigung.

Es kann tiefe Menschlichkeit enthüllen. Um |#f0126 : 110|



die Verschiedenheit des Lachens zu überblicken, denke man

an das Lachen verschiedener Figuren aus der Dichtung: wie

verschieden ist das Lachen Philines, Mephistos, Tellheims,

Minnas oder Vrenelis in Kellers »Romeo und Julia auf dem

Dorf«. Es ist für eine Theorie des Lachens (Bergson) bedenklich,

wenn in ihr das Kinderlachen und das reine Lachen aus

Lebensfreude fehlt. Erst auf diesem Hintergrund hebt sich

dann das Lachen über Schwächen ab, über das, was wir

lächerlich finden. Wir spüren deutlich: das Lächerliche hat

mit Heiterkeit und Humor nichts zu tun.



Der Humor schafft ein ganz deutlich charakterisierbares

Weltbild. Er weiß um die Torheit der Welt, aber im Wissen

um diese Torheit befreit er zugleich davon. Der Humor entdeckt

die Werte im Kleinen und im Schrulligen, etwa bei

Wilhelm Raabe; denn er hat den liebevollen Blick, den es

dafür braucht. So übt er eine wohltätige Wirkung. Aus ihm

spricht eine sittliche Haltung. Aber er bleibt nicht am Kleinen

haften. Der Humor gewinnt eine Ganzheitsschau über die

Welt aus dem Glauben an ihre Werte und aus der Liebe zu

ihr. Daraus ergibt sich die Gelassenheit und die Lebensfülle

des Humors. Selbstverlachung und Weltverlachung verbindet

sich mit Glauben und Liebe. Daraus entspringt die kennzeichnende

Haltung des Humors gegenüber der Wirklichkeit.

Es wäre aber äußerlich, wollte man den Humor nur als

oberflächliche Haltung ansehen. Er kann erst nach vielen

schweren Erlebnissen errungen sein. Ernst, ja tiefe tragische

Erschütterung können die notwendige Durchgangsstufe gewesen

sein. Man denke an Raabes Weg vom »Hungerpastor«

über den »Schüdderumpp« bis zum »Stopfkuchen«.

Daraus kann auch der Humor die große Lebenstiefe gewinnen.



Wenn es dem Humor gelingt, eine Welt des Heiteren und

Liebenswürdigen (vielleicht auch über dem Abgrund) aus

dem Glauben an sie zu formen, dann entsteht die Idylle. Ihm

ist aber auch die große Gestaltung eines geschlossenen Weltbildes

optimistischer Prägung möglich. Besonders manchen

großen Romanen der Weltliteratur ist das gelungen, die

große, weltweite Heiterkeit ist ihr Kennzeichen gegenüber

dem schweren Ernst anderer Werke. Wir denken an des |#f0127 : 111|



Cervantes »Don Quijote«, an manches von Dickens, an Jean

Pauls »Flegeljahre« und an Kurt Kluges »Herrn Kortüm«.



Auch auf dem Theater hat er Großes geleistet: das Lustspiel,

das wir von der Komödie gerade durch die Haltung

des Humors ablösen werden: Lessings »Minna«, Grillparzers

»Weh dem, der lügt!«, vieles von Shakespeare und auch

Raimund.



Die Freiheit der geistigen Überlegenheit



Freiheit des Geistes finden wir auch in der Haltung des

Ernstes und der Heiterkeit. Jetzt aber handelt es sich um eine

schärfer umschriebene Haltung. Der Mensch kann den ihn

treffenden Beständen der Welt mit vollem Ernst entgegentreten,

er kann sie voll Heiterkeit und von oben betrachten. Es

ist aber auch möglich, daß er ihnen gegenüber die ganze

geistige Überlegenheit spielen läßt, daß er gleichsam mit

ihnen spielt. Die bewußte Überlegenheit, das Beherrschen

durch den Geist, das Spiel, das ihm dadurch möglich wird,

ist jetzt das Ausschlaggebende.



Die feinste und höchste Form dieser Haltung ist die Ironie.

Das griechische Wort eironeia bedeutet Verstellung. Es umfaßt

daher heute nicht mehr den ganzen Gehalt dieser Haltung.

Wir kommen dem Wesen näher an einem alltäglichen

Beispiel der Ironie. Wenn ich jemandem sage: »Du bist mir

ein lieber Freund«, so meine ich eigentlich das Gegenteil.

Aber es kommt mir nicht bloß darauf an, das Gegenteil zu

sagen, sondern ich lege noch einen besonderen persönlichen

Ton hinein: dieser Mensch fordert Anerkennung, ich enthülle

diesen Anspruch in seiner Hinfälligkeit, ich mache ihn

lächerlich, indem ich ihn scheinbar anerkenne, aber in der

Sprachgebung und im Ton es doch anders meine. Ironie ist

als hohes geistiges Spiel, künstlerischer und menschlicher

Ausdruck einer Spätzeit, einer weit vorangetriebenen Entwicklungsstufe.

Daher ist sie auch nicht auf einfache Formen

zu bringen. Sie bedient sich einer Fülle von Möglichkeiten.

Grundlegend ist die Distanzhaltung des Menschen von dem,

was er ironisiert: er steht ihm kühl und überlegen gegenüber, |#f0128 : 112|



zumindest tut er so. Schroffheit fehlt ihm, die Haltung

hat etwas Durchlichtetes und Gelöstes. Trotz des Versteckens

fehlt alles Geheimnisvolle, Klarheit herrscht. Vom Humor

trennt sie eben diese überlegene Klarheit, es fehlt ihr Glaube

und Liebe, das Gemüthaft-Beschauliche. Man kann eine objektive

und eine subjektive Ironie unterscheiden. Freilich

sind diese Ausdrücke etwas unklar. Mit jener meint man bereits

eine Art Weltsicht auf Grund dieser geistig-überlegenen

Haltung. Es erscheint hier so, als ob das herrschende Weltprinzip

sein geistiges Spiel mit den Menschen, besonders mit

den übermütigen und eingebildeten, spiele. So färbt sich

eben dem ironischen Menschen die Welt. Von hier aus kann

sogar das Spielerische schwinden, wenn sich furchtbare Zusammenhänge

auftun. In der Sprachgebung enthüllen sich

dann plötzlich Hintergründe, die ursprünglich nicht in den

Worten zu liegen schienen. So wenn Wallenstein sagt: »Ich

gedenke einen langen Schlaf zu tun«, und nur denen, die den

ganzen Zusammenhang erfassen, aufgeht, welch unheimlichen

Sinn das Wort »Schlaf« bekommt. Wir sprechen hier

von tragischer Ironie, die eigentlich schon über den strengen

Sinn des Wortes hinausgeht. Man kann sich auch selbst ironisieren,

sich selbst kraft seines Geistes in seiner Hinfälligkeit

bloßstellen. Das wäre dann subjektive Ironie. Wieder anders

ist die bekannte romantische Ironie: das freie Spiel des Geistes,

der eben nur in dieser Haltung das Ganze der Welt überblicken

und zusammenzwingen kann. Ironie kann dann endlich

sogar Selbstbewahrung des Geistes gegenüber dem Bedrohlichen

des Lebens werden, so vor allem bei Thomas Mann.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, der Ironie sprachliche

Gestalt zu geben und sie damit ins Sprachkunstwerk einzuführen.

Voraussetzung ist dabei eine reich gegliederte und

ausgebildete Sprache. Ironie kann schon deutlich werden

durch Wiederholung besonderer Ausdrücke, so in der berühmten

Rede des Antonius an der Leiche Cäsars in Shakespeares

Drama: das Wort von den »ehrenwerten Männern«

wird mit jeder Wiederholung vernichtender. Hier ist zugleich

deutlich, daß eines der häufigsten Mittel der Ironie der

scheinbare Ausdruck des Gegenteils ist. Oder man gebraucht |#f0129 : 113|



einen schwächeren Ausdruck, der aber gerade im ganzen

Zusammenhang in seiner Lächerlichkeit für diesen Fall deutlich

wird und den betreffenden Menschen dann dadurch

bloßstellt; so wenn man etwa einen abgefeimten Betrüger

einen »geschickten Rechner« nennt. Immer ist Ironie in der

sprachlichen Gestaltung ein leises Verstellen oder Verbergen

aus bewußter geistiger Überlegenheit, wodurch aber gerade

das Betreffende in seiner Bedenklichkeit oder Wertlosigkeit,

nicht grob zutappend, bloßgestellt wird.



Von der Ironie sind der Sarkasmus und der Spott zu trennen.

Auch in diesen beiden Haltungen stellen wir etwas oder jemanden

bloß, der sich in unseren Augen oder tatsächlich zu

hoch einschätzt. Aber beide haben eine Schärfe, die über die

Ironie hinausgeht. Der Spott ist derb, er ist schon auf frühen

Kulturstufen durchaus möglich, findet sich schon bei Homer

und in der Edda. Er kann infolge seiner Handgreiflichkeit

auch volkstümlich sein. Er vernichtet durch Lächerlichmachen

in ganz unverhüllter Weise. Sarkasmus aber ist

wieder so wie Ironie geistiges Spiel, doch man spürt die

Schärfe eines Menschen dahinter, der nicht über dem Ganzen

steht, sondern affekthaft davon betroffen ist.



Die inneren Haltungen von Ironie, Spott und Sarkasmus

führen nun zu einer Weltsicht, die der tragischen vielfach

entgegengestellt wird, zur Komik. Auch sie ist eine Art, die

Welt oder Weltausschnitte zu sehen. Komik wird ein Mensch

aus bestimmter Haltung heraus in der Welt entdecken, es

wird ihm so etwas komisch erscheinen. Wieder sind nicht so

sehr reale Gegebenheiten selbst komisch, sie werden es erst

in der Auffassung durch einen besonders gestimmten Menschen.

Freilich kann die Art von Tatbeständen, ebenso wie

bei der Tragik, solcher Auffassung mehr oder weniger entgegenkommen.





Die Besinnung auf das Wesen des Komischen setzt etwa

im 17. Jahrhundert ein. Besonders haben sich dann Kant und

Jean Paul damit abgegeben. Später hat sich die Romantik

theoretisch mit der Komik befaßt. Von diesem Zeitpunkt

an entfaltet sich die Theorie des Komischen in breitem Strom,

der hier nicht genauer betrachtet werden kann.

|#f0130 : 114|



Die Ausgangslagen komischer Weltauffassung sind verschieden.

Wenn wir auf den Humor zurückblicken, können

wir sie klar ins Auge bekommen. Zwei Züge vor allem

ändern die Haltung des Humors in einer Weise ab, daß komische

Weltsicht entstehen kann. Der eine ist die Teilnahmslosigkeit;

der humorvolle Mensch wendet sich dem, was ihn

zum Lächeln bringt, was ihn heiter stimmt, mit gemüthafter

Aufgeschlossenheit, ja mit Liebe zu. Sobald aber überlegene

Distanz eintritt, eine gewisse Teilnahmslosigkeit gegenüber

dem Verspotteten, ist der Weg zur komischen Weltsicht

betreten. Der andere wird deutlich, wenn das Lachen mit

jemandem, das Lächeln über etwas schwinden, wenn nun

ganz deutlich etwas oder jemand lächerlich gemacht wird.

Der sprachliche Gehalt der Worte lachen, lächeln, lächerlich

ist ein feiner Wegweiser für diese Dinge. Das Spiel der geistigen

Überlegenheit ist hier ganz deutlich. Die Haltungen

des Spottes, der Ironie, des Sarkasmus treten nun in den Vordergrund,

und mit ihnen bildet sich das Komische. Es darf

nicht verkannt werden, daß geistiges Spiel auch Ausdruck

übermütiger Lebenslust sein kann. Daraus erwachsen auch

komische Schöpfungen, etwa in der Antike schon der dickbäuchige

Satyr mit dem übergroßen Phallus.



Auch das Komische ist in seinem Wesen nicht ganz einfach

zu fassen. Wir beginnen mit drei Beispielen. Ein Mensch

guckt in die Sterne und fällt dabei in den Graben: das ist

komisch. Der Dorfrichter Adam ist in seiner ganzen Erbärmlichkeit

bloßgestellt und läuft zur Tür hinaus: auch das ist

komisch. In der Ilias (1. Gesang) stehen die berühmten Verse:



»Nun erhoben unsterbliches Lachen die seligen Götter,

Als sie Hephaistos erblickten, wie dieser den Saal durch    schnaufte.«




Das Wesentliche, was da zum Lachen reizt, ist im ersten Fall

der Widerspruch zwischen dem idealen Trieb des Menschen

und seiner irdischen Hinfälligkeit, im zweiten der Widerspruch

zwischen dem angemaßten Amt und seinem Anspruch

einerseits und der menschlichen Erbärmlichkeit des Trägers

andererseits, im dritten der Widerspruch, der darin liegt, daß |#f0131 : 115|



Götter über einen Gott lachen, und daß dieser Gott angestrengt

schnaufen muß, da er ja hinkt.



Diese Beispiele führen uns auf das Wesentliche. Zunächst

ist deutlich, daß etwas Unerwartetes geschieht. Dieses Unerwartete

besteht in einem plötzlich geoffenbarten Widerspruch.

Er ist von bestimmter Art: etwas tritt aus der gesetzten

Ordnung heraus, besteht für sich, ist einfach da: das erwartete

Schweben des Idealisten über der Erde wird durch den Fall

in den Graben verdrängt, dieser Fall macht sich aufdringlich

breit, genau so der davonlaufende Richter, der hinkende und

schnaufende Gott. Das Komische fällt aus dem Rahmen der

gegebenen, erwarteten, geheiligten Welt heraus und besteht

nun fraglos und aufdringlich außerhalb des Rahmens. Zwei

Ebenen prallen aufeinander, und zwar in bestimmter Reihenfolge:

zuerst die Ebene des Geordneten, Üblichen, Erwarteten,

dann die Ebene einer unerwarteten, aber sehr aufdringlichen

Tatsache, die sich mit voller Anschaulichkeit breit macht.

Nur beim Aufeinanderprall in dieser Reihenfolge entsteht

das Komische, je größer die Fallhöhe, desto stärker die Komik.

Die Fallhöhe und der damit entstehende Widerspruch

kann auch sprachlich allein gestaltet sein. In Nestroys Judith-

Parodie heißt es über Holofernes:



Aber sehr frugal speist der Holofernes,

Nur ein Huhn mit Salat und ein Schnitzel, ein kälbernes.


Der Widerspruch zwischen dem mächtigen Holofernes und

dem Reimwort offenbart eine enttäuschte Erwartung, aber

das »Kälberne« tritt, verursacht durch das Wortmaterial des

zweiten Verses, mit arroganter Selbstverständlichkeit auf.

Im unerwarteten Fall, im aufklaffenden Widerspruch wird

zugleich immer die Entlarvung eines sich werthaft Gebärdenden

offenkundig. In diesem Entgleisen der verschiedensten

Art wird die Schwäche eines Menschen peinlich deutlich,

seine Nichtigkeit enthüllt, der mit dem Schein des Bedeutenden

Auftretende in seine Bedeutungslosigkeit zurückgestoßen.

Die menschliche Nichtigkeit kann in verschiedenen

Bereichen liegen, in körperlichen Mängeln, in sittlichen oder

intellektuellen Schwächen. Zwei Seiten sind noch zu beachten. |#f0132 : 116|



Die komische Wirkung hört sofort auf, wenn aus

dem Fall Ernst wird; wenn sich also Adam das Leben genommen

hätte, weil er die Schande nicht erträgt (das will

sogar der Gerichtsrat Walter verhindern, ein deutliches Zeichen

der Einsicht Kleists) oder wenn sich der Sterngucker das

Genick gebrochen hätte. Und ein weiteres: der komische

Bereich verbleibt immer ganz im Innerweltlichen, es fehlt

jede Transzendenz. Unsere Reaktion auf das Komische ist

das befreiende Lachen, dadurch wird die widersprüchliche

Situation bewältigt. In ihm eben offenbart sich die geistige

Überlegenheit, durch die wir Herr einer Lage werden, die

für uns Menschen ja meist etwas blamabel ist.



Eine merkwürdige Verbindung liegt in der Tragikomik

vor. Der Ausdruck ist nicht eindeutig. Man meint damit oft

das unverbundene Nebeneinandertreten von Tragik und

Komik in einer Dichtung. Das kann Ausdruck innerer Unruhe

und Zerrissenheit sein, aber auch ein weitgespanntes

Vermögen offenbaren, die Welt in ihren Möglichkeiten zu

sehen, in unheimlicher Zwielichtigkeit das Tragische und

Komische in ihrer Struktur zugleich aufleuchten zu lassen.

Geschichtlich bedingt ist der Gebrauch für die bürgerliche

Tragödie im 18. Jahrhundert: denn Bürgerliches konnte

nach damaliger Ansicht nur komisch gesehen werden, auch

wenn Erschütterndes einfließt. Wichtiger aber sind drei

tiefer führende Möglichkeiten, in denen sich Tragisches und

Komisches verbinden können. Die eine ist das Umschlagen

echter Tragik in Komik. Es ist dann so, daß vielfach Komik

das tragische Geschehen begleitet und in gewissen Augenblicken

völlig durchbricht. Wir finden das vor allem in den

Narrengestalten in den Tragödien Shakespeares. Der Dichter

reißt damit eine andere Sicht auf die Welt auf, sie erscheint

plötzlich in grellem komischem Licht. Auf solchem Hintergrund

wirkt dann das Tragische um so erschütternder. Die

andere liegt vor, wo Komik plötzlich tragische Auswirkungen

hat. Wir haben das schon angedeutet, wenn wir sagten,

daß die Komik aufhöre, wenn die Folgen des komischen

Falles ernst würden. Bis zu einem gewissen Grad ist ja auch

der Ausgangspunkt des »König Lear« komisch: ein schrulliger |#f0133 : 117|



Alter, der sein Reich aufteilt, und noch dazu nach den

Liebesbeteuerungen der Töchter. Aber sofort überwältigt

hier die Tragik das Komische. Anders wäre es, wenn nach

all dem Vorangegangenen es plötzlich mit dem Dorfrichter

Adam doch noch ein erschütterndes Ende nähme. Die dritte

Möglichkeit bringt uns sogar eine für sich bestehende Grundhaltung

nahe, die immer zu beobachten ist, aber sich seit

dem 19. Jahrhundert vordrängt: das Ineinander von Tragik

und Komik. Die Welt erscheint uns in solcher Sicht eigenartig

schillernd: Komisches läßt uns plötzlich Tragisches

ahnen, tragische Zusammenhänge können zugleich komisch

beleuchtet sein. Die Urgespaltenheit der Welt wird in einer

Art Desorientierung greifbar, mit der wir ihr gegenüberstehen,

Komik und Tragik werden zwei Seiten einer Auffassungsweise.

Tragikomik oder überhaupt das Zusammentreffen

von Tragik und Komik gibt uns also einen Blick in

die Strukturmöglichkeiten des Menschen und der von ihm

erfaßten Welt.



Eine besondere Form der Komik ist die Satire. Wir denken

hier noch nicht an eine bestimmte Dichtungsart dieses Namens,

sondern eben an die ihr zugrunde liegende Haltung.

Der Ausgang ist das Bedrängende des Allzuwirklichen und

Allzumenschlichen. Die schöpferische Antwort darauf, also

auch die Bewältigung dieses Bedrängenden geschieht in komischer

Haltung, durch Komik. Aber dazu tritt noch ein

wesentlicher Zug: das Lächerlichmachen mit beißendem

Spott. Zur geistigen Überlegenheit tritt hier noch der Angriff.

Die Karikatur ist nun schon eine bestimmte Gestaltung

aus satirischer Haltung: die Überbelastung mit negativen

Zügen. Aus diesen Grundhaltungen erwachsen dann zwei

bestimmte Dichtungsformen, die wir erst später, eben als

Dichtungsarten zu beleuchten haben: die Parodie und die

Travestie.



Eine letzte und in neuester Zeit viel beachtete Auswirkung

betonter geistiger Überlegenheit ist das Groteske. Man hat

es früher vielfach in Zusammenhang mit der Komik gebracht.

Wir erkennen aber heute, daß es sich mit ihr nur teilweise

deckt. Das Groteske ist nun schon vor allem eine Art künstlerischer |#f0134 : 118|



Gestaltung. Doch liegt auch solcher Gestaltung eine

innere Haltung bestimmter Prägung und eine besondere

Weise, die Welt zu sehen und aufzufassen, zugrunde. Während

aber vor allem Tragik, aber auch Komik, ihre wichtigsten

und wirkungsvollsten Gestaltungsmöglichkeiten in der

Dichtung und nicht so ausgeprägt in der Musik, Malerei und

Bildhauerei, schon gar nicht in der Baukunst finden, ist das

Groteske überall zuhause. Daher hat Kayser in seinem Buch

über das Groteske zur Dichtung auch die Malerei herangezogen

und sehr lehrreiche Bildbeilagen gegeben.



Das Groteske entfaltet sich mit Vorliebe an bestimmten

Motiven. Man sieht gerade sie immer wieder aus einer bestimmten

Haltung und erfaßt die Welt als eine Anhäufung

solcher Motive: Monströses (Fabeltiere, Fledermäuse, gewisse

Pflanzen), auch Geräte, die ein gefährliches Eigenleben

bekommen (Flugzeuge als riesige Libellen, Tanks als Tierungeheuer),

Puppen, Automaten und endlich der Wahnsinn

in all seinen Erscheinungen. Daraus ergibt sich das Wesentliche

des Grotesken. Es ist eine entfremdete Welt. Die Kategorien

unserer Weltorientierung versagen. Einer solchen entfremdeten

Welt gegenüber droht der Mensch seine innere

Sicherheit zu verlieren, seine Wertungen werden zweifelhaft,

er gerät in eine ambivalente Haltung. Dazu kann dann ein

satanisches Lachen treten, das das Groteske noch erregender

macht. Damit wird nun deutlich der Sinn der künstlerischen

Gestaltung des Grotesken greifbar: es ist eine Befreiung von

dem Alpdruck des Grotesken. Im Gestalten bewältigt man es.

Damit kann man geradezu definieren: »Die Gestaltung des

Grotesken ist der Versuch, das Dämonische in der Welt zu

bannen und zu beschwören« (Kayser). Dieser Bestimmung

gegenüber kann man allerdings fragen: ist die gestalterische

Bändigung der entfremdeten Welt in der Groteske, das heißt

eben als entfremdeter Welt, die einzige Möglichkeit, sie zu

bannen, sich von ihr zu befreien. Es ist geschichtlich eigenartig,

daß vielfach gerade in Zeiten, wo die Welt auch grotesk

gesehen wurde, wo also auch eine groteske Kunst entstand,

auch hohe Kunstwerke ganz anderer Art geschaffen wurden.

Neben der grotesken Kunst vom Ende des 15. bis ins 17. |#f0135 : 119|



Jahrhundert steht ─ vielfach in denselben Ländern ─ die Kunst

eines Dürer, Raffael, Michelangelo, Rembrandt. Und zwischen

den grotesken Zügen in der Dichtung des Sturm und

Drang und der Romantik steht die deutsche Klassik, die uns

doch auch vom Verwirrenden der Welt um uns zu erheben,

also zu befreien vermag. Damit kommen wir in eigenartige

geistesgeschichtliche Betrachtungen. Wie nicht alle Epochen

tief tragisch erleben, so auch nicht alle grotesk. Es ist sicher,

daß Zeiten gewaltiger Erschütterungen äußerer und innerer

Art zu solchen Haltungen drängen. Das Groteske, die Neigung

zu ihm und seine Gestaltung sind der lauteste und eindringlichste

Widerspruch gegen jeden Rationalismus und

gegen jede überwölbende Systematik des Denkens. So erklärt

sich sein Vorkommen gerade in Zeiten überragender systematischer

Leistungen, wie wir sie in wissenschaftlichen, philosophischen

(Spinoza) und auch künstlerischen Werken (Sixtinische

Kapelle, Barocktheater) finden, als Gegenwirkung

dazu. Oder als Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung

in der ganz Europa umfassenden und oft als europäische

Romantik bezeichneten irrationalen Bewegung um

die Wende zum 19. Jahrhundert. Auch das ist verständlich,

daß der Positivismus des 19. Jahrhunderts mit seinem Fortschrittsglauben

groteskes Erleben zurückdrängt. Der Durchbruch

einer neuen grotesken Welle erfolgt in den Nöten und

»Errungenschaften« unserer Zeit. Doch darf nicht verkannt

werden, daß das Groteske betont menschlich ist, rein geistiges

Erfassen, ja sogar deutlich geistig-herrschsüchtige Züge aufweisen

kann. Nicht immer erlebte man das Groteske gleich.

Frühere Zeiten sahen mehr das Grobkomische und Karikaturistische

in ihm, wir mehr die Verfremdung. Mag sein, daß

die Ästhetik des frühen 19. Jahrhunderts weniger tief in diese

Haltung eindringen konnte als unsere Zeit. Noch ein letzter

Blick auf die Moderne sei hier gestattet. Wir haben gerade

gesehen, daß in früheren Epochen das Groteske sich vielfach

neben hohen, wenn man will, idealen Kunstwerken entfaltet.

Finden wir das auch heute? Wenn nicht, wäre das nicht ein

Kennzeichen unserer Tage, das zu denken gäbe? Aber vielleicht

darf man in diesem Zusammenhang die vermehrte |#f0136 : 120|



Verehrung bestimmter Künstler und die Vertiefung (nicht

bloß wissenschaftlicher Art) in ihre Werke dagegenhalten:

Mozart, Bach, Goethe, Hölderlin, Stifter?



Das Groteske weist Übergänge in andere Haltungen auf.

Die zum Komischen sind ohne weiteres verständlich. Die

Widersprüchlichkeit, die Fallhöhe und gewisse Gestalten, die

komisch wirken, etwa die antiken Faune und Satyrn, führen

gerade ins Groteske hinein. Sogar zum Humor bestehen Beziehungen.

Beide Haltungen entspringen einem gewissen

Maß von Gesundheit und Lebenskraft, sie können daher aufeinanderstoßen.

Und sobald die grotesken Motive in eine

gewisse Distanz geraten, kann ihr Gewimmel von der Höhe

herab Heiterkeit erregen. Das Verrückte, das Verschrobene

wird klein, verliert das Bedrängende, und es kommt zum

heiteren Darüberschweben. Auch zur Tragik führen Wege.

Das Zerbrechen der menschlichen Ordnung, die wir im

Tragischen erleben, kann auch völlige Verfremdung werden.

Umgekehrt kann das Versagen der physischen Weltordnung,

wie es sich in den Motiven des Grotesken äußert, tiefe tragische

Erschütterung auslösen.



V

DAS WELTBILD DER DICHTUNG



Wir haben im ersten Teil (S. 47─52) die Frage erörtert, wie

Dichtung mit den geistigen Ordnungsleistungen (Religion,

Metaphysik, Weltanschauung, Sittlichkeit im Rahmen von

Welterfassung, Weltordnung und Weltgestaltung) zusammenhängt.

Wenn wir nochmals, nun unter anderen Gesichtspunkten,

die Frage nach dem Weltbild in der Dichtung aufgreifen,

so muß an das Grundsätzliche von früher erinnert

werden. Dichter sind nicht gleichgültig gegen Letztes in der

Weltordnung, weil auch sie die Tiefe der Welt erleben. In

Dichtungen öffnet sich diese Tiefe aber nicht als Erkenntnis, |#f0137 : 121|



sondern in der Gestalt solcher Kunstwerke scheint dieses

Tiefe durch; je vollendeter die Form einer Dichtung, desto

eindringlicher erscheinen in ihr die Gründe der Welt. Nur in

dieser Form sind in Dichtungen auch andere Wertgebiete

eingeordnet. Dichtung lehrt nie Weltanschauung, doch kann

sie durch die Verwesentlichung in ihrer Gestalt gleichsam

Lebens- und Leitbilder vor uns hinstellen. Wir dürfen in

Dichtungen nie philosophische »Richtigkeit« erwarten. Sie

ringen nicht um letzte Erkenntnis, sondern sie überzeugen

durch die Kunstgestalt. Sie setzen das Werk der Sprache fort:

schon in der Sprache baut der Mensch die geistige Welt auf,

die ihm die wirkliche ordnet und verstehbar macht oder mindestens

in ihrer Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit öffnet.

Die Dichtung setzt hier auf einem Weg fort, die Philosophie

auf einem anderen. Diese sucht über die sprachgebundene

Geisteswelt zu reinen Erkenntnissen vorzudringen, jene

die Tiefen der Welt durch noch vollendetere Gestaltung

erlebbar zu machen. Die Spannung zwischen der philosophischen

Wahrheit und der im Schleier der Dichtung greifbaren

bleibt bestehen: es ist die Spannung zwischen zwei

Weisen, die Welt zu erfassen. Dem philosophischen Streben

bleibt das Ringen um eine vielleicht nie erreichbare reine

Wahrheit, der Dichtung eignet eine vollendete Gestalt, die

wir als Schönheit bezeichnen dürfen; in ihr rundet sich ein

Weltbild, gleichgültig in welchem Umfang, das den Charakter

des Abschlusses hat. »Die nicht-ästhetische Wahrheitsfrage

hat einen anderen Sinn als die ästhetische, und beide

Fragen können nicht auf ein und derselben logischen Ebene

miteinander polarisiert werden. Das Wahre, das im Sinngefüge

des Schönen erscheint, ergibt sich einer anderen Situation,

einer anderen Ursprünglichkeit des Selbst- und Wertbewußtseins

als das Wahre im Sinngefüge des philosophischen

Satzes oder das Wahre im Kairos der religiösen Entscheidung«

(Holthusen).



Im folgenden bleiben wir bei der Frage nach dem Weltbild

der Dichtung und lassen die Frage nach Weltanschauung,

also nach einer Art aktiver Weltgestaltung, im Hintergrund.

Kann man von einem Weltbild der Dichtung reden? Muß |#f0138 : 122|



jedes kleinste Gedicht mit einem solchen in Zusammenhang

gebracht werden?



In jedem Gedicht, gleichgültig welchen Umfangs, wird im

weitesten Sinn eine Weltbegegnung eines schöpferischen

Menschen sprachliche Gestalt. Im kleinsten Volkslied ist ein

Schimmer oder ─ nüchtern gesprochen ─ ein Ausschnitt davon

spürbar. Denken wir an Uhlands Lied vom guten Kameraden.

Drei Motive klingen gerade in der Knappheit und Schlichtheit

der sprachlichen Form wunderbar zusammen: das tiefe

Glück der Menschengemeinschaft in der unauflöslichen Bindung

eines Ich ans Du; die Not und Gefahr des Lebens, die

zerstörend wirken kann; der Blick aufs Jenseits, das die Gemeinschaft

erst vollenden wird. Das trennt nüchtern, was vor

allem in der letzten Strophe voll zusammenklingt:



Will mir die Hand noch reichen,

Derweil ich eben lad:

Kann dir die Hand nicht geben;

Bleib du im ew'gen Leben

Mein guter Kamerad!


Im kleinsten ist hier geformt, was eine bestimmte Weltsicht

durchscheinen läßt. Ganz anders in Hesses »Glasperlenspiel«;

aber auch hier wird ein Weltbild lebendig, das uns bis ins

Letzte durchschauen läßt: auf die Spannungen und Zusammenhänge

zwischen dem Leben in seiner Fülle und der

geistigen Ordnung über ihm. Und wieder ganz verschieden

etwa Kleists »Penthesilea«. Jedesmal aber ist im dichterischen

Kunstwerk ein Stück Welt gestalthaft lebendig, das uns die

Tiefe der Welt erahnen läßt und sie aus einem Innersten

ordnet und fügt.



Schwer ist es, in theoretischen Mitteilungen das in einer

Dichtung lebende Weltbild zu beschreiben. Ausgangspunkt

auch jeder theoretischen Äußerung muß das volle Erleben der

Dichtung sein; in diesem Erleben der ganzen Fülle und des

inneren Reichtums eines Gedichtes geht uns auch sein Weltbild

auf. Wenn wir dieses Weltbild einer Dichtung allein in

den Blick bekommen wollen, um es zu beschreiben, bleibt

immer die Gefahr, daß wir vieles und Wichtiges dabei aussondern

und damit doch wieder das Weltbild als Ganzes |#f0139 : 123|



fälschen. Der Versuch, das Weltbild von seiner Gestaltung zu

trennen, ist in rein theoretischer Schau möglich, und damit

ergibt sich gleich eine andere Frage: wie gestaltet der Dichter

das Weltbild, wie verdichtet er es zu einem Gedicht? Diese

zweite Frage müssen wir für später zurückstellen. Hier

stellen wir bloß fest, daß man tatsächlich mit einiger Behutsamkeit

das Weltbild einer Dichtung beschreiben kann, man

muß sich jedoch immer deutlich vor Augen halten, daß es

sich hier nie um ein Erkennen im strengen Sinne des Wortes

handelt, sondern darum, daß wir einen tiefen Lebenszusammenhang

»schauen«. Dichtung gestaltet ein Weltbild auf ihre

Weise und mit ihren Mitteln. Unter diesen Voraussetzungen

kann man das Weltbild etwa des »Faust« oder des »Grünen

Heinrich« charakterisieren, kann seine Zusammenhänge,

seine Spannungen, Brüche, aber auch die Harmonie usw.

feststellen. Und daran anschließend kann man eine Dichtung

in die geistigen Zusammenhänge einer ganzen Epoche einordnen:

die geistesgeschichtliche Aufgabe der Literaturgeschichte;

diese Aufgabe ist also nur unter gewissen Voraussetzungen

berechtigt, aber dann durchaus.



Mit der Frage nach dem Weltbild einer Dichtung berühren

wir wieder und nun schon betonter die Wertfrage. Wir werden

in einem umfassenderen Zusammenhang sehen, daß der

Wert einer Dichtung uns immer nur in einer tiefen inneren

Erfahrung aufgeht: es ist ein Erlebnis, das mit einem Verpflichtungscharakter

verbunden ist. In ihm ist die Gültigkeit

des Wertes unmittelbar gegeben. Aber es ist der theoretischen

Überlegung immer möglich, Tatbestände und Zusammenhänge

herauszuarbeiten, die Bedingungen für das Werterleben,

also auch für den Wert sind. Sie machen an sich das

Gedicht usw. nicht zu etwas Wertvollem, aber ohne sie wird

kein Wert in ihm aufleuchten. Nun ist es aber bedenklich,

wenn man die Fragen des Weltbildes für eine Wertung

heranzieht ─ Wertung als eine theoretische Formulierung des

unmittelbaren Werterlebnisses. Das Weltbild einer Dichtung

erschließt sich oft erst gründlicherem Eindringen, und erst,

wenn wir es erfassen, wird uns die innere Höhe des Gedichts

greifbar, und erst dann vielleicht geht uns sein Wert ganz auf. |#f0140 : 124|



Aber zugleich kann die Betrachtung des Weltbildes uns auch

blind für die künstlerischen Eigenarten machen ─ und damit

würden wir die Wertung des Werkes völlig verfehlen.

Erfassung des Weltbildes ist also notwendig, aber zugleich

gefährlich, besonders wenn es zu sehr als für sich bestehend

von der künstlerischen Seite abgetrennt wird.



Unter diesen Voraussetzungen müssen die folgenden Beobachtungen

stehen: Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß

die angeführten Gegensatzpaare von Eigenschaften des dichterischen

Weltbildes zugleich einen Wertunterschied ausmachen

und wo der höhere Grad an Werthaftigkeit liegt. Auch sei

betont, daß zwischen diesen Polen Übergänge denkbar sind.

Die Möglichkeiten, die sich aus der Kombination dieser

Gruppen ergeben, seien nicht im einzelnen betrachtet, sie sind

ohne weiteres ableitbar. Wir unterscheiden in bezug auf das

dichterische Weltbild vor allem vier Merkmale, die sich je in

Gegensatzpaare aufgliedern: 1. Umfang und Knappheit. Damit

meinen wir, daß ein Roman, etwa »Wilhelm Meister« oder

»Don Quijote«, mehr Stoffliches einfügen kann als ein

kleines Gedicht. Man wird diese Tatsache bei der Wertung

immer berücksichtigen, aber zugleich beachten müssen, daß

Umfang gegenüber Knappheit noch kein Werturteil an sich

zuläßt. Ein Wertvergleich zwischen einem Gedicht und einem

Roman auf Grund des verschiedenen Umfangs ist unmöglich,

ja lächerlich. Hier schaltet sich als wichtiger ein zweites Paar

ein. 2. Weite und Enge. Wir stellen etwa Goethes »Faust« und

Mörikes »Septembermorgen« gegenüber. In der Faustdichtung

entfaltet sich ein ungeheurer Reichtum von Erlebnissen, nach

den verschiedensten Richtungen wird die Welt gesehen, in

der verschiedensten Weise wird sie in dieser Dichtung geordnet.

Man dringt hier von einem großen Kreisbogen aus in

die Mitte der Welt, die beleuchtete Fläche der Welt ist weit.

In Mörikes Gedicht ist von einer ganz engen Stelle aus, von

einem Punkt der Landschaft, in einem jahreszeitlich und tageszeitlich

bestimmten Augenblick ein Blick in die Welt getan:

nur von einem Punkt gleichsam der Peripherie wird die Mitte

angeleuchtet, ein Strahl, keine Fläche. Die menschliche Überwältigung

durch eine Dichtung mit weitem Weltbild wird |#f0141 : 125|



größer sein als durch eine mit engem. Aber ein Wertvergleich

unbedingter Art ist auch hier nicht möglich. 3. Unsicherheit

und Wohlgegründetheit des Weltbildes. Wir berühren damit

einen Gegensatz, der gerade in neuester Zeit Beachtung

findet. Es gibt besonders in unserem Jahrhundert ─ wenigstens

sind sie hier besonders deutlich greifbar ─ eine Gruppe von

Dichtungen, die durch folgende Züge ihres Weltbildes gekennzeichnet

sind: es ist voller Widersprüche nicht nur in dem

Bestand der Gegebenheiten, die geordnet werden, sondern

auch in der geistig-sprachlichen Ordnung selbst; das Unbewußte

wertet anders als der klare Verstand, aber es kommt zu

keiner Überwölbung und vor allem zu keiner Entscheidung.

Es bleibt bei einem mannigfaltigen Sowohl-Als-Auch. In

solchem Weltbild drückt sich Wertunsicherheit aus. Sie führt

weiter zur Zertrümmerung einer Werte-Ordnung mit klarem

Aufbau und zur Unentschiedenheit des Menschen. Man

spricht von Ambivalenz. Besonders die Gestalt des Ulrich in

Musils »Mann ohne Eigenschaften« ist kennzeichnend für

diese Haltung und dieses Weltbild. Aber diese Unsicherheit

oder Ambivalenz als Unwert anzusprechen, birgt die Gefahr

der Voreiligkeit. Drei Möglichkeiten müssen ausgeschaltet

werden. Zunächst müssen wir zwischen Polarität und Ambivalenz

unterscheiden. Ein Weltbild kann durch den Zusammenstoß

von scharfen Gegensätzen gekennzeichnet sein. Wir

werden später sehen, daß hier eine Wurzel der Dramatik

liegt. Diese Gegensätze erfaßt der Mensch, er ordnet sie zu

einem widersprüchlichen Ganzen, dem er entgegensteht und

das er durchhält, ohne dadurch in seinem Innern selbst

zerrissen, d. h. unentschieden, schwankend zu sein. Dann ist

wohl zu unterscheiden, ob eine Gestalt eines Romans oder

eines Dramas etwa diese Züge der Wertunsicherheit und

daher der inneren Auflösung zeigt, oder ob die Dichtung

selbst als Gestaltung eines Weltbildes diese Züge aufweist.

Und endlich kann auch diese Ambivalenz eine Art Durchgangsstufe

zu neuem Bau sein oder überhaupt durch eine

besonders weite Sicht auf das Weltganze überwölbt werden.

Das finden wir vor allem im dichterischen Weltbild Goethes,

etwa im »Faust« neben dem »Wilhelm Meister«. Der schauende |#f0142 : 126|



und im dichterischen Gestalten ordnende Geist des Dichters

vermag alle Zweideutigkeiten, alles Sowohl-Als-Auch in

einem Höheren zu umfassen. Nur wenn eben keine wertende

Ordnung mehr gelingt, wenn in der Wertunsicherheit und

Zerrissenheit gleichsam wohlig das Ende erlebt wird, können

uns von diesem Standpunkt aus Bedenken gegenüber einer

solchen Dichtung kommen. Selbstverständlich kann erst dann

endgültig geurteilt werden, wenn auch die künstlerische Gestalt

selbst in dieses Zwielicht gerät, wenn also auch sie zu

schwanken beginnt. Freilich muß hier schon gesagt werden,

daß auch dieses Zerrissensein, dieses Schwanken in einem

kühnen Gestaltungsvorgang selbst wieder als eine Einheit

und Geschlossenheit erscheinen und dann eben doch wieder

klare Gefügtheit des künstlerisch ordnenden Geistes lebendig

werden kann. Dieser Ambivalenz im Weltbild steht gegenüber

die Wertesicherheit, die klare Geordnetheit, die Gegründetheit.

Sie liegt schon in der Struktur des Geistes, dessen

Schöpfung die Dichtung ist; sie zeigt sich weiter in der Eindeutigkeit

der sprachlichen Bilder, in der Eindeutigkeit der

Symbole; dann in der Harmonie und Einheit des sich offenbarenden

Weltbildes trotz allem Reichtum und aller Gegensätze

oder eben in der Tatsache der Urwidersprüchlichkeit.

Endlich gehört dazu auch das Verhaftetsein im Ursprunghaften

sowohl der seelischen Tiefen und Kerne als auch im Kosmischen,

indem eben die Welt von Anfang an als Ureinheit

noch immer ahnbar und schaubar bleibt. Auch diese Kennzeichen,

die Pongs auch als Einfalt bezeichnet, sind an sich

noch nicht wertig oder unwertig. Jeder Zug kann wertlos

oder wertvoll sein. Die Gegründetheit der Struktur des

Schöpfers kann auch Enge bedeuten, die Eindeutigkeit der

sprachlichen Bilder und Symbole auch Ärmlichkeit des Gehalts,

Harmonie und Einheit des Weltbildes phrasenhafte

Schönrednerei und das Verhaftetsein im Ursprünglichen Verbäuerlichung

und Versimpelung. Aber auch umgekehrt:

Gegründetheit kann Festigkeit und Stärke sein, Eindeutigkeit

der Bilder und Symbole Kraft und Geschlossenheit, Harmonie

und Einheit des Weltbildes überwölbende Größe und Weite

und das Verhaftetsein im Ursprünglichen tiefster Lebenszusammenhang. |#f0143 : 127|



4. Oberfläche und Tiefe. Hier ist der Wertunterschied

von vornherein gegeben. Ein gestaltender Blick, der

nur über die Oberfläche der gegenübertretenden Welt

gleitet, wird sicher auch liebenswürdige und heitere Züge, ansehnliche

Weiten und manchen Reichtum ins Werk einformen

können. Aber es fehlt eben das, was das ästhetische Werk zu

einem hohen Wertträger macht: das Durchscheinen der

Tiefen. Erst wenn man unter dieser Oberfläche das Große,

Harte, Feste, das Bedrohende und Furchtbare, das Ewige und

Dauernde zu spüren bekommt, sind Bedingungen für ein

starkes Werterlebnis gegeben. Gerade hier aber muß in der

Betrachtung der Dichtung darauf geachtet werden, daß es um

eine Oberfläche und eine Tiefe geht, die in der künstlerischen

Gestaltung allein da ist. Ein »philosophischer« Roman kann

schwere Probleme traktieren und doch als Kunstwerk oberflächlich

sein, weil solche »schwere Stellen« nur wissenschaftliche

Einsprengsel sind und das übrige Werk seicht dahinplätschert.

Und ein scheinbar harmloses und heiteres Dichtwerk

kann als Kunstwerk ungeahnte Tiefen enthüllen. Man

denke auch an den Unterschied zwischen Gustav Freytags und

Wilhelm Raabes Romanschaffen. Nochmals sei wiederholt,

daß diese Kategorien sich nur auf das theoretisch herauslösbare

Weltbild beziehen und daß damit noch nichts Endgültiges

über den Wert einer bestimmten Dichtung gesagt ist. Wir

werden noch öfter auf die Wertfrage stoßen.



Mit dem Weltbild der Dichtung und der damit verbundenen

Werthaftigkeit hängt auch das zusammen, was wir die

Erlebniskreise nennen. Man kann nämlich den Blick darauf

richten, was den Dichter zum Gestalten angereizt hat, was an

Weltstoff ihn ergriffen hat. Ganz äußerlich ist das der Stoff,

aber im dichterischen Kunstwerk ist er als solcher nie da, da

verbindet er sich mit der menschlichen Haltung des Schöpfers

zu einem Neuen. Wir nennen diesen Bereich, in dem das

Erlebnis ersteht, den Erlebniskreis. Welche Erlebniskreise das

sein können, ist für die Dichtungslehre nicht von großer Bedeutung,

wichtiger ist die Frage, wie weit von diesem Erlebniskreis

aus die Welt dichterisch umspannt und wie tief von

ihm aus die Gründe und das Ewige erhorcht werden können. |#f0144 : 128|



Das allein ist maßgebend für die Wertung des Gedichts von

seinem Erlebniskreis aus. Ohne Absicht auf Vollständigkeit

und Systematik seien im folgenden wichtige Erlebniskreise

angeführt, besonders auch solche, die manchmal wertenden

Mißverständnissen ausgesetzt sind.



Der Mensch ist ein unausschöpfbarer Antrieb zu dichterischer

Gestaltung. Eine Möglichkeit ist da neben all den vielen,

die die inneren Geheimnisse des Menschen überhaupt oder in

bestimmten Lebenslagen und Schicksalen betreffen, der

Stand, dem der Mensch angehört. In der Dichtung sind hier

vor allem zwei erwähnenswert: Arbeiterdichtung und Bauerndichtung.

Es handelt sich hier nicht um die Frage, ob der

Dichter selbst diesem Stand angehört, sondern daß die in der

Dichtung lebenden Menschen Arbeiter oder Bauern sind.

Mit dem Arbeiter meint man dabei den an die Maschine

gefesselten Menschen, wie ihn Lersch und Engelke sehen.

Solche Arbeiterdichtung ist geschichtlich und menschlich bedingt.

Man wirft ihr vor, sie lasse Weite und Tiefe vermissen.

Gewiß ist die Gefahr engen Blicks, auch die der überwuchernden

Tendenz gegeben. Aber so wie aus der stillen,

kurzen Liebe eines einzelnen Menschen der Dichter Blicke in

alle Höhen und Tiefen öffnen kann, ist das auch aus dem

Dasein, der Not oder der Kraft eines Arbeiters möglich.

Arbeitertum an sich stellt noch gar kein Kriterium für wertvolle

Dichtung dar, aber es schließt sie nicht aus. Genau so

mit der Bauerndichtung. Natürlich greift sie tiefer in die Geschichte

der menschlichen Gemeinschaften zurück. Auch

Bauerndichtung kann wertlos und bloße Tendenz sein. Aber

auch in den Blick des Bauerntums, das unmittelbar mit der

Erde in Beziehung steht, das mit ihr ringt, von ihr vernichtet

wird oder aus ihr Kräfte holt, kann eine weite und tiefe Welt

hereingeholt werden. Warum sollte das Schicksal eines Bergbauern

weniger welthaltig in der Dichtung gestaltet werden

können als das irgendeines großstädtischen Bürgers? Große

Beispiele beweisen es: Gotthelf, Hamsun, aber auch Waggerl,

nicht der von Hamsun lernende jüngere, sondern der zum

schönen Humor gereifte seiner Höhe. Es darf bei der Beurteilung

der Möglichkeiten wertvoller Arbeiter- und Bauerndichtung |#f0145 : 129|



─ ohne den Blick zeitlich auf die Gegenwart einzuschränken,

was ja eine allgemeine Poetik nie tun darf ─ nie

vergessen werden, daß in früher Zeit zum Beispiel die Helden-

und dann die Ritterdichtung, die doch beide aus der scharf

umgrenzten Sicht des Helden (z. B. Atlilied) oder des Ritters

(z. B. Iwein) erstanden sind, auch in die Hintergründe und

hohen Bereiche führen.



Auch der Lebensraum kann eine Fülle von dichterischen

Erlebnissen auslösen. Schon die Natur ganz allgemein: vom

Blümlein bis zur ewigen Sternenwelt finden wir, besonders in

der Lyrik, immer wieder dichterische Antriebe. Aber auch die

moderne Lyrik in ihren verfremdenden und grotesken Zügen

ist geschaffen aus schweren und beängstigenden Blicken in die

Unheimlichkeiten und Rätsel der Natur um uns. Man denke

an García Lorca, an Ungaretti, an Saint-John Perse, an Benn.

Enger ist schon der Blick auf die Landschaft, aber auch sie gestattet

Blicke ins Dauernde, Ewige. Die Meeresgewalten in

Storms »Schimmelreiter«, der Zauber der mitteldeutschen

Wälder, etwa im »Glasperlenspiel« Hesses, und die Unberührtheit

und Erhabenheit des Hochgebirges in Stifters Dichtungen.

Wenn dazu das Gefühl der Geborgenheit kommt, dann wird

es die Heimat. Selten wird die Großstadt als Heimat empfunden,

meist die kleinere oder das Dorf mit ihrer Umwelt.

Wieder zeigen große Dichter die Möglichkeiten eines tiefen

Weltbildes in solcher Dichtung: Gotthelfs Gestaltung des

Emmentals, Kellers Schweizer Heimatlandschaft, besonders

im »Grünen Heinrich«, Stifters Gestaltungen, aber auch ein

Gedicht wie Storms »Die Stadt«; sie alle verweisen uns ins

Innere und öffnen vom Engen einen Blick in die Tiefe. Freilich

kann gerade die Heimatdichtung zur Enge führen und

den Blick in die Tiefen verschließen. Das war das Schicksal

der Heimatkunst am Ende des 19. Jahrhunderts. Herausgewachsen

aus dem Widerspruch zu den Gefahren der Großstadt,

hat sie dann später bloß die gemütliche Enge zu ihrem

Lebensbereich gemacht. Aber von ihr aus dürfen Landschaft

und Heimat in ihren dichterischen Möglichkeiten nicht beurteilt

werden. Daß auch das wirbelnde Leben der Großstadt

ein unendlich reicher Lebensraum ist, der dichterische Blicke |#f0146 : 130|



in alle Tiefen und Weiten erlaubt, braucht nicht eigens betont

zu werden.



Ein anderer Erlebniskreis ist der Bildungsraum, in dem sich

der Mensch entfaltet, der ihm den Widerhalt gibt, an dem er

stark wird oder zerbricht: Familie, Sippe, Gemeinde, Stamm,

Volk, Staat, Kirche. Auch hier gilt das gleiche: es kann beim

engen oder oberflächlichen Blick bleiben, und das Gedicht

verliert an Wert. Oder es kann aus diesem Raum heraus die

Dichtung uns in die Weite und Tiefe blicken lassen.



Besondere Schicksale, die den Menschen treffen, werden in

mannigfacher Weise in der Dichtung Gestalt. Eines davon ist

der Krieg. Die zwei Weltkriege unseres Jahrhunderts haben

die Kriegsdichtung in scharfe Beleuchtung gerückt. Wir

denken hier nicht an Zweckdichtung, sondern an die Art,

wie der Krieg den einzelnen Menschen packt. Der eine fühlt

sich erschüttert und dem Untergang nahe, den anderen reißt

er zum Wesentlichen empor, wieder einen öffnet er erst recht

der Menschenliebe, andere der Gemeinschaft. Oder er erschließt

die Möglichkeiten des Unheimlichen, Wahnsinnigen

und Grotesken. Aber wir dürfen, um die Möglichkeiten des

Krieges in der Dichtung zu erkennen, nicht in unserem Jahrhundert

allein verweilen. Große Werke der Weltliteratur

haben uns gezeigt, welche tiefen menschlich-dichterischen

Gestaltungen aus seinem Erlebnis hervorgegangen sind: die

Kampfschilderungen der »Ilias«, der Durchbruch des Menschlichen

in Wolframs »Willehalm«-Dichtung, der Krieg im

Blick der Barockdichtung, besonders etwa in Grimmelshausens

»Simplizissimus Teutsch«, Kleists »Hermannsschlacht«

und Tolstojs »Krieg und Frieden«.



Dieses Werk führt uns zum Lebensraum der Geschichte.

Und auch da ist man mit Aburteilen rasch bei der Hand. Es

drängen sich bei der Wertung sofort Gestaltungsfragen auf;

denn in der Kunstform, die eine Geschichtsdichtung aufweist,

liegt das entscheidende Kriterium für ihren Rang. Wir

wollen hier aber noch den Blick auf das Weltbild aus dem

Geschichtsraum gerichtet halten. Die Mannigfaltigkeit der

Dichtungen, die aus der Geschichte gestalten, sei nur an einigen

Namen rasch angedeutet: Wallenstein, Jürg Jenatsch, |#f0147 : 131|



Kronenwächter, Waverley, Witiko, Krieg und Frieden,

Paracelsus. Man könnte vielleicht drei Richtungen sehen, in

die Weite und Tiefe eines Weltbildes aus Geschichtsdichtung

eröffnet werden. Geschichtliches ist für uns das Vergangene,

aber für Menschen dieser Vergangenheit ist es ihre Welt, ihr

Raum, ihre Zeit gewesen: also das Geschichtliche als Lebensraum

von Menschen. So verbindet sich der Reiz des Vergangenen

mit dem des Wirkenden zum Blick auf das Dauernde,

immer Wiederkehrende, Ewige im Menschengeschehen.

Das ist in Scotts Romanen und in Arnims »Kronenwächtern«

der Fall; aber in ganz anderer Weise auch in

Schillers »Wallenstein« und in C. F. Meyers »Jürg Jenatsch«.

Hier erleben wir die großen Mächte und unheimlichen Spannungen,

den Widerspruch von großem Einzelnen und Kollektiven,

die sittliche Fragwürdigkeit geschichtlichen Handelns,

die eben immer wieder in gewaltigen Ereignissen das

Menschenleben bestimmen. Ein zweites ist es, wenn der

Dichter aus Geschichtlichem, das heißt Vergangenem, auf das

immer vorhandene Wesenhafte durchstößt, wenn er auch aus

Vergangenem das Ewige, Dauernde einer Lebensform herausholt,

wie es Kolbenheyer im Paracelsusroman versucht. Das

dritte endlich: der Dichter gestaltet die Geschichte selbst: das

Werden, Leben, Vergehen von menschlichen Gemeinschaften,

die Kräfte, die treiben, und damit ein Stück ewigen

Kräftespiels der Welt. Zwei große dichterische Leistungen

dieser Art: Tolstojs »Krieg und Frieden« und Stifters »Witiko«.



Die vorangehenden Betrachtungen über die Wirklichkeit

und den Menschen in der Dichtung haben eines deutlich

gezeigt: es sind sehr wesentliche Zusammenhänge, ohne die

die Dichtung in ihrer Gesamtheit und Eigenart nie voll gesehen

werden kann. Dichtung gestaltet eine Welt und steht in

menschlichen Zusammenhängen. Welcher Art diese Welt ist,

wie sie gesehen wird, welche menschlichen Züge sich in der

Dichtung offenbaren, sind entscheidende Fragen. Aber eben

doch nur ein Fragenbereich.

|#f0148 : E132|

|#f0149 : E133|



DRITTER TEIL

DICHTUNG ALS GESTALT |#f0150 : E134|



I

ALLGEMEINE EINFÜHRUNG


Dichtung als ästhetisches Gebilde


Schon im Vorangehenden mußte wiederholt darauf hingewiesen

werden, daß alle Fragen nach den Zusammenhängen

der Dichtung mit der Wirklichkeit und dem Weltbild immer

nur im Hinblick auf die künstlerische Form des Dichtwerks

beantwortet werden können, daß Wirklichkeitsbezug und

Weltbild nicht nur aus dem sich ergeben, was in der Dichtung

gesagt wird, sondern vor allem auch daraus, wie es gestaltet ist.



Die Dichtung ist als Kunstwerk ein ästhetisches Gebilde.

Wir haben hier auf das zurückzugreifen, was schon im 1. Kapitel

des ersten Teils (bes. S. 15─20) betrachtet worden ist.

Mit einer knappen Wiederholung sollen einige neue Züge

verbunden werden.



Unsere Auffassung von »ästhetisch« hat nichts zu tun mit

Schönrednerei und Geschmäcklertum, nichts mit sogenanntem

Ästhetizismus. Ästhetisches Erleben ist eine besondere, vom

theoretischen und praktischen Verhalten deutlich abzuhebende

Art, die gegenübertretende Welt zu erfassen. Wir versenken

uns dabei in die Fülle eines Gegebenen aus einer bestimmten

inneren Haltung, in der alle seelischen Kräfte mitwirken und

die aus dem Tiefsten steigt. Das Gefühl spielt also hier eine

kennzeichnende Rolle. Wir denken dabei nicht an ganz individuelle

Gefühle eines Erlebenden, die aus seiner bestimmten

Situation beim Aufnehmen des Gedichts entstehen, auch nicht

so sehr an eine Gesamtstimmung, die uns überkommt, wenn

wir einem Kunstwerk gegenübertreten. Das grundlegende

Gefühl beim Erfassen eines Kunstwerks ist die ästhetische Lust.

Sie ist ihrer Art nach durchaus von den Lustgefühlen unterschieden, |#f0151 : 135|



die mit anderen Werten verbunden sind. Während

Wahrheit und Nutzen etwa auch ohne die Freude an ihnen

bestehen können, ist die Lust im ästhetischen Gebiet wertekonstituierend,

d. h. ohne sie kann der ästhetische Gegenstand

gar nicht in Erscheinung treten. Aber sie besteht etwa

nicht darin, daß die sinnliche Seite an einem Kunstwerk als

solche Lust weckt, also die ausgelösten Farben- und Tonempfindungen

(dazu gehören auch die Gehörseindrücke bei

der Sprache) usw., sondern sie setzt erst ein, wenn dieses

Gegebene unserer Schau Tieferes enthüllt, wenn es also als

Erscheinung (von etwas) wirkt. Die Freude am Erscheinenden

schließt den Drang nach dessen »Besitz« aus. Es hätte nichts

mit ästhetischer Lust zu tun, wenn wir uns am Besitz einer

Statue oder eines Gemäldes freuten. Das meint Kant mit dem

interesselosen Wohlgefallen. In der Tatsache, daß im Kunstwerk

etwas erscheint, ist dann der Weg geöffnet, daß im

ästhetischen Erleben andere höhere Werte aufgehen und eingefügt

werden. In der Tatsache, daß Dichtung in Sprache ins

Leben tritt und Sprache selbst schon ein geistiges Gebilde ist,

liegt der große Unterschied zu anderen Künsten. Denn das,

was man als ästhetische Schau sehr leicht bei den anderen

Künsten (auch bei der Musik bei gehöriger Erweiterung des

Wortgehaltes von »Schau«) abheben kann, ist bei der Dichtung,

die ein Erfassen sprachlicher Gebilde zur Grundlage

hat, nicht so einfach zu umschreiben.



Was wir ästhetisch erleben, machen wir dadurch für uns zu

einem ästhetischen Gegenstand. Nicht jedes Stück der Außenwirklichkeit

ist gleich geeignet dazu; aber ein Baum kann

bald ein praktisches Gut, bald ein Erkenntnisgegenstand, bald

ein ästhetischer Gegenstand sein, je nach der inneren Haltung,

in der ihn ein Mensch erfaßt. Im ästhetischen Gegenstand

öffnet sich in seinem Erscheinen, in der Fülle und Gefügtheit

seiner Gebildehaftigkeit etwas Tieferes. Je reiner und vollkommener

dieses Tiefere im Gebilde selbst sich enthüllt,

desto reiner verwirklicht sich das dem ästhetischen Gebiet

zukommende Wertmerkmal der Schönheit. So haben wir es

genannt (S. 16) und sind uns dessen bewußt, daß wir den

Begriff damit sehr weit fassen und das Schöne nicht auf den |#f0152 : 136|



sogenannten »Inhalt« beziehen. N. Hartmann bestimmt das

Schöne so: »Als schön empfinden wir alles, dessen sinnliches

Äußere sich dem Betrachter als die einfache Äußerung eines

Innern anschaulich darstellt«. Aber das versagt schon wieder

gegenüber der Dichtung. Worin beruht in ihr das sinnlich

Äußere? Mit der bloßen Übernahme ästhetischer Einsichten

in die anderen Künste kommt man bei der Dichtung nicht

aus. Schon daraus ergibt sich die Wichtigkeit, uns der Dichtung

als sogenannter Gestalt in einer Poetik besonders zu

widmen. Am Ende dieses Teils werden wir vielleicht deutlicher

das dichterisch Schöne greifen können.



Alle menschlichen Werke, die rein den ästhetischen Wert

herausgestalten, sind Kunstwerke. In ihnen steigert sich das

Ästhetische in die reine Form, durch die reine Gestalt sehen

wir aufs Wesentliche, nicht durch rationale Abstraktion wie

im wissenschaftlichen Werk. Damit ist nichts über das Werden

der Kunst im Lauf der Geschichte ausgesagt. Geschichtlich

gesehen ist es wohl so, daß erst langsam mit der Ausgliederung

des menschlichen Geisteslebens bestimmte Leistungen

des Menschen sich aus ursprünglich praktischen (Handwerk)

und religiösen (Gottesdienst) Zusammenhängen lösen und

sich immer reiner als Kunstgebilde ausformen. Hier betrachten

wir die Dinge von dem Standpunkt aus, auf dem sich uns

menschliches Welterfassen und -gestalten rein seinsmäßig

(ontologisch) darbieten. Dabei ist noch auf einen sehr wesentlichen

Zug des Kunstwerks hinzuweisen. Schon ganz ursprünglich

erfaßt der Mensch die Welt, d. h. die Gesamtheit

dessen, was ihm gegenübertritt, aus seinem Tiefsten heraus:

nichts läßt ihn kalt. Und so wird dieses erste Weltbild auch

immer Züge des Menschen tragen, Kennzeichen der Haltung,

aus der er die Welt in sich geistig neu gebaut hat. Erst später,

vor allem in der theoretischen Einstellung, sucht der wissenschaftliche

Mensch diese persönliche Färbung des Weltbildes

zu entfernen und das reine Sein in den Blick zu bekommen.

Er versucht es zumindest! Aber gerade im ästhetischen Verhalten

wird bei der Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes

im Erleben oder im Schaffen eines Kunstwerks auf

keinen Fall auf den Einbau der innersten Haltung des Erlebenden |#f0153 : 137|



oder Schaffenden verzichtet; die Verwobenheit von

»außen« und »innen« ist wesentlich. Diese Tatsache, daß innerste

menschliche Einstellungen ins Kunstwerk hineingeformt sind,

wird für die Gewinnung des Stilbegriffs wichtig sein.



Man spricht mit Recht von einer Geschichtetheit des

Kunstwerks, also auch der Dichtung. Vom wahrnehmbaren

Gebilde bis zum tiefsten Hintergrund, der im Kunstwerk ahnbar

wird, wächst das Dichtwerk zur Einheit empor. Aber

gerade einer Dichtung gegenüber tut sich schon wieder die

Frage auf: was ist hier das sinnlich Gegebene? Doch sicher

nicht bloß der Sprachklang. Man spricht von der Anschaulichkeit

des sprachlich Dargestellten. Aber, wie wir sehen werden,

reicht das nicht aus. Wieder sind wir bei einem anderen

Ansatz als bei den anderen Kunstgattungen. Daher scheint die

Struktur hier wesentlich verwickelter zu sein als bei den

übrigen Künsten, wo man sagen kann, daß in ihnen in der

Materie der Geist erscheine. Denn die Sprache ist zwar auf der

einen Seite Materie, aber auf der anderen eben auch schon

Geist, in den Lautungsmöglichkeiten die neu aufgebaute

geistige Welt. Bis zu einem gewissen Grad könnte man also

schon die Sprache als ein Kunstwerk bezeichnen. Und dieses

Kunstwerk ist das Medium, der Raum der Dichtung; der

Ausdruck Materie wäre zu grobschlächtig. Aber auf der

anderen Seite steht die Tatsache der Verflachung, der Ökonomisierung

der Sprache als geistiges Alltagsverkehrsmittel des

Menschen. Wir erkennen: die anscheinend so einfache Formel,

auf der Spannung und den Bezugsmöglichkeiten zwischen

Materie und Geist, der in der Materie uns offenbar wird,

das ganze Gefüge eines Kunstwerkes theoretisch aufzubauen,

verwickelt sich bei der Dichtung sehr. Sie hat in der Sprache

schon ein bedeutendes Geistgebilde vor sich. Aber das bindet

sie in zweifacher Hinsicht: es ist bereits geformte Welt, also

nicht mehr ungestalteter Rohstoff, und sie ist andererseits der

Verflachung durch Gebrauch ausgesetzt. So zeigt sich immer

wieder, daß die Erkenntnis der Möglichkeiten und Werte der

Sprache für das Verständnis der Dichtung und ihrer Möglichkeiten

unerläßlich ist.



Dichtung ist ein vom Menschen geschaffenes Gebilde. Das |#f0154 : 138|



bedeutet zweierlei. 1. Als menschliches Werk gehört es dem

Bereich des Vergänglichen, der Geschichte an. 2. Als ästhetisches

Gebilde führt es uns aus dem Bereich der Realität durch

seine Gestalt ins Tiefere, Dauernde, Ewige. So gesehen sind

Dichtungen aus dem Fluß des Geschichtlichen enthoben, in

dem, was sie uns in ihrem Dasein als Gebilde offenbaren, sind

sie dauernd, ewig. Daß sie zerstört werden können, berührt

diese Seite ihres Wesens nicht.



Gehalt und Gestalt



Mit diesem in den dichtungstheoretischen Auseinandersetzungen

unseres Jahrhunderts wichtigen und umstrittenen

Wortpaar, das vor allem Walzel in die Debatte geworfen hat,

berühren wir eine Frage, die schon der bisherige Aufbau

dieses Buches nahegelegt hat. Denn immer wieder haben wir

im zweiten Teil darauf verwiesen, daß in all dem, was wir

über Wirklichkeit und Weltbild gesagt haben, die künstlerische

Gestaltung der Dichtung mitgedacht werden müßte. In

einer allgemeiner bekannten Formulierung dreht es sich um

Inhalt und Form. Bei einem Gefäß voll Flüssigkeit ist uns das

Begriffspaar verständlich. Das Gefäß hat eine bestimmte Form,

und die Flüssigkeit in ihm ist der Inhalt. Dabei zeigt sich schon,

daß der Inhalt die Form des Gefäßes annimmt und sogar auf

dieses Gefäß angewiesen ist. Ein Kuchen aber ist auf die Kuchenform,

den Model, nicht mehr angewiesen, wenn er einmal

gebacken ist, aber er behält die Form des Models. Schon

in diesen Äußerlichkeiten ergeben sich eigenartige Zusammenhänge.

Aber auch dem der Dichtkunst Beflissenen, vor

allem dem armen Schüler, der sich unterrichtsmäßig mit ihr

abplagen muß ─ es bleibe hier dahingestellt, ob das richtige

Hinführung zur Dichtung ist ─, ist dieses Begriffspaar nur zu

geläufig. Es kann sogar ─ horribile dictu ─ geschehen, daß er

den »Inhalt« des Mondlieds angeben und hinterdrein die Vers-

und Strophenform bestimmen muß. Steckt hinter diesem hoffentlich

doch bei den Haaren herbeigezogenen Mißbrauch aber

nicht etwas Richtiges? Man kann doch das Was eines Romans, |#f0155 : 139|



eines Dramas, einer Ballade und bis zu einem gewissen Grade

auch eines lyrischen Gedichts irgendwie von dem Wie, von

der Art, wie der Dichter die Geschichte erzählt, das Drama

aufbaut, sein Gefühl ausdrückt (das soll beileibe noch keine

Definition der Dichtungsgattungen sein!) unterscheiden:

Inhalt ─ Form.



Die Schwierigkeit beginnt schon beim Worte Form. Das

Wort hat die mannigfaltigsten Seiten in seinem Gehalt. Man

sagt, es habe eine Fülle von Bedeutungen. Die Geschichte der

Ästhetik und Poetik kann uns zeigen, was alles man mit

diesem Wort in der Kunstwissenschaft meint. Für den italienischen

Philosophen Croce ist Form Gehalt, Valéry betont

die formalen Gebilde, die der Engländer als patterns bezeichnet,

Eliot denkt an den schöpferischen Prozeß, Richards an die

psychologische Wirkung auf den Leser, Amerikaner unterscheiden

zwischen texture und structure, andere sehen in der

Form den inneren Zusammenhang, für Böckmann ist Form

Welterfassung, G. Müller und Oppel sehen in ihr einen

Organismus. Am radikalsten sind die russischen Formalisten:

für sie ist Form überhaupt das Prinzip des Kunstwerks, Inhalt

nur ein Aspekt der Form, für den der Dichter nicht verantwortlich

ist. Endlich hat auch die Unterscheidung von innerer

und äußerer Form die Gemüter der Theoretiker erregt. Das

ist nur eine Auslese! Was also ist nun Form?



Wir geben zunächst eine Übersicht über die wichtigen und

grundlegenden Bedeutungen dieses Wortes für die Dichtungsbetrachtung.

Ausscheiden wollen wir die Gleichsetzung von

Form mit Formung. Formung ist der Vorgang, der zu einer

Form führt, nicht diese selbst. Eine erste Bedeutung ist die

von Form der Materie, das ist einleuchtend und braucht

nicht weiter erklärt zu werden: jedes Stück Materie hat eine

Form, jeder Stein, jedes Holz usw. Auch für die Künste ist

diese Bedeutung verwendbar: Für eine Statue wird ein

Block Marmor in eine Form gebracht. Aber bei der Dichtung

besteht hier schon die Schwierigkeit, daß Sprache keine bloße

Materie ist, sondern schon geformte; denn ihre Gebilde sind

nach bestimmten Regeln angeordnet (Regeln der Biegung,

der Satzstellung usw.), aber das hat mit Formung von |#f0156 : 140|



Materie kaum mehr etwas zu tun. Im strengen Sinn dieser

Bedeutung könnte man das Wort hier nur für die bestimmte

Artikulation des »tönenden Luftstroms« verwenden. Damit

sind wir aber noch weit von Dichtung entfernt. Eine in der

angloamerikanischen Wissenschaft anzutreffende Scheidung

ist die von materials, das sind Elemente, die keine Bedeutung

für das dichterische Ganze haben, und structure, das sind die

für das Dichterische bedeutungsvollen Bestandteile. Aber

diese Scheidung überschneidet sich mit der von Inhalt und

Form. Sehr wichtig dagegen ist das Wort Form im Sinne von

Model, Gefäß, in das ein bestimmter Inhalt gegossen wird.

Dazu gehören schon die grammatischen Formen, also Model,

mit deren Hilfe und unter deren Zwang ein Stück Erfahrungswelt

sprachlich geprägt wird, also auch die Satzformen. Das

erstreckt sich nun auch aufs Gebiet der Dichtung. Sonett z. B.

ist ein solches genau bestimmtes sprachlich-metrisches Gefäß.

Diese Formen können dann gleichsam Leitbilder, Muster

werden, nach denen ein Dichter einen Stoff gestaltet: als

Novelle, als Fabel. Auch das kann man dazu rechnen, ob der

Ablauf des Gedichtes fließend ist, also mit unmerklichen

Übergängen, ineinander übergehenden Gliedern, oder unterbrochen,

stoßend, mit deutlichen Abschnitten, Pausen. Wir

können sagen: es bilden sich im Lauf der Zeit bestimmte

Formen heraus, an die sich Dichter bei ihrer Arbeit halten. In

diesem Sinn kann man auch das Ergebnis dichterischen

Schaffens als Form bezeichnen. Das Gebilde, das am Abschluß

eines Schaffensprozesses steht, ist eine Form. Endlich, so sieht

die Romantik das dichterische Schaffen, wird der Dichter

selbst das Organ, in dem sich eine Wirklichkeit offenbaren

will, »Offenbarungsorgan für Wirklichkeit« (O. Mann).



Eine wichtige Unterscheidung, die aber mit großer Vorsicht

zu verwenden ist, ist die von äußerer und innerer Form.

Zunächst meint äußere Form das, was unmittelbar in die

Sinne fällt. Für Dichtung, wenn sie (wirklich oder innerlich)

gehört wird, die gesamten Lautungseindrücke. Aber in ihnen

kann schon Tieferes enthalten sein. Wenn sie gesehen wird,

meint man das Druckbild. Diese äußerlichste Form ist nicht

ganz ohne Bedeutung: nicht bloß bei gewissen eigenartigen |#f0157 : 141|



Anordnungen lyrischer Verszeilen bei Hofmannswaldau,

Arno Holz, Apollinaire usw., sondern auch bei Hymnen

(Goethe, Hölderlin, Nietzsche); denn dieses Druckbild (tatsächlich

Formung der Druckerschwärze!) deutet an, in welchem

Rhythmus, in welcher Versbewegung der Dichter gestaltet

hat; in gewöhnlichem Prosadruck würde die Rhythmik,

die der Dichter hineinlegte, nicht ohne weiteres und sofort

heraustreten. Aber unter äußerer Form könnte man auch alles

verstehen, was wir gerade früher als Model bezeichnet haben.

Ob es Hexameter sind oder antike Odenstrophen, ob Prosa

oder Vers, ob Drama oder Roman. Das alles meint man mit

einer festgewordenen, durch Tradition üblich gewordenen

Form. ─ Nun aber die innere Form. Hier ist zu unterscheiden

zwischen innerer Sprachform und innerer Form der Dichtung.

Unter innerer Sprachform, über die sich die Gelehrten seit

Humboldt nicht einig werden können, so daß schon vorgeschlagen

wurde, den Ausdruck ganz zu meiden, versteht man

am besten und im Sinne Humboldts die Art, wie der Mensch

die Erfahrungswelt sprachlich erfaßt und prägt. Auf dem

Gebiet der Dichtung wird die Sache nun ganz verschwommen.

Denn man kann z. B. die Distichenform, also die abwechselnde

Verbindung von Hexameter und Pentameter, als

einen Model ansehen, also als äußere Form. Aber ebensogut

als innere; denn es kann in ihr eine bestimmte Schaffensart des

Dichters Gestalt werden, es ist die innere Formkraft, die das

Ganze zur Gestalt bändigt. Oder halten wir »Emilia Galotti«,

»Götz« und »Tasso« nebeneinander: man kann die Anlage in

Auftritte, Szenen und Aufzüge, die Zahl der Personen usw.

als äußere Form ansehen (sogar im Druckbild festgehalten),

aber auch als innere, wenn man an den schöpferischen Willen

denkt, der das Dichtwerk gerade zu solcher Gestalt hat gerinnen

lassen. Es bleibt also dabei, daß beide Begriffe relativ

sind.



Zur Form gehört der Inhalt, das, was geformt wird. Inhalt

ist ein korrelativer Begriff zu Form. Und doch: wie reich

auch der Gehalt dieses Wortes! Es kommt ganz darauf an,

von welcher Seite man ihn betrachtet. Gerade aber die verschiedenen

Gesichtspunkte, unter denen man das anschauen |#f0158 : 142|



kann, was da geformt wird, geben zu Verdeutlichung und Vertiefung

den Weg frei. Die dafür gebrauchten Ausdrücke bezeichnen

oft bei verschiedenen Forschern Verschiedenes. Wir

legen also ihre Bedeutung für dieses Buch fest. Der Stoff einer

Dichtung ist das außerdichterische Rohmaterial, die Ereignisse,

die Räume, die Personen, die irgendwie zur Dichtung

Anlaß gegeben haben (S. 66). Inhalt ist wohl das allgemeinste

Wort, es bedeutet im weitesten Sinne das, was in einem Gedicht

zu hören oder zu lesen ist. Die Handlung ist der Geschehniszusammenhang,

der in einer Dichtung gestaltet ist,

ihre Personen sind die sich dem Erlebenden vorstellende

Menschenwirklichkeit einer Dichtung. Wie aber der Dichter

diese Handlung durchführt, die Personen ihren Weg gehen

läßt, also der bereits geformte Stoff, ist die Fabel (S. 66). Ein

Stoffteil aber, der in der dichterischen Verarbeitung zu einer

treibenden, sinnvollen Kraft, zu einem bauenden Glied wird,

ist ein Motiv (S. 85). Formeln dagegen sind festgewordene,

immer wieder verwendbare sprachliche Prägungen in einer

Dichtung. Damit aber bleiben wir immer noch gleichsam in

einer ersten Schicht dessen, was in der Gestalt einer Dichtung

erscheint, sich uns offenbart. Wenn wir das Tiefere im Auge

haben, die Hintergründe, das Wesenhafte, das sich im Dichtwerk

uns enthüllt, dann meinen wir den Gehalt. Er umgreift

alles an Inhalt, Handlung, Personen, Motiven usw., soweit es

eben das Tiefere, Wesenhaftere offenbar werden läßt. Suchen

wir diesen Gehalt auf eine klare rationale Form zu bringen,

gleichsam in knappen Worten auszusprechen, so kann man das

die Idee der Dichtung nennen. Freilich, je mehr wir diese Idee

auf eine Formel bringen wollen, desto mehr entgeht uns

schon am Gehalt der wirklichen Dichtung, weil eben dieser

Gehalt nur in einer dichterischen Gestalt lebendig wird. Sonst

könnte man ja auf den Einfall kommen, die »Iphigenie« als

philosophische Abhandlung aufzuzäumen und die »Kritik

der reinen Vernunft« dichterisch darzustellen.



Dem Gehalt stellt man, auch schon durch die lautliche

Prägung, die Gestalt als korrelativen Begriff gegenüber. In

ihr wird ja der Gehalt Wirklichkeit, in ihr tritt er uns gegenüber,

nur durch sie lebt er. Wir sind nun wieder im Bereich |#f0159 : 143|



der Form angelangt! In diesem Bereich gibt es dann wieder

verschiedene Sichten, wie wir sie am Schluß dieser Betrachtung

zusammenstellen wollen. Die Zweiheit von Form und

Inhalt oder Gestalt und Gehalt ist nicht die einzige Betrachtungsweise.

Man hat die Zweiheit zu überwinden gesucht,

indem man das Zusammenwirken mehrerer Kräfte herausgehoben

hat. Spoerri sieht wie in jeder Verwirklichung so

auch im Kunstwerk und daher in der Dichtung einen Sinngehalt,

da der Geist im Schaffen sich auf ein vorschwebendes

Ziel richtet; eine Bewegungsgewalt, indem die innere Bewegung

der Seele mitwirkt; eine Bildgestalt, in der die

Stofflichkeit ihren Leib erhält. In solchem Blick wird auch

das Menschliche einer Dichtung deutlich. Eine ganze Fülle

von Seiten, die eine Dichtung bietet, verwebt Riezler zu

einem Ganzen: das Ganze einer Seele biete sich immer nur

in einer bestimmten Sicht, dem Eidos, der nun im Bild seine

feste Gestalt bekomme. Im Bild ersteht auch die sinnliche

Erscheinung, die dann im Werk, einem Ding der Außenwelt,

konkretisiert wird. So kann man den Weg vom Innersten

bis in die Werkgestalt verfolgen; man kann den Weg auch

umgekehrt gehen und wird sich dann der Schichtung bewußt,

die vom Wahrgenommenen bis in die tiefsten Gründe reicht.



Alle diese Scheidungen der Sichten, ob Zwei-, Drei- oder

Mehrteilung, dürfen eines nie außer acht lassen: jede Dichtung

ist eine unteilbare Einheit. Der Gehalt des Goetheschen

Mondlieds ist nicht anders zu erfassen als in seiner Gestalt, im

Rhythmus, im Lautklang, in den sprachlichen Bildern und in

der Satzbewegung. Die Menschlichkeit, in der wir den Gehalt

von Goethes »Iphigenie« sehen können, ist niemals in ihrem

Reichtum und in ihrer Tiefe zu erleben ohne den Bau dieses

Werks, ohne seinen Sprachzauber, ohne den Reichtum und

die gegenseitige Bezüglichkeit der Bilder, kurz ohne all das,

was man seine Gestalt nennt. Darin besteht nun die ganze

Schwierigkeit der Deutung, der Interpretation, aber auch

die Lösung der Schwierigkeit, was es nun trotz der Einheit

mit der Zweiheit Inhalt ─ Form auf sich habe.



Was im ästhetischen Gebilde, im Kunstwerk eine Einheit

ist, besonders auch für das Erleben, kann in der theoretischen |#f0160 : 144|



Schau auf ein ästhetisches Gebilde, und theoretisch ist auch

die Interpretation ─ sonst müßte man ja über die Dichtung

eine neue Dichtung schaffen ─, nur von immer neuen Seiten

erfaßt werden. Der Reichtum einer ästhetischen Einheit

spaltet sich für die theoretische Sicht notwendig in eine Vielheit.

Und da erweist sich: wenn schon diese Aufgliederung

der Sicht in theoretischer Einstellung notwendig ist, so ist

die Zweiteilung in Gehalt und Gestalt sehr ergiebig und einleuchtend.

Nicht die Dichtung ist eine Zweiheit von Gehalt

und Gestalt, sondern sie zerfällt uns dazu in theoretischer

Einstellung. Daraus ergibt sich zweierlei: 1. Die Ergiebigkeit

dieser doppelten Sicht für die theoretische Forschung an der

Dichtung, die in der Einseitigkeit je einer Gehalts- oder Gestaltästhetik

dogmatisiert wird. 2. Die große und dauernde

Gefahr jeder theoretischen Einstellung zu einem Kunstwerk ─

also auch dieses Versuchs einer Poetik ─, über die Sichten die

Einheit des Ganzen immer wieder zu verlieren; vor allem

deshalb, weil ja die Einheit nie in theoretischer Betrachtung

realisierbar ist, sondern immer nur im Kunstwerk selbst und

im tiefen und echten Erleben des Kunstwerks. Die theoretische

Betrachtung kann sich immer nur von allen möglichen

Seiten zu ihr herantasten.



Damit ergibt sich die Frage der Fachausdrücke. Es wird

nie möglich sein, Ausdrücke wie Form und Inhalt usw. zu

vermeiden, solange wir theoretisch den Geheimnissen des

dichterischen Kunstwerks nahekommen wollen. Und nie

wird es möglich sein, sie ganz scharf voneinander zu trennen.

Denn je schärfer die definitionsmäßige Trennung und gegenseitige

Inbezugsetzung ist, desto mehr befriedigt das die Logik

und die Wissenschaft, desto mehr aber trennen wir uns zugleich

von der Dichtung als Kunstwerk, die wir doch eben

erfassen wollen. Deshalb auch wird es schwer möglich sein,

die Fachausdrücke der verschiedenen Theoretiker aufeinander

abzustimmen. Nur das eine sollte gefordert werden:

Daß jeder einzelne die Fachausdrücke in einem ganzen Werk

in gleicher Weise verwendet. Denn sonst müßte an die

geistige Beweglichkeit eines Lesers zuviel Anspruch gestellt

werden.

|#f0161 : 145|



Daher seien die einzelnen Ausdrücke nochmals wiederholt

und kurz in ihrem hier verwendeten Sinn geordnet. Auf der

Seite des Inhalts: Stoff ist das Äußerlichste, noch gar nicht in

die Dichtung Eingegangene ─ Gehalt das Tiefe an Lebenssinn,

was sich uns in der Dichtung offenbart; die Idee der auf eine

Formel gebrachte Gehalt. Auf der Seite der Form: Form bleibe

der weiteste Ausdruck für alles, was der Dichter an formender

Arbeit geleistet hat. Mit Gestalt und Gebilde heben wir

mehr den inneren Reichtum und den Zusammenklang dieser

Form heraus. Gestaltung läßt uns an den Schaffensvorgang

denken, der irgendwie ja auch im Werk aufbewahrt ist.

Dafür, daß in der Gestalt eine innere menschliche Haltung

lebendig wirkt und dauergeprägt ist, bietet sich im allgemeinsten

das Wort Gepräge. Denken wir mehr ans Sprachkunstwerk,

so sprechen wir von Stil, im Gesamten von Struktur.

Der Aufbau einer Dichtung steht im Blick, wenn wir

die Reihung und Aufeinanderfolge der Glieder betrachten,

ihre Bindung und ihren Zusammenklang betont mehr das

Wort Fügung. Viele dieser Ausdrücke gelten auch für menschliche

Werke, die keine Kunstwerke, keine Dichtung sind.

Bei der Betrachtung eines Kunstwerks müssen bei diesen

Fachausdrücken also immer sofort die besonderen Eigenarten

eines ästhetischen Gebildes, eines Kunstwerkes mitgedacht

werden.



Auch die Betrachtung der Gestaltungsmöglichkeiten der

Dichtung muß von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehen,

also wieder die Einheit der künstlerischen Form trennen

und einzelne Kräfte betrachten. Wir prüfen zuerst die

sprachkünstlerischen Möglichkeiten und dann den Aufbau

einer Dichtung als Ganzheit und Einheit. Erst dann können

wir versuchen, in einem Gesamtblick alles zusammenzufassen

und zu werten.

|#f0162 : E146|



II

DIE SPRACHLICHEN AUFBAUKRÄFTE


Sprachkunst und Stil



Die grundlegenden Feststellungen über die Sprache und

ihre Beziehung zur Dichtung sind schon im zweiten Kapitel

des ersten Teils gemacht worden; wir verweisen darauf

(S. 22─37). In der Sprache in allen ihren Seiten bringt der

Mensch seine gesamte Welterfahrung in eine feste Form. Sie

ist das Organ einer geistigen Welt, in der der Mensch den

Zusammenstoß mit der Außenwelt bewältigt. Wir haben

aber zugleich erkannt, daß in dieser sprachlichen Form auch

die innere Haltung, in der der jeweilige Akt der Welterfassung

geschehen ist, mit eingeprägt wird und bleibt. Erst

im Laufe der Entwicklung kann diese Seite an der Sprache,

die wir das Gemüthafte nennen, ausgeschaltet werden, um

die Sprache möglichst rein zu einem Mittel der Verständigung

und der Mitteilung zu machen. Aber das Gemüthafte

kann in anderen Sprachwerken daneben weiterbestehen.

Wir haben dafür als Beispiel »Wanderers Nachtlied« von

Goethe betrachtet (S. 291). Auf diese Weise sind wir zur Aufstellung

zweier Typen von Sprachwerken gekommen. Der

eine Typus, eine Spätform der Entwicklung, benützt die

Sprache ausschließlich und so gut wie möglich als Mittel zur

Verständigung über etwas, was außerhalb des jeweiligen

sprachlichen Gebildes liegt, eine Sache also: wir haben

ihn Sachdarstellung genannt. In ihm sind, soweit das möglich

ist, die inneren Haltungen ausgeschaltet. Der zweite

Typus, in dem die Vollkraft der Sprache erhalten bleibt und

in dem deshalb auch die innere menschliche Haltung beim

Welterfassen und -gestalten mit eingeformt ist, nennen wir

Sprachkunstwerk; hier weist die Sprache nicht mehr auf eine

Sache hin, sondern baut in sich selbst eine neue ─ geistige ─

Welt besonderen, eben ästhetischen Gepräges auf. Dreierlei

sei hier aber ─ nochmals ─ festgestellt, um Mißverständnisse |#f0163 : 147|



und Mißdeutungen auszuschalten. 1. Die beiden Formen

Sachdarstellung und Sprachkunstwerk sind ideelle Typen,

die als mögliche wesentliche Formen aus dem Tatsächlichen

abgezogen worden sind, gleichsam Leitbilder. Aber sie kommen

sehr selten rein in der sprachlichen Wirklichkeit vor.

Sie sind wissenschaftliche Hilfen zur Erkenntnis der Sprachstrukturen.

2. Sie sind die beiden Endpunkte an einer kontinuierlichen

Linie. Es gibt zwischen ihnen zahllose unmerkliche

Übergänge. Sprachkünstlerisches zeigt sich auch im Alltagsgespräch.

Man darf also nie von zwei verschiedenen Sprachen

reden. 3. Diese innerste Haltung, von der wir oft zu sprechen

haben, ist schwer mit einem Namen zu versehen. Sie steigt

aus den untersten, tiefsten Kräften des menschlichen Inneren

auf. Überall dort, wo der Mensch als ganzes bei einer Sache ist,

wo er aus seinem Vollsten schöpft, wo gleichsam sein Wesen

spürbar wird, dort greifen wir seine innerste Haltung. Eine

besondere Ausformung dieses Innersten sind die zahllosen

Gefühlsschattierungen, Stimmungen, Strebungen. Aber in

der rationalen Verwendung der Sprache wird dieses Innerste

in ihr zurückgedrängt. Da wir in einer Sprachgestaltung, in

der das Innerste lebendig wird, noch heute gleichsam den

ursprunghaften Sprachakt spüren, aus dem jederzeit eben

Sprache in ihrer Fülle erwächst, kann man auch vom Ursprungscharakter

einer solchen Sprachgebung sprechen. Hier

aber von Primitivität oder Primitivismus zu sprechen, heißt

Tiefen des Menschlichen einfach wegrationalisieren. Wenn

man das Wesen dieser innersten Haltung als Gemüt bezeichnet,

muß man sich klar bleiben, daß man dieses Wort hier

in einem tieferen und umfassenderen Sinn gebraucht als üblich.

Man ist aber etymologisch und philosophisch dazu

berechtigt. Nie darf man dabei an Gemütlichkeit, Rührseligkeit

und Sentimentalität denken. Auch das Wort Gefühl wollen

wir aus seichter Oberflächlichkeit befreien. Denn nur

wenn man Gefühl und Gemüt als sentimentale Stimmung

und »warmes Empfinden« nimmt, kann man von der Gemütlosigkeit

moderner Lyrik sprechen. Wir betonen nochmals,

daß hier Gemüt das Tiefste des Menschen bezeichnet, und

daß auch Kälte, Härte usw. gefühlhafte Haltungen sind.

|#f0164 : 148|



Die Eigenart des Sprachkunstwerks besteht also darin,

daß in ihm die Sprache in ihrer Vollkraft schöpferisch wirkt.

Die Sachdarstellung muß von hier aus als Verarmung der

Sprache angesehen werden, so wertvoll in anderer Hinsicht

diese Ökonomisierung ist. Man kann nun scharf so sagen:

was die Sprache des Sprachkunstwerks von der der Sachdarstellung

unterscheidet, ist die Tatsache, daß in ihr die

innerste Haltung des Menschen, das Gemüt, miteingeformt

ist. Es tritt nicht als etwas Sekundäres zu einem Sprachgebilde

hinzu, sondern ist gerade in solchen Sprachwerken noch da,

während es in Sachdarstellungen nicht mehr da ist. Nur dem

vergleichenden Blick auf zwei gleichsam nebeneinander stehende

Sprachwerke der beiden Typen kann es scheinen, daß

im Sprachkunstwerk noch etwas anderes da ist, was im anderen

fehlt. Und diese Züge, die eben dem Sprachkunstwerk

seine Eigenart geben, indem hier das Gemüthafte des Menschen

mitgestaltet ist, wollen wir als Stil bezeichnen. Auch

hier gilt es, zweierlei festzuhalten. Mit völligem Recht kann

man von Stil auch als dem durch die innere Haltung des

schöpferischen Menschen dem Werk als Ganzem aufgedrückten

Gepräge sprechen. Wir müßten also genauer von Sprachstil

sprechen, wenn Mißverständnisse entstehen könnten. Von

einer anderen Verwendungsweise des Wortes auf sprachlichem

Gebiet gleich später. Stil in unserem Sinn hat es also

mit der Struktur der Sprachkunst zu tun, Stil ist das auszeichnende

Gepräge der Sprache in einem Sprachkunstwerk.

Da Sprachkünstlerisches auch in anderen Sprachwerken

möglich ist, kann man sinnvoll auch vom Stil etwa in einer

Konversation, im Alltagsstreitgespräch, in einem Liebesbrief,

in einer Geschichtsdarstellung und in einem öffentlichen

Vortrag usw. reden. Am reinsten ist er aber im reinen Sprachkunstwerk,

vor allem in der Dichtung greifbar.



Stil ist also eine Möglichkeit der Sprache überhaupt. Weil

in die sprachliche Formung, aus dem Wesen der Sprache

heraus, innerste Haltung mit eingeformt sein kann, ist Stilhaftes

also eine immer vorhandene Möglichkeit der Sprache

als Allgemeinbegriff, ist allen Sprachen eigen, da sie ja alle als

bestimmte Verwirklichungen der Idee Sprache angesehen |#f0165 : 149|



werden können. Weiterhin kann aber jede einzelne Sprachwissenschaft

an der konkreten Einzelsprache, die sie studiert,

bestimmte Stilzüge aufweisen, bestimmte Ausprägungen innerster

Haltungen, bestimmte Seiten des Gemüts, die nur

dieser Sprache oder Sprachgemeinschaft eigen sind. Es gibt

also stilistische Möglichkeiten der Sprache überhaupt und

solche bestimmter einzelner Sprachen.



Wenn, wie wir gesagt haben, Dichtungen die reinste und

höchste Form der Sprachkunstwerke sind, so ist in ihnen

der Typus der Sprachkunst am reinsten ausgeprägt, müssen

also diese Züge an der Sprache unbedingt vorhanden sein,

die wir als Stil bezeichnen. Dichtung ohne stilhafte Sprachgestaltung

ist also unmöglich.



In diesem Zusammenhang seien noch kurz die Ausdrücke

Stilistik und Stilbeschreibung auseinandergehalten. Stilistik

beschäftigt sich mit den stilhaften Möglichkeiten, mit den

Stilkräften, Stilarten usw. der Sprache überhaupt. Sobald

wir aber die Stilzüge einer bestimmten Sprache oder gar

bestimmter Sprachwerke und Dichtungen herausheben,

ordnen und zu einem geschlossenen Ganzen zusammenfassen,

sprechen wir besser von Stilbeschreibung. Stilistik setzt

Stilbeschreibung voraus, und umgekehrt ist Stilbeschreibung

auf Stilistik angewiesen. Stilhaftes kann nur an konkreten

Einzelerscheinungen erkannt werden. Nur an einem Gedicht,

an bestimmten Sprachgebilden, an einer ganz bestimmten

Stelle eines Textes kann man die stilhaften Züge erblicken.

Freilich: um die Stilwerte einer bestimmten Stelle, eines bestimmten

Textes ganz in ihrer Eigenart zu erfassen, müssen

Einsichten in die grundlegenden stilhaften Möglichkeiten der

Sprache im allgemeinen und auch der betreffenden Sprache

vorhanden sein. Sonst bliebe es bei vagen subjektiven Äußerungen.

So gilt also auch für eine Poetik: da Stil die unabdingbare

Voraussetzung jeder Dichtung ist, müssen wir, um

der Dichtung im allgemeinen näherzukommen, auch die

stilhaften Möglichkeiten der Sprache erfassen. Wir werden

diese Grundzüge aber immer nur an konkreten Beispielen

ersehen, diese als Belege für die stilhaften Möglichkeiten

überhaupt ansehen, zugleich als die Fälle, an denen wir zu |#f0166 : 150|



allgemeineren Einsichten in den Stil emporsteigen können.



Wir haben also, wenn wir die Dichtung als Gestalt betrachten,

zuerst von diesen sprachlichen Zügen der Dichtung

zu sprechen, die wir Stil nennen. Die auf engem Rahmen zu

ordnen und darzustellen, ist nicht einfach. Vor allem gilt es,

Elemente des Stils und Stil als Gesamtheit zu unterscheiden.

Fragen wie die nach den Stilwerten der Wortgehalte, der

Wortarten, der Formen, der Wortstellung, des Satzbaues,

des Rhythmus, des Verses usw. sind Fragen nach einzelnen

Elementen des Stils, letzten noch faßbaren Bestandteilen der

Sprache, an denen Stilhaftes erspürt werden kann. Ob sie

an sich, losgetrennt von jedem Zusammenhang stilhaft sind,

ist eine andere Frage. Aber sicher muß eine latente stilhafte

Möglichkeit in ihnen gegeben sein, sonst könnten sie auch

im Zusammenhang nie stilhaft werden. Solche Stilelemente

haben einen Stilwert im Zusammenhang. Aber mit diesen

Elementen haben wir noch nicht die Möglichkeiten des Stils

erschöpft. Es kommt im Zusammenwirken dieser Elemente

zu höheren Gebilden, die in ihrer Struktur selber wieder stilhafte

Züge entfalten: höhere Wirkungsgestalten, z. B. das

sprachliche Bild, das Symbol, andere Stilkräfte und bestimmte

Stilarten.



Um die Elemente des Stils zu überblicken, ist es wieder

notwendig zu erkennen, daß die Einheit der Sprache theoretisch

nicht anders in ihrer Fülle erfaßt werden kann als

durch verschiedene Standpunkte, die wir anlegen und von

denen aus wir die Sprache anvisieren. Wir werden durch

solche Gesichtspunkte jeweils die ganze Sprache sehen, aber

gleichsam einseitig, andere sind zur Ergänzung nötig. Zwei

solcher Gesichtspunkte sind wichtig und ergeben in ihrer

Zusammenfassung die Gewähr, nichts Wesentliches zu übersehen.

Wir haben festgestellt, daß wir in der Sprache eine

geistige Welt aufbauen aus den verschiedenen Erfahrungen,

die wir an der Welt machen, daß wir in dieser sprachlichgeistigen

Welt die außersprachliche bewältigen, uns verfügbar

machen und auf sie einwirken können. In der Sprache bauen

wir unsere Erfahrungen neu auf: Sprache ist Gestaltung

unserer Erfahrungen. Wir sehen sie also von der einen Seite |#f0167 : 151|



als Gestaltung unserer Erfahrungswelt. Das heißt: wir

schauen vor allem auf den Gehalt der Worte und Formen,

auf den Sinn von Wortfügungen und größeren Zusammenhängen.

Sprache ist aber jederzeit grundsätzlich etwas Hörbares.

Die Schrift ist eine sekundäre Entwicklung. Sie ist mit

der Notenschrift zu vergleichen, an der wir ja auch nicht die

Musik haben. Besonders Dichtungen drängen danach, gehört

zu werden, wenn sie ganz erfaßt werden sollen. Man liest

laut oder hört, oder man weckt Hörvorstellungen beim

stillen Lesen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß man in einer

Dichtung plötzlich Neues und bisher nie Erfaßtes, neue Gedanken

und Zusammenhänge vernimmt, wenn man sie laut

liest oder vorgelesen bekommt. Das ist ein Beweis, daß im

Sprachlichen mehr liegt als bloß das, was man findet, wenn

man sie nur als Gestaltung der Erfahrungswelt sieht. Das in

der Sprache Hörbare ist von Geräuschen der Außenwelt und

von den Tönen in der Musik dadurch verschieden, daß es

ganz bestimmte artikulierte Laute sind und der Zusammenhang,

die Fügung solcher Laute sich auch von allen anderen

Geräuschen oder musikalischen Folgen deutlich unterscheidet.

Wir müssen also die Sprache auch als Lautung betrachten

und zu erfassen suchen, was in dieser Blickrichtung an ihr

Stilhaftes zu finden ist.



Mit der Unterscheidung von Elementen und höheren

Wirkungszusammenhängen und mit den zwei Blickrichtungen

auf die Sprache als Gestaltung der Erfahrungswelt

und auf die Sprache als Lautung sind wir imstande, die Stilmöglichkeiten

der Sprache zu überblicken.



Bevor wir auf die Einzelheiten eingehen, müssen noch zwei

andere Betrachtungen eingeschoben werden. Man sagt oft,

Stil sei das Zweckvolle und Schöne an der Sprache. Hier

werden zwei verschiedene Blickweisen zusammengebunden:

die nach dem Zweck und die nach der Schönheit. Wir

haben schon gesehen (S. 28 f.), daß sich bestimmte Normen

sprachlicher Gestaltung ausbilden können, je nach dem Zweck,

den wir mit ihr verfolgen: ein Geschäftsbrief hat andere

sprachliche Normen als eine Kanzelrede, eine Abhandlung

über Logik andere als ein Protokoll, ein Gebet andere als |#f0168 : 152|



ein Lehrvortrag usw. Wir nennen diese nach Zwecken und

ihren entsprechenden Normen verschiedenen sprachlichen

Gestaltungen Darstellungsweisen. Wir wollen mit der Sprache

verschiedene Wirkungen erzielen. Nun aber kann die Wirkung

eine sachliche sein, wie bei diesen Darstellungsweisen;

aber es gibt auch eine andere: die auf den Menschen als

ganzen gerichtete, die sein Gemüt ansprechen will. Damit

nähern wir uns den Fragen nach dem Stil. Soweit es sich

darum handelt, eine solche gemüthafte Wirkung durch die

gesprochene Sprache zu erreichen, hat sich schon im Altertum

eine bestimmte Lehre entwickelt: die Rhetorik. Der Redner

will das Gemüt des Menschen auf die verschiedenste

Weise, zu verschiedenen Zwecken und mit verschiedenen

Mitteln erregen. »Es ist die Intension des Rhetors, daß er im

Unterschied von dem dichterischen Gestalter mit Sprache

eine Wirkung erzielen und zu diesem Zweck mehr überreden

als überzeugen, mehr hinreißen, berauschen und bezaubern

möchte, als magisch eine dichterische Welt erschaffen«

(Strich). Man hat die Sprache des Rhetors als pathetisch

oder emphatisch bezeichnet. Man versteht aber unter Pathetik

vor allem die sprachliche Gestaltung unter einer erhöhten

Gefühlslage, mit Emphase aber die bewußte Verwendung

bestimmter sprachlicher Formen, etwa der Häufung, Wiederholung

usw., um solche Wirkung zu erzielen. Schon in

dieser Unterscheidung vermischen sich die zwei Gesichtspunkte

von Stil und Darstellungsweise. Es ist bekannt,

daß seit dem Altertum ein ganzes System von Redefiguren

mit einer Fülle von Fachausdrücken ausgebaut und klassifiziert

worden ist. Diese Ausdrücke werden nun nicht bloß in den

Lehrbüchern der Redekunst bis weit in die Neuzeit verwendet,

sondern auch in den Stillehren. Die Poetiken seit dem Hellenismus

über die römische Kaiserzeit und über das Mittelalter

bis in die Renaissance und in das Barockzeitalter gebrauchen

ebenfalls diese Ausdrücke und Formen. Mit anderen Worten:

wir sehen hier, wie die Wirkungslehre der Rhetorik mit der

sogenannten Stilistik als Wirkungslehre der geschriebenen

Sprache zusammengeht. Stil ist nach dieser Auffassung sprachliche

Gestaltung mit dem Zweck, auf das Gemüt des Hörers |#f0169 : 153|



oder Lesers zu wirken. Das »delectare« ist hier deutlich. Wir

müssen uns klar sein, daß wir hier die Stilauffassung der

Dichtungslehre bis weit ins 18. Jahrhundert hinein vor uns

haben. Aber auch heute ist diese Auffassung noch durchaus

anzutreffen. Die wirkungsvolle Anwendung der sprachlichen

Schmuckformen, wie sie das System der Rhetorik schon im

späten Altertum ausgebildet hat, ist Stilkunst. Wir fragen uns,

was soll da unsere Auffassung, daß in der Sprachkunst eine

innere Haltung des Menschen sich offenbare? Hat eine solche

Stilauffassung für die ganze abendländische Epoche bis ins

späte 18. Jahrhundert einen Sinn oder nur für die knappen

letzten zwei Jahrhunderte? Da hilft uns die Bemerkung weiter,

die der spanische Fürst Don Juan Manuel um 1330 über

seine Erzählungssammlung »El conde Lucanor« machte: er

habe dieses Buch geschrieben, indem er es aus den schönsten

Worten zusammensetzte, die er finden konnte. Zweifellos

hätten die Ritterdichter des Mittelalters und die höfischen

Dichter des Barocks, aber schon die spätrömischen Dichter

dasselbe von ihren Dichtungen sagen können. Das geht gewiß

auf die »schöne«, also aufs Gemüt in bestimmter Weise wirkende

Form der Dichtung. Aber prägt sich in solchem Wollen

nicht auch eine innere Haltung aus? Spüren wir da nicht,

daß diese Dichter aus einer ganz bestimmten Gemütslage,

eben als bewußte Dichter, schaffen? Prägt sich in den steiffeierlichen

Versen Weckherlins und den spielerischen Gedichten

Harsdörffers, in der immer wiederholten Kunst des

Reim- und Strophenbaus des älteren Reimar usw. nicht auch

eine bestimmte Haltung der Kultiviertheit, der Eleganz, der

Gehobenheit aus? Es ist kaum anzunehmen, daß diese Dichter

rein rationalistisch Schmuckformen zusammengefügt haben.

Es hat sich also weniger an der Dichtung als an der Betrachtungsweise

geändert. Freilich war diese Änderung dadurch

bedingt, daß seit dem Sturm und Drang, also allgemeiner:

seit den Anfängen der gesamteuropäischen Romantik in der

zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Dichten nicht mehr so

sehr im schönen sprachlichen Formen als im Gestalten innerer

Erlebnisse gesehen wurde. Es scheint also doch, daß

wir mit der hier dargelegten Stilauffassung auch die frühere |#f0170 : 154|



Dichtung erfassen können; denn auch im schönen Sagen

und in der Anwendung der überlieferten Schmuckformen,

in der Absicht, neben allen anderen Werten auch die der

Schönheit der Form herauszustellen, lebt eine bestimmte innere

Haltung; etwa der ritterliche »hohe muot«, die Eleganz,

das Höfische, in allem aber die Liebe zum Schönen, wenn auch

das, was man darunter verstand, sich ändern mochte. Und

auch der Dichter, der seine tiefen Erlebnisse ausdrücken

wollte, hat doch immer wieder sich auch an Muster gehalten,

überlieferte Formen aufgegriffen und umgegossen. Umgekehrt

bleiben wir mit einer Stilauffassung, die ausschließlich

das Moment der Wirkung durch schöne Formen sieht,

einerseits an der Oberfläche, andererseits werden wir mit ihr

auch früheren Gestalten, etwa einem Dante, den großen

Ritterdichtern, Calderón, Cervantes, Grimmelshausen, Gryphius

und Paul Gerhardt nicht voll gerecht.



Die Verwendung schöner Stilformen in der Dichtung führt

zur Frage der Stilentwertung. Diese kann schon auf dem Wege

der Ökonomisierung eintreten. Worte, die zu bloßen Verständigungszeichen

im Alltag oder zu reinen Begriffszeichen

werden, verlieren die Fülle des Gehaltes, vor allem die Gemütswerte,

die auch in ihnen ursprünglich enthalten waren.

Aber auch die sogenannten Stilfiguren und die noch später

zu betrachtenden topoi, geprägte Bilder und Formeln nämlich,

die an gewissen Stellen von Dichtungen nach der früheren

Poetik beinahe verpflichtend waren, verflachen bei

dauernder Verwendung und verlieren damit die ästhetischen

Werte. Man muß sich klar sein, daß solche Stilfiguren ursprünglich

keine Formeln waren, sondern schöpferische Gestaltung

des Schönen. Erst als sie Tradition und dichterisches

Gebrauchsgut wurden, begannen sie zu verblassen. Das war

für Dichterlinge gefährlich; denn ihr »Verwenden« gab nie

und nimmer ein Gedicht. Daraus erhebt sich eine Frage, die

bei der Beurteilung solcher Figuren in einem konkreten

Dichtwerk immer gestellt werden muß. Man gewinnt nichts

für die Erkenntnis des Wertes einer Dichtung, wenn man

solche Figuren aufdeckt, registriert, auf ihren Ursprung zurückführt

und ihre Verwendung bis zu dem betreffenden |#f0171 : 155|



Werk hin verfolgt. Erst wenn wir beobachten, was der Dichter

an dieser Stelle mit einer solchen Formel erreicht, warum

er sie verwendet, aus welcher inneren Haltung, ob es ihm

gelingt, sie wieder mit innerem Gehalt aufzufüllen oder ob

sie wirklich bloße Schablone bleibt, erst dann kommen wir

der künstlerischen Eigenart des Gedichts näher. Zugleich

aber haben wir eine weitere Einsicht in das wirkliche Leben

solcher Formeln gewonnen.



Damit berühren wir den entgegengesetzten Vorgang im

Sprachleben. Worte und Fügungen können zwar verblassen

und jeden Stilwert verlieren, sie können aber auch wieder

aufblühen und den Stilwert zurückgewinnen oder einen neuen

entfalten: die Aktualisierung der Stilwerte. Es gehört zu den

großen Geheimnissen des Dichters, daß er aus der vom Alltag

angekränkelten Sprache wieder Fülle und Tiefe herausholt,

daß unter seinen Händen die Sprache wieder wie im

Ursprung alle Werte entfaltet und vor allem das Gemüt

durchscheinen läßt. Zunächst ein Beispiel. »Nochmals ward

es Licht und Finsternis, nochmals Tag und Nacht, nochmals

Nächte und Tage ...« (H. Broch, Tod des Vergil, S. 530).

Dadurch, daß die Gruppe »Tag und Nacht« scheinbar wiederholt

wird, aber nun im Plural, fällt diese Form auf, ihr Gehalt,

nämlich die Bezeichnung einer Mehrheit, drängt sich

auf, sie wird gerade auf den Singular hin in ihrer Eigenart

deutlich; wir erleben die Reihe der Tage und Nächte. Das

wirkt um so auffälliger, als die Reihenfolge der beiden Worte

umgestellt wird, wir werden dadurch um so aufmerksamer.



Die Aktualisierung der Stilwerte kann auf verschiedene

Weise erreicht werden. Zunächst durch die Ausstrahlung.

Das heißt, ein stilwertiges Wort wirkt auf andere, folgende,

und hebt auch die wieder in den Bereich der Sprachkunst.



Der Abend wiegte schon die Erde

Und an den Bergen hing die Nacht.


   (Goethe, Willkommen und Abschied)



Das Wort »wiegte« wirkt hier auf das schon eher verflachte

»hing«, und dieses gewinnt dadurch neue Kräfte. Wichtiger

ist die Aktualisierung durch Einbettung: in einer stark gemüthaften |#f0172 : 156|



sprachlichen Umwelt kann ein schon verflachtes Wort

wieder lebendig werden. Ein Beispiel aus Th. Manns »Felix

Krull«. Krull geht in Lissabon mit Frau und Tochter des

Professors Kuckuck spazieren. Die Dame drängt sich ihm

ziemlich deutlich auf. Ihre Frage, ob ihn der Spaziergang

interessiert habe, beantwortet er mit einer Tirade: er habe

ihn um so mehr genießen können, als die vorangehenden

Gespräche mit dem Professor (im Nachtschnellzug) über die

Urzeiten der Erde ihm eine »paläontologische Auflockerung«

verschafft hätten. Wer die Bedeutung des Fremdworts kennt,

erlebt plötzlich den ironisch-infamen Zusammenhang, den

es mit Frau Kuckuck gewinnt. Die Wirkung dieses Ausdrucks

ist deshalb so groß, weil es im Mittelpunkt der Stelle steht,

lange vorbereitet ist und alle Werte langsam ausspielen kann.

Auch Wechselwirkungen der verschiedensten Art können in

einem Sprachgebilde eintreten und so Stilwerte neu heraustreiben.

Der Grad der Aktualisierung ist verschieden, und

auch daraus holt der Dichter mannigfache Wirkungen

heraus.



Die Stilelemente



Es ist unmöglich, die ganze Fülle von Stilelementen der

Sprache hier auseinanderzufalten. Das ist die Aufgabe der

Stilistik. Hier sollen an Beispielen die Möglichkeiten dichterischer

Wirkung der Sprachgebilde angedeutet werden.

Wir scheiden der Übersicht halber den Blick auf die Sprache

als Erfahrungsgestaltung und auf die Sprache als Lautung.



Sprache als Erfahrungsgestaltung



Schon in den einzelnen Worten stecken Stilkräfte. Freilich

werden sie erst spürbar, wenn sie in einem größeren sprachlichen

Zusammenhang stehen. Aber sie können das nur,

wenn etwas in ihnen ist, das dann erwacht. Im Wort umgrenzen

wir ein Erfahrungsstück und heben es als etwas

Selbständiges heraus. In diesem Herausgrenzen liegt ein

rationales Element, ein Stück beurteilendes Bewältigen der |#f0173 : 157|



Welt. Das kann nie aus einem Wort ausgeschaltet werden:

das ist der rationale Kern jeder Dichtung. Aber im Wort

steckt noch mehr! Auch die Wirkung des Erfahrungsstücks

auf uns, unsere gemüthafte Einstellung dazu wird ursprünglich

hineingeformt. Glinz hat einmal sehr schön an Goetheversen

gezeigt, wie wir uns dichterisch das Entstehen eines

Wortes vorstellen können; wie das Gebilde zuerst ahnend

umgriffen wird, wie unser Fühlen daran beteiligt ist und wie

erst aus dem tiefen Erleben als Erlösung gleichsam das Wort

ersteht:



Der du von dem Himmel bist,

Alles Leid und Schmerzen stillest,

Den, der doppelt elend ist,

Doppelt mit Erquickung füllest,

Ach, ich bin des Treibens müde!

Was soll all der Schmerz und Lust?

Süßer Friede,

Komm, ach komm in meine Brust!


   (Goethe, Wanderers Nachtlied)



Die Gefühlhaftigkeit des Wortgehalts ist schon da deutlich.

Aber denken wir auch an Worte wie Meeresrauschen, Fliederduft,

Sonnenschein. Da können wir sehen, daß die Gemüthaftigkeit

eines Wortes nicht bloß in der Lautung liegt,

sondern auch im Gehalt. Beides kann nicht getrennt werden,

keine Sicht dürfen wir ausschalten, wenn wir das volle Worterlebnis

erfassen sollen. Daß vielfach der Gefühlston im

Wortgehalt sogar vorherrscht, können zwei Kindersätze

zeigen. In einem Aufsatz über das Schwein ─ es war an eine

naturgeschichtliche Wiederholung gedacht ─ schrieb ein

Kind: »Das Schwein verdient seinen Namen mit Recht.«

Wir spüren hier deutlich, wie wirklich im Alltagsverkehr

dieses Wort in seinem Gehalt auf einen bestimmten Gefühlston

eingeengt worden ist. Oder ein anderes Kind fragte auf

die Feststellung, daß der Esel gar kein dummes Tier sei:

»Warum heißt er aber dann Esel?« Auch die sogenannten

Synonyma, das heißt die scheinbar gleichbedeutenden Wörter,

können uns lehren, wie Gefühlsschattierungen zur Unterscheidung

maßgebend sind. Zwischen »freimütig« und »unverschämt«

besteht kein Unterschied der rational faßbaren |#f0174 : 158|



Bedeutung, sondern der inneren Einstellung dazu. Oder

wie will man von der Sache her Kopf-Haupt-Grind unterscheiden?

Vom Gesamtwortgehalt her gibt es keine Synonyma,

denn die Einstellung zum Erfahrungsstück ist mit eingeformt,

und dadurch wird ein Wort kein Zeichen für eine Sache,

sondern ein Stück neuer geistiger Welt, ein Träger der Welt,

die zwischen Sache und Mensch steht. Freilich kann es Sachzeichen

werden. Aber der Dichter erweckt es wieder zum

Leben. »Der Dichter zwingt die Sprache in ihren Ursprung

zurück« (Riezler). Es bieten sich ihm dabei grundsätzlich zwei

Wege: er weckt den sogenannten Erfassungskern zu neuem

Leben, d. h. die Blickweise auf ein Stück Welt, die zum

Wort geführt hat. »Eine alte Hofdame des regierenden Häuschens

von Haslau« (Jean Paul). Im Wort »Häuschen« wird

der ursprüngliche Gehalt von »Haus« wieder lebendig, der

in der Wendung vom »regierenden Haus« erloschen ist. Oder

der Dichter leuchtet aus der Fülle und Einheit des ganzen

Wortgehalts eine besondere Stelle an, ein neues Stück Leben

blitzt in neuer Beleuchtung auf. Hebel erzählt einmal von

Dieben auf dem Markt und sagt: »Es waren auch manche

darunter, die einkaufen wollten ohne Geld, weil sie keins

hatten. Die Zigeuner heißens ─ erben, und wo's ins Große

getrieben wird, nennt man's ─ erobern.« Wie wird da eine

bestimmte Seite am Wortgehalt von »erobern« scharf herausgehoben!





Auch die Wortbildungsmöglichkeiten der Sprache bieten

Stilwerte. Schon die scheinbar so formalen Ableitungssilben:

lächeln neben lachen, oder die Verkleinerungssilben: diese bezeichnen

ja nicht rational einen kleinen Gegenstand, sondern

gestalten unser vertrauliches Verhältnis zu einem Stück Welt:

Mütterchen, Väterchen. »Bleistiftchen« würde etwa in einem

Märchen nie einen kleinen Bleistift benennen, sondern einen,

der uns lieb ist. Man hat bei Novalis zeigen können, wie in

den letzten Lebensjahren die Intensivierung des Innerlichkeitserlebnisses

an der Zunahme der Bildungen mit »in-«

Gestalt geworden ist. Besondere Werte können die Zusammensetzungen

erzeugen. Die Gehalte der Gliedworte fließen

ineinander und schaffen neue Gefühlstöne. Das Wort »Bier« |#f0175 : 159|



hat einen anderen Ton in »Bierkeller« als in »Bierrausch«.

Besonders deutlich ist das in den beiden Hölderlinschen

Worten »heilignüchtern« und »heiligtrunken«. Das erste

Wort wird hier nicht entwertet, sondern im Gegensatz zum

zweiten erst recht in seinem Gehalt herausgehoben; aber die

zweiten Worte verlieren durch »heilig« das Entwertete

(»nüchtern«) oder Einseitige (»trunken«), sie werden in eine

heilige Sphäre gehoben.



Mit dem Wort umgrenze ich also ein Stück im Erfahrungsstrom.

Im Lauf der Sprachentwicklung gestalten sich sprachlich

auch ganz bestimmte Arten des Erfassens aus: ob ich

dieses Etwas als einen lebendigen Vorgang fasse, als ein Etwas,

das mir deutlich gegenübersteht, oder als etwas, das mit mir

in einer bestimmten gemüthaften Beziehung steht. So entstehen

die Wortarten. Daran erkennen wir, daß auch sie stilwertig

sein können. Natürlich hat im Lauf der Zeit die

Grammatik verschiedene Systeme von Wortarten aufgestellt,

sie sind in die Mühle der Sprachregelung gekommen und

haben dabei ihre inneren Werte eingebüßt. Aber auch hier

kann vor allem der Dichter diese bestimmten Erfassungsweisen

neu beleben. Ohne ausführliche theoretische Besinnung

beleuchten wir das zunächst an den drei Haupt-Wortarten.

Im Substantiv erreicht das Herausgrenzen aus dem Erfahrungsstrom

einen besonderen Grad. Das Ausgegrenzte

wird ganz abgehoben, als gleichsam Dauerndes für sich gestellt:

es steht uns gegenüber als etwas für sich Bestehendes.

Wir können es daher gut als Gegenstandswort bezeichnen.

Auch solche Gebilde wie Tau, Gewölke werden durch die

Prägung in ein Gegenstandswort zu geistig greifbaren Gebilden,

zu Dauerndem. Ebenso werden sogenannte Abstrakta

in der Prägung als Gegenstandsworte gebildehaft, geistige

Gegenstände. Die Welt gerinnt durch die Kraft sprachlicher

Vergegenständlichung gleichsam in lauter uns umstehende

Blöcke, sie wird greifbar, plastisch. Dabei kann unser Inneres

ganz verschieden auf eine solche Welt antworten: das wir

mit dem Erfahrungsstrom geistig so fertig geworden sind,

läßt das Gefühl der Beruhigung oder des Herrschens aufkommen.

Die Blöcke können aber auch bedrohlich werden, |#f0176 : 160|



Angst erfaßt uns. Oder ganz anders: Wir fühlen uns im Bestehenden

geborgen und gesichert.



Der Mensch kann aber die Welt um sich auch als etwas

Verlaufendes, als einen Vorgang ähnlich dem Leben, das er in

sich fühlt, erfassen. Das ist die Aufgabe des Vorgangswortes,

wie wir das Verbum nennen können. Auch »schlafen« und

»ruhen« erscheinen als solche Vorgänge. Und wenn es raschelt

und geistert, immer spüren wir hier eine geheimnisvolle

Lebensregung. Wenn der Mensch diese Vorgänge selber erzeugt,

dann handelt er. Vorgangsworte des Handelns (pakken,

lesen, schreiten usw.) sind also nur eine besonders scharfe

Ausprägung dieser Erfassung.



Schwierig ist die Frage nach dem tieferen Sinn des Adjektivs.

Aber man verbaut sich den Weg zu den dichterischen

Möglichkeiten dieser Wortart, wenn man etwa feststellt, daß

»lang«, »groß«, »breit« usw. bloß mehr Verhältnisangaben

sind. Warum soll nicht im langen Weg, den ein müder

Wanderer noch gehen muß, in der breiten und tiefen Gletscherspalte,

die ein Kletterer überspringen muß, mehr spürbar

werden als bloße Verhältnisse? Gerade auch an diesen

Worten erfassen wir den ursprünglichen Sinn des Adjektivs:

ein persönliches Dabeisein, ein Berührtwerden vom Erfahrungsstück,

das wir sprachlich prägen. Es ist bezeichnend,

daß wir auf alles, was uns beim Gegenübertreten einen starken

Eindruck macht, adjektivisch antworten: Herrlich! Furchtbar!

Lieblich! usw. Die Bezeichnung Eindruckswort dürfte

also doch nicht ganz schlecht sein. Ein besonderer Fall sind

hier in der Dichtung die Farbeindruckswörter. Blau, grün

usw. sind mit der Zeit auch Bezeichnungen für ganz bestimmte,

psychologisch feststellbare Empfindungen geworden,

man hat diese Empfindungen auf bestimmte physikalische

Reize zurückgeführt und endlich gar Farbworte als

Zeichen für bestimmte Lichtwellenlängen angesehen. Daher

ist man überrascht, wenn man in Dichtungen, besonders in

der expressionistischen Lyrik, etwa bei Trakl, »Verwendungen«

der Farbadjektive findet, die damit gar nichts zu

tun haben. Hier greifen Dichter eben auf den Ursprung zurück.

Wir alle wissen, wie der Mensch auf Farben stark |#f0177 : 161|



gemüthaft reagiert, das Kind schon, bevor es die Farben

unterscheiden kann. In den Farbworten vor allem sind auch

unsere Gefühle geprägt, die wir bei diesen Eindrücken gehabt

haben. Die Dichter rufen in den Farbworten diese Gefühle

wieder wach. So kommt es zu den Versen Goethes:

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens

goldner Baum«: ein Schrecken für Physiker und Lichtwellenmesser,

aber der Mensch fühlt das Wahre! Hier ist der Weg

beschritten für die symbolische Verwendung von Farbworten

bei Expressionisten. Sie erwächst aus dem starken Gefühlston

der Farbworte. Man darf aber nicht zu scharf abgrenzen.

Gewiß: »gelb« kann Neid »bezeichnen«, man kann Kränkliches

dabei erleben, aber auch an die Himmelschlüssel und

Butterblumen denken. Rot ist das Blut eines Gemordeten,

aber auch die voll erblühte Rose. Farbworte haben also einen

sehr weiten Gefühlsumfang, der erst in bestimmtem Zusammenhang

schärfer umgrenzte Werte erhält.



Nicht nur diese drei Wortarten, die in so verschiedener

Weise unsere Erfassung der Welt gestalten und damit unserer

geistig geformten Welt Fülle und Reichtum geben, haben

Stilwerte. Aber wir können für die anderen nur Andeutungen

geben, ohne im einzelnen zu begründen. Die Ursache des

Stilwertes auch der Pronomina, Konjunktionen usw. liegt

immer darin, daß auch sie ursprünglich eine bestimmte Einstellung

zur Welt geprägt haben. Im »Du« liegt aller Reichtum

der Erlebnisse verborgen, der in der Begegnung mit dem

Mitmenschen aufgeht, im »Wir« das Gemeinschaftserlebnis,

im »Ich« die deutliche und bewußte Abhebung von der Umwelt,

die Tatsache, daß hier ein Mensch spricht. Das wird

seine Bedeutung für die Erkenntnis des Ich-Romans haben.

Und nur ein Beispiel für den möglichen Stilwert von Konjunktionen.

Man lehnt heute noch vielfach den Gebrauch

von »trotzdem« als Einleitewort für Gliedsätze ab. Wenn es

sich trotzdem durchsetzt, so deshalb wohl, weil es kräftiger

den ganz bestimmten Charakter des Konzessivsatzes aufrufen

kann: »trotzdem« ist stärker als »obwohl«.



Die Worte sind gleichsam die zubehauenen Bausteine, mit

denen nun in der Sprache die geistige Welt aufgebaut wird. |#f0178 : 162|



Dieser Aufbau in der Sprache ist eine Sinngestaltung, die errichtete

geistige Welt hat einen Sinn, die Sprachgebilde

schaffen ihn. Damit erlangen die Worte in diesem höheren

Zusammenhang eine neue Aufgabe: Sinngestaltungsträger

zu sein. Die erste Möglichkeit dazu gewinnen sie durch die

Formen. Wir gehen der Deutlichkeit halber von einem lateinischen

Beispiel aus: pater amat filios. Pater im Unterschied zu

patris oder patrem gibt der Tatsache Gestalt, daß in diesem

Sinnzusammenhang der Vater der Ausgangspunkt eines Vorgangs

ist, filios deutet als diese Form an, daß mehrere Söhne

das Ziel dieses Vorgangs sind. Der Vorgang selbst wird im

Vorgangswort in verschiedenster Weise gestaltet: in zeitlicher

Einstufung, mit Bezug auf einen Ausgangspunkt, als

Tatsache erfaßt usw. Die Formen also, gleichbleibende Elemente,

die verschiedenen Worten, genauer deren Stämmen,

angefügt werden können, gestalten die mannigfachsten Funktionen,

die Worte in sprachlichen Sinnzusammenhängen erfüllen

müssen. Dabei gehen wir hier nicht auf die Tatsache

ein, daß in früheren Zeiten der Reichtum an solchen Elementen

viel größer war und daß er heute mehr und mehr

durch Wortgruppen ersetzt wird. Viel wichtiger ist die Frage,

ob solche Formen auch einen Stilwert haben können. Wenn

ja, dann liegt er in der bestimmten Sichtweise, in der diese

Funktion gesehen wird. Diese kann auch ursprünglich durchaus

gefühlhaft sein. Freilich spielt hier die bekannte Tatsache

hinein, daß dieselben Formen im Laufe der Zeiten mehrere

Funktionen übernehmen, also etwa der lateinische Ablativ

auch den früheren Lokativ usw. Die Sachen liegen verwickelt

und können hier nicht verfolgt werden. Entscheidend ist, daß

im sprachlichen Aufbau der geistigen Welt und ihrer Bezüge

immer gewisse Gesichtspunkte des Aufbauens sprachlich

geformt werden. Wie diese Formung vor sich geht, kann der

Poetik (nicht der Stilistik) gleichgültig sein. Aber diese Formung

kann durch die Kraft des Dichters und durch die

immer vorhandenen Möglichkeiten der Sprache aus tiefen

inneren, also gemüthaften Antrieben ebenso erfolgen wie

aus rein rationalen. Das könnte an dem ganzen, im Lauf der

Zeit gewordenen Formensystem einer Sprache gezeigt werden. |#f0179 : 163|



Zunächst nur zwei Beispiele für Geschlecht und Fall

der Gegenstandswörter. Wenn es in der berühmten »Anekdote

aus dem letzten preußischen Krieg« von Kleist heißt:

»─ ─ ─ schafft das Mensch ihm Feuer« und damit die Kellnerin

gemeint ist, so hat das mit keiner rationalen Aufgliederung

in drei grammatische Geschlechter etwas zu tun, sondern

rückt die Kellnerin in eine ganz bestimmte Beleuchtung, die

durchaus gefühlhaft ist. In C. F. Meyers »Hochzeit des

Mönchs« heißt es: »Astorre aber versank in seinem Traume«.

Vergleicht man diesen Ausdruck mit dem anderen: »Astorre

versank in seinen Traum«, so spürt man, wie hier die beiden

Fälle anders wirken, wie eben jeder einen ganz bestimmten

Stilwert entfaltet, eine andere, aus dem Tiefen kommende

Erfassungsweise. Das früher gebrachte Beispiel aus Brochs

»Tod des Vergil« konnte uns den Stilwert des Plurals zeigen.

Selbstverständlich hat jede Form einen bestimmten Erfassungskern,

aber der jeweilige Stilwert, der sich aus dessen

Aktualisierung oder aus einer bestimmten aktuellen Erfassungsweise

ergibt, ist immer nur im Zusammenhang aller

künstlerischen Kräfte erkennbar.



Einen besonderen Formenreichtum hat seit je das Vorgangswort

entfaltet. Es können da erfaßt werden: die Zuordnung

zu einem bestimmten Träger (Personalformen), verschiedene

Perspektiven auf den Vorgang (sie verräumten das Spielzeug ─

das Spielzeug wurde verräumt), eine bestimmte Umgrenzung

des Blickes auf den Vorgang (»he wrote« sieht den Vorgang

in seiner Gesamtheit, »he was writing« nur ein Stück

aus ihm), Einordnung in die entwickelten Zeitkategorien der

Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, endlich eine bestimmte

gemüthafte Beleuchtung des Vorganges in den sogenannten

Modi. Natürlich können alle diese Möglichkeiten auch

rational-grammatisch geregelt werden. Aber daß sie auch

dem Dichter Kräfte künstlerischer Gestaltung zuführen können,

ist für uns das Entscheidende. Auch hier müssen einige

Beispiele genügen. Schon die Hilfszeitwörter zur Bildung bestimmter

Formen sind wichtig. Man spricht schablonisierend

von der sprachlichen Bezeichnung der Zukunft in verschiedener

Weise. Aber in der ursprünglichen Prägung machte es |#f0180 : 164|



einen wesentlichen Unterschied, ob man sagte: ich habe das

Sprechen in mir (oder vor) ─ je dirai, oder: ich soll sprechen ─

I shall speak, oder: du willst sprechen ─ you will speak, oder:

ich werde sprechen. Es gibt kein Futurum, sondern nur

sprachliche Sichtweisen. Natürlich vereinfacht das die rationale

Grammatik, aber es können tatsächlich alte Werte

der Formen in künstlerischer Sprache wieder lebendig werden.

Luther übersetzt einmal: »Ich will meinen Geist auf ihn

legen, und er soll den Heiden das Gericht verkündigen. Er

wird nicht zanken und schreien, und man wird sein Geschrei

nicht hören auf den Gassen.« Sowohl im griechischen als im

lateinischen Text stehen alle Vorgangswörter im sogenannten

Futurum; Luther übersetzt dreimal anders. Dieser Vergleich

zwingt uns geradezu, die ursprünglich durch die verschiedenen

Hilfsverben gestalteten Erfassungsweisen wieder zu erleben.

Auch die verschiedenen Passivbildungen (ich werde

geliebt ─ je suis aimé) verraten andere Blick- und Gestaltungsweisen.

Sehr ergiebig für die Erkenntnis der Stilwerte der

sogenannten Zeitformen, in denen eigentlich die sogenannten

Aspekte enthalten sind, ist ihre Beleuchtung in der Erzählung.

Wenn der Erzähler plötzlich aus dem Präteritum ins Präsens

springt, spüren wir, wie der Vorgang uns auf einmal grell

entgegentritt, gleichsam überbelichtet wird. Daraus ergibt

sich eine ermüdende Grellheit in einer nur im Präsens erzählten

Geschichte, aber erregende Wirkung an bestimmten

Stellen. Eigenartig unterscheiden sich auch Präteritum und

zusammengesetztes Perfekt in der Erzählung. Trotz neueren

Auffassungen müssen wir im Präteritum doch immer noch

deshalb die natürlichste Erzählform erkennen, weil ja der Dichter

gleichsam aus rückblickender Haltung erzählt; denn eine

künstlerische Erzählung formt das Erzählen selbst mit hinein,

und dazu gehört das erzählerische Wissen ums Ganze, also um

etwas schon Vergangenes. Aber das Präteritum schafft einen

ruhigen, unabgelenkten Blick in das in irgendeiner Vergangenheit

Vorsichgehende. Ganz anders das zusammengesetzte

Perfekt. Die Präsensform des Hilfszeitwortes schafft die Einstellung

zum Vergangenen vom Jetzt aus. Das konnte ursprünglich

sehr emotional sein: ergriffener Rückblick vom Heute aus:

|#f0181 : 165|



»Ich hab die Nacht geträumet / Wohl einen schweren

Traum.«



Später konnte diese Form zur rationalen Mitteilung von etwas

Geschehenem werden. Am schönsten kann der Stilunterschied

der beiden Formen noch immer am Schluß des »Werther«

erkannt werden. Bis zum letzten Satz immer das Präteritum,

der unabgelenkte Blick in eine andere Zeit, dann:



»Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.«

Der Erzähler entfernt sich und den Leser vom Geschehen,

»indem er durch das Perfekt die Erzähl- (bzw. Lese-) Gegenwart

als eigenen Standpunkt wieder wachruft« (Kayser).

Damit rundet er das Werk ab und schafft so das ästhetische

Schlußerlebnis, zugleich aber hebt diese Distanzierung vom

Geschehen, die durch den Sprung in die Gegenwart erreicht

wird, die Einsamkeit Werthers ─ auch wir verlassen ihn.



Das konnten nur einige Hinweise sein. Würden sie zu einer

umfassenden Betrachtung der Stilmöglichkeiten aller Formen

ausgebaut, so ergäbe sich: schon in diesen scheinbar so wenig

mit innerer Haltung zusammenhängenden Elementen hat der

Dichter Gebilde in der Hand, die ihm stilhafte Sprache formen

helfen. Denn auch sie erwachsen im tiefsten aus bestimmten

Erfassungsweisen, in denen auch unser Inneres mitschwingen

kann.



Die Stilmöglichkeiten entfalten sich unserem Blick noch

viel reicher, wenn wir die Wortgruppen betrachten. Im Zusammenhang

von Worten können die einzelnen Wörter

nicht nur ihre latenten Stilwerte erst recht aufleuchten lassen,

sondern aus dem Zusammenklang mehrerer Worte können

neue Stilwerte lebendig werden und nun ihr Gewebe neuerlich

bereichern. Weiter aber entwickeln die Wortgruppen

als solche Stilwerte, die nur im Gefüge von Worten möglich

sind. Das erste ist die Verdinglichung. Das Zusammentreten

mehrerer Wortgehalte engt die sprachlich gestalteten Erfahrungsstücke

ein, sie treten uns deutlich näher, gewinnen

mehr Selbständigkeit und Eigenleben. Darin ruht ja der Wert

des bestimmten Artikels, aber auch die hinweisenden Fürwörter

wirken so. Ein Weiteres ist die Verdichtung. Schon

die Wiederholung hat einen solchen Wert:

|#f0182 : 166|



Nacht, mehr denn lichte Nacht! Nacht, lichter als der Tag!

Nacht, heller als die Sonn! in der das Licht geboren,

Das Gott, der Licht in Licht wohnhaftig, ihm erkoren!

O Nacht, die alle Nächt und Tage trotzen mag!
   (Gryphius)



Die ständige Wiederholung des Wortes »Nacht«, allerdings

auch in der Gegenwirkung zu Licht, Tag usw., treibt den

Gehalt dieses Wortes stark heraus und schafft so das Thema

des ganzen Sonetts. Hier haben wir aber zugleich ein Beispiel

für die Häufung: eine Fülle von Wortgehalten drängen

sich, kein gemüthafter Leerlauf, sondern ein Drängen von

wirkenden Gehalten. Zu den Stilwirkungen der Wortgruppe

gehört auch die sogenannte Anschaulichkeit. Wir wollen

das Wort im strengen Sinn einschränken. Anschaulich sind

solche Worte, die eine anschauliche Vorstellung herrufen

können. Das kann Stilwerte haben:



Der Abend wiegte schon die Erde,

Und an den Bergen hing die Nacht;

Schon stand im Nebelkleid die Eiche,

Ein aufgetürmter Riese da ...


   (Goethe, Willkommen und Abschied)



Es ersteht der Eindruck unmittelbarer Nähe, ja Greifbarkeit

hier einer drohenden Welt, und sogar manche Worte, die die

Anschaulichkeit schon verloren haben, gewinnen sie wieder

und verstärken den Eindruck. Aber: Anschaulichkeit ist keine

unbedingte stilhafte Forderung.



Der Himmel blau und kinderrein,

Worin die Wellen singen,

Der Himmel ist die Seele dein ...


   (Mörike, Mein Fluß)



Manche Worte, die anschaulich wirken könnten, verlieren

sie geradezu hier im Zusammenhang mit anderen. Und doch

wirken die Verse. Die Worte entfalten ein tiefes Gefühl, sie

steigen aus dem Inneren der Seele und ihr Gefühlswert klingt

in wundersamer Weise zusammen. Wir erkennen: das Ausschlaggebende

an den Stilmöglichkeiten des Wortgehalts ist

das Gemüthafte, das er aufklingen läßt, ist der Seelengrund,

der in ihn eingeformt ist. Hier berühren wir einen Punkt, wo

die Dichtung besonders von Plastik und Malerei grundlegend |#f0183 : 167|



verschieden ist. Anschaulichkeit ist eine, aber nicht die einzige

Möglichkeit dichterischer Sprache. Das Entscheidende ist

immer, daß die Worte in ihrem Gehalt deutlich das bloß

Zeichenhafte einer rationalen Begriffsmarke abstreifen, daß

mehr und Tieferes aufleuchtet, daß das Erlebnis, aus dem die

Wortschöpfung als Umgrenzung eines Erfahrungsstücks erwachsen

ist, wieder lebendig wird, oder daß aus dieser ursprünglichen

Erfassungsweise ein Neues plötzlich und eindringlich

aufleuchtet. Und in der Wortgruppe ist es dasselbe:

ein Sinn muß lebendig werden, der nicht im Rationalen

befangen bleibt, sondern das Innerste ertönen läßt aus dem

Zusammenwirken markanter Wortgehalte. Auch Rationales

kann dabei stark heraustreten, aber eben in der Stärke das Mitklingen

größerer Tiefen verraten.



Für die Art einer Dichtung ist auch der Gesamtwortbestand

stilistisch von Bedeutung. Und zwar in verschiedener Hinsicht.

Zunächst schon der Umfang. Geringer Umfang kann

Ärmlichkeit des Weltblickes bedeuten, aber auch daraus hervorgehen,

daß mit wenigen Worten weiteste Bereiche umfaßt

werden. Wir erkennen das vor allem an den beiden Nachtliedern

Goethes. Aber man denke auch an den Unterschied

zwischen einem Märchen von Grimm und einer Novelle

von Th. Mann. »Vorzeiten war ein König und eine Königin,

die sprachen jeden Tag: ›Ach, wenn wir doch ein Kind

hätten!‹ und kriegten immer keins.« Hier sind weiteste Bereiche

(hohes Menschentum, Sehnsucht nach dem Kind,

tiefes Leid) in Worten geformt, die einen weiten und zugleich

tiefen Gehalt haben. Man vergleiche damit den Anfang der

Novelle »Der Tod in Venedig«. Eine Fülle von Worten gestaltet

eine Welt reichster und bis ins einzelne gehender Ausdifferenzierung

und Spezialisierung.



Zudem ist es dem Dichter möglich, im Wortbestand in

seiner Gesamtheit selbst bestimmte Weltsichten künstlerisch

greifbar zu machen. Es kommt dabei vor allem auf die sinntragenden

Worte an: ob sie stark gemüthaft sind oder strenge

Rationalität zeigen, und welcher Art die Gefühlstöne sind.

Der junge Schiller hat in den »Räubern« auf diese Weise schon

die beiden Brüder auseinandergehalten. Karls Worte haben |#f0184 : 168|



trotz allem Furchtbaren, allem Verbrecherhaften und Umstürzlerischen

einen Zug ins Große, Erhabene, ja oft Religiöse.

Franz dagegen spricht bissig, giftig und kalt, seine Worte

sind voll Ekel und grausamem Zynismus. Eindringlich erkennen

wir die stilistischen Möglichkeiten des Wortschatzes

auch an den beiden ersten Strophen der Orphischen Urworte

Goethes. Die Gefühlsträger der ersten Strophe sind: Tag, Welt,

Sonne, Planeten, Gesetz, Sibyllen, Propheten, Zeit, Macht,

geprägte Form. Die der zweiten: umgeht, gefällig, Wandelndes,

wandelt, gesellig, handelt, Tand, durchgetandelt.



Endlich spielen im Gesamtwortschatz auch die Wortarten

eine Rolle: jede erfaßt die Wirklichkeit unter anderem Aspekt.

Das Vorgangswort gestaltet sie als Vorgang in der Zeit und

modelliert diesen Vorgang in mannigfaltiger Weise durch die

Formen, die dem Verb zukommen; das Gegenstandswort

baut den Reichtum an selbständigen Gebilden um uns auf;

das Eindruckswort setzt diese Welt unmittelbar mit unserm

Gemüt in Bezug. Die anderen Wortarten schaffen die mannigfachsten

Verbindungsfäden und Zusammenhänge. So ist

damit dem Dichter die Möglichkeit gegeben, die von ihm

geistig aufgebaute Welt in größter Fülle vor uns auszubreiten

und auch die mannigfaltigste menschliche Einstellung dazu

miteinzuformen. Wenn nun alle Wortarten in den Gefühlsträgern

gleich stark vertreten sind, so wirkt die Fülle harmonisch:

Lebensregung, Reichtum an Gegenständen und

menschlich-gemüthafter Bezug werden gleichermaßen Gestalt.

Herrscht das Vorgangswort vor, so wird das Leben

selbst in seinem Strömen unmittelbar eingefangen. »Sie

klatschte mit den Händen, um ihn zu verscheuchen, dann lief

sie, um ihn wieder nach sich zu ziehen. Sie suchte ihn zu

haschen, wenn er floh, und jagte ihn von sich weg, wenn er

sich an sie zu drängen versuchte« (Goethe, Märchen). Beim

Vorherrschen der Gegenstandsworte ─ die Zahl macht es

nicht aus, sondern die Gehalthaftigkeit, die die der anderen

Worte übertrifft ─ erreicht der Stil bildhafte Geschlossenheit,

also stärkere Stilisierung gegenüber dem strömenden Leben.

»Triumphpforten, Blumenkränze, Laubgeflechte und Guirlanden

von Jasmin, Maienbäume und junge Tannen zwischen |#f0185 : 169|



hellgrünen Birken mit silberweißer Rinde schmückten, wie

zu München am Fronleichnamstag, Häuser und Straßen des

Städtchens« (Fallmerayer). Wenn das Eindruckswort vorherrscht,

geht das Ergriffensein vom Gestalteten in die Formung

mit ein und kann also das Menschliche in der Form

vordrängen: »Einzelne schwarze Knollen von Felsen ragten

über dasselbe [Nebelmeer] empor, dann dehnte es sich weithin,

ein trübblauer Strich entfernter Gebirge zog an seinem

Rande, und dann war der gesättigte, goldgelbe, ganz reine

Himmel, an dem eine grelle, fast strahlende Sonne stand, zu

ihrem Untergang bereitet« (Stifter, Nachsommer).



Worte haben in größeren Zusammenhängen nicht nur

ihren eigenen Gehalt, sondern auch eine Aufgabe als Glieder

in diesem Ganzen. Diese Gliederung ist auch stilistisch in

verschiedener Weise wichtig. Es gibt eine Art der Gliederung,

wo die Worte in ihrem Eigengehalt vorherrschen, ihre

Gliedhaftigkeit ist nur ganz im allgemeinen, oft verschwebend,

angedeutet, die Bezüge zwischen den Worten sind da mehr

zu ahnen. Der Gehalt der Worte schwingt frei und verschwimmt

mit dem der anderen in verschwebenden Beziehungen:





Blutbefleckte Linnen blähen

Segel sich auf dem Kanal.


   (Trakl, Winterdämmerung)



Aber auch wuchtige Wirkungen können so entstehen. Bei

deutlicher und bis ins letzte ausgeformter Gliederung entsteht

Klarheit, Schärfe und Greifbarkeit der Architektur, so

z. B. bei der Fülle von Partikeln in den homerischen Epen.



Es spielt stilistisch auch eine Rolle, wie groß die einzelnen

Glieder sind, ob sie nur aus einem Wort bestehen oder reich

auseinandergefaltet sind. Die reiche Aufgliederung eines

Sprachablaufs ruft Fülle und engste Verflechtung hervor,

auch die Möglichkeiten menschlichen Bezugs sind dann besonders

reich. Hölderlin ist ein Meister solcher reichgegliederter

Gebilde:



Komm nun, o komm, und eile mir nicht zu schnell,

Du goldner Tag, zum Gipfel des Himmels fort!

Denn offner fliegt, vertrauter dir mein

   Auge, du Freudiger, zu ... (Des Morgens)
|#f0186 : 170|



In diesen Versen spielt nun künstlerisch auch die Reihung,

also die sogenannte Wortstellung eine Rolle. Eine Fülle von

Fragen tut sich hier auf: die Reihung der Glieder im Satz,

die Reihung der Unterglieder, die Reihung der Worte in den

Gliedern: alles kann stilistisch bedeutsam werden. Wir wollen

die Stilwerte kurz von zwei Seiten anleuchten. 1. Im Lauf

der Zeit bildet sich in einer Sprache eine bestimmte Ordnungsstruktur

der Reihung aus. Auch diese normale Ordnung kann

stilwertig sein.



... Es tönten rings die Wälder und Hügel nach,

Doch fern ist er zu frommen Völkern,

Die ihn noch ehren, hinweggegangen.


   (Hölderlin, Sonnenuntergang)



Die Reihung ist hier vollkommen normal und trotzdem stilhaft.

Im ersten Vers gestaltet der Dichter zuerst eine allgemeine

Stimmung des Tönens und füllt dann das Bild durch

Einformung des Tönenden auf, in den zwei folgenden Versen

ist durch den ersten (fern) und letzten Stimmungsträger (hinweggegangen)

ein wirkungsvoller Rahmen geschaffen. Auch

die feste Stelle des finiten Vorgangsworts als zweites Glied im

deutschen Hauptsatz bietet stilhafte Möglichkeiten. »Ein

vollbesetztes, ganz neu in den Dienst gestelltes Großverkehrsflugzeug

stürzte ab«; wie anders wirkt der Satz, wenn das

Verbum lautet: »kam an«. Oder: »Er zündete in aller Gemütsruhe«

und nun entsteht die Spannung auf das, was er angezündet

hat ─ ein Pfeifchen oder ein Haus. Selbstverständlich stilwertig

aber wirken vor allem Durchbrechungen der normalen

Ordnung. Diese Durchbrechungen können einen anderen,

eindringlicheren Rhythmus erzeugen, sie können bestimmte

Worte besonders herausstellen und damit bestimmte

Gefühlsabläufe formen, sie können auch Geschlossenheit auflösen

und ein Aufeinanderfolgen von Bildern geben. Statt

»Es ist bitter, wenn man nach Jahren freudloser Arbeit betrogen

dasteht« schreibt H. Grimm einmal: »Es ist bitter,

wenn man betrogen dasteht nach Jahren freudloser Arbeit.«



2. Es lassen sich zwei Grenztypen aufstellen, wie der Dichter

sprachlich die ihm gegenübertretende Welt packt und dann, |#f0187 : 171|



wie er sie dieser Erfassungsart entsprechend im Kunstwerk

neu aufbaut. Die eine Art greift häufig, in kurzen Stößen zu,

es ist ein erregendes Aufbauen, in dem die menschliche Beteiligtheit

stark mitschwingt: unmittelbare Welterfassung

könnte man das nennen.



Schon tönt, schon tönt es ihm in der Brust, es quillt,

Wie da er noch im Schoße der Felsen spielt,

Ihm auf, und nun gedenkt er seiner

   Kraft, der Gewaltige, nun, nun eilt er,

Der Zauderer, er spottet der Fesseln nun,

Und nimmt und bricht, und wirft die Zerbrochenen,

Im Zorne, spielend, da und dort zum

   Schallenden Ufer ... (Hölderlin, Der gefesselte Strom)


Ganz anders, wenn die Gestaltung gleichsam aus einer festen

Geisteshaltung, aus einer Enthobenheit über der Wirklichkeitsnähe

erwächst, mit Umsicht und in weiten Formen,

denen alles einzelne eingefügt ist, die sprachliche Welt aufgebaut

wird. Hier offenbart sich das Menschliche weniger

in der erregten Teilhabe an jedem Einzelakt als in der gemüthaften

Beherrschtheit geistiger Haltung:



Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen,

Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.


   (Goethe, 1. Orphisches Urwort)



Der Satz liegt auf einer anderen Ebene als Wort und Wortfügung.

Wort ─ Wortgruppe ─ Satz wäre also eine falsche

Reihe, denn ein Satz kann aus einem Wort ebensogut bestehen

wie aus einer Wortgruppe. Er gehört zum Bereich

der Rede als eines sinnvollen Sprachgeschehens in bestimmten

Situationen, er ist das kleinste verhältnismäßig selbständige

Glied einer Rede. Er ist selbst ein Vorgang, ohne Rücksicht

darauf, ob in ihm ein Vorgang ausgedrückt wird. Das

Eigenartige liegt nun aber darin, daß der Satz doch wieder

ein Stück Sprachgestaltung ist. In ihm wird also der Redevorgang, |#f0188 : 172|



in dem er sich vollzieht, selbst in die sprachliche

Gestaltung mit einbezogen. Damit wird sofort deutlich: im

Satz wird das Stück Lebensvorgang, das Rede ist, sprachliche

Gestalt. Der Vorgang des sprachlichen Erfassens und Formens

der Welt wird nun selber zum Gebilde.



Diese sprachliche Gestaltung des Sprachvorgangs kann nun

aus den verschiedensten inneren Haltungen erfließen, und

damit ist der Satz eine bedeutende sprachkünstlerische Kraft.

Wir brauchen nur einen Satz Kleists neben einen Stifters zu

stellen, um das zu erkennen.



Schon in seiner Gesamtheit kann der Satz als Lebensvorgang

künstlerische Werte entfalten. Die Dynamik, mit der er

abläuft, ist dabei wichtig. Man vergleiche:



Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei:

Zu leiden, zu weinen,

Zu genießen und zu freuen sich ─

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!
(Goethe, Schluß des Prometheus)


Wie im Morgenglanze

Du rings mich anglühst,

Frühling, Geliebter!


   (Goethe, Anfang des »Ganymed«)



Hier spielt nun schon die rhythmische Gestaltung eine große

Rolle, die Lautungswerte kommen dazu. Auch die Stärke

und Art der Gefühlsgeladenheit gibt dem Satz einen bestimmten

Charakter: Kühle neben Leidenschaftlichkeit, Ruhe neben

Raschheit. So werden im Satz besonders deutlich Gefühlsabläufe

wirklich lebendige Gestalt. Der sogenannte freie Satzbau

ist immer Gestaltung besonderer Gefühlsabläufe. Auch die

Elemente und Glieder der Wortfügung sind für den Stil des

Satzablaufes wichtig, so z. B. die Spannung vom Subjekt

auf das Prädikat. Ich erinnere an die Beispiele für die Stilmöglichkeiten

der Verbstellung. Besonders durch die Stellung

der Negation können die verschiedensten Wirkungen erzielt

werden: von der Verneinung eines einzelnen Wortes über die

in einem Ausruf, die wie Abwehr wirkt, bis zur Verneinung |#f0189 : 173|



eines ganzen Satzes, wenn die Negation am Ende steht und

nun gleichsam das ganze im Satz aufgebaute Stück geistiger

Welt wieder niedergerissen wird. Eindringlich besonders in

einem Satz der »Schwarzen Spinne« Gotthelfs: »Aber solch

süßer Friede, der still des Herrn harrt, war hinten im Tale,

war oben auf den Bergen nicht.«



Stilwerte entfalten dann besonders kurze oder besonders

lange Sätze. Es kommt da immer auf den inneren Antrieb

des Sprechenden an, ob er ein Stück Erfahrungswelt in einem

Zuge geistig neu aufbauen will. Die Haltung, aus der der Antrieb

erfolgt, kann emotional oder rational bedingt sein. Daraus

ergeben sich verschiedenste stilistische Wirkungen. Die

Stilwerte der kurzen Sätze werden erst deutlich, wenn mehrere

aufeinander folgen. Aus zwei Haltungen ergeben sich

stilwertige kurze Sätze. 1. Aus der Haltung der Schlichtheit,

die in einfacher Aufgeschlossenheit Stück um Stück der Erfahrung

in Sprache neu gestaltet. Hier gibt es verschiedene

Spielarten: einfältige Geborgenheit in der erlebten Welt wie

im Märchen, Dumpfheit und Stumpfheit, oder nüchterner

Tatsachenstil, wie ihn Schiller deutlich in seinen Erzählungen

erstrebt. 2. Aus der Haltung der Erregtheit, die aber durch

hinzutretende Gehemmtheit nicht ausschwingen kann. Das

kann Verhaltenheit sein wie im Schluß des »Werthers«, Nervosität

oder auch deutliche Wucht. Ein Gedicht Weinhebers

»Erwiderung auf einen anonymen Brief« schließt, nachdem

schon die vorangehenden Strophen knappe Wucht hatten:



Ihr braucht das nicht. Schlagt tot und beweist!

Ihr habt das Hirn, verrücktes Gewind,

die Welt zu vertieren, die Maschinen speist.

Wir haben gar nichts. Wir sind. Im Geist.



Die mannigfachsten Stilhaltungen erfließen aus langen

Sätzen. Verschiedenes wirkt hier zusammen: die kräftige

Satzintention, also der lange Atem, der ein großes Stück

Weltgestaltung in eine weite Ablaufsbewegung einfängt. Das

Rhythmische spielt herein; der lange Satz ist eine rhythmische

Figur, ein Gebilde, das durch die Ablaufsgliederung bestimmt

ist. Zugleich aber hat er Architektur, innere Geschichtetheit |#f0190 : 174|



im Verhältnis der Glieder zueinander, in der Art dieser Glieder,

ob sie knapp und zahlreich sind, selber lang und daher

durchgegliedert oder ob vielgestufte Unterordnung oder

dauernde Nebenordnung innerhalb des Satzes bestimmend ist.

Bei den einen Sätzen wirkt mehr der rhythmische Ablauf, bei

den anderen mehr der reich entfaltete Aufbau. Es seien im

folgenden einige typische Möglichkeiten stilhafter langer

Sätze angedeutet. Beispiele für jeden Typus hier abzudrucken,

würde zu weit führen, es müssen Hinweise auf bezeichnende

Dichter genügen. 1. Das lyrische Ausschwingen eines großen

Vorgangs der Gefühlsberührtheit durch ein Gegenüber; Bewegung

und Fülle kennzeichnen solche Sätze, wir finden sie

besonders in den Oden und Hymnen Hölderlins. 2. Die ganze

dramatische Gegensätzlichkeit in einem erlebten Stück Welt

wird in einem einzigen Gestaltungsakt geformt; das sind die

berühmten langen Sätze Kleists, etwa die Erstürmung der

Tronkenburg im »Michael Kohlhaas« oder der erste Satz in

der »Anekdote aus dem letzten preußischen Krieg«. 3. Der

lange Satz stellt eine Bilderreihe dar. Dadurch, daß diese Reihe

in einem einzigen Gestaltungsvorgang abläuft, kommt eine

einheitliche Bewegung zustande, die die Einheit der Grundstimmung

durchklingen läßt. 4. Der lange Satz gestaltet

epische Breite und Fülle; in ihm ersteht ein Weltbild in der

Umfassenheit gereiften Erlebens: rhythmische Bewegung

und klare Durchformtheit wirken zusammen, um schon in

diesem Satzbau selbst das Weltbild gleichsam symbolisch darzustellen.

Die großen Sätze in Stifters Romanen sind Beispiele.

Eine besondere Form entwickelt sich, wenn dazu

noch eine Steigerung eingebaut wird, wenn der Rhythmus

gegen Ende intensiviert wird, der Satzbau selbst im Laufe des

Satzes einen Wandel durchmacht, wenn die Gefühlsträger

gegen Ende zahlreicher und gewichtiger werden. Diese Steigerung

kann auch durch Gleichlauf entstehen. So wenn

Stifter in einem Riesensatz der »Letzten Mappe« elfmal mit

Wenn-Sätzen einsetzt und dabei in jedem Wenn-Satz die

Bilder mächtiger werden und eine immer größere Fülle von

Gehalt ausbreiten; der Gleichlauf der Wenn-Sätze aber intensiviert

und bewahrt vor Zerfließen. 5. Ganz anders sind die |#f0191 : 175|



langen Sätze Th. Manns (Anfang des »Dr. Faustus«, Anfang

des zweiten Abschnitts von »Tod in Venedig«): hier ist der

Bewegungsantrieb zur Sprachgestaltung nicht eine mächtige

Gefühlsbewegung, sondern das genaue, beinahe pedantische

Aufbauen einer rational durchdachten Konstruktion; wenn

das in eine zu weite Untergliederung zu führen droht, hilft

ein kleiner Neuansatz, in dem er zusammenfaßt, zurückgreift

und damit weiterführt: ... ─ »ich bitte wieder ansetzen

zu dürfen ...« Auch in solchem Bau wirkt sich eine bestimmte

innerste Haltung aus, die des bewußten Ringens um Fülle und

Überlegtheit zugleich. 6. Wieder einen anderen Charakter

haben die langen Sätze Kafkas. Das Vorgangswort tritt zurück,

kleine Glieder werden ineinandergekeilt, durch Häufung,

durch wiederholte Wenn-Sätze, durch dauernd eingeschobene

Überlegungen entsteht zwar eine deutlich abrollende Bewegung,

aber es fehlt Spannung und Steigerung: der Eindruck

des Leerlaufs drängt sich auf, der Satzbau wird Symbol des

Gehalts: an kein Ziel kommen. 7. Eine letzte Form sei noch

herausgehoben: die langen Sätze in Brochs »Tod des Vergil«.

Intellektualität und Lyrismus stehen hier oft schroff nebeneinander,

aber sie suchen einen Satzrhythmus zu schaffen, der

die Sprache ins rein Dichterische hinüberführt, die Sprache

mündet gleichsam in den Lebensrhythmus ein: breit,

schwingend, ruhelos, mit starken Steigerungen (auch durch

die Aufeinanderfolge der Bilder), oft bis in die Formen des

Hexameters und Pentameters. Diese ungeheuere fortlaufende

Bewegung ist aber klar gegliedert: durch Anaphern, Antithesen,

Wiederholungen. So entsteht oft eine bohrende, beinahe

betäubende Wirkung.



Die reichen Möglichkeiten der kurzen und der langen

Sätze, weiterhin solche, die durch ihre mannigfache Verbindung

entstehen, haben alle den künstlerischen Sinn, daß auch

im Ablauf und Bau dieser Sprachvorgänge selbst die in ihnen

errichtete geistige Welt in ihrer Art lebendig wird, daß zugleich

eine innerste Haltung, aus der gerade eine solche Weltgestaltung

erwächst, in der Dynamik des Satzes Gestalt wird.



Auch die Satzarten enthalten künstlerische Werte. Vor

allem die, die nicht aus dem Wunsch nach Mitteilung hervorgehen, |#f0192 : 176|



eben die, die ein monologisches und chorisches Sprechen

gestalten. In solchen Sätzen formen sich unsere innersten

Gefühle, mit denen wir irgendwelchen bedeutsamen und

erregenden Lagen begegnen. Das geht vom einzelnen Schrei

bis zu den mächtigen Chören der griechischen Tragödie.

Aber auch Mitteilungen können gefühlsgetragen sein, besonders

immer, wenn sie eine Teilnahme für den Mitteilenden

oder das Mitgeteilte zugleich erregen wollen. Solche

Teilnahme wünscht der Sprechende vor allem dann, wenn er

selbst mit der Lage nicht mehr fertig wird: dann befiehlt er,

bittet er, fragt er. In allen Satzarten, die solche Befehle, Wünsche

und Fragen gestalten, drückt sich eine bestimmte Gemütshaltung

aus. Besonders deutlich ist das in den Fragesätzen. Unruhe

und Suchen nach einer Lösung, dann Staunen und Bewunderung

als Wurzel echten Wissenwollens ist die Grundhaltung,

die im Fragesatz ihre Ausprägung findet. Darin ruht auch der

Wert der rhetorischen Frage, die dieses Staunen in erregender

Weise dem Hörer mitteilen will. Die sachliche Mitteilung als

reine Berichterstattung ist Sache der Klarheit und des Verstandes.

Das Gefühl tritt hier zurück. Und doch können auch

solche klare und sachliche Satzreihen eine innerste Haltung

prägen, mithin mit dem Gemüt in unserem Sinn zusammenhängen:

Klarheit und Ruhe, Beherrschung der Lage, Distanz

und geistige Sicherheit formen sich in solchen Sätzen.



Die höheren Einheiten von Sätzen sind in ihrem Bau von

großer künstlerischer Bedeutung, der Stil und seine Art

werden dadurch deutlich bestimmt. In den Satzreihen, also

der Aufeinanderfolge von nicht weiter untergliederten Hauptsätzen,

ist es stilistisch bedeutsam, ob die Sätze ohne sprachliche

Bindung wie Zeigewörter oder Bindewörter aneinander

gereiht sind oder mit solchen. Bei der bindungslosen (asyndetischen)

Reihung bildet das Durchwirken der weiten Satzintention,

die Bindung durch die lautungsmäßige Abfolge

und damit entweder eine gedankliche oder stimmungsmäßige

Einheit die Zusammenfassung. Dabei kann das Fehlen einer

ausgesprochenen und damit klaren Bezugsstiftung zwischen

den einzelnen Sätzen der Stimmung, der inneren Haltung und

ihrem Ausschwingen mehr Möglichkeit geben. Die Bindewörter |#f0193 : 177|



aber schaffen Klarheit, da gibt es kein Ausweichen

mehr, die Haltung der Unbedingtheit, oft beinahe des Aufdringlichen

drängt vor. Ernst Jünger sagt dazu in den »Strahlungen«:

»Zu meiner Neigung, die Sätze durch Konjunktionen

und Partikel einzuleiten, kurz folgendes: nicht nur vom Satz

als solchem ist zu verlangen, daß die Worte, die in ihm auftreten,

in einem notwendigen Verhältnis zueinander sind. Es

ist auch von Vorteil, wenn die Beziehung, die zwischen den

Sätzen waltet, zum Ausdruck kommt: die logische Aufeinanderfolge,

der Widerspruch, die Gleichordnung, die

Steigerung, die Einführung von unerwarteten Gesichtspunkten.

In diesem Sinne gibt es Einleitungsworte, die

Notenschlüsseln gleichen, die den Tonwert, die Stimmung des

Satzes andeuten sollen, der ihnen folgt. Die Worte leben in

den Sätzen, die Sätze wiederum leben in einem weiteren

Zusammenhang«. Die Satzreihen haben epischen Charakter.



Die Gefügesätze, in denen also bestimmte Glieder die Satzform

haben, sind in ihren reichen Baumöglichkeiten stilistisch

von ganz anderer Art. Sie können selbst wieder sehr verschieden

sein. Wie der Dichter sich ihre Anlage denkt, erkennen

wir vielfach an der Satzzeichensetzung. Wenig Beistriche

können ein ständiges Weiterdrängen ohne Pause durch alle

Gliedsätze und Untergruppen bedeuten (Kafka) oder auch das

Schaffen von großen Einheitsbildern (Stifter), viele das deutliche

Abheben der Untergruppen, stoßhaftes Ineinanderkeilen

(Kleist). Gerade diese Art führt uns darauf, daß im hypotaktischen

Gefüge die Glieder ihre Selbständigkeit verlieren, daß

alles in Bezug zu einem höheren Einheitsprinzip steht, daß

vielfache gehaltliche Beziehungen innerhalb des Ganzen hin

und her gehen, daß hier in geistiger Klarheit und gedrängter

Kraft am sprachlichen Neuaufbau der Welt gearbeitet wird.

Das Dramatische drängt in gegliederter Fügung vor.



Dabei spielt nun auch die Gewichtigkeit und Stelle des

sogenannten Hauptsatzes eine stilhafte Rolle. Hier kann auch

eine grammatische Tradition mitwirken: daß nämlich der

Hauptsatz die Hauptsache enthalte. Das stimmt durchaus

nicht immer, aber es führt zu einer Satzintention, bei der der

Hauptsatz das volle Gewicht im Gesamtbau bekommt und so |#f0194 : 178|



der Gefügesatz in ihm seine Krone hat. Geht diese Architektur

durch ein ganzes Werk, so erhält es den Charakter der

Geschlossenheit, Ausgewogenheit, Harmonie. Vielleicht sind

wir bei einem solchen Satzbau auch dem nahe, was man

klassisch nennt. Ganz anders, wenn nach einer Reihe von

Nebensätzen, die bis in Inneres reich ausgeformt sind, ein

knapper Hauptsatz überraschend abschließt. Hier entsteht

eine gewisse Unruhe, Unausgeglichenheit, Erregtheit: ein

eindringliches Beispiel ist der Satz im ersten Teil des »Werther«

vom 18. August, der beginnt: »Wenn ich sonst vom Felsen«.

Man darf allerdings nicht bloß die äußere Länge, sondern muß

auch die sinnmäßige und in den Wortgehalten gestaltete Gewichtigkeit

des Hauptsatzes beachten: ein kurzer Hauptsatz

kann unter Umständen wie ein wuchtiger Schlag abschließen.

Aber die Kuppel wird er dann nicht mehr sein. Die Gliedsätze

selbst haben im Ganzen des Satzes den Wert, daß in ihnen die

Bewegung des Satzvorgangs weiterläuft, ja sogar angereichert

wird: »Da erfuhr ich seinen Tod« ─ »da erfuhr ich, daß er

gestorben war.« Aber auch ihre Form kann künstlerisch belangvoll

sein. Gliedsätze, die nur im Zusammenhang als

Glieder erkennbar, die nicht durch das Einleitewort gekennzeichnet

sind, erwirken eine Art Schwebezustand, in dem erst

durch Zusammenklingen des ganzen Sinnes ihre Einordnung

deutlich wird: »Ist ihm etwas zugestoßen, so werden wir es

bald erfahren.« Hier behält der Gliedsatz noch etwas vom

Wert des Fragens, der Dichter kann solche Möglichkeiten

noch stärker heraustreiben. Der eingeleitete Gliedsatz stellt

ein deutliches Spannungsgefüge, vor allem in der deutschen

Sprache dar: das Einleitewort gibt eine klare Richtung an,

die erst im abschließenden Vorgangswort ihre Lösung findet.

Eine Spannung entsteht, so daß auch hier von einem gewissen

dramatischen Zug gesprochen werden könnte, und dadurch,

daß das Vorgangswort am Ende steht, wird nun das Vorganghafte

nochmals stark herausgehoben. Gerade da aber zeigen

sich deutliche Unterschiede der Gliedsätze. Die Einleiteworte

geben Klarheit und eindeutige Richtung: wenn, obgleich,

dergestalt daß; überhaupt wirkt da schon die lautliche Schärfe

etwa des »daß« herein. Im Anschluß an B. Brecht können wir |#f0195 : 179|



das an folgender Beispielreihe ersehen. »Reiße das Auge, das

dich ärgert, aus.« Gewiß wirkt durch den Gehalt des Wortes

»ärgern« der Gliedsatz schon stärker vorganghaft als es ein

bloßes Eindruckswort tun könnte (etwa: »ärgerlich«). Aber

impulsiver wirkt schon: »Ärgert dich dein Auge, reiß es aus«,

besonders weil man hier auch noch die drängende Frage mithören

könnte. Die wirksamste Form aber erhält das Ganze,

wenn nun der Gliedsatz eine deutliche, scharf einsetzende und

abschließende und damit zugleich unmittelbar weiterführende

Form erhält: »Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus.«



Sprache als Lautung



Unter Lautung verstehen wir alles, was die Sprache als

Hörbares bietet. Mit dem Wort wollen wir dieses sprachlich

Hörbare von den anderen Schallformen abheben. Das

Charakteristische an den sprachlichen Schallformen, also an

der Lautung, ist das Abgrenzende, die deutliche Gesondertheit

und Faßbarkeit der einzelnen Gebilde, das, was man die

Artikulation nennt. Das sind zunächst die Laute. Sie sind nichts

nur Physisches, sondern bereits geistige Leistung, nämlich auswählendes

Herausarbeiten besonderer Stellen im Lautstrom,

also Bestimmungen an den Silben. So entsteht eine Spannung

zwischen Naturhaftem und Geistigem in den Lauten. Silben

sind die kleinsten Glieder des hörbaren Aufbaus der Sprache.

Gewisse Teile an der Wortgestalt sind sinnbedeutsam, andere

nicht; es ist gleichgültig, mit welchem r-Laut im Deutschen

ein Wort gesprochen wird, aber ob ich b oder p spreche,

macht einen Bedeutungsunterschied aus (Bein ─ Pein usw.).

Man denke auch an den Unterschied von vous aurez und vous

saurez im Französischen, der allein in der Aussprache von s

gestaltet ist. Solche sinnbedeutsame Teile nennt man Phoneme.

Aber neben den Lauten, vor allem als Phonemen, gibt es

noch anderes, was zur Lautung gehört, nämlich alle die

Kräfte, die sich erst im zeitlichen Ablauf des Redens zeigen:

Rhythmus, Sprechart, Reime usw. Diese Aufzählung ist unsystematisch.

Die Einheit aller dieser Kräfte der Lautung in

einem Sprachwerk nennen wir dessen Lautungsgestalt.

|#f0196 : 180|



Daß gerade in das Lautungsmäßige der Sprache Gemüthaftes

einformbar ist, daß also hier besondere Stilmöglichkeiten

liegen, ist immer schon erkannt worden. Oft hat man

diese Seite am Stil sogar gegenüber den Möglichkeiten des

Gehalts und Sinnes überbetont. Es handelt sich aber bei diesem

Gemüthaften der Lautung nicht um Modifikationen an der

Lautung, die sich durch augenblickliche Gefühlslagen oder

-wallungen des Sprechers ergeben, sondern um die Frage:

wie wird auch in der Lautung eine innerste Haltung dauernd

gestaltet?



Eine erste sprachkünstlerische Frage ist die Lautungssymbolik.

Wir fragen, ob im Wort als der Gestaltung eines Erfahrungsstückes,

also am Gehalt des Wortes auch dessen

Lautung einen sinn-errichtenden Anteil hat. Ernst Jünger

führt im »Lob der Vokale« folgende Verse an:



Nulla undaDeutsche Übersetzung: Keine Quelle
Tam profunda So tief und schnelle
Quam vis amoris Als der Liebe
Furibunda. Reißende Welle.



Da wird in der Übersetzung nicht nur der Lautungseindruck

anders, sondern auch der Stimmungsgehalt. Also hat das

Lautliche hier an der Sinngestaltung einen Anteil. Freilich

muß man mit größter Vorsicht vorgehen, denn gerade da

sind der Willkür und subjektiven Phantasterei Tür und Tor

geöffnet.



Aber der Zusammenhang von Laut und Sinn läßt sich

begründen: jeder Akt der sprachlichen Welterfassung erfolgt

aus einer bestimmten Grundeinstellung, von der auch die

Bewegungsreaktionen gesteuert werden; diese treten im

Laut in Erscheinung. Die Lautung ist also eine Reaktion auf

ein Gegenüber (deutlich im Schreckensruf), aber auch ein

Vernehmbarwerden des Gegenüber in einem Symbol, den

sogenannten Lautgebärden (wenn ein Kind auf einen Gegenstand

zeigt und ihn benennt). Also können auch in der Lautung

Gemütskräfte gestaltet werden. Aber im Lauf der Ökonomisierung

der Sprache werden diese Kräfte weitgehend

ausgeschaltet; um festzustellen, daß zweimal zwei vier ist, |#f0197 : 181|



braucht es keine symbolhaften Lautgebärden mehr. Von

diesem Augenblick der Sprachentwicklung an kommt es zur

Auffassung von der Zweiheit der Sprache: Bedeutung ─ Laut.

Aber in der Vollsprache des Sprachkunstwerks, in der Dichtung

vor allem, sind auch diese Lautungskräfte wieder da und

wirken sich aus. Sie sind daher für die Erfassung der dichterischen

Sprachkunst wichtig.



Lautung und Gehalt müssen immer als Einheit gedacht

werden: die Lautung ist durch Sinnerfüllung von jedem andern

akustischen Phänomen abgehoben und der Gehalt des Sprachlichen

nur im Lautungsmäßigen geprägt. Nur in theoretischer

Sicht sind da zwei Stilwertgruppen unterscheidbar.

Erst vom Gehalt her erfassen wir auch lautliche Werte: wir

hören sogenannte Lautmalereien nur in einem Sprachgebilde,

das wir verstehen. Nur bei tiefem Erleben eines Erfahrungsstückes

greifen wir zu einem Wort, das auch im Lautungsmäßigen

eindrucksvoll ist. Es kommt so zu einer Art Auslese

der Worte auch im Sinne ihrer lautungsmäßig möglichst

deutlichen Geprägtheit. Lautung ist aber schon an sich sinnträchtig.

Sobald wir Lautung vernehmen, wir also wissen,

daß es sich um Sprache handelt, nehmen wir an, daß das

Gehörte einen Sinn hat, auch wenn wir es nicht verstehen.

Man erzählt von einem witzigen italienischen Geistlichen, der

in einer Predigt die Leute zu Tränen rührte, indem er bloß

das Alphabet lautungsmäßig ausdrucksvoll deklamierte!



Schwierig ist es, wie man diese Lautungssymbolik theoretisch

erfaßt. Man kann von einigen allgemeinen Feststellungen

ausgehen: daß etwa i die Nähe (Kling, hier, dies, engl.

here, frz. ceci) und a die Ferne andeutet (Klang, da, das, there,

cela); daß man gewisse Mundräume mit den Lauten bezeichnet,

die an ihnen gebildet werden: Lippe, labium, lèvre; lingua,

tongue, Zunge; Gaumen, guttural. Und bei Worten wie

flimmern, blitzen, schnellen, bei leicht gebärdenhaftem Sprechen

von schnöde, blöde, graziös usw. kann man behaupten,

man höre in den Laut den Sinn hinein. In der Dichtung vor

allem besteht erhöhte Lautbedeutsamkeit. In Sprachgebilden

gibt es auch Lautungsträger, in denen sich die Stimmung

lautungsmäßig verdichtet, etwa in einem Wort innerhalb |#f0198 : 182|



einer Wortgruppe, in einem Laut innerhalb eines Wortes.

Ein solcher Laut gewinnt in einem solchen Zusammenhang

gleichsam Selbstwert, je häufiger er wiederkehrt, desto eindringlicher

wirkt er.



Damit kommen wir zur Frage nach dem Sinngehalt der

Laute. Mit ihm hat sich die Sprachwissenschaft seit Plato und

haben sich die Dichter immer wieder abgegeben. Da ein

Laut eine ganz gefühlsunmittelbare Reaktion ist, scheint eine

Sinndeutung der Laute möglich zu sein. Aber man muß

dabei folgendes beachten: in der Mühle des Alltagsverkehrs

verlieren Laute jeden Sinnwert; nicht im Affekt: man höre,

wie man in der Erregung die t-Laute in »Trottel« und »Depp«

spricht. Weiter: man muß immer das Lautganze in einem

Sprachgebilde beachten, einzelne Laute wirken stärker, andere

schwächer. Zugleich darf man Laute nicht zu scharf und eng

deuten. Man sollte zur Urgeste der einzelnen Laute aus dem

Vergleich vieler Worte in vielen Sprachen, die denselben

Laut aufweisen, vordringen können, nicht ein sehr spezielles

Gefühl einem Laute zumessen. Die Goetheschen Urphänomene

sollten greifbar werden. Dabei sind Vergleiche lehrreich:

das lateinische Wort »felis« geht auf einen anders gestimmten

Erfassungsakt zurück als das Wort »Katze«, derselbe Gegenstand

wird beidemal anders erlebt und sprachlich geprägt.

Oder: man versuche in Rilkes Bild »der Glieder angespannte

Stille« das Wort »Ruhe« einzusetzen, in Goethes »Über allen

Gipfeln ist Ruh« das Wort »Stille«, um zu erkennen, wie schon

im Lautlichen das eine Mal die Angespanntheit des Horchens,

das andere Mal die Gelöstheit des Friedens Gestalt gewinnt.



Von den Lautungswerten des Zeitablaufs ist der umfassendste

und entscheidendste der Rhythmus. Um sein Wesen zu

erfassen, gehen wir vom Akzent aus, unter dem wir die Gewichtigkeitsabstufung

der Rede meinen, daß nicht alle lautlichen

Teile einer Rede mit demselben Gewicht gesprochen

werden. Es gibt da verschiedene Stufen. Die Gewichtigkeit

kann lautlich Gestalt gewinnen durch Lautheit, Silbendauer,

Höhe eines Lautes usw. Wie diese Kräfte zusammenwirken,

ist in einzelnen Sprachen verschieden. Rhythmus ist teils umfassender,

teils enger bestimmt als Akzent. Denn Rhythmus |#f0199 : 183|



ist zunächst jede zeitliche Gliederung, der ewige Bezug von

Dauer und Wechsel: im Lauf der Gestirne, in den Jahres- und

Tageszeiten, im Wasser, im Wachstum, im Blut, im Atmen.

Er ist sehr tief im menschlichen Leben verankert und ist daher

ein innerstes Prinzip des Menschen bei der Welterfassung, er

bestimmt den Menschen durch und durch und offenbart also

tiefste Seelenkräfte. Er bewältigt das Erfahrene nach tiefinnerlichen

Formen des Menschen und ist eine gefühlhaft

bejahende Reaktion. Zugleich zeigt sich in ihm aber auch das

ästhetische Gefühl der Gliederung. So hat der Rhythmus ganz

bestimmte Wirkungen: die geistige Bewältigung der erfahrenen

Welt in Gliederung und Geordnetheit löst tiefe positive

Gefühle aus, und dadurch steigert sich das gesamte Lebensgefühl.

Die rhythmische Gliederung wird als Geistgeschaffenes

besonders deutlich erlebt, dadurch hebt sich dieses

Geistgeschaffene klar vom Naturgegebenen ab; als Gegennatürliches

wird es gesteigert zum Numinosen; daher spielt

das Rhythmische gerade in kultischen Feiern, im Gesang und

Tanz, eine große Rolle. Rhythmus ist also gemüthafte Gliederung

des zeitlich Verlaufenden. Die wichtigsten Arten sind:

der orchestische Rhythmus, besonders beim Tanz, wo der

Körper der Träger ist, der musikalische und der sprachliche. Sie

können sich in verschiedenster Weise verflechten.



Die bestimmenden Kräfte des Sprachrhythmus sind die

Hebung und die Senkung: das Herausheben der wichtigen,

das Zurückdrängen der unwichtigen Silben. Hebung und

Senkung werden erzeugt durch die Stärkeabstufung des Tons

(besonders im Deutschen), durch die Höhenabstufung (in den

sogenannten »singenden« Mundarten und im Französischen

besonders), durch die Dauer der Silben; diese wieder ist bestimmt

durch den Gehalt, durch das metrische Schema, von

dem wir sprechen werden, und durch den Lautstoff: man

kann »Rosse« nicht so dehnen wie »süßer Friede«. Auch Pausen

spielen eine gliedernde Rolle. Durch das Zusammenwirken all

dieser Kräfte entwickelt sich eine Gesamtlinie des rhythmischen

Ablaufs, vor allem der Charakter des steigenden oder

fallenden Rhythmus. Diese Linie kann sich in verschiedenen

rhythmischen Typen entfalten: im fließenden Rhythmus mit |#f0200 : 184|



schwachen Hebungen und Gleichmäßigkeit der Pausen, im

strömenden der langen Verse mit starken Hebungen, im

bauenden, in dem die Abgehobenheit der Einzelglieder sich

gegenüber dem Ablaufen vordrängt. Das sind sicher nicht

alle Möglichkeiten, aber wichtige. Die Stilwerte des sprachlichen

Rhythmus zeigen sich in der Gestaltung der Hebungen

und Senkungen, ihrer Zahl, Stellung und Stärke; die Hebungen

und Senkungen sind eindringlich, besonders auch die

Spannung zwischen ihnen, die Abstufungen von der stärksten

Hebung zur schwächsten Senkung sind reich. Aus all dem

entsteht eine starke Bewegtheit und Mannigfaltigkeit. So

erzeugt der Sprachrhythmus eine rational nicht erfaßbare

Geordnetheit der Hebungen und Senkungen.



Hier ist der Ort, ganz kurz die Begriffe Vers und Prosa zu

betrachten. Die Meinungen und begrifflichen Fassungen

gehen auseinander. Wir wollen festhalten: Zunächst ist der

Unterschied eine Angelegenheit der Druckanordnung. Aber

dahinter zeigt sich der Unterschied von Sachdarstellung und

Sprachkunst. Auf diesem Hintergrund vollzieht sich eine

ständige Steigerung des Stilhaften der Sprache, die sich in

einer immer stärkeren Ausprägung des Rhythmus offenbart.

Wo dabei das ansetzt, was wir Vers nennen, werden wir gleich

sehen. Die Wirkung dieser fortschreitenden Stilisierung kann

zweifach sein: entweder eine Steigerung der Gemütshaltung,

damit ein Blick in tiefere Bereiche und eine Erhebung über

den Alltag. Oder ein Herausbrechen des Metrums (s. u.), das

nun zu bestimmten Zwecken verwendbar wird: Merkverse.

Prosa kann Dichtung sein, Verse müssen es nicht immer sein.

Nur innerhalb der Sprachkunst hat überhaupt die Scheidung

einen gewissen Sinn, wenn wir nun die Stufen der rhythmischen

Gestaltung
betrachten.



In diesen Stufen kann ein Weg zu einer immer reineren und

höherern Sprachkunst beobachtet werden. Der Ausgangspunkt

für die Erkenntnis ist die Spannung zwischen Satz und

Vers. Den Satz fassen wir hier als die Gesamtheit der Akzentführung

eines geschlossenen Stückes Rede auf. Vers ist vorläufig

ein Gebilde von klar ausgeprägtem Rhythmus. Diese

beiden Prinzipien der Sprachgestaltung stehen in dauernder |#f0201 : 185|



Spannung; durch jedes sprachkünstlerische Gebilde geht so

ein doppeltes Kontinuum. Daraus entstehen Gefahren: Verswidriges

und Satzwidriges, etwa Widerspruch zwischen der

Betonung eines Wortes im Satz oder im Vers. Der Vers kann

den Satz, der Satz den Vers verletzen. In dieser Spannung

liegen künstlerische Möglichkeiten. Vor allem ergeben sich

daraus zwei deutliche Entwicklungslinien: die eine, in der der

Versbau immer entscheidender wird und der Satzbau sich einfügt,

die andere, in der der Satzbau immer klarer vordrängt

und eine starke Satzrhythmik herrscht.



Zuerst verbleiben wir auf einer Stufe vor der eigentlichen

Versgestaltung: im Bereich der Prosa. Prosa ohne Rhythmus,

d. h. in unserem Sinn also ohne gemüthafte Gliederung des

Sprachablaufs, hat bloße Akzentführung: der Text einer

Wegtafel, einer behördlichen Mitteilung. Aber auch Prosa

kann Rhythmus haben: sobald sie Sprachkunst ist, wird aus

dem Wesen der Sprachkunst auch Rhythmus da sein. Schon

hier also liegt eine Gestaltung vor, die aus dem Innersten des

schöpferischen Menschen erwächst. Man denke an die gänzlich

andere rhythmische Führung der Prosa Kleists und Stifters,

um zu erkennen, wie da in der Gliederung des sprachlichen

Ablaufs als Lautung eine innerste Seelenhaltung Form

wird. Auch Broch, Thomas Mann und Döblin können als

Beispiele für ausgeprägten Prosarhythmus genannt werden.

So haben sich im Laufe der Zeiten ganz bestimmte feste

Formen der Prosaführung ausgebildet, besonders für die Satzschlüsse.

Sie sind in der Spätantike zu festen Formeln geworden,

Klauseln oder Kursus genannt. Sie wirken auch in

der Prosa der einzelnen abendländischen Sprachen bis in die

Neuzeit herein, überindividuelle Stilistika, deren Stilwert

zunächst einmal in einem bestimmten Grad der Geprägtheit

auch der Prosa besteht. Sie sind gekennzeichnet durch eine

bestimmte Folge von Hebungen und Senkungen am Satzende.

Folgende lateinische Gruppen mögen als Beispiel dienen:

requiescat in pace (cursus planus); velocitate reduceret (cursus

tardus); esse videatur oder nisi cum grano salis (cursus velox). Ein

ausgeprägterer Grad des Prosarhythmus ist die sogenannte

rhythmische Prosa, wie sie uns in den »Hymnen an die Nacht« |#f0202 : 186|



von Novalis entgegentritt. Hier ist schon eine gewisse Wiederkehr

der rhythmischen Struktur zu erkennen, eine bestimmte

Sprachbewegung.



Heben sich dann deutliche Gliederungsformen unverkennbar

ab, dann betreten wir den Bereich der Verse. Hier nun

sind die zwei erwähnten Linien klar zu verfolgen. Zuerst die

Linie des vorherrschenden Versbaus. Aus der rhythmischen

Prosa kann man sich ─ natürlich nicht geschichtlich, sondern

in dichterischen Seinsformen aufsteigend ─ eine sprachliche

Gestaltung von immer größerer Regelmäßigkeit herauswachsen

denken; daraus wird endlich ein klar beschreibbares und

vernehmbares Schema, das abgelöst und für sich betrachtet

werden kann: das Metrum. Der Reim hilft bei der Heraushebung.

Diese Formen treffen wir, um nur Hauptpunkte

deutscher Entwicklung zu erwähnen, in Otfrieds Evangeliendichtung

im 9. Jahrhundert, in der mittelalterlichen Strophik,

in den Forderungen reinen Wechsels von Hebung und Senkung

bei Opitz, in der reinsten und ausgeprägtesten Form in

der Gedankenlyrik Schillers. Aber auch in der Liedform der

Romantiker sind sie da. Dem Metrum müssen wir uns noch

zuwenden.



Dann die Linie mit bewahrtem Satzbau. Auch hier zeigt

sich eine reiche Entfaltung, die auch in metrischen Formen

faßbar wird, aber doch immer deutlich eigengeprägte Verse

erzeugt. Trotz der möglichen Verflechtungen mit der anderen

Linie müssen hier die reinen Typen herausgehoben werden.

Diese Linie ist schon deutlich da mit der germanischen Stabreimdichtung,

tritt dann etwas zurück, und drängt seit

Klopstock wieder vor. Rein sprachkünstlerisch (und nicht

geschichtlich) gesehen, führt die Linie über bestimmte

Stufen.



Die erste ist die Form des Hexameters; freilich muß hier

die deutsche Art beachtet werden. Vorstufen dazu sind die

Versuche der reinen Nachahmung der griechischen Längen

und Kürzen. Diese Versuche reichen teilweise noch bis zu

Goethe. Sie mußten an der anderen lautungsmäßigen Beschaffenheit

der deutschen Sprache scheitern, denn Länge und

Kürze sind im Deutschen nicht entscheidend. Maßgebend fürs |#f0203 : 187|



Deutsche ist der Daktylus (x́xx); aber da es sehr verschiedene

Daktylen gibt, entstehen trotz einheitlichem Schema (6 Takte,

von denen 1─4 Daktylen oder Trochäen sein können, 5 immer

ein Daktylus, 6 immer ein Trochäus ist) sehr verschiedene

Hexameter, je nach dem Satzbau und der Satzbewegung.

Doch man darf wohl nicht so weit gehen wie F. G. Jünger

(»Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht«) und an allen

möglichen Stellen (z. B. auch bei Luther) Hexameter hören.

Es handelt sich hier eher um einen Urvers, der dem deutschen

Satzablauf sehr entspricht: fallender Rhythmus (daktylisch

und trochäisch) von größerer Länge. Daraus hat sich einerseits

in der Auseinandersetzung mit der griechischen Metrik

der eigentliche deutsche Hexameter, andererseits eine Form

der freien Rhythmen entwickelt. Eine weitere Stufe stellen die

Verse der Odenstrophen dar: darunter sind die seit Klopstock

und Hölderlin bekannten, der Antike nachgebildeten Odenformen

gemeint. Hier herrscht Spannung zwischen Metrum

und Satzbewegung. Ein Beispiel boten die Verse aus Hölderlins

»Gefesseltem Strom« (S. 171). Der Unterschied zur Prosa

ist sehr deutlich, denn man fühlt das doppelte Kontinuum des

Verses und der Satzbewegung. Die dritte Stufe nennt man

meist freie Rhythmen. Aber eine Bindung ist da: Vers und

Satz dürfen sich nicht gegenseitig verletzen. In dreifacher Abwandlung

begegnen uns diese Verse, die eine höchste rhythmische

Stilisierung bedeuten, ebenso wie die künstlerische

Vollendung der metrischen Form, etwa bei Schiller. 1. Der

altgermanische Vers: zwei Halbverse werden zum Langvers

verbunden; der Stabreim (s. u.) bindet die Sinnträger und

zugleich die Halbverse zur Einheit und schafft eine starke Ausprägung

zweier Hebungen in jedem Halbvers; die Zahl der

Senkungen ist frei. So entsteht eine metrisch nicht faßbare,

aber aus dem Gehalt, dem Stabreim und dem Zahlgefühl

erwachsende Rhythmik von besonderer Prägung und heftiger,

oft wilder Bewegtheit. Zwei Verse aus dem Hildebrandslied:





Sunufatarungo iro saro rihtun,

garutun se iro guðhamun, gurtun sih iro swert ana ...
|#f0204 : 188|



2. Goethes Verse in seinen Hymnen:



Spute dich Kronos!

Fort den rasselnden Trott!

Bergab gleitet der Weg;

Ekles Schwindeln zögert

Mir vor die Stirne dein Haudern.

Frisch, holpert es gleich,

Über Stock und Stein den Trott

Rasch ins Leben hinein!
(Schwager Kronos)



Es sind Verse mit einer selbstverständlichen Begrenzung

durch Sinntakte, Vers und Satz verletzen sich nicht gegenseitig,

doch die Verse zeigen eine gewisse Regelmäßigkeit

der Hebungsverteilung.



3. Hölderlins Hymnenverse:



Nah ist

Und schwer zu fassen der Gott.

Wo aber Gefahr ist, wächst

Das Rettende auch.

Im Finstern wohnen

Die Adler und furchtlos gehn

Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg

Auf leicht gebaueten Brücken.

Drum, da gehäuft sind rings

Die Gipfel der Zeit und die Liebsten

Nahe wohnen, ermattend auf

Getrenntesten Bergen,

So gib unschuldig Wasser,

O Fittige gib uns, treuesten Sinns

Hinüberzugehn und wiederzukehren.
(Patmos)



Die Verse erscheinen unregelmäßig und willkürlich. Aber die

Versenden hängen mit den rhythmischen Gipfeln zusammen:

entweder stoßen durch diese Verstrennung rhythmische

Gipfel zusammen, oder ein solcher bildet das Versende, oder

das Versende weckt Spannung auf ihn. So sind Stauung

und Spannungsladung die Kennzeichen. Daraus entstehen

Wucht, tiefe Gliederung, deutliche Kraftfelder. ─ Also auch

die freien Rhythmen haben eine deutliche und strenge

Rhythmik, abgehoben von jeder anderen, auch sehr von der

rhythmischen Prosa. Auch sie sind eine Höchstform rhythmischer

Gestaltung.

|#f0205 : 189|



Diese fortschreitende Stilisierung durch den Rhythmus auf

den zwei angedeuteten Linien läßt dreierlei erkennen: Auf

diesem Weg wird die Lautung immer wesentlicher in das

Stilganze eingefügt, das Sprachkunstwerk gewinnt an künstlerischer

Fülligkeit; durch das starke Hervortreten des Rhythmus

als des durchgehenden Gestaltungsprinzips rückt das

Sprachkunstwerk vom gestalteten Erfahrungsbereich immer

mehr in einen Bereich reiner geistiger Schöpfung hinüber;

diese Verdichtung ins geistig Wesenhafte erfließt aus bestimmter

Gemütshaltung, so daß die ganze Sprachgestaltung dadurch

bedingt erscheint.



Wir müssen uns nun den metrischen Formen zuwenden, die

ja nicht nur das Wesen der ersten Entwicklungslinie in die

höchste Rhythmisierung bestimmen, sondern überhaupt für

die Verskunst von entscheidender Bedeutung sind. Unter

Metrum verstehen wir ein abstrahiertes Schema rhythmischer

Geordnetheit, das im Sprachwerk verwirklicht wird. Aus dem

Metrum entstehen strenge, aber geschichtlich bedingte Formen.

Sie unterscheiden sich in ihrer Durchführung in den

einzelnen Sprachen. Besonders in den antiken Sprachen ist das

Metrum in der Verskunst wichtig. Die rhythmische Hebung

ist durch die Länge gekennzeichnet, der normale Wortakzent

vor allem durch die Tonhöhe. Durch die strenge metrische

Form entsteht der Eindruck der Geschlossenheit, der Dauer und

der Vollendung in griechischen Verswerken. In den romanischen

Sprachen herrscht eine Ausgeglichenheit der Lautungsreihen

vor, es wirkt ein Sinn für Silbenzahl. Im französischen Vers

stehen sich zwei Prinzipien gegenüber, wovon das erste besonders

in der klassischen Zeit vorherrschend war, das andere

seit der Romantik mehr vordringt: jenes ist das Alternieren,

d. h. regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung;

dieses betont mehr die Wiederkehr gleicher Zeitglieder, wobei

die Tonstärke eine Rolle spielt. Die Versform bildet ein

festes Maß der Schließung. Im germanischen Vers (also heute

vor allem im deutschen und englischen) herrscht der Starkton

in Akzent und Rhythmus vor, daher wird Einklang von

rhythmischer Hebung und Wortbetonung nötig. Die Sprache

erscheint hier wichtiger als das Metrum. Während das alternierende |#f0206 : 190|



Prinzip zu einer harmonischen Schmeidigung in

höchster Form drängt, führt das Prinzip der Hebung der

Sinnträger und damit die Möglichkeit der freien Senkungsfüllung

─ die Zahl der Senkungssilben ist nicht fest geregelt ─

zur Steigerung des sprachlichen Ausdrucks.



Im Aufbau der metrisch gestalteten Gedichte bildet das

kleinste Glied der Takt: es ist die zeitlich gleiche Spanne von

Hebung zu Hebung. Daraus hat man die vier vorzüglichen

Taktarten herauskristallisiert: Trochäus (x́x) und Jambus (xx́)

mit einer Senkungssilbe, Daktylus (x́xx) und Anapäst (xxx́)

mit zweien. Neuerdings aber hat man erkannt, daß doch auch

eine andere Versgliederung durchklingt, die an zwei Versen

aus dem Parzenlied in der »Iphigenie« deutlich wird.



Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht;

sie halten die Herrschaft in ewigen Händen.


Die taktmäßige Gliederung von Hebung zu Senkung wäre:



   x / x́xx / x́xx / x́xx / x́ / ─ x / x́xx / x́xx / x́xx / x́x



Sie kreuzt sich hier deutlich mit den Sinneinschnitten. Nach

diesen entsteht folgende Gliederung:



   xx́x / xx́x / xx́x / xx́ / ─ xx́x / xx́x / xx́xx / x́x



Man spürt ihr an, daß sie auch eine rhythmische Aussagekraft

hat. Man greift für diese Gliederung wieder auf den

Namen Versfuß zurück. Auf die mannigfachen Beziehungen

zwischen diesen beiden Prinzipien der Takt- und Versfußgliederung

können wir hier nicht eingehen. Aber man

erkennt, welche vielfältigen Möglichkeiten rhythmischer

Durchgliederung und rhythmischer Bewegung es gibt. Die

nächste Einheit ist der Vers. Die Metriker stellen fest, er bewege

sich in den Grenzen zwischen 2 und 16 Takten. Entscheidender

ist hier das Druckbild, weil es Willen und Gestaltungsgrundsatz

des Dichters zeigt. Ich verweise auf den

ersten Vers der Patmoshymne. Sobald allerdings ein metrisches

Schema zugrunde gelegt wird, prägt sich bald der Eindruck

einer bestimmten Länge ein, und nun wird der Vers selbst zum

festen Glied der gesamtrhythmischen Gestaltung. Die Länge

der Verse ist von bestimmter künstlerischer Wirkung. Man |#f0207 : 191|



bedenke, wie anders die rhythmische Gliederung ist, wenn man

die Goetheverse:



Wie herrlich leuchtet

Mir die Natur!

Wie glänzt die Sonne,

Wie lacht die Flur!
(Mailied)



so schreibt:



Wie herrlich leuchtet mir die Natur

Wie glänzt die Sonne, wie lacht die Flur!


Die innere Bewegtheit ist beide Male eine ganz andere. Die

höchsten Gliederungsformen sind der Absatz ohne feste Verszahl

und die Strophe mit fester Verszahl: eine in sich geschlossene

und wiederkehrende Versgruppe, in der vielfach

der Reim mitwirkt.



Das im Grunde jedes Gedichts mitschwingende Schema

rhythmischer Geordnetheit, das Metrum, ist ablösbar (man

kann es mit Zeichen festlegen), daher anwendbar und dadurch

konventionalisierbar. Aber trotzdem müssen wir festhalten,

daß diese Schemata einen bestimmten Charakter haben und

damit eine Gestaltung aus dem Inneren ermöglichen. Wichtiger

aber als diese Ablösbarkeit ist die Frage: Wie wird dieses

metrische Schema sprachlich erfüllt? Damit berühren wir erst

den Bau des Schemas und seinen Stilwert. Denn zwischen

dem Schema und der sprachlichen Erfüllung gibt es die verschiedensten

Beziehungen.



Voraussetzung dafür, die sprachliche Erfüllung des Schemas

in ihren Stilwerten zu erkennen, ist es, daß wir das Schema

selbst haben. Man kann beobachten, daß man im Erfassen der

künstlerischen Form eines Gedichts unruhig und unsicher ist,

bis einem das Metrum aufgeht, in dem es gebaut ist. Hat man

das Metrum erfaßt, dann tritt eine Art Lösung ein, sogar eine

gewisse Beruhigung. Das Metrum klingt dann mit und gibt

dem Ganzen einen Rahmen. Aber es ist nicht immer einfach,

es zu finden, und gerade solche Unsicherheiten führen wieder

zu Stilfragen. Eine erste ist schon die Frage des fallenden und

steigenden Rhythmus. Manche glauben, dem Deutschen

eigne nur der fallende Rhythmus, es gebe also nur Auftakte

am Versbeginn, nur Trochäen und Daktylen. Aber man kann |#f0208 : 192|



doch auch im deutschen Vers deutlich steigende Bewegung

erkennen, einen Rhythmus nach vorwärts und aufwärts.

Sicher aber ist nicht alles jambisch, was mit einer Senkung

beginnt. Das ist wichtig, die mannigfachen Möglichkeiten

zweier bekannter Versformen zu erfassen: des Knittels und des

Blankverses. Der Knittel hat vier Hebungen, alles andere ist

frei. Aber doch nicht so frei, daß man nicht ein regelmäßiges

Schema dahinter spürte; auf einen Knittel könnte man zur

Not marschieren, nie auf einen altgermanischen Langzeilenvers.

Da nun auch der fallende Rhythmus, der Auftakt und

der steigende Rhythmus im Knittel bedeutsam sind, hat er

wirklich vielerlei Bewegungsarten. Der Reim, der meist zwei

Verse bindet, gibt ihm eine weitere Eigenart. Auch der Blankvers

im deutschen Drama ist nicht einfach ein jambischer

Fünftakter. Die Grundhaltung des Alternierens geht freilich

bestimmend durch. Aber es gibt eine Fülle von Modifikationen,

die eben den Blankvers so geeignet machen, alle möglichen

Haltungen und Bewegungen zu gestalten. Es tauchen ab

und zu sechs oder vier Hebungen auf, die Pausen im Vers

können an verschiedenen Stellen stehen. Die Hebungen und

Senkungen müssen nicht alle von der gleichen Tonstärke oder

-schwäche sein. Es gibt sogar sinnschwere Senkungen, die für

einen Augenblick den Gesamtcharakter des Verses ändern.

Im folgenden Vers aus der »Natürlichen Tochter« kommt es

auf die Entgegensetzung der Fürwörter an:



Ich soll dich leiten, und du leitest mich.


Sehr verschieden kann der Anfang des Blankverses sein: rein

jambisch etwa im Anfang der »Iphigenie«:



Heraus in eure Schatten, rege Wipfel ...


Fallender Rhythmus mit Auftakt dringt durch:



Durch diese hohle Gasse muß er kommen.


Folgende vier Blankverse zeigen weiter, wie eigenartig der

Anfang einsetzen kann:



Diesen Buttler geb ich noch nicht auf; ich weiß ...
(Wallenstein)

Zieh oder folge, wenn ich nicht auf ewig ...
(Tasso)

Mißgünstig sieht er jedes Edlen Sohn ...
(Iphigenie)

Was? Aufgeopfert wurd ich ihren Klagen?
(Wallenstein)

|#f0209 : 193|



Endlich bietet auch der Versschluß Stilmöglichkeiten: er kann

stumpf oder klingend sein; dabei kommt es wieder darauf an,

ob viele stumpfe oder klingende einander folgen, ob starker

Wechsel da ist oder endlich, ob und welche Verse in den

nächsten übergehen (Zeilensprung, Enjambement).



Die metrische Gestaltung hängt auch davon ab, ob die

Takte je für sich stehen oder zu Gruppen, meist von zweien,

zusammengefaßt werden. Das Schema zweier Verse kann

äußerlich gleich sein, und doch ist ihr Rhythmus ganz verschieden.

Wir stellen nebeneinander:



Und frische Nahrung, neues Blut ...
(Goethe, Auf dem See)

In allen Wipfeln spürest du ...
(Goethe, Ein gleiches)



Absichtlich sind im zweiten Beispiel zwei Verse in einen geschrieben

worden, um die Bedeutung der Versgrenze gleich

deutlich zu machen. Aber es sind noch folgende Unterschiede

da: die Hebungen im ersten Vers sind stärker; das Tempo,

durch den Gehalt bedingt, ist verschieden; der erste Vers ist

der Gedichtanfang, der zweite nicht; die Wirkung des mit

Konsonant schließenden Wortes »Blut« ist anders als »Du«, das

offen liegt und auf den Reim mit »Ruh« vorbereitet. Hier

erkennen wir, daß andere Lautungskräfte mitwirken, sogar

Sinn und Wortgehalt. Manchmal aber dürften auch die metrischen

Schemata, die auf den ersten Blick gleich scheinen, verschieden

sein; die durch den Gehalt bedingte Gesamtlautungsgestalt

ist hier entscheidend bei der Beurteilung. So liegt wohl

sicher in den folgenden beiden Versreihen von Faust II auch

verschiedenes Metrum vor:



[Beginn Spaltensatz]

Leichter umschweb ich hie

Muntres Geschlecht.

Ist nun die Melodie,

Ist die Bewegung recht?
[Spaltenumbruch]

Heilige Poesie

Himmelan steige sie!

Glänze der schönste Stern,

Fern und so weiter fern.
[Ende Spaltensatz]



Wichtig für die stilhafte Wirkung ist dann auch die Spannung

zwischen der Satzbewegung und dem Metrum. Wenn

eine Senkung sinnschwer ist und eine Hebung dagegen gedrückt

wird, spricht man von schwebender Betonung.



Dumpf brausend wie des Meeres Wogen
(Schiller, Kraniche)

|#f0210 : 194|



Die erste Silbe ist keine reine Senkung und die zweite keine

reine Hebung, wie das jambische Schema verlangte. Aber

diese Gleichgewogenheit, die sich aus der Sinnbewegung

ergibt, dämpft und dehnt zugleich und treibt den Gehalt des

Wortes erst recht heraus. Schwebende Betonung, das heißt

also Spannung zwischen Vers- und Wortbetonung, muß kein

Stilunwert sein, im Gegenteil: es können besondere gehaltintensivierende

Wirkungen entstehen; aber nur deshalb, weil

eben das metrische Schema durchklingt; sonst gäbe es ja keine

Spannung. Freilich kann, versgeschichtlich gesehen, immer

stärkeres Vordringen schwebender Betonung auch eine langsam

sich vollziehende Befreiung von den bisher bindenden

Gesetzen bedeuten. Solcher Befreiungskampf gegen Formgesetze

kann neuen Stilwerten der Sprache zum Licht verhelfen.

Aber jede intensivierte rhythmische Gestaltung enthält

im Untergrund ein bindendes rhythmisches Gesetz. Fehlt

ein solches vollkommen, so wird der Vers zerstört. Es ist sehr

die Frage, ob man bei gewissen Experimenten übermoderner

Lyriker noch von Versen reden kann. Die Gefahr der Zersetzung

und der Auflösung ist da. Denn keine Kunst ohne

bindende Gesetze.



Neben dem Rhythmus spielen noch andere sprachliche

Kräfte im Lautungsablauf eine Rolle. Über drei gehen wir

ganz kurz hinweg. Schwer ist die Melodie zu erfassen, weil

leicht die subjektive Art des Vortragenden sich vordrängt.

Aber daß die Folge der hohen und tiefen Tonlagen, besonders

der Sinn- und Stimmungsträger ─ und nur das sollte man als

Sprachmelodie fassen ─, auch zum Charakter eines Sprachkunstwerks

beiträgt, ist sicher. Gebrochene Tonfolgen,

deren Hebungen in der Höhe wechseln, gestalten Erregung,

stetige dagegen gewisse Ausgeglichenheit. Es gibt in den

Sprachgebilden auch eine bestimmte Klangart: alles was mit

dem Tonlichen des Sprechens zusammenhängt: Lage der Tonhöhe,

Fülle des Stimmklangs, bedecktes und freies, ruhiges

und vibrierendes Sprechen. Die Sprechart hängt vor allem von

der Lautgestaltung, von der Artikulation, ab. Trotz des

Reimes wirken »Brocken« und »Glocken« ganz verschieden,

weil die Anfangskonsonanten in ihrer Art ganz verschieden |#f0211 : 195|



sind. Fülle der Vokale oder Konsonanten, besonders im Auslaut,

Silbenzahl der Worte, Lautheit, Tempo, Pausen: das

alles wirkt mit an der Lautungsgestalt eines Sprachkunstwerks.



Manche lautungsmäßigen Gebilde haben Stilwert nur, weil

oder wenn sie sinnbezogen sind. Erst weil gerade solche Formen

ein Beitrag zur Erfahrungsgestaltung in der Sprache

sind, wirken sie künstlerisch. Man spricht dabei oft von

Sprachschmuck. Da denkt man daran, daß nachträglich

eine sprachliche Formulierung durch Schmuckformen aufgehöht

wird. Das ist sicher manchmal der Fall; wir finden es

in romanischen Sprachen, wir finden es im 17. Jahrhundert.

Aber gerade solche Schmuckformen deuten doch auch an,

daß hier eine Sprachgestaltung aus vollem Erleben, aus einem

Streben nach einer bestimmten Schönheit versucht wird. Eine

innere Haltung drängt in der Freude an Schmuck, im Willen

nach voller Sprachgestaltung vor: es ist wieder stilhafte

Sprachform. Zwei große Gruppen lassen sich unterscheiden.



Die sogenannte Lautnachahmung ist auch Gestaltung, sie ist

geistiger Neubau in der Sprache. »Gazouiller« und »rieseln«

formen sprachlich-lautnachahmend dasselbe außersprachliche

Phänomen. Aber es ist Formung mit den Phonemen der

Sprache, hat lautliche Artikulation. Das gilt auch für alle Tierstimmennachahmung

in der Sprache. Einmal sprachlich geprägt,

erfassen wir sogar die Tierstimmen nur mehr in dieser

Prägung. Meist besteht die Lautnachahmung im starken

Hervortreten bestimmter Lautgruppen. Eine Fülle von Beispielen

bietet Goethes Hochzeitslied. Die Sucht kann übertrieben

werden und führt zur Manier, wie in Däublers »Nordlicht«

manchmal.



Anders sind die gleichlautenden Gebilde: mehrere Worte

stimmen in gewissen Teilen lautlich überein. Am wichtigsten

sind die Alliteration, die Assonanz und der Vollreim. Durch

gleiche oder ähnliche Lautung in mehreren Worten werden

gleiche oder ähnliche Einstellungen geweckt. Damit ist

diesen Worten ein gemeinsamer Stimmungsgrund gegeben,

aus dem dann der Gehalt der Worte in besonderer Weise aufleuchten

kann. Entweder rückt dabei der Gehalt der lautlich

gebundenen Worte einander näher und ein neuer Blick in |#f0212 : 196|



die Welt tut sich so auf, oder im Gleichklang wird die gehaltliche

Unvereinbarkeit besonders aufdringlich, so daß die Gehalte

erst recht auseinandertreten. Die Alliteration ist der

Gleichklang von Wortanlauten. Sie bindet die Worte aneinander

und treibt ihren Gehalt heraus, indem zugleich der

Laut selbst seine Werte entfaltet:



Und wie's auch rast und ringt und rennt,

Wir kriegen es unter, das Element.


(Fontane, Brücke am Tay)



Eine besondere Form der Alliteration ist der Stabreim. Wir

sprechen von ihm nur im altgermanischen Vers und in dessen

Nachahmungen (z. B. R. Wagner). Er bindet die Hebungen,

die ja zugleich Sinnträger sind, zusammen und formt so den

Vers. Da er nur die Gipfel zusammenfaßt, entsteht eine starke

Bewegung.



Laß den Winter uns warten und in Wonnen leben,

plaudern und trinken trefflichen Met

die Hunnen lehren Heerwaffenrüsten,

die wir kühn im Feld führen werden.


(Hunnenschlachtlied, übers. Genzmer)



Die Assonanz ist der Zusammenklang der Tonvokale mehrerer

Wörter. In dieser Bindung können die Vokale ausschwingen,

ein Gefühlsstrom wird lebendig. Besonders im

Spanischen und Italienischen entstehen solche Wirkungen.

Deutscher Meister ist Brentano. Die Assonanz kann Worte im

Versinnern binden oder auch am Versende. Die erste Strophe

von Hofmannsthals »Terzinen über Vergänglichkeit« ist

geradezu auf dem a-Laut aufgebaut:



Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:

Wie kann das sein, daß diese nahen Tage

Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?


Der Vollreim, der also die Worte vom Tonvokal an bindet,

steht meist am Versende. Er hat einen großen Funktionsreichtum.

Seine Vielgestaltigkeit tritt in den abendländischen

Sprachen an Stelle der reichgebauten antiken Strophik. Im

Italienischen und Spanischen hat er einen starken klanglichen |#f0213 : 197|



Wert, wird leicht zum Lautspiel. Er ist in diesen Sprachen,

auch wegen ihrer freieren Wortstellung, nicht so nötig wie

im Französischen, wo er oft allein beim strengen und klaren

Satzbau dieser Sprache Verse von Prosa abheben kann. So

hat schon Voltaire erkannt. Im Vollreim ist die sinnenthüllende

Kraft der gleichlautenden Gebilde am stärksten entfaltet.

Wenn einmal die Reimbewegung angelaufen ist, wirkt

das zweite Reimwort auf das erste zurück und läßt es noch

einmal in bestimmter Beleuchtung wirken, zugleich aber

wird die Erwartung auf das kommende Wort geweckt und

dieses sofort in eine bestimmte Lautungssphäre gehüllt. Die

Erwartung kann im gehaltlichen Zusammenstimmen erfüllt

oder im gehaltlichen Widerspruch enttäuscht werden, aber

immer entstehen auch Sinnerlebnisse. In den freien Versen

Wielands neckt uns oft das Reimwort, weil es wegen der

verschiedenen Länge der Verse bald zu früh, bald zu spät zu

kommen scheint. Auch einen architektonischen Wert hat

der Reim: nicht nur in den kunstvollen und verwickelten

Reimbindungen des Minnesangs etwa, wo der Strophenbau

damit die feste Form erhält, sondern auch heute noch, wo wir

in dieser Hinsicht nicht mehr so feinhörig sind. Der Reim

schafft aus Versen zusammenhängende Gebilde und enthebt

uns auch so dem Alltag. Gehaltlich erwirkt er oft Verschmelzung

der Wortgehalte wie in den berühmten Versen im

dritten Akt von Faust II, wo Faust Helena das Reimen lehrt.

Freilich kann er auch ästhetisch nachteilig werden. Er verhindert

oft kraftvolle, weitschwingende rhythmische Gebilde

und kann bei Abgedroschenheit (Herz ─ Schmerz!)

oder bei zu großer Häufigkeit geradezu Unlust wecken.



Schon bei Betrachtung einzelner rhythmischer und metrischer

Formen haben wir erkannt, daß andere Lautungskräfte

miteinwirken und damit dem Rhythmus eines bestimmten

Gedichts erst sein eigenes Gepräge geben. Das waren nur besondere

Fälle. Aber wir müssen uns jetzt bewußt werden, daß

auch in der Sprache als Lautung die Elemente nur theoretisch

herausgelöst und betrachtet werden, daß im Kunstwerk aber

alles zusammenwirkt. Diese Verflochtenheit aller Lautungskräfte

und ihr organisches Zusammenwirken nennen wir die |#f0214 : 198|



Lautungsgestalt. Sie ist zwar erst im Erklingen der Dichtung

verwirklicht, aber bereits in der künstlerischen Gestalt vorhanden,

vom Dichter aus den Möglichkeiten der Sprache

herausgeformt.



Die Lautungsgestalt ist ein Gefüge von bestimmtem Bau.

Es gibt eine Fülle von künstlerischen Weisen des Zusammenwirkens.

Es können alle Kräfte, die wir früher im einzelnen

erwähnt haben, von gleichgewogener Bedeutung fürs Ganze

sein, es können ein oder nur wenige Elemente heraustreten

und damit dem Gebilde einen bestimmten Charakter aufprägen.

In der Lautungsgestalt kommt es zu einer weiteren

Verdichtung der Stilkräfte. Sie in ihrem reichen Gewebe

von Rhythmus, Melodie, Klangart, Sprechart und den sinnbezogenen

Formen verschiedenster Art gibt oft dem sogenannten

Gehalt erst sein volles Dasein im Gedicht und damit

seine Wirkung. Nicht bloß in der »Bedeutung« der Worte

und im Sinngefüge der Sätze lebt der Gehalt einer Dichtung,

sondern auch in der Lautungsgestalt. Man konnte zeigen,

wie gewisse Ideenzusammenhänge in Faust II erst in dem

rhythmischen Ablauf leben. Zugleich ist vor allem in der

Lautungsgestalt auch der Gefühlsuntergrund da, denn gerade

im Lautungsmäßigen liegt die reinste, weil ausschließliche

Gestaltung des Gemüthaften. Aber es besteht nicht nur die

theoretische, sondern auch die praktische Gefahr, dieses Lautungsmäßige

aus dem Ganzen abzulösen; damit würde es zu

brauchbaren und aufklebbaren Formeln entwertet, zu unorganisch

aufgesetztem, an sich wertlosem Schmuck.



Erst aus dem Ganzen der Lautungsgestalt werden bestimmte

Vers- und Strophenformen in ihren stilhaften Werten erkennbar.

Das metrische Schema allein oder die Feststellung von

Verszahl und Reimfolge machen den Wert von Vers- und

Strophengebilden nicht aus; der Klang, die Melodie, das

Tempo, die Pausen, das Zusammenwirken der Vokale und

Konsonanten, die Lautnachahmung und die verschiedenen

Gebilde des Gleichlauts wirken mit.



Beim Knittel und beim Blankvers haben wir diese Zusammenhänge

schon teilweise erkannt. Hier seien noch einige

Beispiele von Vers- und Strophenformen auf ihren Stilwert |#f0215 : 199|



hin gestreift. Eine genaue Besprechung wäre Sache einer

Versgeschichte oder eigentlichen Verslehre. Der Hexameter

ist in seinen Regeln sowohl als auch in seinem Grundcharakter

und seiner ideellen Stelle auf dem Weg zur höchsten Rhythmisierungsform

schon erwähnt worden. Die Grundform ist

klar: längere Taktreihen daktylischen und trochäischen Gepräges.

Aber gerade sie läßt großen Stilreichtum zu. Wir

heben zwei Grenzformen heraus:



Bang bewegte sich Hermann und winkte dem geistlichen Freunde,

Daß er ins Mittel sich schlüge, sogleich zu verscheuchen den Irrtum.


(Goethe, Hermann und Dorothea)



Hier haben wir die strenge Form, wie sie sich aus der Auseinandersetzung

mit der antiken Verskunst im Deutschen

ausgebildet hat: Fortlauf der Bewegung und trotzdem Geschlossenheit

durch den klaren metrischen Aufbau mit deutlicher

Schlußwirkung. Der Versbau bestimmt, der Satzablauf

fügt sich ihm aber ein, daraus das ruhige Strömen: ein

rein epischer Vers.



Und es führten das nächtliche Heer die Sünden der hohen

Und weitgrenzenden Seelen, die dich in der himmlischen Schönheit,

Fromme Tugend, sahn, doch deinem Lächeln nicht folgten.


(Klopstock, Messias)



Die metrische Geschlossenheit des strengen Hexameters ist

nicht mehr da, die Satzbewegung und deren Sinneinschnitte

bestimmen den Ablauf. Er wird heftiger bewegt, vor allem

treten nicht mehr sechs Hebungen gleich stark hervor, sondern

weniger, aber heftiger. Der Vers verliert den epischen

Charakter, er ist mehr lyrisch und dramatisch. Dazwischen

liegen verschiedene Arten. Auch der Alexandriner, der im

Deutschen weniger wichtig ist, hat ein deutliches Eigengepräge.

In seiner klassischen französischen Form, also vor

allem im 17. Jahrhundert, ist er ein 12- oder 13-Silbler rein

alternierender Art mit scharfem Einschnitt nach der dritten

Hebung; nur der dritte und sechste Takt müssen mit der

Prosabetonung übereinstimmen:



O ciel! Oenone est morte, et Phèdre veut mourir.
(Racine, Phèdre)

|#f0216 : 200|



Im Deutschen wird er zum jambischen Sechtstakter mit dem

gleichen scharfen Einschnitt in der Mitte:



Der schnelle Tag ist hin; die Nacht schwingt ihre Fahn ..
(Gryphius)



Diese Zweischenkligkeit gibt ihm den gewissen starren, aber

feierlichen Gang. Nun aber hat man erkannt, daß auch im

Französischen der Alexandriner ein freieres Grundgerüst

haben kann, besonders in neuerer Zeit: in jeder Hälfte zwei

Takte mit Freiheit der Senkungssilben. Dadurch gewinnt

er große Beweglichkeit aus dem Gehalt. Zwei Verse nach

Grammont (Le vers français) mit dessen Takteinteilung:



Il était nu / comme Eve ‖ à son premier / péché.

Nu / comme un plat d'argent ‖, nu / comme un mur d'église.


Wie herrlich über dem Grundgerüst sich auch der deutsche

Alexandriner erheben kann, haben R. A. Schröders Übersetzungen

Corneilles und Racines gezeigt.



Die Strophenformen, also Gebilde mit dem Prinzip der

Wiederkehr, haben auch bestimmte künstlerische Wirkungen.

Das Gepräge einer Strophe tritt um so leichter hervor,

je stärker die einzelnen Formelemente durchdringen. Es

wirkt ähnlich wie das rhythmische Schema gleichsam als

Untergrund und ermöglicht verschiedene Abwandlungen:

nicht nur im zeitlichen Verlauf, sondern auch aus dem Gehalt.

Wie jede Strophe ihren Charakter hat, das kann man

an dem mehr virtuosenhaften Versuch Weinhebers ersehen,

der eine Hölderlinsche Ode einmal in verschiedene Strophenformen

umwandelte und dabei auch den Gehalt veränderte.



Drei wichtige Formen kennen wir. 1. Das Distichon. Die

Verbindung eines Hexameters mit einem Pentameter (dritter

und sechster Takt besteht bloß aus einer Hebung, sonst wie

Hexameter) zeigt eine wunderbare Vollendung und Geschlossenheit

von eindringlicher Rundung:



Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern;

Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz.


(Goethe, Metamorphose der Pflanze)



Die Form hat einen so kraftvoll-eindeutigen Abschluß, daß

nur selten auch in großen Distichongedichten der Satz über |#f0217 : 201|



eine Strophe hinausgeht, in den 100 Distichen von Schillers

»Spaziergang« nur 16mal. ─ 2. Die antiken Odenstrophen. In

ihnen ist die Spannung zwischen metrischer Form und Satzbewegung

besonders groß. Gespanntheit ist denn auch der

Eindruck in ihren deutschen Nachbildungen, besonders großartig

in Hölderlins Oden. Auch hier beruht ein großer Teil

der Wirkung darin, daß am Schluß meist beide Ordnungen,

das metrische Schema und die Satzbewegung, zu einem gleichen

und rhythmisch herausgearbeiteten Abschluß kommen.

─ 3. Die Reimstrophen. Der wiederkehrende Gleichklang

und die Sinnenthüllung dadurch schafft eine vorwärtsdrängende

Bewegung und zugleich Überraschung. Die Reimstrophen

folgen vor allem dem Gesetz der Einfachheit und

Klarheit. Durchbrechungen der strengen Form einer Reimstrophe

schaffen Auflockerung und betonen die Fortbewegung,

oft auch Anspannung, besonders wenn die Durchbrechungen

auffällig sind. Die Nibelungenstrophe mit ihren Langversen

ist der epischen Fortbewegung günstig, schafft aber zugleich

Rundung in kleinen Gebilden. Dieselbe Verdichtung gewinnt

ja die Balladenform an ihrem strophischen Aufbau. Die Fortbewegung

herrscht deutlich in der Terzine (Dantes »Divina

Commedia«), da immer ein Reimwort in die nächste Strophe

hinüberweist: aba bcb cdc ... xyx yzy z. Erst am Schluß des

Gedichts kommt die Bewegung im Abschlußreim zur Ruhe.

Feine Abwandlungen schafft Hofmannsthal in der »Ballade

vom äußeren Leben« und drängt gerade dadurch den Gehalt

heraus. Die Stanze (strenge Form: ab ab ab cc) ist im Italienischen

aus dessen Sprachcharakter stark wogend, daher episch.

Im Deutschen kann sie in ihrer reinen Vollendung in größeren

lyrischen Gedichten wirken: Goethes »Zueignung«. Eine gewisse

Hochgestimmtheit, Enthobenheit prägt sich in ihr aus.

Die strengste Form ist das Sonett, das sich im späten Mittelalter

in der Romania, besonders in Italien, ausbildet. Zwei

vierzeilige Strophen, jede abba, zwei dreizeilige mit freierer

Reimfolge. Die Strenge, in der sich ein klarer Aufbau ausprägt,

bannt auch die stärksten Gefühlswallungen in dichte

Form. Das Sonett könnte man geradezu als Symbol des

künstlerischen Bildens ansehen. Und doch läßt auch diese |#f0218 : 202|



Form Freiheiten und Bewegung zu. Schon die englische Abwandlung

mit ihrer Höhe in Shakespeares Sonetten zeigt

das: drei vierzeilige Strophen, jede mit gekreuzter Reimfolge

(abab, cdcd, efef) werden deutlich abgeschlossen durch

ein Schlußreimpaar, das auch inhaltlich Höhe und Zusammenfassung

bringt. Die strenge italienische Form bewegt sich in

Aufgesang und Abgesang, die zwei Vierzeiler stehen den

zwei Dreizeilern gegenüber und verlangen auch vom Gehalt

den zweigliedrigen Aufbau. Man hat aber neuestens erkannt,

daß gerade bei den großen deutschen Sonettmeistern des

Barocks (bes. Gryphius) eine weitere Gestalt zu beobachten

ist: Setzung eines Themas, Durchführung in mannigfacher

Modulation in den Mittelstrophen und Krönung und zusammenklingender

Abschluß. Also eine dauernde Fortbewegung,

die an die Fuge erinnert, den starren überkommenen

Aufbau gleichsam überspült und bis zu einem gewissen

Grad an die englische Form erinnert. Immer aber bleibt als

Unterton die Grundform merkbar. Das Fortströmen steht

in Spannung zur festgeprägten Gestalt; auch so erscheint

das Sonett als ein Symbol jeder sprachkünstlerischen Problematik:

zeitlicher Ablauf und dauernde Form.



Die Stilkräfte



Die bisher betrachteten Elemente des Stils wirken im dichterischen

Kunstwerk nicht jedes für sich in Vereinzelung, so

daß ein Mosaik der mannigfaltigsten Stilzüge entstünde, sondern

sie fügen sich zu höheren Gebilden von deutlicher und

abhebbarer Geprägtheit zusammen. Wir nennen diese Gebilde,

in denen die bisher betrachteten Elemente erst sinnvoll

im Ganzen wirken, Stilkräfte.



Ausruf, Anruf, Dynamik des Redevorgangs



Die ersten zwei Stilkräfte erwachsen deutlich aus Ursituationen

des Sprechens. Denn eine erste sprachliche Gefühlsgestaltung

ist der Ausruf. Natürlich sehen wir von unartikulierten |#f0219 : 203|



Schreien ab, wir haben es als Stilkraft nur mit wirklichen

sprachlichen, also lautlich artikulierten Gebilden zu

tun. Die Möglichkeiten sind mannigfaltig: Ausrufworte, die

ja auch deutlich gestaltet sind (der Schmerzensausruf ist im

Deutschen »au«, im Französischen »ai«); weitere Gebilde sind

ausgerufene Einzelworte (»Feuer!«), endlich Wortgefüge, die

in ihrem Ausrufcharakter durch die Reihung, den Satzbau,

den Rhythmus, die Melodie und die Klangart bestimmt sind.

Hier erkennen wir, wie die Stilelemente zur Einheit einer

Stilkraft zusammenwirken. Der Sinn des Ausrufs in der Dichtung

ist deutlich: es bricht ein Gefühl unmittelbar durch.

So finden wir Ausrufe auch oft an Anfängen; sie haben starke

Bewegtheit, es entsteht mit jedem Ausruf ein neuer Bewegungsstoß

im Ablauf der Dichtung. Vor allem aber wird im

Ausruf das Menschliche vernehmbar, denn nur aus einem

Menscheninneren kann der Ausruf kommen, es ist dabei

gleichgültig, ob des Dichters oder einer von ihm geschaffenen

Person.



Im Anruf geht zunächst eine unmittelbare Gefühlsbewegung

auf ein Du. Werden wir angerufen, so fühlen wir uns unmittelbar

angesprochen, es bildet sich ein Bogen zwischen

zwei Menschen oder Menschengruppen. Die einfachste Möglichkeit

liegt schon im »du« oder »ihr«. Aber es gibt Formen

größeren Umfangs, die natürlich auch im Alltag des Sprechens

vorkommen: der Wunsch, der Befehl, die Frage. Auch

die Intensität des Anrufs ist verschieden:



Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Wenn alle untreu werden, so bleib ich dir doch treu ...


Diese Stilkraft ist also wieder deutlich ans Menschliche gebunden.

Sie wird daher auch wichtig im Sprechen von Personen

in Dichtungen. Die Gespräche in Dichtungen können

wieder ganz verschieden sein: ruhige Darlegung, heftiger

Streit, Erregung jeder Art. Besonders wichtig sind zwei

Arten: die Gespräche in altgermanischen Heldenliedern und

auch oft in Balladen; sie sind handlungtreibend, die Handlung

geht im Gespräch voran. Dann die sogenannten Stichomythien

im Drama, wo zwei sprechenden Figuren nur je ein |#f0220 : 204|



Vers zukommt und daher die Anrufsrichtung immer wechselt.

So wird der Erlebende in diese rasche und dauernde Bewegungsänderung

hineingerissen. Die rhythmische Geschlossenheit

des Verses wirkt hier entscheidend mit.



Thoas: Es spricht kein Gott; es spricht dein eignes Herz.


Iphigenie: Sie reden nur durch unser Herz hindurch.


Thoas: Und hab ich, sie zu hören, nicht das Recht?


Iphigenie: Es überbraust der Sturm die zarte Stimme.


Thoas: Die Priesterin vernimmt sie wohl allein?


Iphigenie: Vor allem merke sie der Fürst

(Goethe, Iphigenie 1/3)



Man beachte, wie hier auch die gegensätzlichen Wortgehalte

herausgetrieben werden.



Sind im Ausruf und Anruf Ursituationen menschlichen

Sprechens in den Stil einer Dichtung hineingenommen, so

treffen wir in der Dynamik des Redevorgangs bereits ein durchgehendes

Bauelement dichterischer Sprache. Dabei wird

deutlich, daß sich die Stilkräfte verbinden können. Auch im

Ausruf und Anruf kann diese Dynamik wirken, auch in

ihnen gibt es sprachliche Bilder (vgl. den vierten der gerade

angeführten Verse). Wir berühren damit eine weitere Tatsache

der dichterischen Sprache und ihrer Struktur. Die Dynamik,

mit der die dichterische Rede abläuft, wird Wirklichkeit

in der Reihung der Worte, im Satzbau, in der Kürze

oder Länge von Gruppen, im Rhythmus, im Tempo usw.

Hier sehen wir deutlich, wie die Werte der Erfahrungsgestaltung

und der Lautung zusammengehen. In der folgenden

Gegenüberstellung wirkt auch der Unterschied des steigenden

und fallenden Rhythmus, natürlich neben dem Wortgehalt

und auch dem Vokalklang:



Bedecke deinen Himmel, Zeus,

Mit Wolkendunst

Und übe, dem Knaben gleich,

Der Disteln köpft,

An Eichen dich und Bergeshöhn ...


   (Goethe, Prometheus)



Wenn der uralte,

Heilige Vater

Mit gelassener Hand

Aus rollenden Wolken |#f0221 : 205|



Segnende Blitze

Über die Erde sät,

Küß' ich den letzten

Saum seines Kleides,

Kindliche Schauer

Treu in der Brust.


   (Goethe, Grenzen der Menschheit)



In der Prosa vergleiche man die Unterschiede zwischen Goethe,

Kleist, Stifter, G. Keller, Th. Mann und Broch.



Das sprachliche Bild



Eine grundlegende Stilkraft, die nirgends in einer Dichtung

fehlen kann, ist das sprachliche Bild. Wir dürfen bei

diesem Fachausdruck nicht an das Optische denken, sondern

an den Ausdruck »Gebilde«. Der Mensch umgrenzt das Zustoßende

zu Gebilden. Dieses Umgrenzen ist abhängig einerseits

vom Inneren des Menschen, es offenbart also Tiefstes,

anderseits vom bereits errungenen Weltbild, das als Unterlage

neue Umgrenzungen ausrichtet. Natürlich geben Umwelt

und Mitwelt auch Antriebe für dieses Bilden als ein

Anpacken des Gegenüber. So hängt das Bilden gerade mit

der den Menschen auszeichnenden Weltoffenheit seines gesamten

Zuwendungsapparates zusammen. Wir müssen zwischen

sprachlichem Bild und dichterischem Bild unterscheiden.

Das sprachliche ist ursprünglicher, findet sich auch im

Nichtdichterischen, wird aber oft erst in der Dichtung voll

wirksam. Aus sprachlichen Bildern bauen sich auch die dichterischen

auf. Sie sind reicher und ausgedehnter. Ein Landschaftsbild,

die Schilderung eines Menschen usw. bauen sich

aus sprachlichen Bildern auf, aber da sie trotz ihres Umfanges

eine deutliche Geschlossenheit aufweisen, nennen wir sie Bilder.

Wir wollen aber festhalten, daß die sprachlichen Bilder

eine entscheidende Stilkraft in der Dichtung sind.



In einer allgemeinen Betrachtung muß zuerst aufs Wesen des

sprachlichen Bildes geachtet werden. Wir können ihm von

zwei Seiten näherkommen. Zuerst von unten auf: im Zusammenwachsen

einzelner Gebilde entsteht ein neues von

bestimmter Umgrenztheit. Im kleinsten ist schon ein Wort

ein sprachliches Bild; denn in ihm ist ja ─ gehaltlich und lautlich |#f0222 : 206|



gesehen ─ ein Stück Erfahrungswelt zu einem geprägten

Gebilde geronnenen: Meeresrauschen, Wüste, Unendlichkeit.

Aber Worte wachsen im Rahmen von Fügungen zu

neuen Bildern zusammen. Zwei Verse aus Trakls Gedicht

»Musik im Mirabell«:



Die Wolken stehn / Im klaren Blau, die weißen, zarten.

Das Laub fällt rot vom alten Baum.


Die sprachliche Fügung schafft hier aus den Worten in ihrem

Gehalt und in ihrem Lautungszauber ein neues, in sich geschlossenes,

in der Stimmung und in der Form einheitliches

Gebilde ─ ein Bild. Nun denkt man bei Bildern meist an sogenannte

Übertragungen. Hier in diesen Versen sind keine,

man müßte denn annehmen, »stehn«, »zarten« und »fällt«

komme streng genommen den genannten Gegenstandsworten

nicht zu. Aber der Gehalt sowohl dieser als der eben angeführten

ist so, daß sie völlig zusammenklingen; sie passen

von vornherein zusammen. Wir können von hier aus leicht

einen Schritt weiter gehen. In Hölderlins Heidelberg-Ode

heißt es:



»Freundliche Wälder rauschten über die Burg herab.«

[Annotation] Textebene Primärliteratur, keine Kritik. Explizites Zitat unverändert. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Bsp. für Expl.

Hier empfindet nun der Verstand: Wälder können wohl

rauschen, aber nicht über die Burg herab. Was geht aber vor?

Im Zusammentreffen von Wald und herabrauschen erweitern

und verdichten sich die beiden Wortgehalte: der Wald ist

als Lebewesen erfaßt, und das Rauschen wird so greifbar erlebt,

daß es gleichsam auch eine Richtung bekommt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explizites Zitat unverändert. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Bsp. für Expl. Es wird

der Gehalt oder besser: die konventionelle Bedeutung zweier

Worte im Zusammenfügen erweitert und aufeinander abgestimmt;

es entsteht ein neuer sprachlich gestalteter Bereich.

Es werden also in diesen Fällen immer in zwei Worten neue

Seiten angeleuchtet, herausgehoben, und dadurch schließen

sich ihre Gehalte, die im konventionellen Sprachgebrauch

nichts mehr miteinander zu tun haben, zu einem ästhetisch

wirkungsvollen Gebilde zusammen; denn gerade im Zusammenschluß

entsteht eine Gestalt, die als Lautung und als

Gehaltsträgerin gleichsam in Tiefen schauen läßt.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explizites Zitat unverändert. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Expl. Klare und |#f0223 : 207|



eindringliche Beispiele bietet der Beginn der Novelle »Lenz«

von Georg Büchner; der Sturm warf das Gewölk in die

Täler:

[Annotation] Textebene Primärliteratur, positives Beispiel. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explizite Paraphrase. Explikation Metapher als Übertragung.Georg Büchner: Lenz im Zusammentreffen mit »werfen« wird der Sturm

selbst als lebende Kraft gefühlt, aber auch das Vorgangswort

schließt eine Seite seines Gehalts auf.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Poetikentext exempl. bezieht sich auf Büchner: Lenz - Bsp. für Expl. Oder: am tiefen Blau

klomm ein leises Rot hinauf.

[Annotation] Textebene Primärliteratur, positives Beispiel. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Büchner: Lenz - Bsp. für Expl. Es liegt hier eine schöpferische

Leistung vor: aus dem Zusammenwirken zweier Wortgehalte

wird Neues erschlossen, erwächst eine neue Gestalt.

Man kann diesen Vorgang mit »Metapher« oder Übertragung

bezeichnen, muß sich aber klar sein, daß dabei entweder

diese beiden Ausdrücke einen tiefern Sinn bekommen oder

daß mit ihnen als rationalen Zeichen dieser schöpferische Vorgang

nur vom Verstand aus und daher falsch gesehen wird.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Übertragung. Explizite Paraphrase. Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Anmerkung: Theoretisches hergeleitet aus vorigem Zitat aus Büchners Lenz

Wenn diese »Übertragungen« auch nicht unbedingt nötig

fürs sprachliche Bild sind, wie uns die Verse Trakls zeigen

konnten, so sind gerade diese schöpferischen Erweiterungen

oder neuen Erfassungsweisen im Zusammentreffen von

Sprachgebilden tatsächlich von grundlegender Bedeutung

fürs Dichterische; denn in ihnen als einheitlichen, stimmungshaften

Gebilden geht uns neuer Sinn auf, der rational nicht

ausdrückbar ist.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch.-theoretisch Nennung.-nennung Quellenangabe Person nn. Quellenangabe Werk nn. Abgrenzung nn. Explikation Metapher als Übertragung. Anmerkung: Abgr. zum spr. Bild - nennt Gedicht von Trakl: Musik im Mirabell Die Sache, die aus der außersprachlichen

Sphäre in die sprachliche Welt herübergenommen wird, verliert

das Sachliche als Nüchternes und wird im Ergreifen durch

den Menschen in besonderer Weise gesehen, und diese Einheit

von sachlichem Restbestand und aus dem Inneren wachsender

Sichtweise ersteht als neues Gebilde ─ als sprachliches Bild.



Die zweite Seite, von der aus wir das sprachliche Bild betrachten

können, ist die von oben her: vom Weltbild aus.

Man kann sich den sprachlichen Aufbau des Weltbildes in

einzelnen Akten aufgebaut denken, die sich auch im Gefühlsverlauf

voneinander abheben. Jeder Akt ist ein geistig-sprachlich

neuer Griff ins Unbekannte und bisher noch Unbewältigte.

Der Aufbau aus solchen Akten darf nicht mit einer logischen

Reihe verwechselt werden. Das Ergebnis ist die Gestaltung

des vom Ich Ergriffenen in bestimmter innerer Haltung. Akt

und Ergebnis verdichten sich im sprachlichen Bild.



Daraus lassen sich schon bestimmte Eigenschaften ableiten.

Es sind vor allem zwei: die Unmittelbarkeit und die Vereindringlichung. |#f0224 : 208|



Unmittelbarkeit bedeutet, daß Welt und Menscheninneres

ohne rationale Zwischenglieder ausgeprägter

Art sich begegnen. Entweder steht der gestaltende Mensch

dabei mitten inne in der zu umgrenzenden und zu gestaltenden

Welt, und zwar mit der Haltung der Sicherheit oder auch

der Erschütterung. Oder er steht in geistiger Beherrschtheit

und Beherrschung darüber. Dabei sind die mannigfachsten

Beziehungen möglich. Unter Vereindringlichung verstehen

wir: die Menschen öffnen sich dem Erfahrungsstrom: das

Gegenüber dringt in sie ein und verschmilzt mit ihrem Inneren.

Es liegt im bildschöpferischen Akt ─ um diesen und nicht

um allfälligen späteren Gebrauch verfügbarer Bilder handelt

es sich hier ─ ein besonderer Grad seelischer Tätigkeit: Energien

des Menschen und der Erfahrungswelt vereinen sich.

Dabei wächst das Ich über sich hinaus, und so bekommen die

Objekte eine besondere Wertbedeutsamkeit: der Mensch

stößt so ins Überindividuelle vor. Daraus erwachsen zwei

Züge der Sprachkunst im sprachlichen Bild: die Fülle und das

Schöpferische. Die logische Beurteilung des sprachlichen Bildes

als Übertragung von Bekanntem auf Unbekanntes wird

dem nicht gerecht. Dabei können weiteste Weltbereiche einbezogen

werden. »... indessen ging die Wucht und Wölbung

der Erde, unempfunden und ungehört von ihren Bewohnern,

stürmend dem Osten zu ─ der Mond wurde gegen Westen

geschleudert, die alten Sterne mit, neue zogen in Osten auf ─ ─ ─ und so immer fort, bis endlich mitten unter ihnen am

Waldrande ein blasser milchiger Lichtstreifen aufblühte ─

ein frisches Lüftchen an die Wipfel stieß ─ und der erste

Morgenschrei aus der Kehle eines Vogels stieß« (Stifter,

»Hochwald«, Schluß des dritten Kapitels). Von hier aus kann

nochmals die Frage der Anschaulichkeit angegangen werden.

Wenn in der Dichtung Anschaulichkeit im engen Sinne des

Wortes, also zumindest Erweckung sinnlich-anschaulicher

Vorstellungen verlangt wird, so beachtet man zweierlei

nicht: 1. wie verwickelt der seelische Vorgang beim Dichtungserleben

wäre, wenn jeder Wortgehalt anschaulich vorgestellt

werden müßte! ─ 2. In diesem Falle wäre ja Dichtung nur

Surrogat; denn nie kann das Wort die Anschaulichkeit des |#f0225 : 209|



sinnlich gegebenen Gegenstandes, auch in den bildenden

Künsten, voll ersetzen. Es wäre immer nur ärmlicher Ersatz.

Das Beispiel aus Stifter ist lehrreich: gewiß sind hier manche

Worte, die sofort eine anschauliche Vorstellung wecken.

Aber man malt sich das Bild nicht aus, sondern läßt die sprachliche

Gestaltung auf sich wirken: die Fülle des Wortgehalts,

die weit über die bloße Zeichenhaftigkeit des Wortes, den

Hinweis auf ein Außersprachliches hinausgeht und die unmittelbar

aus dem Inneren im sprachschöpferischen Vorgang

herausquillt und auf das Innere zurückwirkt, das Zusammenwirken

der Wortgehalte in der Aufeinanderfolge, aber auch

im Zusammenklingen, indem die Werte des einen noch

nachklingen im Schwingen des anderen; das alles aber auch

in der Lautung lebendig (Wucht und Wölbung, milchiger

Lichtstreifen), im Rhythmus des Satzablaufs, im vollen Klang.

Das geht über Anschaulichkeit hinaus; die Worte und die

ganze Sprachgestaltung geben keinen Ersatz für eine außersprachliche

Wirklichkeit, sondern schaffen eine neue Welt,

gewiß nur erfaßbar aus Bezügen zur außersprachlichen Wirklichkeit,

aber weit darüber hinaus durch die Aufschließung

eines Menscheninneren im Erfassen und durch Erschließen

eines Tieferen, das uns gerade im Gefühlsschwingen aufgeht.

So wird hier die Größe und zugleich Einheit der Gesamtschöpfung

spürbar von der Sternenwelt bis zum Vogelruf.

Also aus der Sprachgestaltung in gehaltlicher und lautungsmäßiger

Hinsicht wird die Tiefe der Welt erschlossen ─ eine

ästhetische Leistung im hohen Sinn des Wortes. So wird uns

das sprachliche Bild in seinem Wesen nochmals deutlich: in

der Eindringlichkeit des Erfassens und in der Grenzöffnung

des Ichs und der unmittelbaren Erfahrungswelt.



So ergeben sich Folgerungen: schon das Wort ist ein

sprachliches Bild. Das sprachliche Bild wird lebendig nicht

bloß im Gehalt des sprachlich Geformten, sondern auch im

Lautlichen. Verse aus Novalis:



Wenn alle untreu werden,

So bleib ich dir doch treu,

Daß Dankbarkeit auf Erden

Nicht ausgestorben sei.
|#f0226 : 210|



Hier ist eine innere Erfahrung, ein Gefühlsstrom sprachlich

zur Einheit geformt: in der Schlichtheit und gefühlsmäßigen

Weite der Wortgehalte und in der rhythmischen Kunst: das

steigt auf und klingt aus und ist damit eine Einheit und Geschlossenheit,

die gewöhnlicher Sachprosa nie eigen ist.



Nicht Anschaulichkeit und nicht bloßer Sprachschmuck.

Und wo wirklich in langen Epochen Dichter bewußt

schmückende Bilder eingesetzt haben, so geschieht das eben

doch aus einer bestimmten inneren Haltung, die auf Erhöhung

des Daseins in Schönheit ausgerichtet ist. Sondern anderes ist

wesentlich fürs sprachliche Bild: die Geschlossenheit durch

die Einheit des erfassenden Aktes, wobei nach unten und oben

Anreicherung und Gliederung entstehen kann, die Gefühlseinprägsamkeit

aus der inneren Haltung, in der der sprachliche

Erfassungsakt geschieht. Gefühlsspannungen sind dabei

möglich aus den Spannungen, die zwischen dem erfassenden

Inneren und der Welt bestehen können.



Zwei Typen der Vereindringlichung im sprachlichen Bild

unterscheiden wir. »Dort erregte er ein großes Erstaunen und

eine unverhehlte Freude, die allsobald nach Schüsseln und

Tellern, nach Töpfchen und Gläsern, nach Eingemachtem

und Gebackenem auseinanderlief« (G. Keller). Aus dem Vorgangswort

fließt Leben und Bewegung auch in das schon

Abstraktum gewordene »Freude«. Aus dem lebendigen Kraftstrom

des Erzählers fließt das Leben und die Bewegung hinüber

in die gestaltete Welt, sie wird hereingezogen in die

Allfülle und das All-Leben. Diese Art der Vereindringlichung

im sprachlichen Bild nennt man mit Fug Beseelung. »Nun

erst, inmitten der nachtkühlen schweigenden Bäume und

Gebäude, spürte er durchdringend und schmerzlich, daß er

dies alles nun zum letztenmal vor Augen habe, zum letztenmal

dem Stillwerden und Einschlummern der tagsüber so belebten

Siedlung lausche, zum letztenmal das kleine Licht

überm Pförtnerhaus sich im Brunnenbecken spiegeln, zum

letztenmal das Nachtgewölk über die Bäume seines Magistergartens

ziehen sehe« (Hesse, Glasperlenspiel). Man beachte

hier die Vorgangsworte spüren, lauschen, sehen und die eindringliche

Wiederholung des »zum letztenmal«. Es ist hier |#f0227 : 211|



ein schauendes und horchendes Offensein für die Welt, eine

Empfänglichkeit für alles Geheimnisvolle. Wir nennen diese

Art der Vereindringlichung am besten (mit Pongs) Erfühlung.

Es sind zwei hier scharf gezeichnete Typen, zwischen

denen Übergänge möglich sind und die auch wechseln

können.



Nach der sprachlichen Struktur unterscheiden wir folgende

Arten der Bilder: 1. Das geschlossene Bild in der einfachsten

und gedrängtesten Form. 2. Eine besondere Art der Verbreiterung,

wo zwei Bilder in ihrem Zueinander eine neue Einheit

ergeben: der Vergleich. Es ist nicht ohne weiteres auszumachen,

ob das geschlossene Bild oder der Vergleich »zuerst«

da ist. Grundsätzlich ist beides möglich. 3. Eine Vertiefung,

indem Bilder eine bestimmte Bedeutung im Sprachkunstwerk

bekommen und durchsichtig für Tieferes werden:

Symbole.



Das geschlossene Bild ist die einfachste Form gemütmäßigbildhaften

Ergreifens, die bildhafte Gestaltung eines Erfahrungsbereiches.

Es kann in seiner sprachlichen Struktur verschieden

geartet sein. Wir wollen zwei Gegensatzpaare von

Merkmalen herausheben: einheitliche und gespannte, klare

und verschwommene Bilder.



Wo die Beschaffenheit des Gestalteten mit dem inneren

Gefühl des Schaffenden rein zusammenklingt, haben wir das

einheitliche Bild. Gefühle des Geborgen- und des Bedrücktseins

unterscheiden die beiden folgenden Verspaare:



Füllest wieder Busch und Tal

Still mit Nebelglanz.
(Goethe, Mondlied)



Gierig schlürfte sie mit blassem Munde

Nun den dunkel blutgefärbten Wein.


   (Goethe, Braut von Korinth)



Man erkennt, wie die Sinnträger in jedem der beiden Beispiele

stimmungsmäßig völlig zusammenklingen.



Im gespannten Bild wirken Stimmungsgegensätze der verschiedensten

Art und Ursache. Hier kann auch eine Wurzel

der Komik liegen, die Enthüllung eines Widerspruches

zwischen Sein und Schein: »So schwänzelte und tänzelte sie |#f0228 : 212|



mit angestrengter Anmut herum, spitzte lächerlich das Maul,

daß es süß aussehen sollte, hüpfte elastisch an die Tische

hin ...« (G. Keller, Romeo und Julia auf dem Dorf). In

diesem Zusammenhang sei auf die sogenannten Synästhesien

hingewiesen, d. h. auf das Zusammenfügen von Worten,

deren Gehalt aus verschiedenen Sinnesbereichen stammt. Der

stilistische Wert und Sinn kann zweifach sein.



Entweder werden dadurch weite Bereiche verschiedener

Art in der sprachlichen Gestaltung zusammengezwungen

oder ─ und darin ruht der tiefere Sinn und die ästhetische

Wurzel der Synästhesien ─ es liegt ihnen ein sprachliches Ergreifen

aus Urgefühlen zugrunde, die gleichsam vor den

Unterscheidungen der einzelnen Sinnesgebiete da sind; in

diesen Urgefühlen liegen im Keim die Stimmungen, die sich

dann in den einzelnen Sinnesgebieten entfalten. Sprachlich

sucht also der Dichter von den ausdifferenzierten Sinnesbereichen

sich wieder zurückzutasten zu den Urbereichen. Zwei

Bilder aus Brentanos »Abendständchen«:



Golden wehn die Töne nieder;


Durch die Nacht, die mich umfangen,

Blickt zu mir der Töne Licht.



Im klaren Bild liegt eine Prägung vor, die Worte wählt

mit klar und scharf umgrenztem Gehalt, das Bild ist deutlich

in seinen Gliedern gebaut, der gestaltete Vorgang abgehoben

von jedem anderen. Man kann vergleichsweise an die klare

Linienführung der Plastik denken. »Die Bäume ragten mit

dem schwarzen oder bräunlichen Gezweige nackt in die dunkelblaue

Luft. Das einzige Grün waren die Gartengitter«

(Stifter, Nachsommer). Im verschwommenen Bild ─ der

Ausdruck enthält keine Abwertung ─ fließen die einzelnen

Glieder zusammen, die Vorgangswörter betonen Übergänge,

die Wortgehalte haben keine Ränder, sondern unscharfe

Grenzen, gefühlhaft tritt das Nahe, das Geheimnisvolle, das

Geborgensein hervor. Das Märchen von der blauen Blume am

Anfang des »Heinrich von Ofterdingen« von Novalis zeigt

beide Möglichkeiten, das verschwommene und das klare

Bild, im Ablauf des Geschehens und damit die Möglichkeit, |#f0229 : 213|



schon durch diese Bildstruktur Wandlungen zu formen. »Der

Jüngling verlor sich allmählich in süßen Phantasien und entschlummerte.

Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen,

und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere

mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wunderliche Tiere sah er;

er lebte mit mannigfaltigen Menschen, bald im Kriege, in

wildem Getümmel, in stillen Hütten« ... »Endlich gelangte

er zu einer kleinen Wiese, die am Hange des Berges lag.

Hinter der Wiese erhob sich eine hohe Klippe, an deren Fuß

er eine Öffnung erblickte.«



Aus einzelnen sprachlichen Bildern formen sich dann

höhere Einheiten. Sie bilden eine Ganzheit in bezug auf den

Neuaufbau der Welt und sind doch zugleich Bewegung in

bezug auf das Werden dieses Weltbildes. Die Ganzheit dieser

Bilder kann eine geschlossene Einheit bilden. Es entsteht ein

einheitlich gesehener Vorgang:



Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

Sich lautlos auf ─. Dann geht ein Bild hinein,

Geht durch der Glieder angespannte Stille ─

Und hört im Herzen auf zu sein.
(Rilke, Panther)



Alle sprachlichen Bilder dieser Strophe sind auf den einen

Vorgang ausgerichtet, wie ein Eindruck durch das Auge bis

in das Innerste geht. Die Ganzheit der Bilder aber kann auch

voller Gegensätze und innerer Gespanntheit sein und schafft

so Großbilder voll Bewegtheit und Dramatik. Das folgende

dichterische Bild baut auf einer scharfen Gegensätzlichkeit im

ersten Satz auf: »Eine schwache Wolke schwebt über dem

Meere, diese faßt mit einem langen, feinen Finger in den unendlichen

Ozean, aufwärts kocht, wirbelt und tanzt das emporgestörte

Wasser, es pfeift und zischt; Nebel und Schaum

rings umher und Blitz und Donner! so rückt das Phantom,

welches nicht Dunst und nicht Woge mehr ist, sprungweise

vor, bis es plätschernd zerbricht« (Immermann, Münchhausen).



Sehr wichtig sind nun die Möglichkeiten, die sich aus Entwicklungsrichtungen

des geschlossenen Bildes ergeben. 1. Das

Bild wird angefüllt, und zwar entweder an Intensität, und

damit wird der Weg zum Symbol betreten, oder an Extensität,

und damit bereitet sich die Sprengung des geschlossenen |#f0230 : 214|



Bildes und der Weg zum Vergleich vor. 2. Es entwickelt sich

ein Zueinander von Bildern, entweder Ketten von gleichgeordneten

Bildern oder gliedhafte Fügungen. 3. Einmal geprägte

sprachliche Bilder können wiederholt werden, vom

selben Dichter oder dann dauernd von anderen. Zuerst nimmt

man ihn zum Muster, dann vergißt man ihn ─ und das Bild

wird zur Formel. Das kann so weit gehen, daß alles Sprachkünstlerische

verschwindet. Das ursprüngliche Bild wird

konventionalisiert und endlich zum bloßen Begriffszeichen

in der Alltagssprache; man denke an den ursprünglich bildhaften

Sinn von Würfel, Begriff, verheeren. Im Bereich der

Sprachkunst aber bilden sich bestimmte Formen von Bildern

aus, die dann bei gewissen Gelegenheiten verwendet werden:

die sogenannten rhetorischen Figuren. Man kann sie mit den

üblichen Schmuckformen in der Architektur vergleichen,

den Fruchtschnüren, Girlanden usw. So wie diese unterscheiden

sich die rhetorischen Figuren von wissenschaftlichen Formeln,

daß sie rein als Gebilde einen Wert haben und nicht

bloß einen Nutzen als Zeichen. Sie haben eine gewisse Fülle

und einen inneren Gehalt. Die rhetorischen Figuren bildeten

sich aus ursprünglichen sprachlichen Bildern, sie wurden

Schmuckformen, die bei bestimmten Gelegenheiten nach den

Lehren der Rhetorik und Stilistik zu verwenden waren, um

die Sprachgebung auf höhere, wirkungsvollere Ebene zu

heben.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Rhetorikbezug vorhanden. Metapher als sprachimmanentes Phänomen. Die Gefahr ist die Verflachung, der Verlust an Gehalt.

Die Aufgabe des Dichters bleibt ihnen gegenüber immer die,

ihnen aus dem jeweiligen sprachlichen Zusammenhang neues

Leben einzuhauchen, gleichsam den schöpferischen Augenblick

zu erneuern, aus dem sie entstanden sind.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Qualitative Unterscheidung prosaischer und poetischer Metaphern. Eine dieser

Figuren ist die sogenannte Metapher. Damit erscheint das

Wort in zweiter Bedeutung in der Poetik. Wir meinen jetzt

damit die Tatsache, daß ein Wort nicht in seinem gewöhnlichen

Sinn verwendet wird:

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene theoretisch. Explikation Metapher als Übertragung. das Feuer der Liebe. Aus dem

Gehalt des Wortes Feuer muß manches gestrichen werden,

was in diesem Zusammenhang störend wäre: der Geruch,

das Chemische usw. Aber in einem von einem echten Dichter

geschaffenen Sprachzusammenhang kann der Zusammenklang

der beiden Wortgehalte neue Stimmung wecken.

[Annotation] Textebene Poetikentext, Explikationsebene exemplarisch. Explikation Metapher als Übertragung. Die |#f0231 : 215|



rhetorischen Figuren werden nach formalen Merkmalen eingeteilt.

Aber damit ist nur die Form selbst näher bezeichnet,

die man verwenden kann, der Stilwert dagegen bleibt aus

solcher Benennung und Einteilung ausgeklammert. Das ist der

Nachteil solcher Figurensysteme.



Was itzund Atem holt, muß mit der Luft entfliehn,

Was nach uns kommen wird, wird uns ins Grab nachziehn.


   (Aus einem Gryphius-Sonett)



Man kann da zunächst die Figur des Parallelismus feststellen:

gleicher Satzbau durch zwei Sätze. Ferner eine Art Metonymie,

indem die Menschen umschrieben werden durch das,

was sie tun oder wie sie zeitlich zu uns stehen. Warum aber

gebraucht der Dichter diese Figuren? Der Parallelismus gibt

Eindringlichkeit besonders deshalb, weil sich mit ihm Antithetik

verbindet, die Eindringlichkeit des Satzbaus hebt die

Gegensätze mehr hervor, diese wieder den Satzbau. Statt

des Ausdrucks Menschen wird hier ein Vorgang gestaltet.

Die Verwendung der Figuren schafft gehobenen und eindringlichen

Stil. Zugleich muß die Stelle beachtet werden,

an der diese Verse stehen. Es sind die zwei ersten Verse einer

letzten Sonettstrophe: sie fassen zusammen, was vorausging,

so daß der parallele Satzbau erst recht in seiner Funktion der

Vereindringlichung deutlich wird. Und die beiden parallelen

Sätze sind wie eine letzte Vorbereitung zum letzten Vers, der

durch diesen doppelten Unterbau erst recht die Krönung des

ganzen Sonetts ist:



Was sag ich? Wir vergehn wie Rauch von starken Winden.


Der Dichter also »verwendet« Figuren zur Hebung der Sprachebene

in den künstlerischen Raum und zugleich, um dadurch,

daß er den Wert der Figuren wieder lebendig macht, in

dieser künstlerischen Gestaltung den tiefen Gehalt erleben zu

lassen.



Vielfach haben sich nun bestimmte Figuren ausgebildet,

die nicht durch ihren Bau gekennzeichnet sind, sondern durch

ihren Inhalt. So bilden sich bestimmte Denkschemata, die

seit der Antike von den besten Dichtern bis ins 18. Jahrhundert |#f0232 : 216|



hinein immer wieder verwendet werden: Formeln der Bescheidenheit,

der Anrufung der Musen, des Schlusses, bestimmte

Vergleiche, etwa der Welt mit einem Buch usw.

Man bezeichnet solche inhaltlich geprägte Gebilde als topoi

(Einzahl: topos). Aber auch da genügt es nicht, sie einfach

festgestellt zu haben. Man muß, um dem Wert der Dichtung

gerecht zu werden, fragen, wie diese Topoi an der betreffenden

Stelle wirken, wie sie gerade hier wieder Leben gewinnen,

welchen Gehalt sie gerade an der bestimmten Stelle gestalten

helfen. Goethe beginnt den letzten Gesang von »Hermann und

Dorothea« mit folgenden Versen:



Musen, die Ihr so gern die herzliche Liebe begünstigt,

Auf dem Wege bisher den trefflichen Jüngling geleitet,

An die Brust ihm das Mädchen noch vor der Verlobung

   gedrückt habt:

Helfet auch ferner den Bund des lieblichen Paares vollenden,

Teilet die Wolken sogleich, die über ihr Glück sich

   heraufziehn!

Aber saget vor allem, was jetzt im Hause geschiehet.


Also der Topos des Musenanrufs. Damit ist eine bestimmte,

tradierte Form festgestellt. Das Entscheidende aber ist, was

der Dichter gerade an dieser Stelle damit künstlerisch geleistet

hat. Der Anruf steht am Beginn des letzten Gesangs, nicht

am Beginn des Ganzen. Damit hebt er deutlich die Wichtigkeit

des Kommenden heraus und bereitet so den bedeutsamsten

und reichsten Gesang des Werkes vor. Zugleich vermag

er zusammenzufassen, was bisher geschehen, und das

wieder unter einem höheren Blickpunkt zu sehen. Endlich

wird die Feierlichkeit im letzten Vers beinahe ins Humorvolle

gewendet, und damit scheinen wirklich schon hier die drohenden

Wolken geteilt.



Im Vergleich liegt eine Verbreiterung des sprachlichen Gestaltens

vor. Die Vergleichshaltung kann rational-wissenschaftlich

sein: Erfahrungsstücke werden infolge einer Ähnlichkeit

unter bestimmten Gesichtspunkten in Beziehung gesetzt.

Das aber trifft den künstlerischen Sinn des Vergleichs in

der Dichtung nicht. In der ästhetischen Vergleichshaltung

wird die Fülle eines Bereiches aus tiefer Seelenhaltung mit

einem anderen in Bezug gesetzt. Rationales kann mit |#f0233 : 217|



einfließen, ist aber nicht das Wesentliche. Wir können theoretisch

einen Bereich abheben, der den Ausgangspunkt des

sprachlichen Bildes darstellt, den Grundbereich, mit dem

Fachausdruck der antiken Poetik das Comparatum; und den

Vergleichsbereich, das Comparandum.



Die Formen sind reichhaltig. Die engste ist die, wo die

Vergleichspartikel fehlt: Penthesilea stürzt »mit eines Waldstroms

wütendem Erguß« auf die Gegner ein (Kleist). Die

weitesten sind die großen Homerischen Gleichnisse, wo der

Vergleichsbereich sprachlich selbständig wird. Auch das Zueinander

der beiden Vergleichsbereiche kann verschieden sein.

Es ist etwa ein Bereich neben den anderen gestellt, wobei

beide ungefähr gleich breit ausgeführt sind; es kann aber auch

ein Bereich sprachlich stark überwiegen:



Da griff ich mit verwegner Faust an deine Brust:

Führ uns! Sonst ist dein Thron und Leben in Verlust.

Und siehe, wie beim frühen Maienmorgenstrahl

Die lang verschloßne Knospe sich mit einem Mal

Erschließt und weist dir, mit kristallnem Tau verschönt,

Die königliche Blume, dreifach rings gekrönt:

So leuchtete dein Blick.
(Spitteler, Olympischer Frühling)



Vergleiche können auch als Glieder in ein Großbild eingefügt

werden. Eigenartig ist es, wenn die Vergleichsform aufgegeben

wird: der Vergleichsbereich wird dann so eindringlich

gestaltet, daß seine sprachliche Bindung an den Grundbereich

gelöst ist. Erst im Grundbereich wird dann durch ein

kräftiges »so« die Beziehung wieder aufgenommen. Bei

Homer ist diese Form häufig. Hier wieder eine aus Spittelers

»Olympischem Frühling«:



Und wie der Dachshund, wenn er einen Maulwurf wittert,

Die gierge Nase, die vor Jagdlust fiebrisch zittert,

Mit aufgeregten Sprüngen hier- und dorthin führt,

Dann plötzlich, wenn er das ersehnte Mausloch spürt,

Steckt er sein Maul hinein mit Schneuzen und mit Schmatzen,

Und jetzt beginnt ein emsig zappelnd Pfotenkratzen:

So schnupperte des Hermes Rappen längs der Wand

Und pochte mit den Hufen, bis er Echo fand.



Vergleiche können nach verschiedenen Gesichtspunkten

eingeteilt werden. Ein fruchtbarer ist der nach welthaltigen |#f0234 : 218|



und nach ichhaltigen Vergleichen. »Der alte Bauer versank

ganz in die bittere drohende Schweigsamkeit, das Erbe seines

Geschlechtes, und oft saß er da, wie ein Stoß vergessenen

Holzes tief im Walde steht, von Nässe versäuert, rissig, von

Flechten überkrochen, mit gelöster Rinde« (Stehr, Heiligenhof).

Der Grundbereich wird hier nicht intensiviert, sondern

in ein Naturbild eingeordnet: auch der Mensch erscheint so

als Stück Natur. So werden aus umfassendem Blick auf weite

Bereiche tiefere Zusammenhänge erfaßbar, die als Wirklichkeit

gesehen sind; daher der Indikativ des Vorgangswortes.

»Die Augen blühten in stiller Klarheit auf und standen regungslos

wie horchende Spiegel. Es war das Sehen eines Lauschens

in ihnen, ein umgekehrter Blick, so, als breite sich die

Welt nicht draußen vor ihnen aus, als zöge alles durch die

Tiefen ihres Innern vorüber« (ebenda). Hier wird der Vergleichsbereich

vom Grundbereich aus gestaltet, er ist seinetwegen

geschaffen und von ihm aus gesehen. So wird ein

fester Ansatzpunkt für ihn gewonnen, er ist eingeordnet,

und daher steht das Vorgangswort im Konjunktiv.



Die Wirkung der Vergleiche ist in verschiedener Richtung

zu verfolgen. Da zwei Bereiche hier sprachlich wirken, tritt

eine Verschmelzung ein: Der Dichter gestaltet einen Grundbereich,

aber er will ihn durch besondere Beleuchtung noch

tiefer wirken lassen; das geschieht durch den Bezug zum

Vergleichsbereich. Durch dessen Gestalt erscheint auch der

Grundbereich in besonderem Licht. Aus einer einheitlichen

inneren Haltung, aus der beide erwachsen, vollzieht sich die

Verschmelzung zu neuem Gehalt. Die Grade der Verschmelzung

können verschieden sein. Hier kann auch ein Beziehungswissen

mitwirken. Die Gefühlskomponenten sind reichhaltig:

jeder Bereich für sich kann gefühlhaft gestaltet sein, der Verschmelzungsvorgang

weckt ein weiteres Gefühl, und endlich

auch das Ergebnis. Das rationale Rückgrat, das jedem Vergleich

doch zugrunde liegt, verhindert Gefühlsübersteigerung.

Vergleiche erreichen eine Vereindringlichung der Gestaltung

nach verschiedenen Seiten. So kann aus großen Vergleichen

ein Stück Weltbild sprachlich aufgebaut werden. Vergleiche

bilden in einer Dichtung immer Hochtonstellen, besondere |#f0235 : 219|



Verdichtungen der Weltbildgestaltung. Dabei ist auch die

Stellung der beiden Bereiche von Bedeutung. Steht der Vergleichsbereich

voraus ─ wie meist auch in den Homerischen

Gleichnissen ─, so schafft er eine bestimmte Gefühlsatmosphäre

oder umreißt einen Erfahrungsbereich; dahinein wird dann

der Grundbereich gestellt; er wird daher von vornherein in

einer bestimmten Beleuchtung gesehen, in einen bestimmten

weiteren Zusammenhang gestellt. In einem solchen Augenblick

öffnet sich der Blick in eine Weite, die über den augenblicklichen

Stand des Erzählten oder Ausgedrückten hinausgeht.

Damit ist gerade durch den Vergleich die Verwesentlichung

herausgearbeitet.



Jetzo wie hoch aus den Wolken umnachtetes Dunkel erscheinet,

Wenn nach der Schwül ein Orkan mit brausender Wut sich erhebet:

Also dem Held Diomedes erschien der eherne Ares,

Als er, in Wolken gehüllt, auffuhr zum erhabenen Himmel.


   (Homer, Ilias 5, übers. Voß)



Anders ist die Wirkung, wenn der Vergleichsbereich nachsteht:

»... ihr Leben glich fortan der träumerischen Qual

zweier Verdammten, welche auf einem schmalen Brette einen

dunklen Strom hinabtreibend, sich befehden, in die Luft hauen

und sich selber anpacken und vernichten, in der Meinung, sie

hätten ihr Unglück gefaßt« (G. Keller, Romeo und Julia). Hier

wird der Gehalt des nur kurz angedeuteten Grundbereichs,

der aber in den vorangehenden Sätzen ausgeformt worden ist,

nochmals im Vergleichsbereich aufgenommen, vertieft in

einem packenden Bild und damit ein Zustand in ein Dauerbild

gegossen, das man nicht so leicht vergißt. Damit wird

der Vergleichsbereich beinahe zum Symbol; vor allem deshalb,

weil in dieser Novelle ähnliche Bilder noch zweimal

vorkommen: als Manz und Marti auf dem Steg über einen

Bach heftig ringen und als am Ende die beiden Liebenden

friedlich auf dem Heuschiff in den Tod fahren.



Vom Symbol im Rahmen der Dichtung ist schon früher

gesprochen worden (S. 73 ff.). Wir haben dort deutlich das

Symbol vom bloßen Zeichen getrennt; das Symbol hat nicht

bloß rationale Bedeutung, sondern führt tiefer, da es aus dem

Innersten entspringt. Es ist zugleich durch innere Fülle und |#f0236 : 220|



durch eine bestimmte bildhafte Umgrenztheit ausgezeichnet.

Symbole sind nie aus dem dichterischen Zusammenhang lösbar,

wenn nicht etwas an ihnen verlorengehen soll. Ihre

Struktur geht nach doppelter Richtung: sie geben eine konkrete

Situation, wie hier die zwei Verdammten, die auf einem

Brett den dunklen Strom hinabtreiben, aber eben in ihr zugleich

das Allgemeine, hier des Menschenhasses. Die Symbole

schaffen die Phänomene, um deren Deutung es geht, selbst.

So erschließt sich der tiefere Sinn nur aus dem geschaffenen

Bild, das immer Bild bleibt und doch auch durch sich hindurch

weist. Auch die Unterscheidung von sprachlichen und

anderen Symbolen in der Dichtung haben wir an der Stelle

schon erwähnt.



Hier betrachten wir nur kurz die Möglichkeiten der symbolischen

Erhöhung der sprachlichen Bilder. Zunächst die

Entstehung des sprachlichen Symbols aus dem Bild überhaupt.





Herber Wind über braunen Hügeln.

Fahriger Frühling bebt

Schluchzend ins Gras.

Wolken ziehn an lässigen Zügeln

Durch einen Himmel aus blauem Glas.

Vom Weiher auf, vom Birkenhag

Ein Reiher

Sich in die Frühe hebt

Mit wunderschmächtigen Flügeln.

In seinem trunkenen Schwingenschlag

Aufbrandet, Feuer um Feuer,

Der junge Tag.


   (Weinheber, Menschliche Landschaften)



Schon das Landschaftsbild des Anfangs ist sprachmächtig. In

der Mitte steht allein das Wort »Reiher«: so ist es deutlich

herausgehoben, vor allem auch durch den Rhythmus. Das

Bild vom aufsteigenden Reiher, das dem Gedicht die Höhe

gibt, faßt das Vorangehende stimmungsmäßig zusammen.

Dazu tritt nun die Wirkung des Titels: »Jüngling«. So erleben

wir, wie im Bild des Reihers das tiefere Sein des jungen

Menschen Gestalt wird, ohne deutlich ausgesprochen zu sein.

Zugleich vollzieht sich eine Vertiefung des Landschaftsbildes:

auch es wird sinnbildhaft für den jungen Menschen, so daß |#f0237 : 221|



nun das ganze Gedicht ein großes sprachlich geformtes Symbol

der männlichen Jugend wird. Zugleich aber gewinnt es

rein als Landschaftsbild durch den Bezug zum menschlichen

Dasein an Kraft, Bedeutsamkeit und Fülle. Die Struktur dieses

Bildergefüges ist nicht anders als die jedes sprachlichen Bildes

größeren Umfangs. Aber es hat erhöhte Bedeutsamkeit, indem

es Tieferes in ein klar umgrenztes Bild faßt und dadurch

greifbar macht. Das ermöglicht hier rein die Sprachkunst:

durch die Beseelung im ersten Teil (Beben, schluchzen, lässige

Zügel), durch die Satzbewegung und den Rhythmus,

die eine Höhe im Verse »ein Reiher« gewinnen, der durch den

unmittelbar vorangehenden Vers noch mehr gehoben wird,

endlich durch den Gefühlsgehalt der folgenden Sinnträger

(heben, aufbranden; wunderschmächtig, trunken, jung;

Frühe, Schwingenschlag, Feuer, Tag), durch den vollen

Sprachklang des Vokal- und Konsonantengefüges und durch

die damit erreichte Dichte aller Stilelemente. So bildet sich

eine wohlausgewogene Steigerung vom ganz einfachen Titel

über den Reiher, gerade in dieser sprachkünstlerischen Umwelt,

bis zum Abschluß »der junge Tag«, der durch alles Vorhergehende

weit über den Alltagsgebrauch sich in seinem

ganzen Gehalt, der nun eben auch symbolisch ist, öffnet. Wir

können also sagen: symbolisch werden sprachliche Bilder

durch die Atmosphäre des Kunstwerks, durch Intensität und

Wiederkehr, durch Häufung, Wiederholung und Variation

und durch abschließende Zusammenfassung der Bilder.



Damit wird auch der vierfache Sinn der sprachlichen Symbole

in einer Dichtung deutlich: 1. Sie bilden architektonische

Hochtonstellen, besonders durch Wiederholung oder Variation

der Bilder. Ich erinnere an das Bild bei G. Keller, zugleich

aber an die wiederholten Blutbilder im »Macbeth«, an

die der Zersetzung im »Hamlet«. 2. Sie eröffnen Tiefen. Gerade

die Symbole lassen hinter der dichterisch unmittelbar

gestalteten Welt an ihrer Oberfläche Tieferes, Wesentlicheres

ahnen. 3. Dieses die Tiefe öffnende Bild wird in dauerhafter

Form der sprachlichen Gestalt geprägt. So können neue Situationen

in der Dichtung durch dieses schon geprägte Bild

auch in ihrer Tiefe erschlossen werden. 4. Ein Vorgang wird |#f0238 : 222|



auf das dahinter stehende Menschliche durchleuchtet und das

Allgemeine herausgehoben: ein Vorgang der Durchgeistigung.

Alle diese Funktionen des sprachlichen Symbols zeigen

in besonderer Intensität die Verwesentlichung als Hauptzug

dichterischen Schaffens.



So offenbart sich in den sprachlichen Symbolen ein Weltbild:

nicht nur ein individuelles eines einmaligen Dichters,

sondern eines, das zugleich in seinen sprachlichen Gegebenheiten

und Voraussetzungen auf dem sprachlich geprägten

Weltbild der Sprachgemeinschaft aufbaut. So wachsen dem

Dichter aus der Sprachgemeinschaft oft letzte große Sinnbilder

auf, sogenannte Urbilder. In ihnen enthüllen sich oft geschichtliche

Tiefen der Menschheitsentwicklung, Urerlebnisse

werden wieder lebendig, Archetypisches bricht durch.



Aber gerade die Dauerprägung sprachlicher Symbole, damit

ihre deutliche Bildhaftigkeit und Ablösbarkeit, führt auch

an Grenzen des Symbols. Die eine liegt im Streben nach Entsymbolisierung:

es gibt Stadien der Dichtungsentwicklung,

wo man über die Tatsache, eben nur in einem Bild das Tiefere

andeuten zu können, hinauskommen möchte, indem man

das Wirkliche und Wahre ganz unmittelbar in der Sprache

ausdrückt. Man hat dieses Streben im späten Goethe (Wanderjahre),

in Dantes »Paradiso« und in den letzten Gedichten

Rilkes zu erkennen geglaubt. Damit berühren wir einen Zug

des Altersstils, der auf Einfachheit, Klarheit und Sachlichkeit

geht. Aber man darf nicht übersehen, daß man dabei zugleich

an die Grenze des Sprachkünstlerischen, ja sogar des

in der Sprache Möglichen gerät. Denn sie ist ja ihrem Wesen

nach Gestaltung des Erfahrenen, des Begegnenden in sprachlichen

Dauergebilden, also im Bild. Und in solchen Gebilden

allein, die zugleich aus innersten Haltungen gespeist sind, ist

es der Kunst möglich, Tiefen der Wahrheit und der Welt

ahnen zu lassen.



Die andere Grenze liegt ähnlich wie beim sprachlichen Bild

überhaupt in der Ablösbarkeit aus dem Zusammenhang, damit

in der beliebigen Wiederholbarkeit, in der Brauchbarkeit.

Damit droht die Einheit Bild-Sinn zu zerreißen, das Bild

wird zu einem Zeichen für eine gewisse Bedeutung: der |#f0239 : 223|



Knabe Lenker wird zur Allegorie der Dichtung (Faust II).

Allegorien aber führen übers rein Sprachliche hinaus, sie

sollen in ihren dichterischen Möglichkeiten später beleuchtet

werden. Doch die Ablösbarkeit führt uns schon im Sprachlichen

auf eine Manier neuester Dichtung: auf die Montage.

Wortwörtlich: brauchbare, abgelöste, von überall her genommene

Bilder werden rein rational zusammengesetzt, aneinander

geklebt, wie auf eine Unterlage aufmontiert. Das

Gemüthafte der Dichtung kann damit verlorengehen. Deshalb

wird diese Stilfrage gerade für die Lyrik brennend. Hier

ist nun noch ein beinahe umgekehrter Vorgang zu erwähnen,

daß nämlich aus Zeichen dichterische Symbole werden können.

Wir beobachten ihn besonders an der Dichtung des 16.

und 17. Jahrhunderts, aber auch in modernster Lyrik taucht

er wieder auf: die Bedeutung der Embleme. Unter Emblem

versteht man ein Zeichen, dem ein bestimmter Sinn zugeordnet

ist. Es gab damals große Sammlungen solcher Embleme,

meist mit Zeichnungen: Chamäleon ist das Zeichen für

Schmeichelei, Tantalus Zeichen der Habgier, die Palme Zeichen

der Beständigkeit. Diese Zeichen finden wir häufig in

der damaligen Dichtung. Die Leser verstanden die Bedeutung

dieser Zeichen durchaus; ihre Verwendung in Gedichten bedeutete

für sie also geistreichen Schmuck, er hob das Gedicht

auf eine höhere Ebene, war also zugleich Ausdruck gehobener

Haltung. Solche Zeichen gaben dem Gedicht erst den tieferen

Sinn, ohne den es kaum verständlich war, sie führten also

geradezu ins Wesenhafte. Nun ist es dem echten Dichter aber

auch möglich, daß er diese Worte und Wortgruppen nicht

nur als Zeichen benutzt, sondern in ihnen den inneren Gehalt

wieder aufleben läßt. Es würde also etwa in einem Gedicht

das Wort »Palme« dichterisch so herausgearbeitet, daß es in

dieser dichterischen Umwelt zum Symbol der Beständigkeit

würde. Es würde also zum sprachlichen Bild. Man könnte

hier geradezu stilgeschichtliche Unterschiede feststellen, ob das

Wort entweder so geradhin als Emblem gesetzt ist oder erst

über den Weg einer sprachlichen Gehaltfüllung zu einem

Symbol wird, wie das teilweise bei den Farbworten Trakls zu

beobachten ist.

|#f0240 : 224|



Das Zusammenwirken der Stilkräfte



Die sprachkünstlerische Entfaltung aller Möglichkeiten

zeigt sich erst, wenn nun die einzelnen Stilkräfte in einem

Sprachkunstwerk in der verschiedensten Weise zusammenwirken:

im Ineinander, im Miteinander und im Nacheinander.





Wie sich gerade auch vom Miteinander der Stilkräfte allgemein

bekannte Formen stilistisch deuten lassen, zeige ein

kurzer Blick auf direkte, indirekte und erlebte Rede in ihrer

künstlerischen Möglichkeit. Hier sehen wir nur auf das

Grundsätzliche ihrer Form, auf die entscheidende Bedeutung

für die epische Kunstform erst später.



In der direkten Rede wird ein sprechender Mensch vor uns

hingestellt, daher wirkt die Stilkraft des Anrufs vor allem.

Dieser Anrufcharakter ist in der indirekten Rede stark zurückgedrängt,

es fehlt jede Anrede in einer zweiten Person, nur

in der Reihung und im Wortschatz ist die Stilkraft des Anrufs

noch spürbar. Dafür aber drängt der klärende Verstand

hier vor: indem die Rede des Betreffenden in das Sprachganze

als ein Glied eingebaut wird; entweder, wie das im Deutschen

üblich ist, durch den Konjunktiv: »Karel ließ ihn ausreden,

um dann kühl und ruhig zu antworten: von Sünde wisse er

nichts, nichts von Barmherzigkeit ... Die Begriffe seien

ihm abhanden gekommen und hätten sich in seines Kindes

Schicksal als Trug erwiesen. Dem verlorenen Sohne jammere

er nicht nach ...« (H. Grimm, Mordenaars Graf). Oder, wie

es im Deutschen seltener, in den romanischen Sprachen aber

üblich ist, mit dem scharf einfügenden Einleitewort »daß«.

Kleist wiederholt dieses »daß« an einer Stelle der »Marquise

von O.« vierzehnmal! »Der Graf setzte sich ... und sagte,

daß er ... sich sehr kurz fassen müsse; daß er ... nach P.

gebracht worden wäre; daß er mehrere Monate daselbst an

seinem Leben verzweifelt hätte; ... daß er die Lust und den

Schmerz nicht beschreiben könnte, daß er endlich ...« Die

Härte dieses betonten Hineinzwängens auch des Erregtesten

in einen fest geschmiedeten und vorantreibenden Satzbau

stellt vor allem hier die Stilkraft der Rededynamik heraus. |#f0241 : 225|



Wieder ganz anders die sogenannte erlebte Rede, die, wie

wir sehen werden, für moderne Erzählkunst besonders bezeichnend

ist. »Paco zieht die Brauen zusammen: das Fenster

liegt allerdings hoch in der Mauer, wohl über zehn Meter.

Er blickt sich suchend in der Zelle um: der Strohsack, natürlich,

das wußt man aus den zahlreichen Fluchtgeschichten der

Matrosen! Man mußte nur ein Messer haben, der Drilch ist

sehr dick ...« (St. Andres, Wir sind Utopia). Man spürt: es

ist das Reden einer Person gestaltet, aber eingeformt in die

Darstellung durch den Sprachkünstler: es fehlen Anrufe, aber

nicht die Ausrufe; auch Satzstellung und Wortwahl deuten

die Rede an. Mit anderen Worten: keine Stilkraft ist deutlich

herausgestellt, es bleibt absichtlich etwas Verschwimmendes,

gerade dadurch eben, daß die Stilkräfte der Rededarstellung

nicht scharf ausgeprägt da sind, aber doch wieder

spürbar.



Maßgebend für die künstlerische Art eines Gedichts ist

auch die Gewichtsverteilung der einzelnen Stilkräfte.



Und daß mir auch zu retten mein sterblich Herz,

Wie andern eine bleibende Stätte sei,

Und heimatlos die Seele mir nicht

   Über das Leben hinweg sich sehne,


Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl! sei du,

Beglückender! mit sorgender Liebe mir

Gepflegt, der Garten, wo ich, wandelnd

   Unter den Blüten, den immerjungen,


In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mir

Mit ihren Wellen allen die mächtige Zeit,

Die Wandelbare fern rauscht und die

   Stillere Sonne mein Wirken fördert


   (Höderlin, Mein Eigentum, 3 Strophen)



Wirkungsbestimmend ist hier die Aufeinanderfolge von Ausruf,

der die Grundlage schafft, über die Satzdynamik der

ersten vier Verse, die Bewegtheit und in der Gliedsatzstruktur

auch Spannung erzeugt, zum Anruf als der zentralen stilistischen

Stelle, die nun löst und bittende Hingabe schafft, und

zum sprachlichen Bild, das sich in das durch den Anruf beschworene

Du hineinschmiegt. Dabei ist es möglich, daß dasselbe |#f0242 : 226|



sprachliche Gebilde je nach Zusammenhang einer verschiedenen

Stilkraft zugehört.



Am Brunnen steh ich lange,

Der rauscht fort, wie vorher,

Kommt mancher wohl gegangen,

Es kennt mich keiner mehr.


Da hört ich geigen, pfeifen,

Die Fenster glänzten weit,

Dazwischen drehn und schleifen

viel fremde, fröhliche Leut.
(Eichendorff, Rückkehr)



Der erste Vers der zweiten Strophe ist ein deutliches Bild, in

dem eine starke Gemütshaltung lebendig ist. Diese Gemütshaltung

des Bildes tritt zurück und das Vorganghafte in einer

leichten Satzbewegung drängt vor, wenn der Vers leicht

geändert in einen epischen Hexameter eingefügt wird: »Abends

kam ich ins Dorf. Da hört ich geigen und pfeifen« (nach Staiger).

Wieder ganz anders folgende Umformung: ein Wanderer

erzählt von einem Weg in dunkler Nacht, als er plötzlich

etwas vernimmt: »Da hört ich ─ geigen, pfeifen! Frohe Menschen!

─ und fühlte mich geborgen.« Hier tritt das Bildhafte

des Sprachgebildes noch stärker zurück, es wird ein Ausruf.



Nicht überall wirken die Stilkräfte in einem Gedicht mit

der gleichen Dichte. Es kann Stellen geben, wo die einzelnen

Stilkräfte gleichsam nur dünn gesät sind oder auch eine einzelne

Stilkraft nicht sehr intensiv ist. Solche Weite des Stils

kann Gestaltung der Reife, der Ruhe und Abgeklärtheit sein

wie etwa in Goethes »Wahlverwandtschaften« oder beim

späten Stifter. Es sind so auch starke Steigerungsmöglichkeiten

zu Stellen dichter Stilkräfte hin gegeben. Aber auch Unwerte

kann solche Weite haben: Müdigkeit, Versanden, Absterben.

(Freilich können diese Unwerte wieder bedeutsam im Zusammenhang

werden, wenn etwa eine solche menschliche

Haltung in einer epischen Dichtung sprachkünstlerisch herausgearbeitet

werden soll.) Dichte Ballung aller möglichen Stilkräfte

oder dichte Ausformung einer einzelnen gestaltet

Fülle, Übermut, Kraft, heftige Bewegung; aber auch Verhaltenheit

ist so formbar. Der Unwert ist die Überreiztheit.



An dieser Stelle zeigt sich auch, daß die reine Form der |#f0243 : 227|



Sachdarstellung, die an sich eben nicht Sprachkunst ist, im

Rahmen einer Dichtung sprachkünstlerisch bedeutsam sein

kann. Solche Stellen können in die hochgespannte Sprachgestalt

Abwechslung, ein gewisses Ausruhen bringen. Vor

allem aber schaffen sie Kühle. Und gerade das ist ja auch Gestaltung

einer inneren Haltung. Oft wirkt die verstandesklare

Schärfe eines Sprachgebildes stark, besonders in Dramen

kann so die Haltung eines Menschen deutlich zum Ausdruck

kommen. Lessing hebt so oft die Sachdarstellung zu sprachkünstlerischer

Bedeutung. Sachdarstellung kann auch ernüchternd

wirken und damit geradezu komisch sein. Wenn in die

höhere Ebene rhythmischer und metrischer Gestaltung plötzlich

der nüchternste Alltag durch die sprachliche Formung

bricht, dann spüren wir die Fallhöhe, die Entlarvung eines zu

Unrecht bestehenden Anspruchs sogar in der sprachkünstlerischen

Gestaltung, indem eben diese plötzlich durch Sachdarstellung

verdrängt wird. So die komische Entlarvung

möglicher Wichtigtuerei in den Versen Erich Kästners:



Zusammenfassend läßt sich etwa sagen:

Ich kam zur Welt und lebte trotzdem weiter.



Das Zusammenwirken der Stilkräfte ist auch entscheidend

für Einheit oder Zerrissenheit des Stils in einer Dichtung. Freilich

darf hier kein engherziger Standpunkt eingenommen

werden. Wir werden auch bei der Frage der Gesamtgestalt

einer Dichtung erkennen, daß die Spannweite sehr groß sein

kann. In umfangreichen Kunstwerken kann eine sehr gegensätzliche

Menge von Stilarten und Stilformen doch unter eine

Einheit gebracht werden, man denke an Faust II. Oft erscheint

erst im Ergebnis der Zusammenklang: in Claudels

»Soulier de satin« empfangen alle Stilzüge ihre Einheit erst

unter dem katholischen Weltblick des Werks, als eingebaut in

die Fülle der Welt, in der sich immer wieder Gottes Lenkung

zeigt. Von Stilbruch und Zerreißung des Stils sprechen wir

aber bei starkem Wechsel oder bei Aussetzen der Gemütshaltung,

die nicht aus dem Gesamten zu erklären ist. »... da

wischte sich der Senator die Stirn, die aus Gründen einer sehr

zusammengesetzten Erregung feucht geworden war« (Werfel, |#f0244 : 228|



Verdi). Aus der ganzen Stelle ist keine ironische Gestaltung

herauszuhören, daher wirkt diese plötzliche fachliche Äußerung

als Stilbruch.



Da nicht alle Teile einer Dichtung größeren Umfangs stilistisch

gleich eindringlich sind, haben wir auch nach dem Sinn

stilhafter Gestaltung zu fragen. Man meint oft, den Schmuck

als eine Funktion des Stils ansehen zu können. Aber da drängt

sich gleich die Frage auf, warum er nur an bestimmten

Stellen eingesetzt wird. Der Schmuck kann also nicht letzter

Sinn sein, wenn man nicht eben überhaupt die Hebung auf

eine höhere Sprachebene damit meint. Denn auch in der

Barockdichtung sind Schmuckformen besondere Stilmittel,

die eine innere Welt- und Glaubenshaltung gemeinschaftsverbindlich

gestalten. Auch der Drang nach Abwechslung

wäre noch eine oberflächliche Begründung. Wichtiger ist es

schon zu erkennen, daß in einer Dichtung die gehaltlich bedeutsamen

Stellen auch stilistisch stark ausgeprägt sind. Damit

ergibt sich zugleich, daß stilhaft besonders einprägsame Stellen

auch in der Architektur der Dichtung wichtig sind: etwa

die Knappheit und scharf zugespitzte Prägung vieler Aktschlüsse

bei Schiller, manche scharfen Einsätze und Steigerungen.





Um den Sinn des Stils im Sprachkunstwerk zu verstehen,

müssen wir uns daran erinnern, daß die Sprache als geistige

Weltgestaltung auch die Grundlage der Sprachkunst ist; daß

ferner Kunst im allgemeinen mit dem Gemüt des Menschen,

also mit seinen Tiefen zusammenhängt. So wird auch von

diesem Blickpunkt aus klar: Sprache schafft Kunstwerke,

wenn auch sie aus dem Gemüt heraus gestaltet ist. Und diese

gemüthafte Sprachgestaltung ist ja der Stil. Stilhafte Gestaltung

der Sprache ist der Dichtung wesenseigen. Dichtung

kann gerade schon durch ihre sprachkünstlerische Gestaltung

ins Leben greifen. Im Schöpferischen der Sprachkunst wird

die Dichtung zu einer wirkenden Gestalt, tritt sie damit in den

verschlungenen Zusammenhang des Lebens. Und dies in

einem besonders tiefen Sinn. In der dichterischen Sprache sind

innerste Haltungen des Menschen Gestalt geworden. Und diese

Gestalt gewordene Innerlichkeit vermag im Lesenden oder |#f0245 : 229|



Hörenden gerade auch auf diese tiefen Schichten zu wirken:

sie entbindet, entfaltet, hebt und führt sie. Da alle Gehalte der

Dichtung nur in der besonderen künstlerischen Gestaltung da

sind ─ mit nüchternen Worten der Sachdarstellung würden

auch die Gehalte andere ─, wirkt hier die Sprache selbst in den

Lebenszusammenhang hinein.



Stilarten



Man kann versuchen, das Einheitbildende, das Prinzip eines

Stils herauszuheben und damit gleichsam zu seinem Urbild im

Goetheschen Sinne zu kommen. Faßt man dann Gruppen

solcher Urbilder nach bestimmten durchgehenden Gemeinsamkeiten

zusammen, so gelangen wir zu Stiltypen als Möglichkeiten

stilhafter Gestaltung, die durch gemeinsame Züge

gebunden sind. Wir nennen sie Stilarten. Diese Stilarten sind

zunächst ganz ungeschichtlich gefaßt. Wir suchen die Gruppierung

aus den dauernden Wesenseigentümlichkeiten des

Sprachstils zu gewinnen. Aber gerade mit ihnen als Folien

kann man in der Geschichte tatsächlich auftretende Typen

schärfer fassen: als Besonderungen einer Stilart, als Verflechtung

mehrerer. Es sind keine Normen, sondern sie geben uns

einen Einblick in die vielen Möglichkeiten, die sich alle aus der

einen Tatsache des Sprachstils ablösen. Wir gehen nicht auf

die vielen Versuche ein, solche Stilarten zu entwerfen. Es gibt

unzählige Gesichtspunkte, von denen aus man zu einer Art

System kommen könnte. Freilich sind nicht alle gleich fruchtbar

und ergiebig, manche zu ausgefallen, andere zu allgemein

und abgebraucht.



Wir versuchen einen vorläufigen Überblick dadurch

zu gewinnen, daß wir von Fragen ausgehen, die sich aus der

gemüthaften Weltgestaltung durch Sprache ergeben. Drei

Fragen sind entscheidend.



Die erste geht nach der Art, wie die Stilwerte im Sprachkunstwerk

vorhanden sind. Daraus ergibt sich ein erstes

Gegensatzpaar: dichter und flacher Stil. Wir haben diese Stilarten

schon beim Zusammenwirken der Stilkräfte erwähnt. |#f0246 : 230|



Wenn eine oder mehrere Stilkräfte in dichter Folge sich

drängen, so entsteht der dichte Stil: beim jungen Goethe und

Schiller, bei Hölderlin, bei Broch. Auch da kann es besondere

Ausprägungen geben: breite Fülle, wie sie etwa im »Wallenstein«

oder in der »Iphigenie« wirkt, oder Aneinanderstoßen

harter und starker Gipfel wie bei Kleist oder den Expressionisten.

Im flachen Stil gibt es kein Drängen der Bilder, keine

Gefühlshitze; Anruf und Ausruf treten zurück. Große Beispiele

sind Lessings Ringparabel oder Stifter. Wie auch die folgenden

kann jede dieser Stilarten wertvoll sein, aber durch Übersteigerung

der Merkmale in den Bereich des Unwerts geraten.



Die zweite Frage geht nach den Grundeinstellungen, die in

der sprachlichen Welterfassung entscheidend sind. Da gibt es

zwei Gegensatzpaare. 1. Die Welterfassung geschieht entweder

im unmittelbaren Begegnen mit dem Gegenüber in

immer neuen dichten Griffen oder aus einer dauernden

geistigen Haltung heraus: unmittelbarer oder enthobener Stil.

Wir haben bei der Reihung auf diese beiden Typen schon hingewiesen

und Beispiele gebracht: Kleist und Hölderlin auf der

einen, Goethes Altersdichtung auf der anderen Seite. 2. Die

Welterfassung geschieht aus einem noch undifferenzierten,

einheitlichen, großzügigen Gefühlsleben oder aus einem

differenzierten, mannigfaltigen: schlichter und entfalteter Stil.

Der schlichte Stil ist einfach, seine Worte haben einen weiten

Gefühlsbereich, die Wortfügung ist klar, der Rhythmus weit.

Die sprachlichen Bilder berühren einfache Menschen und alte

Schichten im Innern des Menschen. Das schönste Beispiel ist

die Erzählweise der Grimmschen Märchen. Der entfaltete Stil

ist reich gegliedert. Die Worte haben einen engen Gehalt, zumindest

im konkreten Zusammenhang, die sprachlichen Bilder

berühren hochgezüchtete Gemüter. Das reicht von der

Eigenart G. Kellers bis zu den modernen Romanschriftstellern,

die in immer neuen Ausdifferenzierungen das Innere

der Menschen bis in seine tiefsten Schichten vor uns ausbreiten:

Th. Mann, Proust, Musil, Virginia Woolf.



Die dritte Frage ermöglicht drei Typenpaare. Sie geht auf

die grundlegenden Gemütshaltungen, die auch in sprachlicher

Gebildehaftigkeit festlegbar sind. 1. Einer harmonischen |#f0247 : 231|



Gemütshaltung steht eine gespannte, auf gegensätzlichen Einstellungen

ruhende gegenüber: harmonischer oder gespannter

Stil. Der harmonische Stil reicht von Eintönigkeit bis zu

reichsten Akkorden. Hölderlin, Goethe, Stifter bieten Beispiele.

Der gespannte Stil kann in der Gegensätzlichkeit der

gestalteten Haltungen begründet sein wie in aller dramatischen

Dichtung wenigstens grundsätzlich, aber auch in der

Gegensätzlichkeit von gefühlstiefen und rationalen Gliedern

wie vielfach im modernen Roman mit seinen essayhaften

Einschüben. 2. Die Gemütshaltung ist entweder durch Ruhe

oder durch Bewegung bestimmt: ruhiger oder bewegter

Stil. Im ruhigen Stil bleibt die Grundhaltung, wenn auch mit

kleinen Wandlungen, erhalten; es ist die Haltung des ruhigen

epischen Ablaufs in den späten Romanen Goethes, Stifters

und etwa bei Carossa. Der bewegte Stil gestaltet alle Gefühlsabläufe

mit ihrer Heftigkeit und Plötzlichkeit: es kann ein

rasches einliniges Strömen sein wie in den Anekdoten Kleists

oder ein heftiges Auf und Ab wie in den expressionistischen

Gedichten und Dramen. 3. Reiche Entfaltung aus tiefer Gemüthaftigkeit

kann einer deutlichen Knappheit und Verhaltenheit

gegenüberstehen: auf blühender oder zusammengezogener

Stil. Beim aufblühenden Stil entfaltet sich eine Grundstimmung

in mächtigen Gemütsbewegungen, so besonders

schön am Schluß des dritten Aufzugs der »Iphigenie« in der

fülligen und mächtigen Satzbewegung der Worte des geheilten

Orest. Der zusammengezogene Stil verharrt mehr beim

Augenblick, intensiviert diesen, bohrt sich geradezu in ihn

hinein. Der Satzbau liebt Kürzungen und vermeidet jedes

überflüssige Wort. Deutlich tritt er bei Grillparzer heraus. Etwa

in folgenden Versen des Königs in der »Jüdin von Toledo«:



Ihr Bild, wie es vor mir steht hier und dort,

An jeder Wand, in dieser, jener Ecke,

Zeigt mir sie nur in ihrer frühern Schönheit,

Mit ihren Schwächen, die so reizend auch.

Ich will sie sehn, zerstört, versehrt, mißhandelt;

Versenken mich im Gräuel ihres Anblicks,

Vergleichen jedes Blutmal ihres Leibes

Mit ihrem Abbild hier auf meiner Brust

Und lernen Unmensch sein genüber Gleichen.
|#f0248 : 232|



Es ist selbstverständlich, daß alle die Züge, die die einzelnen

Stilarten charakterisieren, in allen Elementen des Stils, in allen

Stilkräften gegründet sind. Hier wiederum würden Einzelbetrachtungen

ergeben, daß dichterische Sprache eine Wirkungseinheit

ist und Lautung und Gehalt nur theoretisch

trennbare Gesichtspunkte abgeben, um die Fülle der künstlerischen

Möglichkeiten zu erfassen. Ebenso selbstverständlich

ist es, daß kaum jemals eine Dichtung nur von einer Stilart her

künstlerisch ganz zu bestimmen ist. Der aufblühende Stil

kann zugleich harmonisch und bewegt, dicht oder weit sein,

der zusammengezogene unmittelbar, harmonisch oder gespannt

usw. Gerade wenn man alle die Verflechtungsmöglichkeiten

überlegt, ergibt sich die Fülle der Arten dichterischer

Sprachgestaltung, und hier scheint ein Weg gegeben, den Stil

einer Dichtung theoretisch zu bestimmen, so genau das eben

theoretischer Einstellung überhaupt möglich ist. Es gibt zwischen

den Gliedern der Typenpaare Übergangsmöglichkeiten,

so etwa zwischen dicht und flach, schlicht und entfaltet,

zwischen anderen aber keine, so nicht zwischen unmittelbar

und enthoben, harmonisch und gespannt. Man wird den Stil

einer Dichtung kennzeichnen können, wenn man beachtet,

welche Stilarten in ihm zusammenwirken, wie sich allenfalls

die einzelnen Stilarten folgen und in welcher Gewichtigkeitsabstufung

sie zusammengefügt sind.



So dürfte es auch möglich sein, übliche Stilarten wie

klassisch und romantisch z. B. näher zu bestimmen. Der

klassische Stil kann mit unseren Stilarten etwa so umrissen

werden: in ihm verflechten sich enthobener, dichter, harmonischer

und ruhiger Stil so, daß dem Enthobenen das entscheidende

Gewicht zukommt. Der romantische Stil könnte

eher durch folgende Reihe charakterisiert werden: unmittelbar,

dicht, gespannt, bewegt. Doch das sind bereits gefährliche

Verallgemeinerungen. Auch mit den Dichtungsgattungen

können wir die Stilarten vorsichtig zusammenbringen.

Dem kurzen lyrischen Gedicht ist wohl Dichte des Stils besonders

eigen. Die dramatische Dichtung als Gestaltung von

Gegensätzen wird besonders den unmittelbaren, dichten, gespannten

und bewegten Stil zeigen. Einer bestimmten Art der |#f0249 : 233|



epischen Dichtung, nämlich dem ruhigen breiten Erzählen,

kann man enthobenen, harmonischen und bewegten Stil zusprechen.





Die sprachkünstlerische Gesamtgestalt



Wir sind bisher bei der Betrachtung der künstlerischen

Möglichkeiten der Sprache, die sich ja am reinsten in der

Dichtung entfalten, von einzelnen Elementen, in denen bereits

innerste Haltungen geprägt werden können, die aber nie für

sich allein schon wirken, aufgestiegen zu den Stilkräften, in

denen und in deren Zusammenwirken der Stil einer Dichtung

Wirklichkeit wird; in den Stilarten haben wir Typen dichterischer

Sprache angedeutet, die nun auch die Stilkräfte als

wirkende Glieder in sich einfügen. Aber auch jede Stilart für

sich bietet immer nur einen Ausschnitt und ist deshalb eine

gewisse Einseitigkeit. Vom Stil her ist jede Dichtung eine

Gesamtgestalt, eine reich gegliederte Struktur, in der das bisher

Betrachtete sinnvoll zusammenwirkt. Für dieses Zusammenwirken

gibt es keine allgemeinen Bestimmungen. Nur an

einzelnen Beispielen kann man den Aufbau einer sprachkünstlerischen

Gesamtgestalt beleuchten. Sie zeigen, wie einzelne

Kräfte zu einer gesamten künstlerischen Sprachstruktur zusammenwachsen.





Wenn erst die Rosen verrinnen

aus Vasen oder vom Strauch

und ihr Entblättern beginnen,

fallen die Träume auch.


Traum von der Stunden Dauer,

Wechsel und Wiederbeginn,

Traum ─ vor der Tiefe der Trauer:

blättern die Rosen hin.


Wahn von der Stunden Steigen

aller ins Auferstehn,

Wahn ─ vor dem Fallen, dem Schweigen:

wenn die Rosen vergehn.
(G. Benn, Rosen)



Nur der Stil, nicht der Aufbau, der Ablauf dieses kleinen

Kunstwerks, sei für den Augenblick betrachtet. In der ersten |#f0250 : 234|



Strophe wirken sprachliche Bilder und eine bestimmte Satzdynamik

zusammen. Dem über drei Verse ausgespannten

Wenn-Satz, der an sich immer anspannend wirkt, folgt

scharf ein knapper Hauptsatz: im fallenden Rhythmus stumpf

schließend. Diese klare und angespannte Satzbewegung zerfließt

in den zwei nächsten Strophen, sie löst sich auf. In den

sprachlichen Bildern fällt die Wiederholung des Wortes

»Traum« an Versanfängen auf; das wiederholt sich in der

dritten Strophe, diese Aufdringlichkeit bekommt den Charakter

eines leise verhaltenen Ausrufs, zuerst kaum angedeutet in

der zweiten Strophe, deutlicher in der dritten mit dem Wort

»Wahn«. So erhält das Gedicht einen stilhaften Ablauf: aus

dem scharf gespannten Satzbau des Anfangs wird ein Auflösen

der klaren Satzbewegung, aber im selben Grad ringt sich

ein Ausruf leise durch, ein menschliches Inneres wird vernehmbar.

Das Ganze aber ist von sprachlichen Bildern durchzogen

und erhält dadurch Geschlossenheit. Aber auch durch

die Tatsache, daß der Schlußvers die Form des Anfangsverses

hat, schließt er nur ab und spannt nicht an. Stimmung und

Geschlossenheit werden nun im Aufbau der sprachlichen

Bilder besonders eindringlich. Die Eindruckswörter fehlen

ganz, Gegenstands- und Vorgangswörter bestimmen das Gedicht.

Es wird also nichts ausgemalt, keine persönliche Stellungnahme

zur Welt gestaltet. Von den fünf Vorgangswörtern

heißen vier: verrinnen, fallen, hinblättern, vergehen.

Ein Lebensvorgang ist also nur angedeutet, aber in der Stimmung

eindringlich: das Vergehen. Die Gegenstandswörter

nun wiederholen sich in bestimmter Weise immer wieder:

Rosen, Traum, Stunden, Wahn vor allem. Sie geleiten eine

eigenartige Stimmung durchs Gedicht. Denn mit Ausnahme

von Rosen, Strauch und Stunden fehlt den Gegenstandswörtern

ein klar umrissener Gehalt: Entblättern, Traum,

Dauer, Wechsel, Wahn, Steigen, Fallen, Schweigen haben

etwas Weites, dessen Grenzen nicht scharf ziehbar sind. Dazu

kommt die große Zahl der substantivierten Infinitive, allein

vier in der letzten Strophe: in ihnen verbindet sich mit dem

Umgrenzungscharakter des eigentlichen Gegenstandswortes

der Vorgangscharakter des Verbums, also wieder eine Art |#f0251 : 235|



Heraustreten aus der scharfen Geprägtheit. Die Worte sind

nun in der mannigfachsten Weise miteinander zu Gruppen

gefügt. Rosen, Vasen und Strauch geben zunächst ein beinahe

handfestes, deutliches Bild ─ ein Symbol, in dem das Folgende,

mehr Zerfließende aufgefangen bleibt. Am Schluß der ersten

Strophe das Wort »Traum«, das nur durch die zweite hindurchgeht,

genau wie in der dritten der Wahn. In der starken

Alliteration werden die Gegenstandswörter noch mehr gebunden

und treiben gegenseitig ihren Gehalt heraus: Wechsel,

Wiederbeginn; Traum, Tiefe, Trauer; Stunden, Steigen. Fünf

Verse beginnen mit dem W-Laut. Auch die Reime wirken

gehaltvoll: verrinnen und beginnen stellen einen scharfen

Gegensatz heraus, ebenso Dauer ─ Trauer, Beginn ─ hin,

Steigen ─ Schweigen, Auferstehn ─ vergehn. So sind also die

Worte in den sprachlichen Bildern aufs kunstvollste zusammengefügt

und arbeiten deutlich einen bestimmten Gehalt

heraus. Dazu kommt, daß im Rhythmus die Hebungen nur

auf die Sinnträger fallen, diese also noch mehr wirken. Die

metrische Form ist streng insofern, als alle Verse dreihebig

sind und eine genaue Reimfolge abab mit klingendem a und

stumpfem b haben. Der stumpfe Abschluß jedes Verspaares,

vor allem jeder Strophe, wirkt hinein in die Gesamtstimmung.

Eigenartig unbestimmt sind aber die Versanfänge der ersten

Strophe: Vers 1 bleibt ganz unbestimmt, Vers 2 setzt deutlich

mit Senkung ein, 3 bleibt unbestimmt; erst mit Vers 4 setzt

sich der Anfang mit Hebung durch. So wirkt das Fallende des

Rhythmus in seiner Entschiedenheit am Schluß der ersten

Strophe erst recht und gestaltet auf seine Weise auch das, was

schon in der Satzbewegung deutlich wird. Und in bezug auf

die Stilart: der starke Gehalt der Gegenstandswörter und der

Vorgangswörter schafft einen dichten Stil, in der Einfachheit

des Wortschatzes (Wortwiederholungen!) und dem Unbestimmten

des Satzbaus in der zweiten und dritten Strophe

liegt etwas vom schlichten Stil. Das Leise des Ganzen und die

große, bis ins letzte durchgearbeitete Sprachkunst zeigt Enthobenheit,

alles klingt harmonisch auf die Stimmung des Vergehens

zusammen, im leisen und verhaltenen Sprachausdruck

scheint die stärkste Wirkung zu liegen. So ist wohl der zusammengezogene |#f0252 : 236|



Stil das beherrschende Merkmal, dem sich

die anderen einfügen. Diese Stilbetrachtung, die noch nicht

alle Feinheiten herausgehoben hat, zeigt eines: kein Stilelement

steht für sich, Lautung und Gehalt sind volle Einheit,

die drei Stilkräfte des Bildes, des Satzablaufs und des Ausrufs

wirken in fester, gefügter Weise zusammen und schaffen

einen Ablauf bestimmter Art. Die sprachlichen Bilder erwachsen

aus den mannigfachen Fügungen gehaltlicher und lautungsmäßiger

Art, zu denen die stark gehaltvollen Worte

verflochten sind. Der Wortgehalt selbst wird erst im klanglichen

und sinnvollen Zusammenhang voll wirksam. Freilich

kann eine solche Stilbetrachtung immer wieder nur analysierend

vorgehen und nur mühsam rational auf die Ganzheit

dieses sprachlichen Gewebes hinweisen. Sie ist im tiefsten ja

nur dem Erleben zugänglich. Aber man erkennt: erst und nur

aus diesem kunstvollen Ganzen geht das Tiefere auf, und nur in

ihm ist es auf diese einmalige Weise Wirklichkeit im wahrsten

Sinn des Wortes geworden.



Ein anderer Weg, die geschlossene sprachkünstlerische Gestalt

zu erkennen, ist der Vergleich. Denn auch da kann man

von Einzelbeobachtungen zu allgemeineren Einsichten aufsteigen

und so die Gliedhaftigkeit und sinnvolle Eingefügtheit

der Elemente ins Ganze in den Blick bekommen. Ein Beispiel

sei angedeutet: der Vergleich zwischen dem dramatischen Stil

Schillers und Hebbels. Schillers Rhythmus ist weit geschwungen,

die Dynamik des Redevorgangs pathetisch, großwellig.

Auch die Gegensätze in den Bildern und Bildgruppen und

auch in den anderen Stilkräften sind weiträumig, d. h. die

Gegensätze stoßen sich nicht im kleinsten sprachlichen Gebilde.

Man hat dabei immer noch den Eindruck von Übergangsmöglichkeiten.

Die sprachlichen Bilder erfassen einen

gewissen Höhenbereich des Lebens, der selten unterschritten

wird. Auch hier bindet die Liebe zur Pracht eher die Antithetik.

Die Bilder bleiben im Bereich des Geistigen. Die Bildränder

sind fließend, sowohl in der Lautung als auch im Gehalt.

Hebbels Rhythmus ist schärfer, unausgeglichen. Auch

die Redeführung ist scharf und stoßhaft. Die Gegensätze prallen

hart aufeinander, heftig, rücksichtslos. Klüfte werden aufgerissen |#f0253 : 237|



ohne Übergänge. Die sprachlichen Bilder steigen oft

in unterste irdische Bereiche und dann wieder ins Kosmische:

also auch in dieser Hinsicht schärfste Antithetik. Die Gestaltung

steht im Bereich des Kosmischen und Menschlichen im

weitesten Sinn. Die Bildränder sind deutlich. Auch ein

solcher Vergleich zeigt also, wie Stil immer eine Ganzheit ist

und auch in dieser Ganzheit sein jeweiliges Gepräge erlangt.



Wir haben bei der Betrachtung der menschlich-dichterischen

Auffassungsweisen der Welt (S. 94 ff.) immer wieder

betont, daß dieses Weltbild in der Dichtung immer nur in der

bestimmten künstlerischen Gestalt Wirklichkeit wird. Wir

können nun umgekehrt andeuten, daß Sprachkunst auch

diese höchsten Bereiche, etwa des Tragischen und des Komischen,

formen kann.



Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht

Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt

Der Boden unter meinen Füßen auf!

Ich fasse dich mit beiden Armen auf!

So klammert sich der Schiffer endlich noch

Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.


   (Goethe, Schluß des »Tasso«)



In dieser gewaltigen sprachlichen Bilderreihe endet das ganze

Werk. Daher hat sie einen deutlich schließenden Charakter

und gewinnt damit erhöhte Bedeutsamkeit. Sie wird zum

zusammenfassenden Symbol des scheiternden Menschen, des

Menschen, dem alle Daseinsstützen zerbrechen, des tragischen

Menschen. Alle Einzelbilder gewinnen an dieser krönenden

Stelle erhöhte Bedeutung. Das Steuer ist auch die klare

Lebensausrichtung, das Schiff das Leben, der Boden der Halt

im Leben. Auch die Möglichkeit des Bestehens ist im Gehalt

der Bilder aufgefangen: das Festhalten an dem, was Gefahr

drohte. Gerade diese prosaische Umdeutung zeigt aber, wie

viel wirksamer, wie viel mehr aus innersten Tiefen die dichterische

Gestaltung tragischen Erlebens kommt. Die Worte

sind noch nicht abgebraucht oder werden in diesem Zusammenhang

wieder in ihrem tiefen Gehalt lebendig, sie klingen

in der Stimmung alle zusammen: das Unglück, das Ende, die

Katastrophe wird in jedem Bild spürbar. Aber gerade hier |#f0254 : 238|



auch wird deutlich, wie dieses Erschütternde bis in die Lautung

hinein Gestalt wird. Die entscheidenden Stimmungsträger

sind auch lautlich sehr kraftvoll, sie entfalten die stärksten

Lautungswirkungen: zerbrochen, krachen, bersten, reißen.

»Berstend reißt der Boden unter meinen Füßen auf«: das

Aufreißen des Bodens, aber nicht überhaupt, sondern unter

den Füßen eines Menschen; nicht eines Menschen überhaupt,

sondern: meine Füße: bis in diese Einzelheiten hinein wird

der Abgrund vor einem lebendigen Menschen, der durch die

Kunst des ganzen abgelaufenen Dramas uns ganz nahegetreten

ist, gestaltet. Und nicht genug: »berstend« reißt er auf:

die ganze Furchtbarkeit im Eindruckswort. »Berstend reißt

der Boden«: das ganze Bild voll Dichte: als Gegenstand, als

Vorgang und in seinem Eindruck auf den Menschen geprägt.

Klanglich ist »berstend« mit »reißt« durch das r und das st gebunden,

mit »Boden« durch den Anlaut und durch den starken

Vokalwechsel. Aber nicht genug damit. Der »klassische«

Goethe durchbricht hier dreimal die Harmonie des Zusammenklangs

von Vers- und Satzgeschlossenheit. Die Satzbewegung

zerreißt die Verseinheit: so wird in dieser Dynamik

und Rhythmik auch die Zerrissenheit, die Gespanntheit

lebendig.



Daß Humor und Komik, Satire und Ironie immer wieder

vor allem durch die Sprachgestaltung lebendig werden,

leuchtet ein. Die früher gebrachten Beispiele für Komik

belegen es zugleich. Bis in welche Einzelheiten hinein das

beim großen Künstler gehen kann, zeige ein Beispiel aus dem

»Zerbrochenen Krug«. Gerichtsrat Walter macht Adam den

Vorwurf, lange nach den Personalien der ihm bekannten

Frau Marthe herumzufragen, er solle einfach schreiben: »dem

Amte wohl bekannt«. Und nun:



Walter: Fragt nach dem Gegenstand der Klage jetzt.


Adam: Jetzt soll ich?


Walter: Ja, den Gegenstand ermitteln!


Adam: Das ist gleichfalls ein Krug, verzeiht.


Walter: Wie? Gleichfalls!


Adam: Ein Krug. Ein bloßer Krug. Setzt einen Krug,

    Und schreibt dabei: dem Amte wohlbekannt.
|#f0255 : 239|



Adam ist überrascht, nach dem Gegenstand fragen zu müssen;

denn den kennt er ja auch; daher fragt er: »jetzt soll ich?«

Damit nun wirkt das Wörtchen »gleichfalls« besonders scharf.

Seine Wirkung wird noch erhöht dadurch, daß es dem Gerichtsrat

sehr auffällt. Die Wiederholung treibt seinen Gehalt

noch mehr heraus. Und der letzte zitierte Vers schließt wirkungsvoll

ab. Das Wort »gleichfalls« ist zunächst völlig sinnlos,

weil ja vorher von einer Frau und nicht von einem Krug

die Rede war. Aber die Sinnlosigkeit öffnet den Sinn gerade.

Adam liegt noch das »dem Amte wohl bekannt« im Ohr,

denn das löste ihm schon beim Eintreten der Gesellschaft sehr

unangenehme Gefühle aus. Und so klingt dieses Gefühl

»wohlbekannt« im »gleichfalls« auf. Dadurch aber verrät sich

Adam: er kennt den Krug! Und das unterstreicht er durch den

letzten Vers. Damit dient dieser überraschende Einsatz von

»gleichfalls« dazu, den Richter plötzlich zu entlarven: diese

Entlarvung aber ist ja gerade Komik. Sie ist erzeugt durch die

Möglichkeiten der Sprache, hier sogar durch den Gehalt

eines schon ziemlich abgeblaßten Wortes.



Mit der sprachkünstlerischen Gesamtgestalt ergeben sich

auch erste weitreichende Möglichkeiten der Wertung. Ein

Satz aus der Grimmschen Fassung des »Dornröschens«: »da

lag es und war so schön, daß er die Augen nicht abwenden

konnte«. Flacher Stil, aber zugleich so schlicht, daß die wenigen

Worte voll wirken können: das Daliegen, schön, und

endlich die Gebärde, daß er die Augen nicht abwenden konnte.

Dazu noch die feine Gegenüberstellung von es und er. Beide

Menschen, die sich dann gegenseitig glücklich machen werden,

sind hier in einem einfachen Bilde beisammen. Und das

Bild selbst reicht bis Homer! Man erinnert sich, wie Homer

die Schönheit Helenas dadurch gestaltet, daß er ihre Wirkung

auf die Alten Trojas darstellt. Dieselbe Stelle heißt in der

Fassung von Bechstein: »... wo das süße Dornröschen lag,

hehr umflossen vom Heiligenschein seiner Unschuld und

vom Glanze seiner Schönheit«. Die einfache Schlichtheit, die

aus tiefem Innern kam, ist hier verkitscht. Das Wort »Dornröschen«

ist ein Diminutiv und bezeichnet schon dadurch

etwas Liebliches. Sobald »süß« hinzutritt, wird das Liebliche |#f0256 : 240|



übertrieben und veräußerlicht, besonders durch die lautlichen

Bezüge zwischen beiden Worten. Diese übertriebene Kindlichkeit

wird nun steigernd in andere Stimmungsbereiche

hinübergeschoben: die Wortgehalte und deren Häufung, der

schmelzende Klang der Worte dazu, das alles überzuckert

dieses Süße in lächerlicher Weise. Dornröschen selbst kommt

hier in eine Beleuchtung, wo das ganze Kindliche völlig verdeckt

wird: rein nur durch die Sprache und das Versagen

ihres Einsatzes.



Daß die geschlossene sprachliche Gesamtgestalt einer Dichtung

immer im Auge behalten werden muß, zeigt noch eine

letzte Beobachtung. Es ist durchaus möglich, daß zu gewissen

Zeiten Sprachwerke, die keine Dichtungen sind, also kritische,

wissenschaftliche, politische Schriften, oft sprachmächtiger,

also sprachkünstlerisch bedeutsamer sind als gleichzeitige

Dichtungen. Aber gerade da zeigt sich die Fruchtbarkeit

unserer Scheidung von Sachdarstellung und Sprachkunstwerk,

insbesondere Dichtung. Dort, in den kritischen, wissenschaftlichen,

politischen Schriften wird auf Tatsachen der außersprachlichen

Welt hingewiesen, die Sprache will vermitteln.

Setzt sie dabei sprachkünstlerische Kräfte ein, kann diese Vermittlung

noch wirkungsvoller werden, aber es kann auch das

andere geschehen: daß man über der in der Sprachkunst aufgebauten

geistigen Welt die andere, von der gesprochen werden

soll, vergißt. In der Dichtung aber handelt es sich immer

darum, daß aus Sprachkräften eine neue geistige Welt aufgebaut

wird, die zwar natürlich Beziehungen zur außersprachlichen

hat, aber in sich ruht und in diesem Insichruhen das

Tiefere aufleuchten läßt. Ob ihr das gelingt, ist wieder eine

Frage der Stilkunst. Immer liegt das Kriterium, ob etwas eine

Dichtung ist und welchen Rang sie hat, zuerst einmal in der

sprachlichen Gestaltung. Erst auf ihr als Grundlage bauen

weitere Züge auf.

|#f0257 : 241|



Soziale und geschichtliche Bindungen des Stils



Auch sprachkünstlerisch kann Dichtung nicht voll erfaßt

werden, wenn man außer acht läßt, daß die Sprache eine bedeutende

Kraft in der menschlichen Gemeinschaft ist, daß die

mannigfachsten Beziehungen zwischen beiden bestehen und

daß sie daher auch in die Geschichte dieser Gemeinschaften

hineingezogen ist. Dasselbe gilt für die Sprachkunst, die ja

nur eine besondere Ausformung der Sprache überhaupt ist.



Die Sprache ist überindividuell, daher etwas Geistiges, sie

arbeitet mit an der Bildung von Gemeinschaften. Denn sie

gestaltet die geistige Welt, d. h. wählt aus den möglichen

Erfahrungen die für eine Gemeinschaft lebenswichtigen aus

und prägt sie dauerhaft und jederzeit wiederholbar. Am eindringlichsten

ist das in der Sprachkunst, da sie ja aus den

Tiefen des Inneren schöpft und auf diese wieder wirkt. In der

Gemütsbeziehung zur Welt steckt eine starke Kraft der Gemeinschaftsbildung.

Diese Gemütsbezüge sind geprägt im

Stil. Die Bezüge zwischen Stil und Gemeinschaft sind zweierlei

Art: 1. Die Gemeinschaft hat eine stilbestimmende Kraft.

Denn sie ist gemeinsame Welterfahrung: welche Welt und

welche Art des Erlebens in einer Gemeinschaft entscheidend

sind, ergibt sich aus dem Dasein und Wesen der Gemeinschaft.

In der sprachlichen Gestaltung findet es seinen Niederschlag.

Stil wird so Ausprägung einer Gemeinschaftshaltung. 2. Der

Stil hat eine gemeinschaftsbildende Kraft. Durch die Stilwerte

eines Sprachkunstwerks werden im Erlebenden gerade die

Gefühlsbereiche angesprochen und geführt, die die Gefühlsprägung

der Gruppe ausmachen. Sie wird durch den Stil in

uns lebendig. Aber selbstverständlich können ursprünglich

stilhafte Formen zu Formeln verflacht werden, wie etwa die

Grußformen.



Wir unterscheiden am besten zwei Arten von Gemeinschaften

für unsere Betrachtung der dichterischen Sprache.

Solche zunächst, die mit den tiefsten und unmittelbarsten

Lebensvorgängen zusammenhängen: Ehe, Familie, Sippe,

Stamm, Volk. Im fortgeschrittenen Kulturleben sind sie vielfach |#f0258 : 242|



verdeckt, zurückgedrängt und mit anderen verflochten.

Dann solche Gemeinschaften, die durch die Entfaltung und

Formung der Menschen an gleichen Kulturgütern gebildet

werden. Dazu gehören auch die Berufsgruppen.



Aus dem Zusammenhang von Stil und Lebensgemeinschaften

seien nur drei Tatbestände herausgegriffen. 1. Die Bedeutung

der Hochsprache in der Dichtung eines Volkes. Die Hochsprache

entrückt aus dem Alltag in die Gemeinsamkeit der

Sprachgemeinschaft. Sie wirkt vor allem in der Predigt, in den

Reden, auf der Bühne, am entscheidendsten in der Dichtung.

Sie verbindet in ihrer Sprachkunst, im Gehalt, den diese formt

und prägt, und im gesamten Lautungsbestand alle Angehörigen

dieses Volks und hebt sie in diesen Augenblicken auf eine

höhere, allen gleiche geistige Ebene. Freilich sind die höchsten

Dichtungen nicht allen gleich zugänglich. Aber denken wir

an völkische Lieder: Befreiungs-, Kriegs- und Marschlieder:

etwa an die zündende Kraft der Marseillaise. Es handelt sich

einfach um die Tatsache der umfassenden Wirkung der Hochsprache;

was dabei herauskommt, gehört auf ein anderes Blatt.



Eigenartig sind dann Fremdsprachenteile in einer Dichtung.

Da sind verschiedene Stilwerte möglich. In den französischen

Stellen, die Riccaut in Lessings Lustspiel spricht, wird deutlich

das Fremde erlebt, der Einbruch einer anderen Welt; sie wird

an dieser Stelle entwertet; denn hier wird Sprechen Radebrechen

zum Zweck bloßer Verständigung. Ganz anders

wirken die Strophen aus dem »Dies irae« in der Domszene in

Faust I. Auch hier ertönt etwas Fremdes, aber es wird als

etwas Höheres, Geheimnisvolles erlebt. Der Unterschied

beider Wirkungen ist bedingt durch die sprachliche Umwelt

und Einführung dieser Stellen. Das Bedeutungsmäßige ist ja

immer nur dem offen, der die betreffende Sprache kennt,

aber die fremdsprachlichen Teile wirken auf alle Fälle stimmungsmäßig.





Die Stilwerte der Mundart in der Dichtung erfließen aus

der Tatsache, daß in der Mundart die gesamte Haltung einer

engeren Sprachgemeinschaft, eines Stammes, geprägt ist. Die

Eigenarten einer Mundart sind mannigfaltig: der Wortschatz,

besonders auch in seinen Gefühlswerten, die Formen, Fügungen, |#f0259 : 243|



der Satzbau. Vor allem aber ist es eine andere erfaßte

Welt und eine andere Art, sie zu erleben. Die Werte der

Mundart in der Dichtung sind die einer größeren Vertraulichkeit

und einer engeren Bindung an die Umwelt auch in der

sprachlich geformten Wirklichkeit. Mundartenteile in einer

Dichtung schalten also meist sehr deutlich auf diese andere,

engere Welt um und schaffen dadurch eine gewisse Spannung

und Mannigfaltigkeit. Bei reinen Mundartdichtungen gibt es

verschiedene Stilmöglichkeiten: vollendete Umgrenztheit im

Stammesbereich wie in den Gedichten des Klaus Groth und

im Schaffen Fritz Reuters; bewußte Abhebung von der Hochsprache,

also Betonung der engeren Stammesart; endlich zugleich

eine soziale Abhebung der Mundartsprechenden, damit

Einschränkung des Gedichts auf eine bestimmte gesellschaftliche

Ebene, oft sogar mit deutlich proletarischem Ton.



Der Zusammenhang des Stils mit den Bildungsgemeinschaften

zeigt sich in den verschiedensten Richtungen. Bis in die

Einzelheiten könnte das die Frage der Verhüllungen und Enthüllungen

lehren, denn sie sind rein gesellschaftlich bedingt.

Bestimmte Erfahrungsbereiche werden je nach der Gesellschaftsschicht

verschieden ─ entweder verhüllend oder offen ─

erfaßt und geprägt. Damit ist es möglich, in Art und Grad

solcher Enthüllungen und Verhüllungen feinste gesellschaftliche

Bindungen selbst in die Sprachgebilde einzuformen. Die

Verhüllungen aus Ehrfurcht vor den Lebensgeheimnissen

gehören nicht hieher. Dabei ist zweierlei zu beachten: solche

Verhüllungen werden mit der Zeit schadhaft und durchsichtig,

dann werden entweder neue geschaffen, oder der ursprüngliche

Ausdruck drängt wieder vor. Hohe Dichtung greift in

bezug auf hohe, große und erregende Bereiche (auch Liebe

und Geschlechtsleben) kaum zu Verhüllungen, sie steht über

gesellschaftlichem Bereich.



Soziale Stilwerte sind weiterhin deutlich zu erkennen an den

religiösen Gemeinschaften, an den Berufsschichten und Gesellschaftsschichten.

Ein katholisches Kirchenlied dichterischen

Wertes ruht auch auf sprachkünstlerischen Grundlagen, die

nur dem werthaft sind, der entweder im katholischen Glauben

geborgen ist oder zumindest imstande ist, diese Werthaftigkeit |#f0260 : 244|



zu verstehen, etwa die Vorstellungen des sterbenden

Christus, die Sakramentssymbole usw. Die Sprache der

einzelnen Berufe ist nicht nur im Wortschatz infolge der

drängenden Erfahrungsbereiche getönt, sondern auch und vor

allem in der erlebnishaften Einstellung zu den erfaßten

Lebensbereichen. Besonders reich sind ja hier die Beobachtungen

aus der Soldatensprache. Einbau solcher Stilelemente

in eine Dichtung bedeutet, daß der Dichter versucht, eben

durch die Sprache diese durch bestimmte Bereiche und durch

eine eigenartige Erlebnisweise geschaffene Welt künstlerisch

zu formen.



Die Tatsache, daß jede Sprachgemeinschaft mit ihrer

Sprache aufs engste zusammenhängt, daß in der Sprache das

Weltbild und die innere Haltung dieser Sprachgemeinschaft

ihre Prägung finden, gilt in besonderem Maße für die Sprachkunst

und Dichtung, da in ihnen ja eben die tiefsten Haltungen

und Antriebe geformt und wirksam gemacht sind.

Daraus ergibt sich das Problem der Übersetzungen. Schon von

vornherein besteht eine Spannung zwischen dem objektiven

Gebilde, das übersetzt werden soll, und dem Übersetzer in

seiner subjektiven Einstellung. Viel wichtiger noch ist die

Tatsache, daß man zwischen Übersetzungen von Sachdarstellungen

und von Dichtungen unterscheiden muß. Je mehr

die Sprache bloß Zeichensystem für etwas Außersprachliches

ist, desto eher ist die Möglichkeit gegeben, ein anderes Zeichensystem

dafür zu gebrauchen. Natürlich hat auch das

Grenzen; denn eine hohe wissenschaftliche Leistung kann

nicht in jeder Sprache vermittelt werden, eine entsprechende

Entwicklungshöhe muß auch die Übersetzungssprache haben.

Das waren die Schwierigkeiten, vor denen die Mönche im

9. Jahrhundert standen, als sie versuchten, theologische Werke

aus dem Latein in die erst werdende deutsche Sprache zu

übersetzen. Aber schon bei Eckhart zeigt sich, daß die entwickelte

deutsche Sprache nun schon eine Eigenwelt geschaffen

hat und damit die Schwierigkeit entsteht, eine andere

sprachliche Eigenwelt in diese umzugießen. Denn es ist nicht

so, daß nur die sprachliche Darstellung verschieden sei, die

dargestellten Geisteswelten aber gleich, sondern in der Eigenart |#f0261 : 245|



der sprachlichen Gestaltungen prägen sich eben die Geisteswelten,

so wie die Sprachen sind auch sie verschieden. Nur in

den äußersten Schichten des täglichen Verkehrs und der Zivilisation

besteht weitgehende Gleichheit. Aber je tiefer wir in

die Geisteswelten hineinschauen, je mehr wir die innersten

Antriebe, Erfassungsweisen und Haltungen betrachten, desto

mehr müssen wir erkennen, daß grundlegende Verschiedenheiten

bestehen. Das gilt daher am meisten für die Dichtungen,

die ja ganz aus diesen tiefsten Sprachprägungen leben.

Aber auch wenn wir aus diesen Tiefen nochmals an die sichtbareren

Bereiche emporsteigen, also zu den Gefühlen und

Stimmungen mehr oberflächlicher Art, sehen wir: je gefühlsbetonter

Sprachgebilde sind, desto schwerer sind sie zu übersetzen.

Denn auch die oberflächlichsten Gefühle noch sind

Ausstrahlungen aus jenen Tiefen, in denen sich die Haltung

bildet, die in der Sprachgestalt gebunden wird. Selbstverständlich

sind diese Unterschiede um so größer, je verschiedener

und fremder sich die Sprachen sind, während sie bei

nahverwandten eher überbrückt werden können. Die Unterschiede

der sprachlichen Weltbildgestaltung lassen sich in

bezug auf den dichterischen Sprachstil noch genauer bestimmen.

Nicht nur der Gehalt bestimmter, scheinbar ähnlicher

Worte ist verschieden, es gibt ja auch unübersetzbare Worte,

d. h. der Erfahrungsbereich oder die Erlebnisweise, in der er

sprachlich umgrenzt wird, oder beides ist in beiden Sprachen

verschieden. Man denke an »Gemüt«, esprit, spleen usw. Auch

die scheinbar gleichen Formen in verschiedenen Sprachen

können stilhaft verschieden sein. Der etwa bei Trakl häufige

Einsatz von Formen wie »Abgelebtes« erinnert an das Slawische.

Aber im Deutschen sind solche Formen fremder,

daher weniger konventionalisiert, aber auch weniger eigengeartet.

Rilkes Ausdrücke wie »Das Blühen« erinnern an

Romanisches, sind im Deutschen weniger üblich, wirken daher

anders als in den romanischen Sprachen. Die Partizipia

des Präsens (gehend, singend) wirken im Deutschen eher

steif, im Englischen durchaus leichter. Sie haben also verschiedene

Stilwerte in beiden Sprachen. Auch die Schönheitsideale

sprachkünstlerischer Gestaltung sind in den nahverwandten |#f0262 : 246|



Sprachen verschieden: das Französische drängt zur klar geprägten,

gesellschaftlich befriedigenden Gestaltung, das Englische

zur möglichst vollkommenen Zweckerfüllung, das

Deutsche zur Eigenwüchsigkeit der einzelnen Gebilde.



Es wird also eine Sprache um so eher für dichterische Übersetzungen

geeignet sein, je reicher sie entwickelt ist. Daher die

mühsamen Versuche, Homer oder Shakespeare ins Deutsche

zu übersetzen, vor der mächtigen künstlerischen Entfaltung

in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Daher aber auch die immer

wiederholten Versuche, aus neu errungenen Sprachmöglichkeiten

die Übersetzungen neu zu formen: von Voß bis zu

R. A. Schröder, von A. W. Schlegel bis zu Stefan George.

Ein kleines Beispiel: das bekannte Gedicht Manzonis »Il

cinque maggio« enthält als Vers 15 die drei Perfektformen

»cadde, risorse e giacque«. Roh übersetzt: er fiel, stand wieder

auf und lag. Goethe übersetzt sie in freierem Satzbau mit den

drei Infinitiven: (Die Muse sah) »ihn fallen, steigen, liegen«.

Nun enthält die romanische Form des einfachen Perfekts eine

Erfassungsweise eines Vorgangs, die durch keine deutsche

Form in ihrem Wert ersetzbar ist. Daher fehlt ein Ton in der

Übersetzung, der im Original vorhanden ist. Der romanische

Philologe Paul Heyse ließ auch eine Übersetzung in einer

Sammlung 1890 erscheinen. Und er ersetzt das zweite und

dritte Goethesche Vorgangswort durch »erstehen« und »erliegen«.

Tatsächlich hat die deutsche Sprache in diesen Bildungselementen

die Möglichkeit, diese bestimmte Erfassungsweise

des ganzen Vorgangs samt seinem Abschluß nachzubilden.

Damit wird zugleich die zwiespältige Aufgabe des

Übersetzers deutlich: er muß philologisch genaue, wissenschaftliche

Kenntnisse beider Sprachen haben und muß doch

Dichter sein. Wie sollen also Dichtungen übersetzt werden?

Eine wörtliche Übersetzung kann höchstens den gleichen

Sachverhalt mitteilen, auch das nicht immer. Die innere Haltung

der Sprachgestaltung wird dabei durch eine andere ersetzt

werden. Auch die metrischen Schwierigkeiten sind kaum zu

überwinden. Kaum jemals werden die Reimfolgen beachtet

werden können, oder es gibt auch sprachlich kaum zu rechtfertigende

Gezwungenheiten. Sehr lehrreich ist Rilkes Übersetzung |#f0263 : 247|



einer Strophe aus einem Michelangelo-Sonett. Dabei

wollen wir nur die Vorgangswörter im Original und in der

Übersetzung beachten, da der Vergleich sonst zu weit führen

würde:



Tolse i gran padri al tenebroso regno,

Gli angeli brutti in più doglia sommerse:

Gode sol l'huom, ch'al battesmo rinaque.


Erzväter riß er aus den Zwischenreichen,

Zog böse Engel tiefer in Beschwerde,

und nur der Mensch genoß, daß er sich hübe.


Michelangelo stellt die ersten zwei Verse zu einer Gruppe

dadurch zusammen, daß er sie von zwei gegensätzlichen Vorgangswörtern

umrahmt: tolse-sommerse. Das geht in der

Übersetzung völlig verloren. Der letzte Vers ist im Original

wieder so umrahmt; aber das erste Vorgangswort steht im

Präsens ─ noch heute steht der Mensch in solcher Gnade, die

sich aus einem abgeschlossenen Vorgang (einfaches Perfekt)

ergibt. Rilke kann die Reihung wieder nicht beibehalten,

setzt das Präsens ins Präteritum und erweicht die scharfe und

klare Perfektform des letzten Vorgangsworts durch den

Konjunktiv. So bleibt, wenn man nicht einfach den Tatsachenbestand

der fremden Dichtung mitteilen will, was bei

Lyrik kaum, eher bei epischer und dramatischer Dichtung

möglich ist, nur übrig, entweder eine Paraphrase, also eine

dichterische Umschreibung, zu geben, was unbefriedigend

ist, oder eine Nachdichtung zu versuchen. Das heißt: der

Übersetzer müßte den Gehalt, das Erlebnis des fremden Gedichts

mit den Mitteln seiner Sprache neu zu gestalten versuchen,

so wie es der Dichter selbst in der Übersetzungssprache

getan hätte. Also freie Übersetzung! Daß auch diese

sehr enge Grenzen hat, ist klar. Denn vielfach ist ja der Gehalt,

das Erlebnis nur in der bestimmten Sprachprägung da

und wird in der Übersetzung umgeformt. Wie man da danebengreifen

kann, zeige eine dichterisch an sich sehr wirkungsvolle

und für den französischen Sprachgeist vielleicht

sogar bezeichnende Übersetzung des Goetheschen »Über

allen Gipfeln«, die aber den Stimmungsgehalt völlig ändert

und daher das eigentliche Wesen ganz verfehlt; sie stammt |#f0264 : 248|



von Jules Legras (daß der Übersetzer noch dazu einen völlig

verwahrlosten Text zugrundelegt, kommt dazu):



Au dessus des monts règne le grand calme;

Sur tous les sommets des arbres à peine

Perçoit-on un souffle;

Les oiseaux du bois sont silencieux.

Encore un instant et ce sera toi

Qui reposeras.



Eine andere Frage, die uns schon in die geschichtliche Gebundenheit

auch der künstlerischen Sprache hinüberführt, ist

die nach der altertümlichen (archaisierenden) Sprachgestaltung in

Dichtungen. Der Dichter will damit ganz bestimmte Wirkungen

erzielen, die darin gründen, daß mit dieser Sprachform

der Geist einer früherern Sprachgemeinschaft wieder

lebendig werden soll. Also auch dieser dichterische Versuch

hängt mit der sozialen Gebundenheit der Sprache zusammen.

Ich erinnere an Brentanos Versuche in der »Chronika«, an

Storms »Aquis submersus«, an bestimmte, ausgedehnte Partien

im »Doktor Faustus« des Thomas Mann, an die ganze

Sprachführung des »Jedermann« und an viele Stellen des

»Turms« von Hofmannsthal, endlich an die ausgedehnten Versuche

Kolbenheyers in seinen Geschichtsromanen. Daß alle

diese Gestaltungen nur aus künstlerischen Gesichtspunkten zu

beurteilen sind, ist selbstverständlich. Es muß freilich hervorgehoben

werden, daß es Thomas Mann im Gegensatz zu den

anderen nicht darauf ankommt, gleichsam alte Haltungen

freizulegen, sondern er verbindet damit zugleich Kritik an

dieser altertümlichen Gestaltung; in ihr solle das Brutale und

Barbarische alter Zeiten hochkommen, wie es ebenso im

Wahnsinnsausbruch Leverkühns hochkommt. Die künstlerische

Möglichkeit soll an einer Stelle aus Kolbenheyers

»Pausewang« angedeutet werden. »Vor etlichen Tägen, da ist

ein warmes Brausen über das Land gegangen ─ als wie Sehnsuchtsodem.

Ist den Bäumen in die struppichten Kronen gefahren

und hat sie geschüttlet: Wachet auf! Hat Schnee und

Eis zerfressen und zerrieben, den Boden erweicht und durchquellet

und alle Wurzlen mit lebendigen Wassern umschmeichlet:

Wachet auf! Die Oder ist geschwollen, war ein mächtiges |#f0265 : 249|



Drängen und Ineinanderwogen, allso daß leise huschend

da und dort schäumige Wirbel dahinglitten sein, schnell,

schnell, als kuntens die dunkelen Ströme nit erwarten die

frohe Botschaft in die Mark zu tragen: Er ist nah! Wachet

auf!« Gegenüber unserer heutigen Sprache fallen auf: leichte

Umformungen des Lautungscharakters (die nicht einmal

historisch »echt« sein müssen), schlichte Gliederung, noch

keine feste Reihungsstruktur. So gestaltet der Dichter hier

nicht dieselbe Welt wie in der modernen Hochsprache, aber

es ist eine künstlerisch vollendete, geschlossene Sprachwelt.

Es öffnet sich eine Stilwelt der Vertraulichkeit, die zivilisierte

Haltung fällt weg, dagegen werden so alte aufgedeckt:

urtümliche Lebensverbundenheit, gefühlsverhangene Beziehung

zur Umwelt, echtes Stehn von Mensch zu Mensch.



Der Dichter bemüht sich hier also, einen bestimmten, zeitlich

umgrenzbaren Stil für die Gestaltung einer persönlichen

Lebenserfahrung einzusetzen. Wir stoßen damit auf die Frage

nach dem Verhältnis von Persönlichkeitsstil und Epochenstil.



Wir meinen damit zwei Arten stilhafter Sprachgestaltung,

die einander bis zu einem gewissen Grade gegenüberstehen.

Im Sprachkunstwerk ist nicht bloß ein Gebilde an sich geschaffen,

sondern es erwächst zugleich aus einem menschlichen

Inneren, ist Ausdruck eines Menschen. Die stilhafte Prägung

ist Ausdruck einer Persönlichkeit. Auch Epochen haben einen

bestimmten Charakter, haben innerste Haltungen. Insofern

auch diese im Sprachstil geprägt werden, können wir von

Epochenstil sprechen. Der Stil des 17. Jahrhunderts hebt sich

doch deutlich von dem der jungen Generation um Goethe ab,

der der Aufklärungszeit vom Expressionismus. Aber damit

beginnen bereits Schwierigkeiten. Ist die Sprache in den

Sonetten des Gryphius Beleg für Persönlichkeits- oder Epochenstil?

Wie paßt die schwungvolle Sprache Klopstocks in

die Aufklärungszeit? Wir können nur allgemein feststellen:

Dichter können sich in ihrer Sprache nicht verleugnen, auch

wenn sie noch so unpersönlich-sachlich gestalten wollen wie

etwa Benn oder teilweise Kafka. Was ihre Sprachkunst

charakterisiert oder erkennbar macht, ist eben die Tatsache,

daß sie aus innerster Haltung heraus sprachlich schaffen. Sie |#f0266 : 250|



sind dabei bis zu einem gewissen Grade immer auch Kinder

ihrer Zeit oder Anreger und daher teilweise Schöpfer eines

Epochenstils. Zugleich aber scheint es manchmal bedenklich,

von Epochenstil zu sprechen. Wenn wir Grillparzer, Keller,

Hebbel, Raabe und Stifter miteinander vergleichen, so zeigen

sich uns nicht nur deutlich ausgeprägte Dichterpersönlichkeiten,

sondern wir fragen, ob hier noch Epochenübereinstimmungen

zu finden sind. Dem Zeitstil scheint bei genauerer

Betrachtung vielfach die innere Einheit zu fehlen,

die mannigfachsten Schichten des Überindividuellen verflechten

sich in einer Zeit. Auch sind in den verschiedenen

Epochen die Bindungen zwischen Zeitgeist und Persönlichkeit

durchaus nicht immer gleich.



Vor allem spielen traditionelle Formen der Sprachkunst

nicht zu allen Zeiten die gleiche Rolle. Wir haben auf diese

Zusammenhänge schon öfter hingewiesen, müssen aber hier

aus diesem Zusammenhang heraus nochmals dabei kurz verweilen.

Wer von der Dichtung des Sturm und Drang, der

Romantik oder des Impressionismus aus den Minnesang oder

die Barockdichtung bewerten wollte, käme zu falschen Beurteilungen.

Seit der Spätantike bedeutet Dichten immer

wieder Schaffen schöner, in besonderen Formen gehaltener

Werke nach üblichen Mustern und mit Hilfe immer bereitstehender

Schmuck- und Redeformen. »Es gibt einen Schatz

poetischer Bilder, geprägter Formeln und technischer Darbietungsweisen,

die man lernt und die auch der größte Dichter

nicht verschmäht« (Kayser). Man konnte nachweisen, daß

es sogar Muster von Landschaftsbildern gibt, von denen man

sich kaum entfernt: zur Art der lieblichen Landschaft gehören

Wiesen, Bächlein, sanfte Lüfte und Vogelsang geradezu

als Requisiten. Wir haben von Topoi und Emblemen

gesprochen. Freilich wäre es falsch zu glauben, seit dem Sturm

und Drang spielten diese vorgeprägten Formen keine Rolle

mehr. Aber sie sind nicht mehr so entscheidend. Doch vor

dem späten 18. Jahrhundert ─ nicht in allen Epochen gleich ─

sind die Lehrbücher der Rhetorik und Stilistik für das dichterische

Schaffen unbedingt wichtiger gewesen als nachher.

Ihr Sinn war: die sprachlichen Mittel bereitzustellen, um |#f0267 : 251|



eine höhere Sprachebene, eine aus dem Alltag abgehobene

Sprachgebung zu ermöglichen und damit auf die Menschen

und ihre verschiedensten Seelenbereiche zu wirken. Aber

immer wieder ist zu betonen, daß auch solches an Mustern

ausgerichtete Sprachschaffen aus einer bestimmten innersten

Haltung hervorgeht, daß auch der Minnesänger und der

Barockdichter mehr aus ihrem Inneren heraus gestalten als

ein damaliger Lehrbuchschreiber oder Chronist.



Denn mit der Betonung der Musterhaftigkeit bestimmter

Prägungen ist das Persönliche dichterischen Schaffens auch

dieser Zeiten nicht geleugnet. Man kommt dem Wesen der

Dichtungen nicht nahe, wenn man bloß feststellt, wie viele,

welche und daß überhaupt tradierte Formen verwendet worden

sind. Gerade die Erforschung dieser Traditionen und

überlieferten Formen ermöglicht nun erst recht, das Einmalige

dichterischer Gebilde zu erfassen. Es gilt zu beachten,

wie der Dichter mit diesen Formen arbeitet: welche wählt er

aus dem Bestand aus und warum gerade diese? Wie setzt er

sie in seinem Werk ein? Selten oder häufig? Vor allem auch:

welchen Sinn haben diese Formen an der jeweiligen Stelle?

Sie können einen bestimmten architektonischen Wert haben,

sie können eine Gestalt schärfer kennzeichnen. Und endlich:

Dichter können solche Formen leicht umändern und ihnen

damit einen neuen Sinn verleihen. Alle diese Möglichkeiten,

geprägte und überlieferte Formen und Denkschemata in der

Dichtung einzusetzen, zeigen die Freiheiten des Dichters. Gerade

daran kann man die Eigenart und die Größe eines Dichters

in traditionsfesten Zeiten erkennen: eines Wolfram, eines

Walther, eines Racine, eines Calderón.



Und umgekehrt: sprachschöpferische Leistungen großer

Dichter können für spätere kleinere Künstler selber wieder

Muster werden, die man dann klischeehaft anwendet. Goethe

hat es klar gesehen: »... wenn eine gewisse Epoche hindurch

in einer Sprache viel geschrieben und in derselben von vorzüglichen

Talenten der lebendig vorhandene Kreis menschlicher

Gefühle und Schicksale durchgearbeitet worden, so ist

der Zeitgehalt erschöpft und die Sprache zugleich, so daß

nun jedes mäßige Talent sich der vorliegenden Ausdrücke |#f0268 : 252|



als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann.«



Auch die menschlichen Lebensstufen sind durch bestimmte

Gemütslagen gekennzeichnet, daher wird auch der Stil

junger oder alter Dichter besondere Prägung haben. Daß

sich das auch in Epochen widerspiegelt, ist bekannt: der

Sturm und Drang und der Expressionismus sind sicher kein

Altersstil, die späte Klassik, der späte Realismus, die reine

Aufklärung sind eher durch Alterszüge geprägt. Man spricht

heute viel vom Altersstil und bemüht sich um den späten

Goethe, Stifter, Raabe. Das hängt wohl auch mit der Unruhe

und Überhetztheit unserer Zeit zusammen, man flüchtet

sich in diese Bereiche und erhofft eine Art Rettung in ihrer

Wirkung. So wird also in diesem Sinn Altersstil durchaus als

ein Wert angesehen. Jugendlich frische Epochen werden im

Altersstil die Züge des Verfalles sehen und ihn ablehnen. Aber

immerhin, man kann am Altersstil bestimmte Züge erkennen:

Im Alter gleichen sich die Gegensätze aus, die Zerrissenheit

wird überwunden. Bändigung alles Schweren und Gefährlichen

gelingt oder wird erstrebt. Die Bewegung verlangsamt

sich, Ruhe lagert sich über die Sprachgestaltung: die Vorgangsworte

treten zurück oder mindestens die, die heftige

Vorgänge gestalten, das Gegenstandswort wird wichtig. Der

Vorgang schreitet langsam voran. Der Altersstil erreicht

Weite gegen Enge. Der alte Dichter hat einen weiten Blick

und umfaßt auch in seinen Worten weite Bereiche. Sie sind

nicht mehr differenziert. Im Alter kehrt man eher zu früheren

Formen zurück, man ist kein Revolutionär gegen Althergebrachtes,

sondern bringt es wieder zu Ehren. All diese Züge

arbeiten auch dahin, daß durch Ruhe, Weite und Bändigung

Tiefen des menschlichen Daseins gestaltet werden.



Einen Augenblick muß in diesem Zusammenhang auch

auf die Möglichkeiten geschichtlichen Werdens und geschichtlicher

Entfaltung des Stils
geachtet werden. Denn jede sprachkünstlerische

Leistung ist geschichtlich gebunden; auch die

Sprache eines Goethe, Rilke, Thomas Mann ist nicht zeitlos.

Man muß um diese Bindungen wissen, wenn man einen vollständigen

Blick auf das Dasein der Dichtung in der Sprache

gewinnen will.

|#f0269 : 253|



Zwei Möglichkeiten, die Wandlungen des Stils geschichtlich

zu sehen, gibt es vor allem. Dabei muß natürlich auf

folgendes geachtet werden: je näher uns eine Epoche steht,

desto mehr entfaltet sie uns ihre Fülle, ihren Reichtum; je

weiter sie entfernt liegt, desto mehr überblicken wir sie als

Gesamtheit, desto mehr verschwinden uns die Einzelheiten.

1. Man kann in der abendländischen Stilentwicklung zwei

Zeiträume erkennen. Bis ins späte 18. Jahrhundert war Dichten

ein Schaffen mit vorbestimmten Formen, es ging darauf

aus, Sprechen auf erhöhter Ebene zu sein und damit auch den

Menschen durch die Dichtung zu erheben. Die dichterische

Sprache war dadurch bestimmt. Seit dem, was man heute

vielfach als europäische Romantik bezeichnet, seit dem Sturm

und Drang, seit der Romantik beginnt die Wende zum Persönlichen:

Stil wird jetzt Ausdruck persönlicher Haltung. Aber

schon hier darf man nicht vergessen, daß diese Einteilung ihr

Bedenkliches hat: eine Epoche von ungefähr 1800 Jahren steht

einer von ungefähr 100 Jahren gegenüber! Besteht da nicht

die Wahrscheinlichkeit, daß man Einschnitte, Sonderentwicklungen

und Wendungen in der langen Epoche übersieht?

Das ist besonders zu beachten, wenn man erkennt, wie heute

in der Dichtung wieder das formale Schaffen, die Frage der

Verwendung bestimmter Formen und bestimmter Wirkungen

in den Vordergrund tritt. Damit würde die Epoche von

etwa 1770 bis 1930 zu einem Einsprengsel in der gesamteuropäischen

Sprachstilgeschichte werden. Verkennt man also

in dieser Epoche das Formale und die Tradition oder in der

ganzen übrigen Zeit die Bedeutung persönlicher Schöpfung

aus innersten Kräften? 2. Die zweite Möglichkeit scheint auf

den ersten Blick konkrete Tatsachen als Grundlage zu haben.

Man hat erkannt, daß im Mittelalter, besonders etwa in den

feinen psychologischen Differenzierungen des Minnedienstes

oder den reichen religiösen Sonderungen der Mystik die

Sprache mit einem verhältnismäßig geringen Wortschatz

auskommt und diesem Reichtum dadurch Gestalt geben kann,

daß je im Sprachzusammenhang die Wortgehalte aufs feinste

schattiert werden. Der Wortschatz hat sich in den letzten

Jahrhunderten sehr vermehrt: ein Zeugnis für die ungeheure |#f0270 : 254|



Differenzierung der von uns erfaßten Welt. Dabei hat die

Dichtung an sich gezögert, alle diese Differenzierungen mitzumachen.

Aber es ist doch deutlich ein Weg zu erkennen

von der Aufklärung über den Sturm und Drang in den sogenannten

Realismus des 19. Jahrhunderts. Eine besonders

starke Ausdifferenzierungsstufe hat dann die kurze Epoche

des Naturalismus erreicht. Auf der einen Seite steht der reine

Naturalismus. Mit der weitgehenden Ausdifferenzierung des

Weltbildes in bezug auf das Soziale, die sich in einer starken

Vermehrung des Wortschatzes zeigt, verbindet sich ein Einbau

sachdarstellerischer Haltung, durch die ein unmittelbareres

Gestalten der außersprachlichen Wirklichkeit erreicht werden

soll. Demgegenüber betont der beinahe gleichzeitige Symbolismus

die reine Sprachkunst, also möglichste Entfernung

vom Konventionellen, vom Rationalen und vom Sachdarstellerischen.

Beide Richtungen zusammen schaffen also neue

Möglichkeiten sprachkünstlerischer Darstellung. Um das

etwa am erweiterten Wortschatz zu zeigen, braucht man nur

an die Lyrik G. Benns zu denken. Er zieht bewußt Lebensbereiche

in seine sprachliche Welterfassung herein, die bisher

vermieden wurden: das Ekelhafte und die wissenschaftliche

Terminologie. Man denke an das Gedicht »Mann und Frau

gehn durch die Krebsbaracke« und an seine statischen Gedichte.

Er hat recht, wenn er das tut. Denn tatsächlich können

die Bereiche, die mit diesen Worten umfaßt werden, auch

vom Innersten des Menschen her ergriffen werden, sie sind

daher sprachkünstlerisch prägbar. Hier hat auch der Impressionismus

vorgearbeitet; mit der Fülle seiner Eindrucksgestaltungen,

besonders im Reichtum und den verschiedenen Zusammensetzungen

seiner Eindrucksworte, hat er gerade die

Zwischenwelt zwischen Objekt und Subjekt, den Bezug des

Inneren zum Äußeren stark in die sprachliche Gestaltung

einbezogen.



Die geschichtliche Bedingtheit der Sprachkunst führt zu

Wertungsfragen. Und zwar sondern sich hier deutlich rein

künstlerische und geschichtliche Wertung. Diese beachtet

vor allem die geschichtliche Gebundenheit der sprachkünstlerischen

Form. Manche Dichtungen sind ganz in den Epochenstil |#f0271 : 255|



eingefügt, wirken dadurch schablonenhaft. Ist die

geschichtliche Situation selbst beschränkt, so fehlt solchen

Dichtungen Tiefe und Weite, etwa der Butzenscheibenlyrik

und den epigonalen Gedichten des 19. Jahrhunderts. Andere

wieder stellen eine Identität von Genius und Epoche her.

In glücklicher Verschmelzung wird im Persönlichkeitsstil

eines Großen der Epochenstil höchste Vollendung, man denke

an Goethes »Werther«, an seinen »Götz«, an »Iphigenie« und

»Tasso«. Aber auch bei Shakespeare, Racine und Calderón

läßt sich gleiches beobachten. Die rein künstlerische Wertung

sucht von diesen geschichtlichen Bindungen des Stils abzusehen

und die Sprachkunst rein als solche zu werten. Aber

gerade dabei übersieht man oft, daß diese Wertung selbst

wieder von einem geschichtlichen Standort aus geschieht:

Wir werten heute Gryphius, Racine, Hölderlin, den alten

Goethe anders als das 19. Jahrhundert, aber ebenso auch

Heyse, Geibel und Freytag. Wir erkennen also, daß rein

künstlerische Wertung auch wieder an geschichtliche Situation

gebunden ist. Aber ein Ergebnis gewinnen diese Überlegungen.

Je mehr sich Sprachkunst in der völligen Einheit

von rein menschlicher Schöpferkraft und Epochenbedingtheit

über das menschlich und historisch Individuelle hinaushebt,

desto höher dürfen wir solche Kunst werten. Aus der

Sprachkunst gewinnen wir also ein Kriterium auch für hohe

Dichtung. Zwei Dinge aber sind zu beachten: 1. Nicht jede

Zeit ist einer bestimmten Vergangenheitsepoche gegenüber

gleich innerlich aufgeschlossen. Das 19. Jahrhundert stand

dem Barock fern, das bisherige zwanzigste steht seinen Werten

offenener gegenüber. Umgekehrt rückt heute das spätere

19. Jahrhundert unserem Kunsterleben ferner. 2. Auch geschichtliches

Bemühen um andere und ferne Zeiten und

deren Sprachkunst ist für das Erleben wichtig. Denn es weitet

unseren Blick und schließt damit Seiten unseres Innern auf,

die von der betreffenden Kunst angesprochen werden müssen,

soll sie noch wirken.

|#f0272 : E256|



III

GANZHEIT UND EINHEIT


Einführung



Wir betrachten nun das dichterische Werk in seinem Aufbau,

in seiner Gesamtheit. Dabei ist es gut, die beiden Ausdrücke

Ganzheit und Einheit auseinanderzuhalten. Ganzheit

meint die Gesamtheit des ganzen Gefüges an Gliedern, ihre

Zusammenordnung, auch im kleinsten Gedicht, ohne Rücksicht

darauf, ob dabei künstlerische oder gehaltliche Geschlossenheit

im höchsten Sinn erreicht wird. Einheit betont vor

allem diese Geschlossenheit der Form oder auch des Ideengehalts;

sie zu sehr zu betonen, hieße, das dichterische Werk

zu sehr in eine Richtung festzulegen, es durch die Betrachtung

von nur einer Seite her zu verärmlichen. Es könnte auch

heißen, daß Einheit dem Reichtum hinderlich ist.



Die Ganzheit einer Dichtung ist ein ästhetisches Gebilde.

Das bedeutet zunächst Reichtum an Einzelheiten, Fülle des

im Bilde eingefangenen Lebens; dazu treten aber sofort zwei

weitere wichtige Merkmale: diese Fülle der Glieder ist nicht

zusammenhanglos, wenn es auch manchmal so scheinen

möchte: sie hat einen inneren Bezugspunkt, auf den diese

Glieder ausgerichtet sind, sie erwächst aus einem Innersten,

aus einer tiefen menschlichen Haltung, von der aus sie ihren

Sinn und Zusammenhang bekommen. Und dann weist diese

gestaltete Fülle auf etwas Tieferes hin, was durch sie erfaßbar

wird. So ist also die Gesamtheit aller Elemente, die ein Gedicht

aufbauen, nach zwei Richtungen zur Ganzheit geschlossen:

durch den Ausgangspunkt in einer schöpferischen Urhaltung

und durch den tieferen Sinn, auf den sie hinweisen.



Um theoretisch die Anlage einer Dichtung betrachten zu

können, unterscheiden wir Aufbaukräfte und Aufbauglieder.

Aufbaukräfte sind jene Bereiche, Elemente, Seiten an einer

Dichtung, aus denen heraus ein Aufbau gestaltet werden kann. |#f0273 : 257|



Eine davon liegt in der Tatsache, daß jede Dichtung das Werk

eines Schöpfers ist. Die künstlerische Persönlichkeit eines

Dichters, also die gesamten Züge, die ihn als Künstler kennzeichnen,

wirkt am Aufbau der Werke mit. Grundlegendes

unterscheidet den Bau der Dramen Schillers, Kleists und Grillparzers.

Schillers Dramen sind durch die Zielstrebigkeit der

Anlage mit den deutlichen Steigerungen und Höhepunkten

am Ende von Akten gekennzeichnet; die von Kleist sind

bestimmt durch sein Menschenbild, durch die Spannungen

zwischen Innerem und Außenwelt, von Innigkeit und Gewalt,

die ihnen oft eine Art dreisätzigen Bau geben; bei Grillparzers

Dramen fällt die häufige Rahmung auf, ferner das

Stocken der Handlung gerade in der Mitte, die äußerliche

Erregtheit der Handlungsführung im vierten Akt. Selbstverständlich

sind das, so ausgesprochen, nur grobe Bestimmungen.

Aber es könnte gezeigt werden, wie da Grundzüge des

menschlichen Wesens dieser Dichter irgendwie aufleuchten.

Auch die Zeitbedingtheit des dichterischen Schaffens spielt

herein. Wir erkennen heute immer mehr, daß mittelalterliche

Dichtung bis in Einzelheiten nach bestimmten Zahlenverhältnissen

gebaut ist, während solche Baugrundsätze heute

selten mehr vorkommen. Diese Unterschiede führen uns

darauf, daß das Weltbild, in dem der Dichter lebt oder das er

selber geformt hat, eine ebensolche Rolle als Aufbaukraft

spielt. Die mittelalterlichen Zahlenverhältnisse sind Ausdruck

mittelalterlichen Weltbildes. Auch weiß man heute, daß man

den Barockroman nicht mit Etiketten charakterisieren kann,

die aus der Entwicklung des Individualromans seit der Aufklärung

verständlich sind. Man verkennt die Struktur des

barocken, aber auch vielfach die des modernen Romans,

wenn man ihn als Entwicklungsroman sieht. Das Welt- und

Lebensbild, das in einer Dichtung lebendige Gestalt wird,

prägt sich auch im Aufbau aus oder umgekehrt, bestimmt den

Aufbau bis in die Einzelheiten.



Eine weitere Aufbaukraft ist die dichterische Sprache. Die

Anlage einer Dichtung wie jedes Sprachwerks ist in der zeitlichen

Struktur der Sprache begründet. Jede sprachliche Aussage

verläuft notwendig zeitlich. Damit ist zunächst ein bestimmter |#f0274 : 258|



Bewegungscharakter gegeben. Aus Gehalt der

Wörter und Sinn der Wortfügungen ergeben sich Ablaufsrhythmus,

Zeitmaß, Pausen, Stocken oder Fließen. Zugleich

entsteht so auch eine bestimmte Ausrichtung des Gehalts, der

Ablauf eines Vorgangs oder der Wandel von Stimmungen

als Grundgerüst für das im Gedicht Gestaltete. Hiermit berühren

wir das Problem, das Lessing in aller Gründlichkeit

im »Laokoon« erörtert hat. Da die Sprache mit Zeichen in

der Zeit arbeitet, könne sie nur zeitlich Verlaufendes darstellen

im Gegensatz zu den bildenden Künsten. Man hat Lessing

vorgeworfen, er sehe da die Sprache nur als Lautung, nicht

das in ihr Dargestellte, das der Zeit enthoben sein könne. Aber

auch dieser Einwand ist einseitig. Denn tatsächlich ist Sprache

immer und in jedem Augenblick auch Lautung und daher zeitlich

verlaufend. Aber nun kommt die Tatsache dazu, daß

die Sprache auch Ruhendes beschreiben könne. Dazu ist

zweierlei zu sagen. 1. Tatsächlich ist die Sprache imstande,

auch Ruhendes zu gestalten. Das ist ihr möglich zunächst

schon durch die Bedeutung der Gegenstandswörter, die immer

eben das dauernde Abgehobensein eines »Gegenstandes«

gestalten; ferner auch durch den Gehalt mancher Vorgangswörter,

in denen das Vorgangshafte, der Lebensvorgang

mehr als ein Ruhendes erscheint oder oft gänzlich abgeblaßt ist,

so vor allem im Verbum »sein«. Endlich kann durch die gesamte

Erfahrungsgestaltung, durch den Satzbau eine Abrundung

entstehen, damit der Charakter der Geschlossenheit,

des Beendigtseins. Aber auch von früher weiterwirkende Gehalte

und Stimmungen können mit denen, die darauf folgen,

zu einem ruhenden Ganzen verschmelzen. Auch der Reim

hat oft eine rückgreifende, daher schließende Wirkung; so

kommt eine Ablaufsreihe zum Abschluß, und im Zurruhekommen

steht das Ganze als ruhende Einheit da. Vor allem

in kleinen Gliedern, auch in kleinen Gedichten wie »Wanderers

Nachtlied« oder Mörikes »Septembermorgen«. 2. Aber

es ist doch noch etwas anderes zu bedenken: wenn etwa eine

Blume sprachlich beschrieben wird, wie in der beschreibenden

Dichtung des 18. Jahrhunderts, etwa in Hallers »Alpen«,

so liegt nicht so sehr abstrakte Beschreibung vor. Nicht ein |#f0275 : 259|



neuer Gegenstand steht als ruhendes geistiges Gebilde vor uns,

sondern in jede Sprachschöpfung geht ja auch die menschliche

Seite ein, d. h. der Erfassungsvorgang, die Erlebnisweise, das

innere Dabeisein; und das ist eben wieder ein zeitlich verlaufender

Vorgang. Es entsteht also durch eine solche Beschreibung

nicht ein ruhendes Gebilde, eine mangelhafte

Imitation einer Blume durch die gänzlich ungeeigneten Mittel

der Sprache, sondern ein geistiges Gebilde, in dem auch

der Akt des Aufbaus, des Erfassens und Erlebens mit eingeformt

wird. Darin ruht ja auch Wert und Möglichkeit der

Sprache, nicht in der sinnlosen Konkurrenz mit anderen Gestaltungsformen.

Aber gerade in diesen Möglichkeiten der

Sprache und in der in ihr immerhin gestaltbaren Spannung

zwischen Verlauf und Ruhendem liegen Kräfte, die Aufbau

und Ablauf von Dichtungen bestimmen. Auch im Stil,

also im Sprachkünstlerischen im engeren Sinn, liegen sie.

Schon die wechselnde Dichte der Stilzüge in einem Gedicht

schafft einen bestimmt gegliederten Ablauf. Aber auch der

Wechsel, der Ablauf der Stilkräfte, etwa der Einschub sachdarstellerischer

Sprachgebung in Romanen. Sehr wichtig

ist dabei die Anordnung, Folge oder Wiederholung von Bildern.

In Grillparzers »Sappho« gibt es zwei gegensätzliche

Doppelbilder, die die Lage des Dichters zwischen Erde und

Parnaß darstellen: das eine Mal der Parnaß als paradiesische

Landschaft, die Erde als öde Wüste, das andere Mal der

Parnaß als kalte Ferne, die Erde als lieblich-vertrauliche Umwelt.

In der Folge, im Übergang und im Wechsel dieser sich

wiederholenden Bilder liegt zugleich die Gesamtentwicklung

des Dramas eingeschlossen.



Auch die formalen Mittel, die der Dichter in der Gesamtanlage

einsetzt, sind Aufbaukräfte: Strophenbau, Reimfolge,

Gliederung der Absätze, entsprechende Hinweise auf Kommendes,

Rückblicke usw.



Unter Aufbaugliedern verstehen wir die Stücke, Teile eines

Ganzen, aus denen es sich zusammensetzt oder zusammenfügt.

Wir überblicken zuerst ganz kurz die wesentlichen,

dann überlegen wir ihren Sinn als Glieder. Teile einer Dichtung

heben sich oft durch eine gewisse vorherrschende Stimmung |#f0276 : 260|



voneinander ab. Die Dichtung gliedert sich so in

Stimmungsgruppen. Ein Beispiel ist Goethes Gedicht »Auf

dem See«, in dem gerade im Aufeinander der Stimmungen,

die jede Strophe beherrschen, der tiefe Gehalt lebendig wird.

Aber auch Erzählungen und Dramen können durch solche

Abfolge von Stimmungen gebaut sein. In Th. Manns »Tod

in Venedig« sind als Kapitel zwei und vier verhältnismäßig

sachliche Teile eingeschoben, die die eigenartige Stimmung

der anderen drei Teile erst recht hervorheben. Die drei Teile

der Gretchentragödie, die durch den Einschub der Szene

»Wald und Hölle« und der Walpurgisnacht entstehen, sind

in ihrer Stimmung deutlich voneinander abgehoben und gestalten

den Schicksalsweg Gretchens sehr eindringlich: Heiterkeit

─ wachsende Unruhe ─ Verzweiflung. Auch bestimmte

Handlungsmotive können Glieder sein, so die verschiedenen

Szenen im »Tasso«, wo der Kranz eine Rolle spielt, das Knien

Ottokars vom Schluß des dritten Akts bis im fünften an der

Leiche Margaretes, die Entwicklung wahrhafter und lügnerischer

Aussagen in Grillparzers »Weh dem, der lügt!«

Endlich selbstverständlich die Abschnitte, in denen eine Handlung

angelegt ist und die oft, wie besonders in Stifters Novellen,

schon durch die Titel hervorgehoben sind. Aber auch

Bilder im weiteren Sinn des Wortes, als geschlossene Sinneinheiten

oder größere sprachliche Bildgruppen, können

Glieder einer Dichtung sein. Sie deuten in ihrer Abfolge die

Handlung oder auch die Personen. Zugleich bilden sie Stellen,

die durch bestimmte Gefühle herausgehoben sind und damit

wieder dem Aufbau dienen.



Alle diese Glieder, vor allem die Bilder, mögen aus der

Tradition entnommen und der Mode unterworfen sein. Aber

das Entscheidende ist, daß sie als sinnvolle Glieder ins Ganze

eingefügt sind, daß dieses ohne sie anders oder unvollkommener

wäre, daß der Eindruck der künstlerischen Ganzheit

durch sie besonders bestimmt ist. Auch ihr gegenseitiges

Verhältnis kann da von Bedeutung sein: Wechsel, Steigerung

oder Abklingen. Dabei geht im echten Kunstwerk diese

Durchgliederung bis ins kleinste. So kann auch ein nur als

Bruchstück erhaltenes Gedicht sich als großes Kunstwerk erweisen, |#f0277 : 261|



wenn man schon in diesen Trümmern die kunstvolle

Fügung erkennt. Die Bilder- und Stimmungsfolge des schon

oft herangezogenen »Über allen Gipfeln« zeigt diese Kunst

schon in 8 Versen: Vom Weiten der Landschaft über die

Wipfel des Waldes in dessen Inneres zu den Vögeln und endlich

in die Seele hinein, und von hier aus der sehnsuchtsvolle

Blick ins Kommende. Man spricht heute gern vom

Funktionalismus und meint damit die Tatsache, daß jeder

einzelne Teil einen Sinn, eine Aufgabe im Aufbau hat. Nur

darf man nicht vergessen, daß reiner Funktionalismus zu

ödem Mechanismus werden kann, wenn es nur mehr auf

diese Funktion ankommt und nicht auch auf den inneren

Gehalt der Teile selbst. »Die Vögelein ruhen im Walde« hat

nicht nur eine ─ und zwar sehr einprägsame ─ Funktion im

Ganzen des Gedichts, sondern ist an sich schon ein schönes

sprachliches Bild, das erfreut. Übrigens ist der Funktionalismus

keine moderne Entdeckung oder Forderung; schon Lessing

kennt ihn in Theorie und Praxis; man könnte seine Forderungen

so formulieren: jeder Teil hat eine Funktion zu

erfüllen; aber diese Erfüllung hat verdeckt zu geschehen;

jedes Glied hat womöglich mehrere Funktionen zu erfüllen.

Es ist selbstverständlich, daß Glieder selbst wieder gefügt

sind.



Der Aufbau



Bei der Betrachtung des Aufbaus einer Dichtung legen wir

zwei Gesichtspunkte an: wir prüfen zuerst die Möglichkeiten,

wie die einzelnen Glieder zur Ganzheit gebunden werden,

die Bindung, dann die Tatsachen, die eine Lockerung, ja

ein Zerreißen dieser Ganzheit herbeiführen können, die wir

mit Gespanntheit zusammenfassen.



Bindung



Die Bindung zur Ganzheit eines dichterischen Kunstwerks

kann verschieden sein: locker oder fest, geflochten oder gereiht.

Schon Schiller wußte um das erste Gegensatzpaar, wenn |#f0278 : 262|



er musikalische und plastische Bauweise unterschied. Auch

die Bemühungen Wölfflins und derer, die seine bekannten

fünf Paare, die er an der Kunst der Renaissance und des Barock

entwickelte, zusammenfaßten, weiterbildeten oder auf die

Dichtung anwendeten (Walzel), kreisen um diese Möglichkeiten.

In allen Dichtungsgattungen lassen sie sich feststellen.

Neben der streng gebauten Novelle, wo eines ins andere

greift, stehen Erzählweisen, die die einzelnen Glieder nicht

binden, sondern frei aneinanderreihen. Beim Drama können

wir am besten Goethes »Götz« neben seinen »Clavigo« stellen,

um den Unterschied zu erkennen. Auch bei der Lyrik können

wir diese Unterschiede sehen: Volksballaden reihen oft

sprunghaft, ohne betonten Zusammenhang, Strophe an

Strophe. Andere lyrische Kunstformen verlangen strengste

Fügung, so schon die Formen des Minnesangs, vor allem

aber die seit der Renaissance ausgebildeten, am stärksten das

Sonett, die strengste lyrische Form.



In Novellen und im streng gebauten klassischen Drama

sind die einzelnen Glieder miteinander verflochten: Rückgriffe

und Vorausdeutungen wirken wie Verstrebungen, dazu

noch die Wiederholung bestimmter Glieder. So entsteht ein

kunstvolles Gefüge, das im Ansatz schon in den kunstvollen

und von den damaligen Hörern durchaus aufgefaßten Reimverschlingungen

des Minnesangs zu erkennen ist. Ein Meisterwerk

mannigfachster Verschlingung ist die Darstellung Züs

Bünzlins in G. Kellers »Drei gerechten Kammachern«, Fortschreiten

von einem zum anderen verbindet sich mit dem

Streben nach mannigfachster Abwechslung. Es wechseln die

Gegenstände mit den Menschen, Schilderung des Äußeren

mit dem Inneren, manche Glieder sind dreiteilig. So entsteht

ein kunstvolles Gebilde, und die Bauweise des chinesischen

Tempels am Schluß ist wie ein Vexierbild dieser Anlage.

Ganz anders sieht die Bindung aus, wenn einfach ein Glied

ans andere gereiht wird, ob sie nun eng verbunden sind, wie

etwa in der Erzählweise Kafkas, oder sprunghaft eine Szene

an die andere gesetzt ist wie in der Ballade.



Diese möglichen Arten der Bindung geben ein Grundgerüst,

innerhalb dessen erst sich die kunstvollen Bindungen |#f0279 : 263|



auswirken. Wir greifen als wesentliche heraus: die durchgehende

Bewegung, das System der verschiedenen Wiederholungen,

die Ausgewogenheit der Glieder, endlich Raum

und Rahmung.



1. Die durchgehende Bewegung schafft im zeitlichen Ablauf

des dichterischen Kunstwerks die Einheit. An sich ist die

innere und dann in der Form gestaltete Bewegung in allen

Künsten eine der stärksten Kräfte, die aus dem Innersten

kommen. Wie mannigfach diese Bewegung sein kann, zeigen

die beiden großen Werke der deutschen Musik: Bachs Matthäuspassion

und Wagners »Tristan«. Auch in der Dichtung

kann man gerade an der Verschiedenheit der Bewegung stiltypologische

Unterscheidungen anknüpfen. In der Dichtung

kommt nun zu der aus der Seele des Schöpfers als eines Menschen

erwachsenden Bewegung noch die durch das Wesen

der Sprache gegebene. Das in den Sprachkunstwerken eingeformte

Zeiterlebnis hängt damit zusammen. Die durchgehende

Bewegung durch eine Dichtung hat verschiedene

Verlaufsarten. Viele Erzählungen sind in ihrem Ablauflückenlos.

Das heißt: ein Glied ist ans andere sinnvoll angeknüpft;

so entsteht eine streng logische Reihe, die pausenlos abläuft.

Dieser Ablauf muß nicht rational durchdacht sein, er kann

auch stimmungshaft fließen und dabei dieselbe Lückenlosigkeit

aufweisen. Homers Epik zeigt das besonders. Man beobachte,

wie die Glieder vom kleinsten, vom einzelnen sprachlichen

Bild an, bis zu den größten durch eine Fülle von Bindewörtern

aneinandergefügt sind, eine Fülle, die kaum jemals in

der Übersetzung wiedergegeben werden kann. Kein Glied

hängt so in der Luft, jedes ist in seinem Stellenwert genau bestimmt.

Ähnliche Lückenlosigkeit zeigt auch der Barockroman,

wo gerade die rationale Verknüpftheit besonders deutlich ist.

Auch die Lyrik kann diese Form zeigen. Schillers Gedankenlyrik

formt den unaufhörlichen Fluß nicht nur durch den weitschwingenden,

mächtig tragenden Rhythmus, sondern auch

durch den streng durchdachten Ablauf der Bilder. Ganz

anders ist die durchgehende Bewegung, wenn Glieder stark

für sich herausgestellt sind, wenn zwischen ihnen gleichsam

ein Raum ausgespart wird. Der Aufbau wird sprunghaft. |#f0280 : 264|



Das altgermanische Heldenlied ist dafür besonders bekannt,

aber auch viele Balladen. Nur die Höhepunkte werden herausgearbeitet,

das Dazwischenliegende fällt weg. Aber trotzdem

führt diese Sprunghaftigkeit nicht zum Zerreißen, es

entstehen nicht einzelne Brocken, sondern sie fügen sich auf

andere Weise wirkungsvoll zusammen. Wir beobachten es

an »Erlkönigs Tochter« von Herder. Die erste Strophe gibt

eine knappe Einleitung:



Herr Oluf reitet spät und weit,

Zu bieten auf seine Hochzeitleut';


die nächste springt zu einer neuen Szene ohne Übergang:



Da tanzen die Elfen auf grünem Land,

Erlkönigs Tochter reicht ihm die Hand.


Nun folgt der sich steigernde Dialog zwischen beiden als

Höhepunkt. Dann kommt allerdings eine leichte Verknüpfung

der nächsten Szene:



Und als er kam vor Hauses Tür ...


Aber die letzte Szene steht wieder ganz für sich:



Früh morgen und als es Tag kaum war,

Da kam die Braut mit der Hochzeitschar.


Trotz dieser Sprunghaftigkeit ist das Ganze doch einheitlich

bewegt. Jede Szene ist so stimmungsvoll und enthält so viele

Bezüge zum Früheren oder Späteren, daß sofort aus dieser

Stimmung und aus den Erwartungen und Rückblicken ein

Zusammenhang entsteht, nicht rationaler Art, sondern durch

Gehalt und Stimmung der einzelnen Szenen. Die durchgehende

Bewegung ist also nicht ruhig fließend, sondern

heftig bewegt, ein ständiges Auf und Ab.



So bildet sich eine deutliche rhythmische Bewegung des

Ganzen. Sie zeigt dieselbe Art wie im Sprachrhythmus. Aber

der Rhythmus des ganzen Gedichts ist umfassender, er umgreift

außer der sprachlichen Struktur die Aufeinanderfolge

der Glieder, ihre Länge, das Tempo, Sprunghaftigkeit oder

leise Übergänge, starke Herausgehobenheit der Glieder durch

Sinn und Stimmung. Dabei entsteht eine bestimmte Spannung |#f0281 : 265|



zwischen der fortlaufenden Bewegtheit und dem Statischen,

etwa durch den Sinn von Bildern oder durch Wiederholung

der Teile, durch Symmetrie usw. Diese ganze Bewegung ist

wie der Sprachrhythmus durch Hebungen und Senkungen

gegliedert und in seiner Art durch Stärke der Hebungen, Unbedeutendheit

der Senkungen, deren Aufeinanderfolge und

Zahl, endlich noch durch die deutliche Ausrichtung auf das

Ende zu mannigfach bestimmt. Diese Art der gegliederten

Gesamtbewegtheit unterscheidet die einzelnen Dramatiker

schon deutlich: Goethes ruhigere und ausgeglichenere Übergänge

zwischen den immerhin starken Hebungen und Senkungen

gegenüber Schillers starkem Wellengang und der

Heftigkeit und Stoßhaftigkeit Kleists. Eichendorffs Lyrik

zeigt eine weiche, doch lebhafte Linie, Hölderlins Lyrik führt

mächtig von einer Höhe zur nächsten.



Damit berühren wir die architektonische Bedeutung von

Ruhe und Bewegung überhaupt. Die Einschaltung von

ruhigen Szenen gleicht aus und treibt doch zugleich Hebungen

um so mehr heraus. Man beachte, wie unheimlich niedergebrochen

im dritten Aufzug von »Kabale und Liebe« die

erste Szene zwischen dem Präsidenten und Wurm wirkt

nach der ungeheuerlichen Aufgipfelung des Schlusses vorher.

Die Art, wie die ruhigen und bewegten Glieder verteilt sind,

gibt dem Kunstwerk ein ganz bestimmtes Gepräge. Man kann

sich leicht die möglichen Kombinationen und ihre Werte

ausdenken und Beispiele dafür finden.



Aus diesen Gliederungen durch den Gesamtablauf und

durch den Wechsel von Ruhe und Bewegung entsteht dann

auch die Steigerung als Kunstform. Es kann ein langsames

mächtiges Anschwellen sein wie etwa in der in dieser Hinsicht

meisterhaften Apfelschußszene im »Tell« oder ein plötzliches

Hochspringen wie der Überfall Penthesileas auf Achill.

Und wieder ist es wichtig, ob viele Steigerungen aufeinander

folgen oder eine einzige durch die ganze Dichtung geht. Für

jenes ist Mörikes Mozartnovelle ein hübscher Beleg; das

Ganze fügt sich gleichsam aus einer Reihe kleinster Novellen,

jede mit einer Steigerung und Höhe. Für diese Art kann

Storms »Schimmelreiter« stehen, besonders durch die ständigen |#f0282 : 266|



Hinweise auf eine zu erwartende Hochflut. Das Gegenteil

der Steigerungen sind dann die Entspannungen, das Heruntersinken

von der Höhe, die durch die Steigerung erklommen

wurde. Zusammenbruchartig wie ein Sturz nach dem

Bekenntnis Tells nach dem Apfelschuß oder in der furchtbaren

Stille, als Penthesilea nach der grauenhaften Tat die

Bühne wieder betritt.



Mit der Steigerung hängt dann auch die Spannung zusammen.

Das Wort meint zunächst ein seelisches Phänomen,

das aber mit den künstlerischen Möglichkeiten zusammenhängt.

Psychologisch gesehen ist die Spannung eine sehr

reiche Erscheinung: neben Empfindungen, die vom Objekt

ausgehen, gibt es eine Fülle verschiedener Spannungsgefühle:

Erwartung, Zweifel, Wunsch, Furcht, Ungeduld, Neugier.

Allem liegt ein Ausdehnen, ein Drängen zugrunde, das Zeiterleben

ist sehr stark. Jeder Spannung muß eine Lösung folgen.

Dichtungen, denen die Auffassung zugrunde liegt, die ganze

Kunst sei auf die Wirkung auf das Menscheninnere auszurichten,

werden diese Gefühlsbewegung von Spannung und

Lösung auf immer neue Weise erzeugen. Schillers Theaterkunst

beruht ─ mit seinem vollen Willen ─ gerade darin.

Aber Spannung ist auch eine ästhetische Erscheinung, etwas,

was der Dichtung als Gebilde zukommt: sie ist ein Merkmal

der künstlerischen Anlage. Dazu gehört das langsame Vorausdeuten,

das ständige Verdichten der Hinweise, der mächtigen

Gehalte und der Stilwerte, also die Spannung wirkt

sich im Sinn und in der künstlerischen Form aus. Aber auch

schon die Bewegung allein kann Spannung erzeugen. Der

Rhythmus in seiner Gestaltung hat alle Möglichkeiten dazu.

Pausen erhöhen die Wirkung.



Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,

Er hält in Armen das ächzende Kind,

Erreicht den Hof mit Mühe und Not;

In seinen Armen das Kind war tot.


Nach der leidenschaftlichen Drohung des Erlkönigs und dem

verzweifelnden Ruf des Kindes folgt jetzt wieder Erzählung

durch den Dichter; diese Umstellung überrascht und spannt

um so mehr. In den ersten zwei Versen erregen die Sinnträger |#f0283 : 267|



noch weiter: grausen, geschwind, ächzen. Im dritten

Vers deutet der Strichpunkt eine Pause an. Bis hierher eine

Steigerung und plötzliches Anhalten, im vierten Vers die

Lösung, aber sinnvoll schaltet sich vor dem letzten Wort noch

eine Pause ein: die letzte Spannung und dann der Schlag.

Noch unheimlicher ist diese Spannung gestaltet in den Worten

der drei grauen Weiber in »Faust II«.



Es ziehen die Wolken, es schwinden die Sterne!

Da hinten, da hinten! von ferne, von ferne,

Da kommt er, der Bruder, da kommt er, der - - - - - Tod.


Hier wirkt alles zusammen: die Bildvorbereitung im ersten

Vers, und dann die Unbestimmtheit der Ausrufe dadurch,

daß sie das Wichtigste, eben Sinnlösende verschweigen und

doch erwarten lassen, weil der Satzbau so gestaltet ist, dazu

die dauernden Wiederholungen, die das zu Erwartende immer

hinauszögern, und endlich die ungeheure, wohl einen

ganzen Vers füllende Pause. An beiden Beispielen erkennt

man, wie in der Dichtung durch den notwendigen Sinngehalt

der Sprache Spannung nicht bloß durch die Lautung

erzeugt wird, sondern auch durch den Gehalt der Worte und

Wortfügungen. Denn die Spannung entsteht ja gerade durch

das Warten auf den Sinngehalt des solange hinausgeschobenen

Wortes. Daß dieses dadurch in seinem Gefühlsgehalt erst

recht herausgetrieben wird, nur nebenbei. Damit erklärt es

sich, daß Neuheit durchaus auch als künstlerisches Mittel

von der Gehaltsseite her eingesetzt werden kann. Es gibt eine

Novelle, wo die ganze Spannung von Anfang zu Ende durch

den überraschenden Gehalt der ersten Worte geschaffen wird:

Kleists »Marquise von O.« Hier wirken gerade dadurch auch

Gefühlserregungen mit. Im Drama wird Spannung zu einem

grundsätzlichen Formprinzip: wird Minna bei der ganzen

Sachlage Tellheim noch gewinnen können? Wie wird sich

die Reichsteilung König Lears auswirken? Etwas ist vorausgeworfen

und soll nun eingeholt werden; Problem heißt

ja das Vorausgeworfene!



2. Die verschiedenen Wiederholungen sind eine weitere Kraft,

Dichtungen zu einer Ganzheit zusammenzuschließen. Es sind |#f0284 : 268|



damit Motive, Gehaltsträger oder bestimmte Formgebilde

gemeint, die sich wiederholen.



Verwandt damit sind schon Formen, die für Einleitungen

oder Anfänge üblich werden, also Gliederungstopoi: Musenanrufe,

Aufforderung zur Rückkehr zu etwas, was man

früher beiseite gelassen hat.



Aber saget vor allem, was jetzt im Hause geschieht.


   »Hermann und Dorothea«



Das kann so weit führen, daß der Dichter die Gliederung zu

diskutieren beginnt, sie dadurch problematisch macht, aber

zugleich betont. Th. Mann tut das manchmal.



Der Ausdruck »Leitmotiv« stammt aus der Musik, wird

aber auch für Motive in der Dichtung verwendet, die durch

wiederholtes Auftreten gliedernd wirken. In Otto Ludwigs

»Zwischen Himmel und Erde« wischt sich Apollonius immer

die Staubfäserchen vom Rock; in Ludwigs »Heiteretei« sagt

ein ängstlicher Schneider jedesmal, wenn er vor seiner bösen

Stiefmutter aus dem Hause flüchtet: »Respekt muß sein im

Hause.« Zu diesen Leitmotiven kann man auch die stehenden

Beiwörter rechnen; besonders bekannt sind sie aus Homer:

die kuhäugige Hero, der listenreiche Odysseus, der schnellfüßige

Achill usw. Dadurch wird immer das gleiche Bild von

der Gestalt vorgestellt, sie wird immer als dieselbe betont

und damit immer ein klarer Punkt in der Erzählung erreicht.

Tiefer führt schon, wenn Storm den Titel »Aquis submersus«

in der Novelle immer häufiger gegen Ende wiederholt, bis

es endlich ein Symbol für das ruhmlose Versinken des Malers

wird.



Damit stoßen wir neuerdings auf das Symbol, hier nun

aber in seiner tiefsten und entscheidendsten Bedeutung für

die Dichtung. Was wir früher vom sprachlichen Symbol

gesagt haben, gilt auch für weitere Formen des Symbols; also

für bestimmte auffällige Handlungsteile, Motive, Bildgruppen,

Aufbauformen und auch Personen.



Das Eigenartige am echten dichterischen Symbol ist, daß

es erst im Schaffen des Dichters entsteht, daß es erst im Lauf

des Werkes dazu wird. Dadurch, daß der Dichter im Gegenstand, |#f0285 : 269|



den er gestalten will, verharrt, entstehen Zentralbilder,

in denen die Spannungen und Merkmale des Daseins sich verdichten.

In diesen Bildern gerinnt gleichsam das in der Dichtung

lebende Weltbild. Daraus lassen sich die Eigenarten der

Symbole ableiten. Jedes Symbol steht zwischen Konkretion

und Abstraktion; es ist ein ganz bestimmtes Bild, ein bestimmtes

Motiv, eine bestimmte Person, aber es entfaltet in sich

auch ein allgemeines, das Wesentliche. Dabei hat das Symbol

eben den Wert, daß es dadurch nicht zerfließt, daß auch das

Allgemeine, das Wesen nicht verschwimmt, sondern gerade

in einer starken Verdichtung und Zusammenziehung greifbar

wird. Im Bild selbst ist schon das Tiefe vorhanden, es darf

und muß nicht erst nachträglich hinzugedeutet werden. So

wird im Bild selbst durch seine Öffnung auf Tiefe die Wahrheit

kund, anders als in theoretischer Schau und in Erkenntnisakten

eben durch unmittelbares Sich-Darbieten im Symbol.

Dabei erschließen sich die großen Symbole erst allmählich

in der Wiederholung. Eindringlich ist das in der »Schwarzen

Spinne« Gotthelfs zu erkennen. Durch die Aufdringlichkeit

dieses Bildes, das ja dem ganzen Geschehen die einheitliche

Linie gibt, spürt man die Bedeutsamkeit dieses so

konkret verdichteten Dinges. Und immer wieder enthüllt

es neue Seiten, läßt den Blick auf andere Hintergründe treffen:

ursprünglich erscheint sie als ein Symbol der Pest, dann aber

wächst sie langsam zum Bild alles Bösen, das vom Menschen

erzeugt wird. Die schwarze Spinne ist aber nicht rational

genau auf das Böse zu übertragen als ein Zeichen des Bösen,

als eine Allegorie, sondern sie bleibt ein konkretes Ding mit

höchster Einprägsamkeit und wächst doch zum höchsten

Symbol, sie wirkt als grauenhaftes Wesen und enthüllt in

diesem Grauen immer mehr das menschliche Böse.



An diesem Beispiel kann man den Unterschied zwischen

einem dichterischen Symbol und einem philosophischen Begriff

deutlich erkennen. Gemeinsam ist beiden das Ergebnis:

das menschlich Böse in einem geistigen Gebilde zu fassen. Insofern

erschließen sie beide Wahrheit. Aber das Entscheidende

ist die Darstellung: der philosophische Begriff abstrahiert zunächst

vom Gegenstand, er befindet sich in einer logischen |#f0286 : 270|



Allgemeinheit des Denkens und macht von hier aus die Gesetzmäßigkeit

der konkreten Erscheinung durch Zusammenfassung

der wesentlichen Merkmale zur denkerischen Einheit

begreifbar. Es ist ein rein rationaler Vorgang, ein rationales

Gebilde, das von allem Einmaligen, Fülligen, Greifbaren absieht.

Das Symbol ist ein Bild, d. h. ein Gebilde, in dem die

Fülle des Wirklichen lebendig ist, in dem die Worte einen

viel volleren Gehalt entfalten, in dem durch den stimmungsmäßigen

und lautungsmäßigen Zusammenklang der Worte,

durch die Satzbewegung eine Ganzheit entsteht, die aus den

Tiefen kommt und solche eben in dieser Fülle und Eindringlichkeit

zugleich mitgestaltet und ahnen läßt. Beide, der Begriff

und das Symbol, erschließen die Welt und erhellen sie,

jedes auf seine Weise, und daher jedes vollwertig und zurecht

bestehend. Symbole sind keine Produkte unverbindlich

spielender Phantasie, sondern erwachsen aus dem Ernst

dichterischer Seinserhellung.



Diese Seinserhellung durch das dichterische Symbol kann

verschieden sein. Das eine Mal ist das dichterische Bild in

seiner Fülle, Gemüthaftigkeit und Tiefe da, in ihm verdichtet

sich dem Dichter die Wirklichkeit, die er sprachlich bewältigt,

und aus ihm enthüllt sich der Sinn, indem sich die sinnerschließende

Kraft des Bildes entfaltet: durch die Stellen, an

denen es auftaucht, durch Wiederholung, durch eindringlichste

Formung. Das andere Mal ist dem Dichter der Inhalt

seiner Aussage schon längst bewußt, er sucht nun nach dem

Bild, in dem er am wirkungsvollsten lebendig werden kann.

Jenes ist etwa die Art Goethes, dieses die der Symbolisten,

auch etwa C. F. Meyers. Einen anderen Unterschied macht

es aus, ob das Symbol als ein scharf abgrenzbares Gebilde

erscheint, wie wir es in der Schwarzen Spinne oder im chinesischen

Tempel der Jungfer Züs vor uns haben, wie es aber

auch zu den Allegorien und Emblemen hinführen kann, oder

ob ein mehr verschwommenes, fließendes Bild uns langsam

und ahnend den Gehalt eines ganzen Dichtwerks erschließt,

wie etwa Mond und Fluß in Goethes Mondlied. Aber auch

hier muß es immer ein irgendwie umgrenztes, geschlossenes

Gebilde sein. Eine weitere Unterscheidung ist folgende: eine |#f0287 : 271|



konkrete Gestalt, z. B. die Person Adams, dehnt sich und

vertieft sich langsam zum Bild des Menschen überhaupt.

In Gegenbewegung dazu verdichten sich allgemeine und umfassende

Erlebnisse der Welt und des Lebens zu Gestalten

von eindringlicher Bedeutsamkeit, die also schon von vornherein

symbolisch sind: Don Quijote, Kohlhaas.



Symbole enthüllen ihren tieferen Sinn in einer Dichtung

immer aus dem ganz bestimmten Zusammenhang, in dem sie

stehen. Man erkannte, daß bestimmte Symbole bei Goethe,

besonders im »Faust II«, beinahe vieldeutig sind, daß nur ein

sehr umfassender Gehalt, vielleicht eine Art Urgefühl das

Bindende ist, das dann an den einzelnen Stellen in einer ganz

konkreten Erfassungsweise herausgeformt wird; so erscheint

das Gold als etwas Lockend-Untergründiges, das Glück und

Unglück, Schönheit und Verderben sein kann, je nachdem

wie dieses Untergründige an der betreffenden Stelle eingebaut

ist. Damit wird ihr Sinn als Glied in der Architektur

des Ganzen deutlich. Sie haben zunächst in ihrer erschließenden

Eindringlichkeit einen Stellenwert, d. h. sie bilden eben

durch diese Eigenschaft Höhepunkte der Dichtung; sie haben

eine antreibende Wirkung, indem von ihnen aus neue Impulse

für die Fortbewegung der Dichtung ausgehen; endlich

verbinden sie durch ihren Gehalt verschiedene Glieder der

Dichtung, beleuchten Früheres und vertiefen die ganze dichterische

Bewegung.



Die Allegorie steht nicht in einem eindeutigen Verhältnis

zum Symbol. Ihr Wesen ist klar: es ist ein feststehendes

(sprachliches oder dichterisches) Bild für einen fixierbaren

Begriff, sie übersetzt ein Gedachtes in ein Bild. Dieses Bild

hat keinen Sinn für sich, wie das beim Symbol der Fall ist,

sondern nur eine Bedeutung als Zeichen für etwas. Allegorien

können neben Symbolen seit alters bestehen; aber

Symbole können auch im Lauf der Entwicklung zu Allegorien

werden, wenn die Einheit von Bild und Sinn im Symbol

sich lockert und endlich das Bild zum Zeichen für etwas

Gedachtes erstarrt. Man kann beim alten Goethe beobachten,

wie mit der Zeit bestimmte Symbole immer mehr stets angewandte

Zeichen werden, um gleichsam in solcher Kurzform |#f0288 : 272|



tiefere Sinnzusammenhänge anzudeuten. Das führt uns

auf zweierlei. Das eine ist der dichterische Wert der Allegorie.

Gewiß sind Allegorien oft beinahe verstandesmäßige Schablonen,

Zeichen, deren Bedeutung man kennen muß. Aber

diese Bilder können an sich ─ wie vor allem in der gesamten

mittelalterlichen Kunst aus dem Weltbild dieser Zeit heraus

─ eine solche innere Größe haben, daß sie noch Eigenwert

bewahren und damit die Bedeutung nicht bloß andeuten,

sondern wieder in die Nähe von Symbolen rücken. Am großartigsten

vielleicht in Dantes Werk: Vergil und Beatrice

wachsen über bloße Allegorien durch ihre dichterische Eindringlichkeit

und Fülle hinaus, aber auch die drei wilden

Tiere des Anfangs haben an sich schon bildhaften Wert. Der

Dichter kann Allegorien auch neue Sinnträchtigkeit verleihen.

Der Leuchter, der in Form der allegorischen Gestalt der

Justitia von der Decke hängt, gewinnt vertiefte Bedeutung

am Schluß des »Jenatsch«, wenn Lukretia, die eben ihren Geliebten

rächend und rettend zugleich getötet hat, unter ihr

aus einer Ohnmacht erwacht und das Wachs der Kerzen in

glühenden Tropfen auf sie fällt. Die allegorische Schnitzfigur

wird hier Glied eines größern Bildes, das als Symbol die

Dichtung zusammenfaßt. Das andere ist die Vereinfachung

von Symbolen zu Zeichen, wie es in der modernen Dichtung

häufig getroffen wird. Diese Zeichen ─ meist einfache Worte

oder sprachliche Gebärden ─ umschließen das Angedeutete

nicht mehr in der ganzen Fülle wie das Symbol, sondern

deuten nur mehr hin. Sie sind willkürlich. Sie erinnern an

die Embleme. Man spricht vielfach auch von Chiffren, also

von Geheimzeichen, deren Bedeutung sich zwar aus der

Dichtung ergibt, die man aber wissen und kennen muß, um

das in der Dichtung Gesagte ganz zu verstehen. Wenn das

dichterische Symbol nur mehr Funktion und bloßes Zeichen,

geheime Chiffre ist, wird es in seiner inneren Fülle eingeengt

und verliert seinen tiefen Sinn. Man begründet die Verwendung

von Chiffren in moderner Dichtung mit der Fülle,

Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der modernen

Welt. Diese könne nicht mehr in dieser Vielschichtigkeit

durch Symbole gestaltet werden, sondern nur mehr durch |#f0289 : 273|



knappe Zeichen. Man denkt dabei an den Parabelcharakter

der Novellen, knappen Erzählungen und Skizzen Kafkas.

Damit rühren wir allerdings an Grenzen der Kunst: sollte sie

der modernen Welt gegenüber nur mehr als Zeichensprache

des Geistes bestehen können? Oder hat sich hier eine bestimmte

Welterfassung ein eigenes System gebildet, um sprachlich

auf andere wirken zu können? Freilich kann auch solche

Weltbildgestaltung aus dem Innersten kommen. Aber ist

das Innerste damit nicht auch charakterisiert?



3. Die Ausgewogenheit der Glieder ist ein weiteres Formprinzip.

Es ist damit nicht bloß die Tatsache gemeint, daß die

gleiche Länge oder auch Bedeutsamkeit einzelner Glieder

Harmonie schafft, aber auch Eintönigkeit hervorrufen kann,

daß also Wechsel in dieser Hinsicht Bewegung erzeugt; sondern

es kommt auch auf die Anordnung der Glieder zum

Ganzen an. Sie können einander so folgen, daß die Gewichtigkeit

zunimmt und so am Schluß die krönende Höhe erreicht

wird. Es kann auch eine Art Kreisbewegung entstehen:

so etwa der Weg des Grünen Heinrich, der von seiner

Fahrt in die große Welt wieder in die Heimat zurückkehrt.

Ganz eigenartig ist die Doppelbewegung im »Hyperion«

Hölderlins. Wir verfolgen nicht nur den Lebensbericht Hyperions

an Bellarmin, sondern auch das darin erzählte Leben.

Hyperion beginnt im Augenblick zu schreiben, wo er nach

der Rückkehr aus Deutschland in die Heimat die innere

Katastrophe überwindet durch das religiöse Erleben der Allnatur.

Und gerade mit dieser Lebensstufe endet der Bericht.

Das Ende schließt somit an den Anfang, zugleich macht aber

Hyperion während des Lebensbekenntnisses eine weitere,

festigende Entwicklung durch. In Jean Pauls »Titan« ergibt

sich der Aufbau durch das eigenartige Zusammenspielen

zweier Lebensräume: Italien und die Landschaft im deutschen

Fürstentum. Möglich ist es auch, daß die Mitte in besonderer

Weise herausgeformt ist und damit eine neue Art der Geschlossenheit

entsteht. So vielfach in den Novellen und Romanen

Stifters. Die mittleren Kapitel sind oft Wende oder

Höhe, und auch die Kapitelreihen vorher und nachher gewinnen

durch bestimmte Bezüge auf diese Mitte hin eine |#f0290 : 274|



klar wirkende Ordnung. Von vollendeter Symmetrie ist

Schillers »Braut von Messina«: fünf Bühnenbilder sind in

folgender Weise angeordnet: das erste und letzte sind gleich

und stellen den feierlichen Säulenhof dar, in dem die erhebenden

und die zerschmetternden Szenen spielen. Es sind auch

versmäßig die längsten beiden Szenen und beinahe gleich

lang. Die zweite und vierte Szene stellen das gleiche Gartenbild

dar, sie sind die kürzesten und wieder beinahe gleich

lang. Die mittlere Szene, auch in der Länge zwischen den

anderen, stellt einen Innenraum dar, wo, abgetrennt von

Welt und Menschen, nur die Mutter mit den Söhnen allein

ist und wo sie sich gegenseitig die entscheidenden Mitteilungen

machen. Hier schlägt aus größter Freude und Hybris

die Richtung endgültig ins Vernichtende um. Solche symmetrische

Anlage scheint in mittelalterlicher Dichtung oft

noch viel genauer und verschlungener vorhanden zu sein.

Die mannigfachen Zahlenverhältnisse der einzelnen Glieder

einer epischen Dichtung sind wie Analogien zu der Geordnetheit

der gesamten Gotteswelt.



4. Jede Dichtung stellt in sich gleichsam einen eigenen Raum

gestalteter Welt dar. Man spürt, aus welcher Art erlebten

Lebensraumes die Dichtung gewachsen ist. Man denke an

Eichendorff neben C. F. Meyer, an den »Tasso« neben »Maria

Magdalena«, an Trakls Lyrik neben der Mörikes. Spoerri

hat eine ganze Reihe solcher Möglichkeiten erwähnt: weite

Räume neben engen, offene neben geschlossenen, durchlüftete

neben muffigen, geordnete neben wüsten, festgefügte

neben zerfallenden, seichte neben abgründigen. Eindringlich

könnte man auch die räumlich gebaute Welt Kafkas der Stifters

gegenüberstellen: dort das Einengende, ohne Ausweg,

ohne Schönheit, ohne Übersicht, den Menschen in die Fremdheit

und Verzweiflung stoßend; hier klare Ordnung, Weite

auch im geschlossenen Raum, Schönheit; hier wachsen geklärte

Menschen, von hier aus greifen sie in die Welt aus und

haben immer einen Rückhalt. Formal-ästhetisch beide von

gleicher Vollkommenheit und Tiefe, zeigen sie, wie durch

solche Raumgestaltung eine deutliche und unbedingte Geschlossenheit

jeder Dichtung entsteht.

|#f0291 : 275|



Wir nähern uns damit der schließenden Kraft der Rahmung.

Sie ist für viele Dichtungen jeder Gattung eine besonders

wirkungsvolle Form und bietet eine Fülle von Möglichkeiten

und Abwandlungen. Schon der Begriff Rahmen muß im

ästhetischen Sinne weit genommen werden. Immer, wenn

eine Dichtung in eine deutliche Gesamtatmosphäre getaucht

ist, kann man im weitesten Sinn schon davon sprechen. Vielfach

aber legt der Dichter einen deutlichen Rahmen um eine

Dichtung. Sein Sinn ist architektonische Geschlossenheit,

Abhebung von jeder anderen Wirklichkeit. Freilich gibt es

auch gehaltliche Zusammenhänge zwischen dem Rahmen und

dem Gerahmten, so daß Vertiefung des Gehalts durch diese

Kunstform entsteht. Dabei kann die Sinnschwere bald auf

dem Rahmen, bald auf dem Gerahmten liegen, und damit

ergibt sich jeweils ein anderes Aufbaugepräge. Die beiden

Glieder können auch in einem besonderen Stimmungsverhältnis

stehen, in einem gegensätzlichen etwa oder im Sinne

einer Steigerung oder ähnliches. Das rationale Verhältnis

kann, besonders in moderner Epik, auch eine Rolle spielen.

Nicht immer ist der Rahmen vollständig: es kann der schließende

Teil fehlen, so daß eher von einer einführenden Einstimmung

die Rede ist. Der schließende Teil kann entweder

wieder zum Anfang zurückkehren, oder er führt durch das,

was das Gerahmte gestaltet hat, auf eine höhere Ebene. Das

sind alles mehr allgemeine Angaben, die nur zeigen sollen,

wie dem Dichter damit ein reiches Kunstmittel gegeben ist,

den Aufbau zu gestalten. Einzelheiten und Beispiele folgen

bei den einzelnen Dichtungsgattungen.



Gespanntheit



Die Mannigfaltigkeit des Aufbaues einer Dichtung wäre

nur einseitig erfaßt, wenn man ausschließlich die Möglichkeiten

der Bindung zur Gesamtheit und Geschlossenheit betrachtete.

Gerade Lockerungen, Zusammenhangslosigkeit

oder Zerreißung können eigenartig und wesentlich sein.



Wenn die Bindung zerstört erscheint, haben wir es mit

dem Eindruck der Zerrissenheit zu tun. Es entstehen Unterbrechungen |#f0292 : 276|



der durchgehenden Bewegung; sie fallen besonders

im modernen Roman, aber auch im Aufbau neuerer

Dramen oft auf. Vor allem wird solche Unterbrechung erzeugt,

wenn Raumstörungen eintreten. Wenn also, wie im

Drama des Sturm und Drang oder auch sehr deutlich etwa

in Claudels »Seidenem Schuh« die Schauplätze stark und häufig

wechseln und dabei auch scheinbar der Faden der Handlung

völlig zerreißt. Auch bei starken Umschaltungen etwa

zeitlicher Art entsteht der Eindruck der Disparatheit. Nicht

bloß im modernen Roman mit der oft völligen Auflösung

des Zeitkontinuums, sondern schon in der Ballade finden wir

dieses Kunstprinzip. In C. F. Meyers Ballade »Die Füße im

Feuer« schiebt der Dichter die Vergangenheit der Hugenottenverfolgung

und die gegenwärtige Lage des Reiters ineinander.

Aber schon hier spüren wir die überwölbende Einheit:

das Geschehen ist ganz vom Standpunkt dieses Reiters

aus gestaltet. Wirksam ist der Widerspruch der Stimmungen

zwischen einzelnen Teilen. Man denke an die verschiedenen

Narrenszenen in Shakespeares Tragödien, die uns plötzlich

in eine andere Atmosphäre tauchen. Bekannt ist auch der

überraschende Schluß vieler lyrischer Gedichte Heines. Die

Zerstörung der im ganzen Gedicht fortlaufenden Stimmung

durch das Schlußbild schafft selbst den oft erschütternden

Eindruck der Zerrissenheit. Viel weiter führt dann der Widerspruch

zwischen Gehalt und Form. Im Lauf der Entwicklung

bilden sich gewisse notwendige Zusammenhänge zwischen

der Gestalt und den dargestellten Ideen: der hohe Ton

für die Inhalte der tragédie classique, der rüpelhafte Ton für

Burlesken usw. Nun kann gerade hier eine völlige Verdrehung

eintreten. Blumauer hat Vergils »Äneis« im Inhalt durchaus

belassen, aber das Ganze in einen bänkelsängerisch-trivialen

Ton gebracht. Damit wird uns die menschliche Begrenztheit

und Beschränktheit auch der Großen sehr aufdringlich nahegebracht.

Eine solche Umwandlung des Tones bei gleichbleibendem

Gehalt nennt man Travestie. Freilich wird gerade

hier deutlich, daß es in Wirklichkeit nicht bei demselben

Gehalt bleibt: das ganze Geschehen wird gedrückt, die Beleuchtung

ist völlig anders, es ist nicht mehr dasselbe. Wieder |#f0293 : 277|



ein Beweis dafür, daß in der sprachlichen Gestaltung, besonders

in der künstlerischen, nicht bloß eine Wirklichkeit

dargestellt wird, sondern auch unsere Einstellung dazu, und

daß der Gehalt volle Wirklichkeit immer erst in einer und

durch eine bestimmte Gestalt wird. Ein anderer künstlerisch

wirkungsvoller Widerspruch besteht darin, daß man den

Gehalt einer hohen Dichtung völlig erniedrigt, daß man ihn

vergröbert und lächerlich macht, aber dabei den hohen Ton

aufrechthält. Das ist die Parodie, wie sie besonders auch

Nestroy pflegte. Hier wird ein niedriger Gehalt, der durch

Umformung eines hohen entstand, in gespreizten und überhitzten

Ton gebracht. Wäre der Ton dem Gehalt angemessen,

hätte man den Eindruck einer geschlossenen Dichtung, die

höchstens als völlige Umformung einer anderen gelten könnte,

aber durchaus auch Eigenwesen hätte. Aber durch den überhöhten

Ton wird der niedere Gehalt wieder in eine auffällige

Beleuchtung gerückt und der Anspruch des menschlich

Niederen bloßgestellt.



Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit, der, wie

wir betont haben, in jeder Dichtung schon durch das Wesen

der Sprache vorhanden ist, kann auch in anderer Weise gestört

werden. Man spricht dafür heute häufig von Deformation

oder Verfremdung. Beide Ausdrücke bedeuten sehr

Ähnliches, nur liegt beim ersten der vergleichende Blick vor

allem auf der außersprachlichen Wirklichkeit, beim zweiten

auf dem Eindruck auf den Erlebenden. Aber beide werden

nicht einheitlich gebraucht. Manchmal wird unter Deformation

rein die Tatsache gemeint, daß ja die Dichtung die

außersprachliche Wirklichkeit geistig neu aufbaut in der

sprachlichen Welt, und daß sie dabei die außersprachliche

Wirklichkeit ändert. Das Wesentliche ist aber nicht, daß die

außersprachliche Wirklichkeit umgeändert, sondern daß eine

neue geistige Welt sprachlich-dichterisch aufgebaut wird.

Aber Deformation hat auch einen anderen Sinn für Dichtung:

da kommt es dem Dichter geradezu darauf an, die zu gestaltende

Wirklichkeit zu verzerren; also die verzerrte außersprachliche

Wirklichkeit ist der wesentliche Gehalt, der Ton

liegt auf der Verzerrung oder Verfremdung. Dazu gehört z. B. |#f0294 : 278|



auch die manchmal anzutreffende Ich-Spaltung der dichterischen

Figuren, daß sie in zwei ganz verschiedenen Daseinsformen

auftreten, herausgeformt aus den psychologischen

Einsichten in die Schizophrenie. Den Sinn dieser Verfremdung

betonter Art sieht man vor allem darin, daß nur so die

Zerrissenheit nicht nur der uns gegenübertretenden Welt,

sondern auch die äußerst differenzierte Fügung und vielfache

Zerrissenheit des modernen Menschen künstlerisch eindrucksvoll

und wahr gestaltet werden können. Zerrissenheit, Deformation,

Verfremdung wären also künstlerische Mittel, allein

schon durch die Gestalt der Dichtung das Wesenhafte der

Welt und des Menschen in dauernde Form zu prägen. Dabei

muß auf alle Fälle festgestellt werden, daß zumindest dem

echten Dichter dieser Art die Welt und der Mensch in dieser

Weise und Struktur entgegentreten, daß er sie so sieht. Propagandistische

Wirkungsabsichten im zerstörenden und defaitistischen

Sinn können vorkommen, müssen aber aus echter

Dichtung und ihrer Betrachtung ausgeschaltet bleiben. Sie

sind auch eher Sache einer gewissen Kritik. Auf keinen Fall

darf damit gesagt sein, daß nur solche Dichtung echt ist, daß

diese Welterfassung die einzig mögliche ist. In dieser Gestaltung

kann auch ein Protest gegen die Wirklichkeit liegen;

der Dichter will diese zerrissene Welt in ihrem Wesen herausstellen

und damit geistig bewältigen.



Nicht nur Zerrissenheit ist ein Merkmal der Gespanntheit

im Aufbau einer Dichtung, sondern auch starke Unausgewogenheit,

Ungleichheit der Glieder. Es ist genau das Gegenteil

von dem, was wir früher über die Ausgewogenheit gesagt

haben. Also starke Ungleichheit in der Länge der einzelnen

Glieder, um mit dem Äußerlichsten zu beginnen. Aber

auch ständige, scheinbar unerwartete und unbegründete

Stimmungsumschwünge, wechselnder Gehalt und auch wechselnde

Funktion der Glieder. Solche Struktur steht im Widerspruch

zur Logik, zur Vernunft. Und sie will das. Vernunft,

Rationalität geben nach der Welterfahrung solcher Dichter

nur ein einseitiges, durch die Ereignisse und Einsichten unseres

Jahrhunderts beinahe ad absurdum geführtes Weltbild. Man

schafft sie gänzlich ab, soweit das eben in der Sprache überhaupt |#f0295 : 279|



möglich ist, und glaubt dadurch dem Wesen näher als

mit dem Verstand zu kommen. Die Unausgeglichenheit,

Sprünge, das Unverbundene, Widersprüchliche sind also

wieder gleichsam Symbole einer bestimmten Welterfahrung.

Es kommt weniger auf den Gehalt solcher Glieder an als auf

ihre gegenseitige Widersprüchlichkeit. Freilich darf auch hier

nicht außer acht gelassen werden, daß alle Sprachgestaltung

auch einen Gehalt, einen Sinn hat, und daß dieser in die

dichterische Gestaltung mit eingebaut werden muß.



Beide Formen der Gespanntheit, die Zerrissenheit und die

Unausgeglichenheit, verbinden sich in einer heute sehr

häufigen Kunstform, nicht nur der Dichtung: in der Groteske.

Über das Groteske als eine bestimmte Art dichterischer Weltauffassung

haben wir schon früher gesprochen; hier gilt es,

die künstlerische Form zu beachten. Es ist das Groteske geradezu

kennzeichnend für diese Eigenart des Gespannten im Aufbau

der Dichtung. Hier finden wir die Unterbrechungen, die

Raumstörungen, die Widersprüche in den Stimmungen und

auch immer wieder die Züge der Travestie und Parodie. Vor

allem aber ist in der Groteske die Deformation oder Verfremdung

als bewußte Zerstörung der Wirklichkeit künstlerisches

Prinzip. Man hat früher mehr die Karikatur im

Grotesken gesehen, also die boshaft-geistreiche Überbelichtung

und Unterdrückung gewisser Züge. Heute, wo uns die

Eigenarten der Gespanntheit als ein Zug dichterischer Struktur

deutlich geworden sind, erkennen wir vor allem diese im

Grotesken.



Von hier aus finden wir auch den leichtesten Weg zum

ästhetischen Wert und zur Wirkung dieser Züge. Denn wir

stehen vor der Frage, wie diese Zerrissenheit, Lockerung und

Unausgeglichenheit in einem Kunstwerk gewertet werden

soll. Es ist durchaus möglich, daß eine Dichtung nicht zur

geschlossenen Gestalt gefunden hat; das würde unbedingt

eine Abwertung bedeuten. Denn es liegt im Wesen des Kunstwerks,

daß es eine Gestaltung ist, daß es also eine Form hat,

und das bedeutet eine Umgrenztheit, eine Ganzheit und bis zu

gewissem Grade eine Geschlossenheit. Aber gerade das

Groteske zeigt uns, daß auch im Disparaten eine Einheit gegeben |#f0296 : 280|



sein kann. Deutlich bildet eine Groteske gerade in ihrer

inneren Zerrissenheit, Widersprüchlichkeit und Verfremdung

ein einheitliches Ganzes. Es erwächst aus den durchgehenden

Eigenheiten, die die Gespanntheit kennzeichnen. Zerrissenheit

als Gesamtmerkmal kann also geradezu ganzheitbildend sein.

Genauere Untersuchung brauchte es, wo hier die Grenzen

liegen und wo totale, daher kunstzerstörende Zerrissenheit

beginnt. Es ist das wohl auch Sache des Geschmacks, d. h.

der Werteinstellung der Leser. Die Grenzen liegen auf keinen

Fall fest. Streng klassische Einstellung wird sie eng ziehen, die

moderne Kunsteinstellung aber ist imstande, größte Gespanntheit

noch als Ganzheit zu erleben. Das hängt mit der Entfaltung

des menschlichen Geistes zusammen, der mit der allgemeinen

Zivilisationsentwicklung gleichen Schritt hält. Auch

beim Blick in die Tiefe ergibt sich eine Ganzheit. Das Wesentliche,

ja sogar das Absolute kann eben im Zerbrechen, im

Zertrümmerten, im Zerfahrenen gesehen werden. Aber das

ist dann meist ein Durchgang zu neuer Ganzheitstiftung. Ein

Nein wird gesprochen, um zu einem neuen Ja durchzustoßen.

Mit Worten Sprangers: »Den eigentlichen Gipfel unseres

Problems erreichen wir mit dem Fall, daß eine lebende Generation,

obwohl sie das Vermögen dazu hätte, die vorgefundene

Kultur aus ethischer Entscheidung heraus nicht will. In dieser

Wertdivergenz zwischen der objektiven Kultur und dem

subjektiven Kulturwillen kündigt sich eine tiefgehende Strukturveränderung

der menschlichen Geistesart an. Und keineswegs

liegt darin notwendig ein Anstoß zum Kulturverfall.

Vielmehr beruht darauf aller Fortschritt, denn was diesen

Namen verdient, kommt nur aus einer solchen radikalen Umkehr,

aus einer totalen ›Wiedergeburt‹, die immer geistige

Revolution bedeutet.«



Die Art der Ganzheit



Wenn wir die Art betrachten, wie die Glieder sich zum

Ganzen zusammenfügen, dann stoßen wir auf das Problem

der Gestalt. Der Begriff ist häufig geworden, seit die Psychologie

seelische Ganzheiten, seelische Strukturen zu sehen gelernt |#f0297 : 281|



hat. Gestalt ist jedes Gebilde, das aus Gliedern besteht,

die im Ganzen eine notwendige und unersetzbare Funktion

erfüllen und so zum Ganzen zusammenwachsen. Man hat

erkannt, daß auch die Dichtung als solche Gestaltwirklichkeit

gesehen werden kann, als »sprachliche Entfaltung eines Kräftespiels

von Bedeutungen« (G. Müller). Dabei kommt es auch

darauf an, welche Bedeutung den einzelnen Gliedern zukommt;

sie sind nicht alle gleich wichtig im Gefüge, und

auch diese Bedeutungsschichtung, besonders in der epischen

und dramatischen Großdichtung, ist für die Form der Dichtung

wichtig. Man hat nun aber wohl das Prinzip der Gestalthaftigkeit

übersteigert. G. Müller hat den morphologischen

Blick auf die Dichtung in Anlehnung an Goethes naturwissenschaftliche

Methode durchzuführen versucht. Man sagt,

eine Dichtung sei ein Organismus und wie ein solcher gebaut.

Die Übersteigerung dieser Sichtweise führt dazu, der Eigenart

der Dichtung nicht gerecht zu werden, sie einseitig zu sehen

oder gewaltsam zu deuten. Man kann niemals die Teile einer

Pflanze mit den »Teilen« eines Gedichts, etwa gar dem Rhythmus,

dem Satz usw., vergleichen. Auch der Metamorphosenbegriff,

der aus der Goetheschen Pflanzenlehre genommen

wurde, paßt nicht auf die innere Bildung, auf die Aufbaugesetzlichkeit

einer Dichtung. Auch ist ja Goethes Naturbegriff

selbst nur eine Sicht auf die Welt. Vor allem aber ist es

wichtig, daß wir bei der Betrachtung der Dichtung uns über

den Unterschied zwischen Organismus und ästhetischem Gebilde

klar werden. Unterschiede bestehen vor allem im

Wachstum, im Entstehen. Ein Organismus wächst, schreitet

vom Einfachen zum Zusammengesetzten fort. Ein Kunstwerk

wird gemacht, und es schreitet von einer zunächst ungebundenen

Vielheit von Einzelheiten zu Ganzheit und Geschlossenheit

weiter. Das ist zumindest eine Art, wie ein Kunstwerk

entsteht. Freilich ist es möglich, daß auch ein Kunstwerk, besonders

eine Dichtung, gleichsam aus einem Keim wächst, aus

einem solchen Ansatzpunkt sich zu immer größerem innerem

Reichtum entfaltet. Daher bestehen im Ergebnis wirklich

Ähnlichkeiten zwischen Organismus und Kunstwerk. Aber

man wird immer im Auge behalten müssen, daß es sich bei |#f0298 : 282|



Organismen um Wachstum, bei Kunstwerken um sogenannte

Integration handelt, d. h. um das Zusammenfügen von Gliedern

aus überwölbenden Prinzipien, die geistiger Art sind.



In der Überlegung, welcher Art nun wirklich die Ganzheit

einer Dichtung ist, vergißt man allzuleicht, daß ja nicht alle

Dichtungen gleich gebaut sind. In der Struktur der einzelnen

Dichtungen kann man in dieser Hinsicht auch verschiedene

Typen erkennen. Sie sind bis zu einem gewissen Grade vorgebildet

in den Typen, die einst Walzel in bezug auf die Gesamtstruktur

von Dichtungen aufgestellt hat: eine statischromanische

Form, die gleichsam den gesamten Gehalt aus

dem flutenden Leben in abstrakt-geistige Räume hinaufhebt.

Hier könnte man mit Vorsicht den Ausdruck Konstruktion

gebrauchen, ohne für Dichtung gleich einen Unwert damit

zu verbinden. Es handelt sich nicht um die Art der Entstehung

und Ausführung der Dichtung, sondern um die Aufbauart

des vollendeten Werks. Es erscheint als streng durchdachtes

Gebilde. Die einzelnen Glieder sind in beinahe rationaler

Weise eingebaut und haben ihren strengen Sinn im Ganzen.

Die Fügung ist auch sprachlich insofern erkennbar, als bestimmte

Worte die geistigen, ja sogar die logischen Beziehungen

festhalten. Symmetrie und Bauweise nach Zahlenverhältnissen,

wie wir sie früher erwähnt haben, gehören auch

hieher. Da gibt es keine Unklarheit, keine Verschwommenheit,

kaum unmerkliche Übergänge. Solche Bauweise, die in

den Worten Konstruktion und Komposition angedeutet ist,

hat ihre hohen Werte. Es entsteht der Eindruck der Klarheit,

Überschau, Genauigkeit. In diesem strengen Rahmen können

dann die künstlerischen Einzelheiten, die Bilder, auch die

anderen Stilkräfte eindeutig wirken. Es ist die Bauweise, die

wir aus den großen lateinischen Klassikern kennen, aus der

tragédie classique der Franzosen, auch noch aus Voltaire. Aber

auch Schillers Dramenform, besonders etwa in der »Maria

Stuart« und in der »Braut von Messina« hat diese klar geprägte,

festgefügte Form. Züge davon zeigen sich in Stifters Romanen,

vor allem aber in den Romanen Thomas Manns. Auch die

Barockromane erkennen wir heute als Vertreter dieser Form:

sie weisen einen bis ins letzte durchdachten und durchkonstruierten |#f0299 : 283|



Bau auf, der aber durch die prächtige Fülle von

Bewegung und den Reichtum an Bildern und Gliedern verdeckt

wird. Gerade diese reiche Umhüllung schafft eine besonders

reizvolle Abart dieses Typus. Aber solche Bauweise

kann auch negative Seiten zeigen. Wenn die Konstruktion zu

deutlich wird, wenn die logische Fügung herrscht, so bekommt

das dichterische Werk etwas Starres, oft beinahe

Klapperndes. Wenn unter dem strengen Bau nicht die große

Haltung eines tiefen Inneren vernehmbar wird, gerät solche

Kunst bedenklich in die Nähe des bloßen Mechanismus.



Die andere Form nannte Walzel die deutsch-organische

Form. Das ist die Bauweise, für die der Ausdruck Organismus

am Platz ist. Zwei Kennzeichen sind besonders deutlich: es

wird in solchen Dichtungen das Werden betont, d. h. die

Fügung verschafft den Eindruck des Strömens, die Glieder

sind nicht scharf getrennt oder logisch aneinander geordnet,

sondern sie ergeben sich aus einer seelischen Gesamtbewegung.

Der Rhythmus und auch die Wortgehalte wirken zusammen,

diese Form zu schaffen. Wie da sogar eine streng logische

Konstruktion, wie es ein Bedingungssatz ist, die Härte verlieren

kann und einer strömenden Gesamtbewegung sich einfügt,

zeigen die Goethe-Verse:



Wenn der uralte

Heilige Vater

Mit gelassener Hand

Aus rollenden Wolken

Segnende Blitze

Über die Erde sät,

Küß ich den letzten

Saum seines Kleides,

Kindliche Schauer

Treu in der Brust.


Auch der erste Teil des »Faust« weist diese Form auf vom

Gesamtbau her bis in die einzelnen Glieder. In dieser Form

selbst schafft der Dichter vor allem ein Symbol des Lebens,

wie er es eben als Strömen erfaßt. Die Gefahr einer solchen

Form ist nun das Gegenteil der früheren: die Konturen verschwimmen,

die Übersicht ─ besonders bei großen Dichtungen

─ geht verloren.

|#f0300 : 284|



Walzel spricht noch von einer gotischen Form. Hier geht es

um die Heftigkeit, mit der sich die Glieder aneinander fügen,

jeder Neuansatz ist deutlich gekennzeichnet, aber nicht durch

eine logische Verbindung, sondern durch Sprünge, durch

Steigerungen, wie sie zugleich Ausdruck starker Wallungen,

plötzlicher Affektausbrüche sind. Die Bauform des Expressionismus

dürfte das deutlichste Beispiel sein. In dieser Gestaltung

kommt es am ehesten zu Zerreißungen und Brüchen.



Es ist mit dieser Andeutung dreier Typen von Aufbau

nicht gesagt, daß es alle Möglichkeiten sind, oder daß es nicht

Verflechtungen, Mischungen gäbe. Sie zeigen aber, daß es

kaum angeht, nur mit dem Begriff des Organismus dem

künstlerischen Aufbau von Dichtungen nahezukommen.



Gestaltungsebenen



Vergleichen wir ein kräftiges Mundartgedicht aus der Bergbauernwelt

mit einer Hymne von Hölderlin, eine naturalistische

Prosaerzählung aus der Welt des armen Fabrikarbeiters

mit einer Renaissance-Novelle von C. F. Meyer oder eine der

glänzenden Possen Nestroys aus der Wiener Vorstadt mit

Goethes »Iphigenie«: die künstlerische Vollendung muß nicht

notwendig einen Unterschied machen, aber die künstlerischen

Ebenen sind stark und eindeutig voneinander geschieden. Mit

ihnen und durch sie unterscheiden sich auch die inneren Haltungen,

die Art der Gemüthaftigkeit. Wir sprechen von

Gestaltungsebenen.



Wir können mit einem kurzen geschichtlichen Blick beginnen.

Schon im Altertum kannte man drei solcher Gestaltungsebenen

oder Stilarten, wie man sich auch ausdrückt. Man

vermutet, daß Theophrast als erster sie festgehalten hat. Auf

alle Fälle sprechen sich Cicero im »Orator« und dann später

Quintilian deutlich darüber aus. Sie unterscheiden drei genera

dicendi: das genus humile, das genus medium und das genus

sublime. Cicero beschreibt sie mit einer Fülle von näheren

Einzelbestimmungen. Statt humile heißt es auch tenue oder

subtile, statt medium mediocre oder floridum, statt sublime |#f0301 : 285|



auch grande. Dabei verbinden die Theoretiker diese Ebenen

mit dem Zweck der Darstellung auf einer solchen: die erste

soll lehren (docere), die zweite erfreuen (delectare), die dritte

aufwühlen (movere). Diese Theorie der Stilebenen wirkt sich

bis weit in die Neuzeit hinein bald stärker, bald schwächer

aus. Walther von der Vogelweide sagt ganz deutlich (84, 22 ff.):



Ich drabe da her vil rehte drier slahte sanc:

den hohen und den nidern und den mittelswanc,

daz mir die rederiche iegesliche sagen danc.


Diese Lehre wurde also vom Christentum, seiner Bildung und

Dichtung übernommen, allerdings in manchen Brechungen

und Fortbildungen. Freilich treffen wir manchmal auch

Zweiteilungen, die sich irgendwie damit decken: etwa die

Unterscheidung mit den griechischen Ausdrücken harmonia

austera und glaphyra, die noch für die Erkenntnis von Hölderlins

Sprachkunst wichtig geworden ist, oder die Unterscheidung

von ornatus facilis und difficilis.



Zweifellos hängen diese Gestaltungsebenen seit je auch mit

sozialen Unterschieden entweder der Autoren oder der Leser

zusammen, in der Redekunst, wo sie auch wichtig sind, mit

dem Zweck der Rede. Tatsächlich bringen die mittelalterlichen

Poetiken die drei genera mit den drei Lebensständen

der Hirten, Bauern und Krieger zusammen und berufen sich

dabei auf die drei Werke Vergils: »Bucolica«, »Georgica«,

»Aeneis«.



Diese geschichtliche Abschweifung führt uns darauf, daß es

in der Dichtung aus ihrem Wesen heraus solche Stufungen

gibt. Sie werden also immer irgendwie anzutreffen sein. Ihre

Feststellung und Analyse führt zur Einsicht in weitere künstlerische

Formen und Grundsätze. Ob man drei oder nur zwei

oder mehrere unterscheiden soll, ist eine Streitfrage. Die

Unterscheidung kann auch aus psychologischen Erwägungen

geschehen: es kommt auf die verschiedenen Arten möglicher

Stimmungen an.



Wichtiger aber ist die Betrachtung der ästhetischen Grundlagen

und Haltungen, die zur Unterscheidung der Stilebenen

führen. Die Unterschiede wirken sich in der Dichtung auf die

verschiedenste Weise aus. Schon in der Verwesentlichung und |#f0302 : 286|



der Weltauffassung macht es einen Unterschied aus, ob man

ganz nahe an der Wirklichkeit verbleibt oder ins Wesen vorzudringen

sucht, ob man die Welt von der heiteren oder

ernsten Seite sieht. Vor allem aber zeigen sich die Unterschiede

in allen Stilzügen: im Wortschatz, in der Art der

Fügung, im Satzbau und besonders in den sprachlichen Bildern.

Aber auch im Aufbau werden sich solche Haltungen

zeigen, wie sie die lateinischen Ausdrücke docere, delectare

und movere meinen. Wir unterscheiden zunächst im großen

einen derben, einen mittleren und einen erhabenen Stil.

Diese Einteilung geht von einer mittleren Haltung aus, überbaut

sie durch eine gehobene, dem Alltag entstiegene und

setzt eine gegenteilige darunter.



Die derbe Gestaltungsebene ist uns besonders durch den

Naturalismus nahegebracht worden. Aber sie findet sich nicht

nur da. Man denke an die Pförtnerszene im »Macbeth«, an

manches in der Barockdichtung. Vor allem der Sturm und

Drang hat immer wieder zu ihr gegriffen. Schweizer in

Schillers »Räuber« sagt einmal (2/3): »Ha! ich will ihnen mit

meinen Fangern den Bauch schlitzen, daß ihnen die Kutteln

schuhlang herausplatzen!« Dieses kräftige Bild greift Wirklichkeitsbereiche

auf, die man für gewöhnlich im Gespräch

vermeidet, und treibt sie mit einer Unbekümmertheit heraus,

daß mit aller Kraft das Wesen solcher Seiten der Wirklichkeit

lebendig wird. Die Derbheit ist hier stärkste Vitalität, die also

gerade aus den untersten Bereichen des Lebens ihre Gestaltungsmittel

nimmt. Es kann auch ein anderer Ton mitklingen.

Der Leitspruch zu Weinhebers Sammlung »Wien wörtlich«

endet mit den Versen:



Des ho̊at kan Goethe geschriebn, des ho̊at kan Schiller dicht;

is von kan Klassiker, von kan Genie,

des is a Weaner, der mit unsern Göscherl spricht,

und segn S', erst des is für uns Poesie.


Hier ist die Derbheit nicht mehr Ausdruck ungebundener

Vitalität, sondern einer proletenhaften Haltung mit deutlich

sozialem Unterton. Mundartdichtung muß nicht immer

dieser Ebene angehören ─ man denke an die ernsten Erzählungen |#f0303 : 287|



Fritz Reuters oder an die Lyrik von Klaus Groth ─,

aber wenn sie es tut, dann kann der sozial-proletenhafte Ton

auch fehlen und nur die Naturwüchsigkeit des Naturkindes

gestaltet werden. Also schon hier in der derben Gestaltungsebene

wird deutlich, daß es verschiedene Schattierungen gibt.

Das Gemeinsame bleibt die Nähe zur unteren Wirklichkeit,

zum Groben, und die derbe Kraft der sprachlichen Bilder.

Dabei ergibt sich auch klar, was betont sei, daß diese Stilebene

nichts mit dem genus humile der antiken Theoretiker zu tun

hat.



Die mittlere Gestaltungsebene umfaßt einen weiten Bereich,

auch wenn wir hier nur die Dichtung und was mit solchem

Anspruch auftritt, berücksichtigen. Wenn wir diese Ebene

von der nächsten abheben, so ergibt sich eine gewisse gruppierende

Übersicht. Zunächst umfaßt sie alles Alltägliche,

Gewöhnliche, Neutrale. Wir können dazu das gesamte

Unterhaltungsschrifttum aller Art rechnen. Denn im Wortsinn

von Unterhaltung liegt auch schon eine Entfernung vom

Derben der unteren Wirklichkeit. Ferner rechnen wir dazu

das Leichte, Kleine, Unbedeutende, also z. B. Gedichte der

geringen Wirkung, lockere und leichte Erzählungen. Künstlerisch

wichtig ist in diesem Bereich das Anmutige. Wir

können es zunächst in seinen Spielarten umreißen: das

Reizende, das Liebliche, das Graziöse und das Amüsante,

jedes unterscheidet sich leicht vom anderen: im Reizenden

liegt das leichte Gefallen, das nicht tief geht, das Liebliche

spricht schon tiefere Gefühlsschichten an; das Graziöse ist

durch eine Art des Spielerischen in der Bewegung gekennzeichnet,

im Amüsanten steckt etwas auf die Gesellschaft Bezügliches,

etwas schon Lockeres, das aber durch Grazie umhüllt

wird. Das Anmutige liegt nicht so sehr in der Tiefe, gibt

keine Rätsel auf und läßt keine hohen Geheimnisse ahnen. Es

spricht durch die gefällige, glatte Form an und durch die

Natürlichkeit des Gehalts. Die Wirklichkeit, die in die

Dichtung hereingenommen wird, ist streng ausgewählt:

alles Schwere, Hohe oder Niedere bleibt ausgeklammert. Die

Verwesentlichung führt in den Bereich einer gelösten, harmonischen

Haltung.

|#f0304 : 288|



Kleine Blumen, kleine Blätter

Streuen mir mit leichter Hand

Gute junge Frühlingsgötter

Tändelnd auf ein luftig Band.


Zephir, nimm's auf deine Flügel,

Schling's um meiner Liebsten Kleid!

Und so tritt sie vor den Spiegel

All in ihrer Munterkeit.


Sieht mit Rosen sich umgeben,

Selbst wie eine Rose jung:

Einen Blick geliebtes Leben!

Und ich bin gelohnt genung.


Fühle, was dies Herz empfindet,

Reiche frei mir deine Hand,

Und das Band, das uns verbindet,

Sei kein schwaches Rosenband.


   (Goethe, Mit einem gemalten Band).



Die Gegenstandswörter der ersten Strophe umfassen nur

einen bestimmten Bereich der Nähe, und auch »Frühlingsgötter«

gehört hierher, weil der Gehalt des Wortes »Götter«

durch »Frühling« sofort ins Heitere umgeformt wird. Besonders

bezeichnend ist hier die Fülle der Eindruckswörter und

ihr volles Zusammenstimmen in einem einheitlichen Gefühlsbereich.

Ein anderes Gedicht Goethes gehört an die Grenze,

weil es schon deutlich in seiner Form auf Tieferes weist; aber

die sprachlichen Bilder, der Rhythmus, die Schlichtheit des

Metrums weisen es auf diese Ebene, und das darin Aufleuchtende,

im Symbol vom verpflanzten Blümchen Lebendige

ist ─ eben durch die künstlerische Form ─ selber das Anmutige:



[Beginn Spaltensatz]

Ich ging im Walde

So für mich hin,

Und nichts zu suchen,

Das war mein Sinn.


Im Schatten sah ich

Ein Blümchen stehn,

Wie Sterne leuchtend,

Wie Äuglein schön.
[Spaltenumbruch]

Ich wollt' es brechen,

Da sagt' es fein:

Soll ich zum Welken

Gebrochen sein?


Ich grub's mit allen

Den Würzlein aus,

Zum Garten trug ich's

Am hübschen Haus.
[Ende Spaltensatz]

Und pflanzt' es wieder

Am stillen Ort;

Nun zweigt es immer

Und blüht so fort.
(Goethe, Gefunden)

|#f0305 : 289|



In der zweiten Strophe erkennt man, wie zunächst im ersten

und dritten Vers die Möglichkeit des Aufstiegs in eine höhere

Ebene auftaucht, aber die Verse zwei und vier stellen die

Stimmung der Anmut wieder her, nur jetzt leicht vertieft.

Auch die dichterische Prosa ist durchaus möglich auf dieser

Ebene. Besonders Eichendorff böte Beispiele die Fülle. Nur

eins: »Ich aber mußte am Ende laut auflachen und war herzlich

froh, den superklugen Gesellen los zu sein, denn es war

gerade die Zeit, wo ich den Blumenstrauß immer in die

Laube zu legen pflegte.« (Aus dem Leben eines Taugenichts).

Das Anmutige kann in den Unwert hinübergleiten: durch

Übertreibung entsteht das Aufgeblasene, etwa der Ausdruck

»engelhafte Jungfrauen«. Durch die Überspannung einer bestimmten

Gefühlsnuance entsteht der Kitsch. In ihn geraten

wir schon durch kleinste Änderungen im Wort; man denke

an den Stimmungswandel von »weich« zu »weichlich«, von

»süß« zu »süßlich«. Ich verweise auf den Bechstein-Satz, den

wir schon kennen: »... wo das süße Dornröschen lag, hehr

umflossen vom Heiligenschein seiner Unschuld.« Auch alles

Angestrengte, Gemachte, Gespannte ist dem Anmutigen

feindlich. Darum wirkt G. Kellers Ausdruck von der angestrengten

Anmut so komisch. Der Schein der Anmut, bewußt

erstrebt, führt zu Affektation, im Weiblichen zu Koketterie.



Das Anmutige ist nur ein kleiner Bereich der mittleren Gestaltungsebene;

ein anderer, nahe verwandter ist der Humor.

Auch diese Gestaltungsform entspricht einer bestimmten

Welterfassung. Aber nicht jeder Humor muß auf dieser Ebene

liegen, es gibt einen derben, wie oft bei Shakespeare, auch

einen erhabenen wie bei Jean Paul. Doch das Heitere in seiner

Art gehört rein dazu.



Die erhabene Gestaltungsebene ist ebenfalls reich an Möglichkeiten.

Grundlegend für die Ausgestaltung des Erhabenen ist

der Zug des Menschen zum Großen, zum Überlegenen. Die

Gestaltung des Erhabenen erwächst aus der Haltung, die wir

bei der dichterischen Weltauffassung besprochen haben

(S. 97 f.). Sie prägt sich natürlich in allen sprachkünstlerischen

Möglichkeiten aus, aber auch im weitgeschwungenen Bau,

der in großen Auf- und Ab-Bewegungen verläuft. Ein Beispiel |#f0306 : 290|



für die künstlerische Gestaltung des Erhabenen bietet

besonders Schillers »Macht des Gesanges«. Abgesehen vom

Stil ist hier die weitgespannte architektonische Bewegung

wichtig, die z. B. über Strophe drei und vier in einer großen

Steigerung und Senkung führt:



Wie wenn auf einmal in die Kreise

Der Freude, mit Gigantenschritt,

Geheimnisvoll nach Geisterweise

Ein ungeheures Schicksal tritt.

Da beugt sich jede Erdengröße

Dem Fremdling aus der andern Welt,

Des Jubels nichtiges Getöse

Verstummt, und jede Larve fällt,

Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege

Verschwindet jedes Werk der Lüge.


So rafft von jeder eitlen Bürde,

Wenn des Gesanges Ruf erschallt,

Der Mensch sich auf zur Geisterwürde

Und tritt in heilige Gewalt;

Den hohen Göttern ist er eigen,

Ihm darf nichts Irdisches sich nahn,

Und jede andre Macht muß schweigen,

Und kein Verhängnis fällt ihn an,

Es schwinden jedes Kummers Falten,

Solang des Liedes Zauber walten.


Das Erhabene formt sich nicht nur in solcher mächtigen

rhythmischen Fortbewegung aus, sondern auch in Starrheit.

Die sprachlichen Züge aber bleiben erhalten. Im Barock

finden wir solche Gestaltung.



Das Erhabene als Gestaltungsebene kann auch eine Grundlage

für die Entfaltung des Tragischen sein. Gewiß ist Tragisches

bis zu einem gewissen Grade auch auf der Ebene des

Derben möglich, nie aber auf der mittleren Ebene, weil sie der

tiefen Erschütterung, die im Wesen des Tragischen liegt,

völlig entgegensteht.



Weitere dichterische Möglichkeiten ergeben sich, wenn wir

die Beziehungen zwischen den Gestaltungsebenen betrachten.

Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten: reine Durchführung

einer Dichtung auf einer Ebene oder Wechsel

mehrerer Ebenen. Diese Formen sind wichtiger als Misch-

und Übergangsformen, denn es lassen sich Übergänge vom |#f0307 : 291|



Derben ins Mittlere ohne weiteres denken, wenn der derbe

Ton gemäßigt wird und damit der Blick von der unteren

Wirklichkeit langsam abrückt. Ebenso kann vom Mittleren

langsam die Gestaltung zum Erhabenen emporsteigen.



Ein großes Beispiel einheitlicher erhabener Gestaltung ist

die französische tragédie classique. Sie ist erst langsam zu

dieser Reinform des Erhabenen gelangt, das zeigen noch gewisse

Unsicherheiten bei Corneille; bei Racine ist diese

künstlerische Ebene schon vollkommene Selbstverständlichkeit.

Boileau hat sie dann theoretisch gefordert, zugleich mit

ihr die reine Trennung der drei Ebenen. »Er kennt zunächst

den hohen, erhabenen Stil der Tragödie; alsdann den mittleren

der Gesellschaftskomödie, der von honnêtes gens handeln

und für honnêtes gens bestimmt sein muß, in welchem

die Schauspieler ›badinent noblement‹; und schließlich den

niederen der Volksfarce, in dem, sowohl in den Ereignissen wie

in der Sprache, ›le bouffon‹ herrscht, und den Boileau schon

wegen seiner mots sales et bas, welche den Pöbel entzücken,

aufs tiefste verachtet« (Auerbach). Hier wird die gesellschaftliche

Grundlage der Gestaltungsebenen deutlich. Einheit kann

also auf jeder Ebene möglich sein. Neben den Beispielen, die

hier Boileau gibt, erinnern wir uns an Possen und Farcen und

an die übliche Unterhaltungsliteratur.



Aber Boileau tadelt an dieser Stelle auch Molière, weil er

diese Einheit nicht beachte. Denn tatsächlich steigt er oft in

die Bereiche des Derben und Possenhaften hinab. Viel stärker

ist die Stilmischung bei Shakespeare: da verlangt eine Person

hohen Standes nach Dünnbier und spricht mit einer niederen

über deren Kleidungsstücke (»Heinrich IV.«, 2. Teil, 2/2). Aber

auch in den großen Tragödien finden sich genug Stellen: Hamlet

ist fett, Cäsar fällt durch den Gestank des Pöbels in Ohnmacht,

der Wahnsinn Ophelias ist mit krasser Psychologie dargestellt.

Dazu tritt ja dann bei Shakespeare noch das scharfe Zusammentreffen

von Tragischem und Komischem. Ähnliche

Begegnungen zweier Ebenen lassen sich auch zwischen dem

Anmutigen und Erhabenen denken. Worin besteht nun der

ästhetische Wert einerseits der Einheit, anderseits des Wechsels?



Die Geschlossenheit innerhalb einer Gestaltungsebene |#f0308 : 292|



schafft strengste Einheit des Weltbildes und der Kunstform.

Dadurch ist zwar je nur ein beschränkter Ausschnitt einer

Welt künstlerisch geprägt, aber dieser dafür mit um so

größerer Intensität. Die Dichtung kann aus solcher geistig

bewältigten Welt das letzte herausholen und unmittelbar ins

Wesenhafte vorstoßen. Das gilt für die derbe Posse ebenso wie

für eine Tragödie Racines. Meisterhaft, wie Goethe auf der

erhabenen Gestaltungsebene alle tragischen Möglichkeiten des

Dichterschicksals im »Tasso« herausholt und so eines der

ergreifendsten Bilder von der tragischen Gefährdung des

Dichtertums schafft. Anders die Mischung, wie sie am grandiosesten

im Gesamtwerk Shakespeares offenbar wird. Wenn

neben die furchtbare Macbethhandlung plötzlich die Pförtnerszene

tritt, so spüren wir die Gegensätzlichkeit des Lebens

ganz unmittelbar. Die Weite der dichterisch umgriffenen und

gestalteten Welt ist in solcher Form bedeutend größer, die

Fülle, Gegensätzlichkeit und Gespanntheit der Welt wirkt hier

eindringlich. Alle Bereiche des Lebens und alle Gesellschaftsklassen

treffen in einer solchen Dichtung zusammen. Solche

Struktur birgt die Gefahr in sich, daß infolge der Breite und

Gespanntheit die Tiefe und Intensität verlorengeht. Nur

Größen wie Shakespeare vermögen beides zu verbinden. Ihm

gelingt es, in knappen Szenen, die in sich meist geschlossen

einer Ebene angehören, durch die Kraft und Dichte der Bilder

Tiefen aufzureißen, wie es mittelmäßige Dichter nicht in

ganzen Werken vermögen.



Aber die Mischung und der Zusammenstoß der Gestaltungsebenen

kann auch zu Stilbrüchen im weiteren Sinn des Wortes

führen. Hier handelt es sich um eine andere Art von Zerrissenheit.

Die früher besprochene ergab sich aus dem Ablauf der

gesamten Dichtung, aus dem zeitlichen Nacheinander des Aufbaus.

Hier liegt die Zerrissenheit in der Gesamthaltung und im

Nebeneinander der Glieder. Dort eine Lockerung und ein

Reißen in den Fugen der Glieder, hier eine gleichzeitige Gespanntheit,

ein dauerndes Nebeneinander von Gegensätzen.

Wenn Stilbrüche ungewollt sind, wenn dem Dichter die geschlossene

Durchgestaltung nicht gelingt, dann ist das eine

Schwäche der Dichtung.

|#f0309 : 293|



Gewollte Stilbrüche sind Gestaltungsmöglichkeiten vor

allem der Komik. Denn durch sie eben kann das, was mit

unrechtmäßigem Anspruch auftritt, entlarvt werden, der Fall

von einer in die andere Ebene wird künstlerisch stark herausgearbeitet.

Durch solche Stilbrüche können bestimmte Ausformungen

der Komik gestaltet werden. Wir greifen hier

nochmals auf Ironie, Travestie und Parodie zurück.



Daß wir diese Erscheinungen öfter betrachten, zeigt ihre

Komplexheit. Ironie und Komik waren für uns bestimmte

geistige Haltungen, in denen sich dichterische Auffassung der

Welt ausprägen kann. Solche Haltung aber formt sich in der

dichterischen Gestalt aus, und wir haben auch diese Ausformungen

zu beleuchten. Parodie und Travestie sind nicht nur

gekennzeichnet durch den Aufbau, sondern gerade auch durch

das Zusammentreffen bestimmter Gestaltungsebenen. Durch

unsere Betrachtung mag zwar für den Augenblick der Blick

auf die Einheit solcher Erscheinungen getrübt werden, aber

sie vermag vielleicht das dichte Geflecht künstlerischer Kräfte

und Mittel auseinanderzulösen und uns einen Einblick in die

reiche künstlerische Fülle zu gewähren, die in der Ganzheit

einer Dichtung verborgen liegt.



Ironie ist immer eine bestimmte geistige Haltung. Sie ist

der Versuch des Geistes, der Verworrenheit und Gefährlichkeit

des Lebens und der Welt Herr zu werden. Es ist zugleich

eine spielerische Haltung, da sie sich im Herrwerden zugleich

genießt. Sie findet sich daher in späten Zeiten, die selbst kaum

mehr kulturschöpferisch sind. In der künstlerischen Form

prägt sich die Ironie allgemein gesprochen darin aus, daß sie

die fertige und ausgestaltete Form vergangener Zeiten in ihrer

Fülle und Geschlossenheit zugleich übernimmt, innerhalb

dieses Raumes entfaltet sie dann das Spiel der Bedeutungsschattierungen,

der halben Meinungen, des Andersmeinens,

des Andeutens usw. Doch damit sind wir schon in die Fragen

der künstlerischen Form geraten, die einer gewissen Geisteshaltung

Gestalt verleihen. Die typische Form für eine gesamtironische

Haltung einer Dichtung ist die Parodie, also ein

Widerspruch zwischen Gehalt und Gestalt derart, daß der

Gehalt des zu Parodierenden auf eine andere, meist tiefere |#f0310 : 294|



Ebene gerückt, die Gestaltung aber belassen wird. Oft greift

die Parodie über die ironische Haltung hinaus, wenn sie etwa

derber wird, wie in Possen oder Farcen. Parodie ist also nie

ursprunghaft, sondern auf ein vorgeformtes Gebilde angewiesen,

das eben parodiert wird. Dabei neigt mit der Zeit

jeder ausgesprochene Stil, jede ausgeprägte künstlerische Eigenart

zur Parodie; es wird eben mit der Zeit ausgeprägte künstlerische

Art leicht übertrieben und gerät dadurch ins Parodische.

Ein Meisterwerk der Parodie ist Thomas Manns

»Felix Krull«. Krull schreibt in seinen Bekenntnissen einen

Stil, der für das späte aufgeblasene Bürgertum kennzeichnend

ist. Daß eine so bedenkliche Gestalt wie Krull so vornehmbürgerlich

spricht, rückt natürlich diese bürgerliche Ausdrucksweise

in ein merkwürdiges Licht. Zugleich aber wird

auch Krull dadurch charakterisiert. So erscheint der ganze

Roman als große Parodie in verschiedener Richtung. Gerade

hier werden auch die bedenklichen Seiten der Parodie deutlich.

Denn man erkennt, daß die Schreibweise Krulls doch

auch die ist, zu der sich Thomas Mann selbst immer entschiedener

entwickelt hat. Es wäre also durchaus möglich, daß wir

hier auch von Selbstparodie sprechen könnten. Wenn aber,

je länger desto mehr, die ganze Art Thomas Manns diese Form

aufweist, bleibt die Frage: Ist dieser Stil gewollt? Dann erscheint

er doch auf die Dauer verkrampft. Ist er unbewußt,

dann offenbart sich hier eine starke Manieriertheit. Auf alle

Fälle: die Gestaltspannung der Parodie hat ihre Grenzen im

künstlerischen Wert.



Die Travestie ist derber, daher tritt die ironische Haltung

zurück. Hier entwickelt sich in der Spannung zwischen

hohem Gehalt und derber Gestaltungsebene kräftige Komik,

indem der Widerspruch zwischen angemaßter Haltung und

ihrer Entlarvung die Dichtung von Anfang bis Ende beherrscht.

So kann Travestie zur dauernden Verspottung des

Hohen werden.



Es war einmal ein großer Held,

Der sich Aeneas nannte;

Aus Troja nahm er 's Fersengeld,

Als man die Stadt verbrannte,
|#f0311 : 295|



Und reiste fort mit Sack und Pack.

Doch litt er manchen Schabernack

Von Jupiters Xantippe.


   (1. Strophe der Aeneis-Travestie von Blumauer)



Der Stilbruch beginnt im ersten Vers mit dem Widerspruch

zwischen dem Märchenanfang und dem Ausdruck »ein großer

Held«. Die Namen Aeneas, Troja und Jupiter schaffen die

hohe Atmosphäre, die sofort durch die anderen Ausdrücke

in die Ebene des Derben eingefügt wird: das Heldische wird

lächerlich gemacht. Die Gefahr besteht, daß damit alles Hohe

verulkt und höchstes Menschliches fraglich gemacht wird,

daß aber zugleich durch diese fortgesetzte Spannung im eintönigen

Rhythmus auch die künstlerische Gestalt selber fragwürdig

wird und daher mit der Zeit eine alles umfassende

Entwertung sich breit macht. Künstlerische Mittel haben hier

ans Ende jeder Kunst geführt.



Gestaltungsformen



Wir versuchen nun zu Dauerprägungen der künstlerischen

Gestalt vorzudringen, zu Typen, die sich in den einzelnen

Kunstwerken jeweils verwirklichen und Gruppen solcher

unter bestimmten Gesichtspunkten zusammenfassen. Wir

gehen also Begriffe an, wie sie unter den Namen Realismus,

Barock, klassisch usw. nur allzu geläufig sind. Man hat geglaubt,

daß an solchen Formen die einzelne Künstlerpersönlichkeit

und die Zeit forme. Das ist aber unvollständig. Neben der

Zeit ist unbedingt auch der Lebensraum wichtig. Wir können

beide unter geschichtlicher Lage zusammenfassen. Dazu

kommt aber noch die Sprache, die weder in die geschichtliche

Lage noch in die Persönlichkeit aufgelöst werden kann, wenn

auch in ihr viel Menschliches und Geschichtliches eingeformt

ist. Die Sprache gibt dem Dichter nicht nur die mannigfaltigsten

Gestaltungskräfte, sie bindet ihn auch, da in ihr das

Weltbild einer Sprachgemeinschaft Gestalt gewinnt und da

sie daher feste Formen aufweist. Auch der Persönlichkeitsbegriff

ist nicht einfach zu fassen. Denn in der Persönlichkeit |#f0312 : 296|



wirken sich, abgesehen von den Bildungseinflüssen der

geschichtlichen Lage, auch die mannigfachen Erbverhangenheiten

aus, die den Menschen wieder weit in die Vergangenheit

zurückbinden.



Bei der Bildung solcher Typen gerät man in eine schwere

Lage. Denn es tut sich ein Widerspruch zwischen Dauertypen

und geschichtlichen Gruppen auf. Schiller hat in seiner bekannten

Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung«

zwei Typen unterschieden: die naiven und die sentimentalischen

Dichter. Damit meint er zeitentbundene, überzeitliche,

ontologische Typen. Zugleich aber gehen in diese

Typen bei ihm auch geschichtliche Betrachtungen und Bindungen

ein. Denn nach Schillers Begriffsbestimmung gibt

es einen geschichtlichen Weg vom naiven zum sentimentalischen

Dichter: Wenn der Dichter infolge der Kulturentwicklung

aus dem Geborgensein in der Natur heraustritt, sich ihr

gegenüberstellt und sie endlich zu einem ersehnten Ideal umformt,

so liegt hier ein geschichtlicher Vorgang vor: die

beiden Typen sind nun auch geschichtlich bestimmt, und es

fehlt nur ein Schritt zur Epochenbezeichnung. Das ist besonders

deutlich bei Begriffen wie Realismus, Idealismus und

Romantik u. ä. Man kann unter diesen Gestaltungsformen bestimmte

geschichtliche Ausprägungen meinen und sie sogar

zeitmäßig abgrenzen: den Realismus in die Mitte des 19. Jahrhunderts,

die Romantik an seinen Anfang, den Idealismus ins

18. Jahrhundert. Aber man meint damit auch dichterische

Grundformen als dauernde Möglichkeiten und ewige Typen,

freilich mit dem Zusatz, daß sie in bestimmten geschichtlichen

Lagen besonders vordrängen. Wir stoßen hier auf eine Urspannung,

die in der menschlichen Welterfassung, im Geist

des Menschen begründet ist. Auf der einen Seite drängt der

Mensch auf das Dauernde: er hebt aus einer Lebenserfahrung

das Wesentliche heraus und vermag es in anderen Situationen

wiederzufinden. Dadurch hat er nicht nur eine Abstraktionsleistung

vollzogen, sondern auch diese neue Situation rascher

und sicherer geistig bewältigt. Die höchsten Leistungen dieser

Art sehen wir in der Logik und Mathematik. Man hat ja geglaubt,

daß etwa in der Urteilslehre dauernde Formen des |#f0313 : 297|



Denkens herausgelöst worden sind, ewige Grundformen

menschlichen Denkens. Die Geschichte der Urteilslehre rät zur

Vorsicht. Genau so erkennt man mit Recht, daß Kunst ins

Wesentliche vorzustoßen versucht, daß Urhaltungen, Ideen,

Dauerprägungen in ihr lebendig werden, daß also auch die

denkbaren Gestaltungsformen dem geschichtlichen Leben enthoben

seien. Und doch: der Mensch ist in jedem Augenblick

ein geschichtliches Wesen, hineingestellt in geschichtliche

Lagen, die sich dauernd ändern. Der Mensch steht vor dauernd

neuen Lagen, und man hat mit Recht gesagt, er bleibe keinen

Augenblick seines Lebens der gleiche. So sind auch seine

Werke in diese Geschichtlichkeit hineingestellt, auch die

Kunstwerke. Eine realistische Prägung sieht im Mittelalter

anders aus als im 19. Jahrhundert und heute schon wieder

anders als vor 100 Jahren. Kann man von Barock auch außerhalb

der bekannten Epoche reden oder von staufischer Klassik,

ohne dabei die Begriffe selbst zu verschieben? Wir können

dieser Spannung nicht entfliehen. Es bleiben in ihr nur zwei

gangbare Wege: man geht von den geschichtlichen Gegebenheiten

einer bestimmten Epoche auch in der Kunst aus und

sucht aus den Verwirklichungen in den einzelnen Kunstwerken

zu den wesenhaften Grundformen vorzustoßen, die zwar

keine Realität haben, aber eine Wirklichkeit in unserem Geiste

bilden und uns helfen, Kunstmöglichkeiten deutlich zu erfassen.

Oder man nimmt von vornherein solche Grundformen

an und schaut, wie sie sich in den einzelnen Epochen und

Kunstwerken verwirklichen.



Bei der Gewinnung solcher Gestaltungsformen bildet der

Grundsatz der Polarität eine Hilfe: jeder reinen, idealen Form

entspricht eine gegensätzliche, die aus der Wesenserkenntnis

der ersten geradezu abgeleitet werden kann. Das gilt besonders

von den Idealen, die in schöpferisch berechtigter Einseitigkeit

von Dichtern aufgestellt oder verwirklicht werden.

Zu jedem solchen findet sich ein Gegenideal. Hier steckt ein

Stück geschichtlicher Dialektik, die dann Hegel zum umfassenden

Weltprinzip gemacht hat. Nur muß man bei solchen

Gegensatzpaaren immer im einmal gezogenen Bereich eines

Kunstgebietes bleiben. Dabei zeigt sich, daß zwei solche |#f0314 : 298|



Gegenideale immer aufeinander angewiesen sind. Etwa so:

die klassische Dichtungsform würde von Erstarrung bedroht

sein, von bloßer Schablone und Mechanismus, wenn nicht

romantische Art auflockerte und Widerpart hielte. Und die

romantische Form würde sich in Willkür und Phantasterei

auflösen, wenn nicht immer wieder das strenge Kunstgesetz

klassischer Prägung dagegen wirkte. Das gilt fürs einzelne

Werk und den Dichter, aber auch für ganze Epochen; dadurch

entsteht ja die geschichtliche Dialektik. Die schöpferischen

Größen gehen über diese Gegensätzlichkeit hinaus,

ihnen gegenüber versagen solche Typen. Man denke an

Shakespeare oder an Goethes »Faust«.



Es ist lehrreich, einige solche Versuche von Gegentypen zu

erwähnen. Man erkennt daran, wie man sich immer auf neuen

Wegen bemüht, den Möglichkeiten dichterischer Gestaltung

nahezukommen. Dabei sind die Einteilungen teils von gestalterischen

Sichten getroffen, teils aber auch vom Gehalt her,

der in den Kunstwerken lebendig wird. Die älteste für uns

noch wichtige ist die schon erwähnte von Schiller. Der naive

Dichter ist noch mitten innen in der Natur, er ist selbst ein

Stück davon. Aus dieser Geborgenheit schafft er. Der sentimentalische

dagegen steht der Natur gegenüber, erhöht sie

dadurch zu einem Ideal und strebt ihm in seiner Kunst entgegen.

Schiller hat in diesen Gegensatz den von Realismus

und Idealismus eingefügt und in beiden Möglichkeiten auch

die Gefahren erkannt: daß der Realist in Plattheit versinke, der

Idealist in Verstiegenheit gerate. Sicher kann man mit diesen

Typen bestimmte Dichtungen charakterisieren. Man erkennt

so den Unterschied zwischen dem einfachen Volkslied und den

Hymnen von Hölderlin, zwischen den Märchen von Grimm

und den Novellen von C. F. Meyer, zwischen den Volksstücken

in der Art der Fastnachtsspiele und den Dramen

Schillers. Die Romantiker haben in ihren theoretischen Darlegungen

klassische und romantische Dichtung unterschieden,

zum erstenmal eindringlich dargestellt in den Berliner Vorlesungen

A. W. Schlegels. Klassische Dichtung richtet sich

nach den großen Beispielen der Antike aus, romantische geht

auf die Volksgrundlagen der abendländischen Kultur zurück.

|#f0315 : 299|



Sehr bekannt ist die Typologie Wölfflins geworden, die er

zunächst für die bildenden Künste der Renaissance und des

Barock aufgestellt hat; er hat diese beiden Gestaltungsformen

durch folgende fünf Gegensatzpaare zu kennzeichnen versucht,

wobei die erste Kennzeichnung immer die Renaissance trifft:

linear ─ malerisch, flächenhaft ─ tiefenhaft, geschlossene Form

─ offene Form, vielheitlich ─ einheitlich, absolute Klarheit ─

relative Klarheit. Man hat versucht, diese Typen auf die Dichtung

anzuwenden (Walzel). Man hat auch Zusammenfassungen

vorgenommen, die der Dichtung eher angepaßt sein

sollen: Spoerri hat die beiden ersten Paare unter Begrenzung

und Auflösung zusammengefaßt, die beiden letzten unter

Bindung und Lösung und das mittlere als Gliederung und

Verschmelzung bezeichnet. Die verschiedenen Möglichkeiten

schon des Aufbaus einer Dichtung könnten sicher oft

mit diesen Begriffspaaren gefaßt werden. Es bleibt immer die

Frage, ob dabei nicht das spezifisch Dichterische, das auf der

Sprachkunst gründet, verwischt wird.



Wenn wir versuchen, auf eigenen Wegen zu Typen der

Gestaltungsformen zu kommen, muß zunächst festgehalten

werden, daß es kein geschlossenes und strenges System gibt.

Daher muß man die Möglichkeiten von verschiedenen Seiten

her beleuchten. Man hat zu beachten, wie der Bezug zur

außersprachlichen Wirklichkeit gestaltet ist, wie die Verwesentlichung

durchgeführt wird, welches Weltbild geformt

wird, wie die sprachkünstlerische Formung durchgeführt

wird, wie der Aufbau aussieht und welche Gestaltungsebene

zugrunde liegt. Also auf eine Fülle von Formzügen hat man zu

achten, will man zu umfassenden und eindringlichen Formen

gelangen.



Wir wollen zwei Typenpaare auseinanderhalten und genauer

betrachten: Das eine ist Idealismus und Realismus.

Diese Formen entfalten sich dann in bestimmte Unterarten.

Das andere Typenpaar ist: Klassik und ihre Gegenrichtungen.

Es wird sich zeigen, daß man tatsächlich zu Klassik nicht

einen Gegentypus aufstellen kann, sondern daß hier mehrere

als Gegenideale in Frage kommen.



Wir beginnen mit dem Gegensatz Idealismus ─ Realismus. |#f0316 : 300|



Unter dem bedenklichen, weil sehr vielsinnigen Wort Idealismus

verstehen wir eine dichterische Gestaltung, in der sich bis

in die einzelnen Züge der Geist als das schöpferische und gestalterische

Prinzip kundtut, sich alles andere unterordnet.



Ich kenne dich, ich kenne deine Schwächen,

Ich weiß, was Gutes in dir lebt und glimmt!

─ So sagte sie, ich hör sie ewig sprechen, ─

Empfange hier, was ich dir lang bestimmt!

Dem Glücklichen kann es an nichts gebrechen,

Der dies Geschenk mit stiller Seele nimmt:

Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit,

Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit.


   (Goethe, Zueignung)



Selbstverständlich können nicht alle Züge zwanglos aus einem

Beispiel abgelesen werden. Das erste, was wir immer beachten

wollen, ist das Verhältnis zur außersprachlichen Wirklichkeit.

Wir wissen bereits, daß ohne Bezug auf sie, auch wenn er

noch so vage zu sein scheint, Dichtung jede Sinnmöglichkeit

verliert, schon aus dem Grunde, weil ja die Worte der Sprache

diesen notwendigen Bezug haben. Aber es fragt sich immer,

welchen Ausschnitt aus der ihn umgebenden Wirklichkeit der

Dichter erlebt und gestaltet. Denn daß nur ein Ausschnitt

gegeben wird, ist klar. Die Landschaft, die Goethe in der

Zueignung gestaltet, die Vorgänge in ihr und die Gestalten,

die auftreten, gehören einer gehobenen Wirklichkeit an: es

ist eine schöne Landschaft, die nicht in alle Einzelheiten zergliedert

wird, wenig Gestalten, hier im Gedicht nur zwei,

und man erlebt deutlich, wie der Dichter aus einer gesicherten

geistigen Haltung dazu Stellung nimmt, daß er der außersprachlichen

Wirklichkeit innerlich sicher gegenübersteht,

daß er sie geistig beherrscht und gestaltet. Dadurch gewinnt

aber die erfaßte Wirklichkeit in der sprachlich-geistigen Gestalt

eine Einheit, sie erscheint als zusammenhängendes Gebilde,

weil sie eben durch einen geistigen Akt als ein Ganzes

erfaßt und gestaltet ist.



Damit schon ergibt sich, daß in solcher künstlerischer Form

die Verwesentlichung sehr deutlich und weitgehend ist; wir

spüren, daß mit all den Bildern und in der Aussage überhaupt |#f0317 : 301|



nicht das Einmalige, das an die außersprachliche Wirklichkeit

Gebundene das Wichtige ist, sondern was sich dahinter an

Wesenhaftem eröffnet. Am schönsten prägt es sich hier in

dem großen Symbol am Ende der zitierten Verse aus: der

Dichter dringt hier zu einem ewigen Bild vor, in dem er die

scheinbar auseinanderliegenden Bereiche der Dichtung und

Wahrheit in eins bindet, eine Ganzheit schafft, die sich in verschiedenen

Sichten entfaltet. Wie es zu dieser Verwesentlichung

kommt, werden wir gleich bei Betrachtung der

sprachkünstlerischen Züge sehen.



Das Weltbild einer idealistischen Dichtung in unserem

Sinn ist vom Geistigen her geformt und stellt die Welt, soweit

sie eben in der Dichtung in Erscheinung tritt, als ein

Ganzes dar. Trotz der Fülle der Einzelheiten und Stilschichten,

der Handlung und der Weltausschnitte ergibt sich in Goethes

Faustdichtung doch ein ganzheitliches Weltbild; das erreicht

der Dichter vor allem dadurch, daß er das ganze irdische

Leben Fausts in einen größeren Zusammenhang einordnet,

in ein Überirdisches fügt. Im Prolog im Himmel und in

Fausts Himmelfahrt am Ende der Dichtung wird diese überwölbende

Einheit Gestalt.



Der Sprachstil der idealistischen Gestaltungsform zeigt zunächst

schon im Wortschatz die Höhenlage gegenüber der

außersprachlichen Wirklichkeit: Die Worte umgreifen einen

weiten Gehalt, der nicht auf Einzelheiten eingeht: Gutes,

ewig, leben, Geschenk, stille Seele, besonders eindringlich

aber in den letzten zwei Versen. So kommt es, daß die sprachlichen

Bilder hohe Bereiche gestalten. Der Satzbau ist weit

und innerlich reich, aber klar gefügt, ein ruhiger Rhythmus

durchströmt das Ganze, die Sprache setzt alle ihre Möglichkeiten,

auch der Lautung, ein, sachdarstellerische Haltung

tritt ganz zurück. Der Bau ist reich gegliedert, aber geschlossen.

Das wird in unserem Beispiel durch den strengen Strophenbau

erreicht, in dem die Reime immer die Verspaare

übergreifen und das letzte Verspaar auch als Reimpaar einen

deutlichen Abschluß bildet. Aus allem Bisherigen, zumal dem

über die Sprache Gesagten, ergibt sich eine erhabene Gestaltungsebene,

die jede solche Dichtung durchwegs bestimmt; |#f0318 : 302|



kleine Einsprengsel anderer Ebenen sind in größeren Dichtungen

möglich, besonders wird sich die mittlere manchmal

finden, damit die erhabene nicht durch die Dauer gedrückt

wird.



Eine Sonderart der idealistischen Gestaltungsform liegt besonders

dann vor, wenn alle diese Züge bewußt herausgearbeitet

sind; wenn vor allem eine strenge Auslese aus der

Wirklichkeit in die Dichtung eingeformt ist, wenn die Verwesentlichung

durch reiche Symbole stark betont wird und

wenn vor allem die Sprache strenge Distanz von allem zu

Wirklichkeitsnahen hält. So ergibt sich von selber strenge

Geschlossenheit der Anlage und erhabene Ebene. Es ist das

der Symbolismus, der ja auch geschichtlich als Gegenbewegung

gegen den Naturalismus auftritt. Die folgenden Verse aus

Stefan Georges »Jahr der Seele« zeigen besonders deutlich,

wie auch Alltagsgegenstände, die ins Gedicht eingeformt

sind, alles Irdische und zu Nahe abstreifen und beinahe wie

Wesenheiten wirken; der Dichter erreicht das durch die Gepflegtheit

der Satzführung, durch den Wortzusammenklang

in den Bildern und durch die volle Lautung.



Du willst am mauerbrunnen wasser schöpfen

Und spielend in die kühlen strahlen langen.

Doch scheint es mir du wendest mit befangen

Die hände von den beiden löwenköpfen.


Den ring mit dem erblindeten juwele

Ich suchte dir vom finger ihn zu drehen.

Dein feuchtes auge küßte meine seele

als antwort auf mein unverhülltes flehen.



Der idealistischen steht die realistische Gestaltungsform

gegenüber. Selbstverständlich gibt es Übergänge. Aber gerade

solche lassen sich in ihrer künstlerischen Struktur erkennen,

wenn man sieht, wie Züge der einen und der anderen

Form verflochten sind. Der Begriff des Realismus ist besonders

unklar. Denn die einen sprechen davon im Blick bloß auf die

gestaltete Welt, die anderen im Blick auf bestimmte Gestaltungszüge

in der Sprache und im Aufbau. Daß zwischen

beiden Zusammenhänge bestehen, ist klar. Zunächst ein

Beispiel aus M. von Ebner-Eschenbachs »Gemeindekind«: |#f0319 : 303|



»Der Auszug der Ziegelschläger fand statt. An der Spitze schritt

das Oberhaupt der Familie in knapp anliegender ausgefranster

Leinwandhose, in zerrissener blauer Barchentjacke. Er hatte

den durchlöcherten Hut schief aufgesetzt; sein rotes, betrunkenes

Gesicht war gedunsen; seine Lippen stießen Flüche hervor

gegen den Pfaffen und die Pfaffenknechte, die ihn um

sein redliches Broterwerb gebracht.«



Es ist sofort deutlich, daß die Dichterin einen ganz anderen

Ausschnitt aus der Wirklichkeit erfaßt und gestaltet: es ist

eine außersprachliche Wirklichkeit des gewöhnlichen Alltags,

die aus aller Nähe sprachlich geprägt wird. Das zeigt der

Wortschatz sofort. Das gewöhnliche Leben gewöhnlicher

Menschen stellt die Dichtung dar, sogar mit einem Zuge ins

Soziale, d. h. die Spannung der Schichten wird fühlbar in

solcher Darstellung. Der Satzbau ist einfach, beinahe hart.

In vielen Darstellungen dieser Form ─ besonders in Erzählungen

─ werden Teile sachdarstellerischer Haltung eingefügt.

Dabei fällt auch an der angeführten Stelle auf, daß

die sprachlichen Bilder nicht eng zusammengefügt sind, nicht

zu einer höheren Einheit zusammenwachsen, sondern mehr

locker nebeneinander stehen: man beachte, wie der Ausdruck

»das Oberhaupt der Familie« beinahe hart an das folgende

stößt; besonders deutlich ist das beim Übergang vom gedunsenen

Gesicht zu den Flüchen, die die Lippen ausstoßen. Das

verrät nicht bloß eine gewisse Lockerung im Aufbau, der

eben da und dort Züge aus dem Alltagsleben herausgreift

und nebeneinanderstellt, sondern auch, daß durch die Nähe

zur Alltagswirklichkeit sich vor allem die Einzelheiten aufdrängen

und der Überblick übers Ganze eher zurücktritt.

Damit haben wir nun zwei Züge erkannt, die dem Realismus

wesentlich sind: 1. ein anderer Ausschnitt aus der außersprachlichen

Gesamtwirklichkeit, nämlich einer, der den Alltag

und gewöhnliche Menschen herausgreift, und 2. eine

größere Blicknähe zu dieser Wirklichkeit. Dadurch ergeben

sich zwangsläufig erste Merkmale der künstlerischen Gestaltung:

Blicknähe zum Gewöhnlichen läßt die geistige Herrschaft

im Gestalten eher zurücktreten, damit verliert sich

auch etwas die strenge, wenn auch reichgefüllte Geschlossenheit. |#f0320 : 304|



Das prägt sich im Aufbau deutlich aus. Die Nähe zur

Alltagswirklichkeit aber mit dem Zurücktreten geistigen Gestaltungsanspruchs

gegenüber intensivem Versenken muß

sich in der Dichtung unmittelbar in der Sprache auswirken.

Der Wortschatz ist anders, eben entsprechend dem Wirklichkeitsausschnitt

und der inneren Haltung, mit der man diesem

begegnet: es ist die Haltung entweder des liebevollen

Versenkens oder der starken Berührtheit von der brutalen

Nähe. So erwachsen ganz andere sprachliche Bilder, ergibt

sich ein anderer Satzbau.



Die Alltagsnähe in der sprachlichen Gestaltung führt auch

dazu, daß der Verwesentlichung eine andere Rolle zukommt.

Gewiß prägen sich auch hier in der Dichtung Wesenszüge

des Erlebten aus, aber es liegt hier das Wesen eben gerade im

Alltäglichen: das Nahe, das Gewöhnliche, ja schon das Derbe

soll nicht idealistisch überhöht und überwunden werden durch

höhere Wesensbereiche, sondern eben in seiner Art, in seinem

Dasein lebendig werden. Gewiß dringt der realistische Dichter

aus seiner Einstellung heraus nicht mehr so intensiv und

direkt zur Wesensgestaltung vor, aber auch hier muß sie ─ gemäß

dem Wesen der Dichtung ─ da sein, auf anderer Ebene;

diese Verdichtung des Alltäglichen und Nahen in seinem

Wesen ohne Verbrämung zeigt aber zugleich, daß auch hier

eine Auswahl aus der Welt um uns dichterisch gestaltet wird.

Man kann in eine Welt, wo das Gemeindekind leben muß,

nicht auch die einbauen, die eine »Iphigenie« ausformt oder

Eichendorffs »Ahnung und Gegenwart«.



Die realistische Gestaltung, wie wir sie jetzt beschrieben

haben, erweckt vielfach den Eindruck, als ob erst sie die

Wirklichkeit, wie sie ist, vor uns hinstelle. Das kommt aus

unserer Einstellung zum Begriff der Wirklichkeit, dem

immer etwas Erdnahes anhaftet, und aus der Meinung,

Dichtung könne in Sprache Wirklichkeit vortäuschen. Daß

das nicht ihr Sinn sein kann, ergibt sich schon daraus, daß es

der Sinn der Kunst doch niemals ist, Ersatz, und hier sogar

sehr kläglichen Ersatz, für etwas zu bieten, was man anderweits

besser haben kann. Diese Einsicht steckt immerhin

schon im Ausdruck von einer Als-Ob-Wirklichkeit im |#f0321 : 305|



Realismus. Solche Einstellungen verbauen den Blick auf die

Tatsache, daß sich auch idealistische Dichtung zur Wirklichkeit

in bezug setzen muß ─ wie erregend diese Wirklichkeit

ist, könnte man an Goethes »Tasso« zeigen. Aber eben die

zwei Tatsachen eines anderen Ausschnitts aus der Wirklichkeit

und einer betonten Nähe zu ihr, die die Struktur der

künstlerischen Gestaltung verschiebt, zeichnen den Realismus

aus. Daß sich aus allem andere Gestaltungsebenen ergeben,

ist selbstverständlich: hier kommt die derbe, aber

immerhin noch in gedämpfteren Graden, und die mittlere

zu ihrem Recht.



Wie der Symbolismus eine besondere Ausformung der

idealistischen Gestaltungsform ist, so sind der Naturalismus

und der Impressionismus Abarten des Realismus. Der Naturalismus

ist eine Übersteigerung des Realismus. Er steigt beim

Ergreifen der außersprachlichen Wirklichkeit in noch tiefere

Bereiche hinab, betont damit noch mehr soziale Spannungen

und rückt noch mehr in die Blicknähe der Dinge. Durch diese

Nähe geht die übersichtliche Einheit verloren, der Bau lockert

sich. Die sprachliche Gestaltung entspricht: der Wortschatz

greift die erlebte Welt der unteren Bereiche heraus; daher

finden wir grobe Worte, Mundartausdrücke, die jede Rücksicht

auf gesellschaftliche Konvention vermissen lassen. Der

Satzbau gibt die Redeweise der unteren Schichten wieder:

Satzbrüche, Wiederholungen, unvollendete Satzbrocken.

Die Naturalisten vertreten die Ansicht, daß sie die richtige

Welt, so wie sie ist, darstellen. Daher findet sich aus diesem

»Richtigkeits«-Streben auch sachdarstellerische Haltung in

solchen Dichtungen; sie hat also hier eine bestimmte künstlerische

Aufgabe. So rückt der echte Naturalist vom künstlerischen

Streben nach reiner Formung ab. Aber auch hier

gelten die gleichen Beobachtungen wie beim Realismus: auch

die vom Naturalismus gestaltete Wirklichkeit ist ein Ausschnitt;

denn so einseitig die Welt der »Iphigenie«, so einseitig

auch die der »Weber«. Und auch hier handelt es sich

nicht um sprachliche »Photographie«, sondern um Gestaltung,

die, wenn auch im engen Rahmen, zur Verwesentlichung

drängt. Denn auch diese Kunst will ja gerade solche Wirklichkeit |#f0322 : 306|



und solche soziale Lage als das Wesentliche hinstellen,

sie setzt dafür künstlerische Mittel ein, die sie vielfach erst

selbst bereitstellt, also rückt sie von der Dichtung als kunstvoller

Gestaltung mit vorgegebenen sprachlichen Formen ab.



Der Impressionismus hat zunächst mehr Beziehungen zum

Realismus: auch er gestaltet dieselbe außersprachliche Wirklichkeit

in dichterische Form um wie der Realismus, auch er

rückt diese Wirklichkeit sehr nahe. Aber hier setzt die entscheidende

Eigenart ein. Dieses Näherrücken wird noch gesteigert

und vor allem: der Dichter gestaltet die ganz persönlichen

Eindrücke, die er von dieser nahen Welt empfängt.

Er verzichtet auf die vom Naturalismus geforderte, aber

falsch gedeutete objektive Richtigkeit, er gibt bewußt die

Wirklichkeit als Reihung einer Fülle von subjektiven Eindrücken;

auch hier also eine Lockerung des strengen Aufbaus,

der seine Ganzheit erst in der Summe aller Eindrücke empfängt;

diese Ganzheit ist möglich, weil hier nun die Persönlichkeit

des Gestalters stark miteingeht in die Formung und

daher eine deutliche innere Einstellung, eine durchgehende

Stimmung das Ganze durchzieht. Zugleich muß auch der

Impressionismus von der Formung durch vorgegebene sprachliche

Bilder, durch Schablonen abrücken; er bringt eine große

Bereicherung der sprachlichen Möglichkeiten besonders in

der Richtung auf höchst persönliche Gestaltung. Das Eindruckswort

schafft neue Stilwerte. »Ihr lichtbraunes Haar,

tief im Nacken zu einem Knoten zusammengefaßt, war glatt

zurückgestrichen, und nur in der Nähe der rechten Schläfe

fiel eine krause, lose Locke in die Stirn, unfern der Stelle,

wo über der markant gezeichneten Braue ein kleines seltsames

Äderchen sich blaßblau und kränklich in der Klarheit

und Makellosigkeit dieser wie durchsichtigen Stirn verzweigte.

Dies blaue Äderchen über dem Auge beherrschte auf eine

beunruhigende Art das ganze feine Oval des Gesichts«

(Th. Mann, »Tristan«). Aber trotz dieser Fülle von nahen

Einzelheiten ist auch hier der Zug zur Verwesentlichung da,

nur daß eben der Impressionismus das Wesen irgendwo

anders sieht: in der intimen Begegnung von Mensch und

Welt; das Wesen liegt hier im Zusammenklang von bewältigter |#f0323 : 307|



außersprachlicher Wirklichkeit und persönlicher Einfühlung,

persönlich wirkender Fülle. Daher entsteht das Verschwimmen,

die Kunst der unmerklichen Übergänge, der

Schattierungen, die nur mehr in Gegensätzen oder in einer

Fülle von Eindrücken sprachlich umgriffen werden können.

In dieser verschwebenden Fülle liegt das Wesen nicht einer

Welt, sondern einer ganz subjektiven Weltbegegnung. Aber

wieder wird hier deutlich, wie solche Gestaltungsformen aus

der Grundhaltung des Gestalters immer neue sprachliche

Möglichkeiten herausformen und ausbilden.



Was wir als klassische Gestaltungsform und ihre Gegenformen

bezeichnen, deckt sich in vielem mit Zügen, die wir jetzt

herausgearbeitet haben. Denn es handelt sich jetzt um andere

Sichtweisen auf die dichterischen Formen als früher. War bei

der Frage nach dem Unterschied von Idealismus und Realismus

vor allem der Ausschnitt aus der Wirklichkeit und das

dichterische Verhältnis zu ihm der Ausgangspunkt, so rückt

jetzt mehr der Blick auf künstlerische Grundgesetze und ihre

Allgemeingültigkeit in den Vordergrund. Vor allem sei

nochmals betont: aus dem Wesen des Klassischen ergibt

sich, daß man kaum mit einem Gegenbild auskommt, wenn

man es nicht rein negativ als das Gegenklassische oder Nichtklassische

bezeichnen will.



Der Ausdruck »klassisch« hat eine lange Geschichte. Lat.

classicus bedeutet zunächst einen Bürger der höchsten, für

die Erhaltung der Flotte zuständigen Steuerklasse. Schon im

späten Rom gewinnt daraus das Wort die Bedeutung »hervorragend«,

»vorbildlich«. So entsteht dann die Bildung

»autores classici«: vorbildliche Schriftsteller. Endlich entsteht

das Wort Klassik. Es ist selbst heute durchaus nicht einheitlich

gebraucht. Es hat einen geschichtlich bedingten Sinn und

meint zunächst alle Dichtung, die eine höchste Entfaltung

schöpferischer Kräfte einer Nation in Auseinandersetzung mit

und Einverleibung von antiker Kultur darstellt. Fällt dieser

Bezug zur antiken Kultur fort, dann bleibt das Wort für jede

Höchstentfaltung schöpferischer Kräfte eines Volkes, endlich

versteht man darunter hervorragende Schriftsteller, auch

solche, die, wie man einmal witzig bemerkte, die Schutzfrist |#f0324 : 308|



von 50 Jahren überdauern. Auch auf die anderen Künste

wird das Wort übertragen. Endlich bildet sich aus dieser

Auffassung eine Art Norm, eine Gestaltungsform.



Diese Gestaltungsform ist zunächst ganz allgemein charakterisierbar

durch die Ausrichtung nach absoluten, überlieferten

Kunstgesetzen, also durch starken Anteil des Kunstverstandes

im schöpferischen Vorgang, in der künstlerischen

Form selbst durch Harmonie und Fülle. Im einzelnen lassen

sich für klassische Dichtung im Sinne einer allgemeinen Gestaltungsform,

wie sie sich im Abendland herauskristallisiert

hat, folgende Züge festhalten. Solche Dichtung greift aus

der außersprachlichen Wirklichkeit nur Ausschnitte heraus,

die höherer, schon mehr geistiger Art sind. So umfaßt auch

der Wortschatz, vor allem was die Sinnträger anbelangt,

das Hohe, Edle, aber auch das Furchtbare, Bedrohliche. Die

Verwesentlichung spielt hier eine ganz entscheidende Rolle.

Das Besondere, Einmalige wird unmittelbar als Verwirklichung

des Wesenhaften, Dauernden gestaltet; damit steigert

sich das Individuelle zum Typischen. Die Personen in Goethes

»Iphigenie« sind durchaus greifbare Menschen, aber doch so

geformt, daß in ihnen sofort bestimmte menschliche Züge

und Schicksale dauernder Art lebendig werden. Natur und

Geist bilden in solchem Weltbild eine Ganzheit, zwei

Sichten gleichsam desselben Ewigen. Das wird künstlerisch

dadurch lebendig, daß die Worte nie zu sehr in ganz konkrete,

einmalige Zusammenhänge eingefügt sind, sondern

immer durch den sprachlichen Zusammenhang gerade das

Dauernde, Allgemeine in ihrem Gehalt durchwirken lassen,

daß sich aus bestimmten Situationen immer der Blick ins

Allgemeine, Dauernde erhebt. Der künstlerische Aufbau

einer klassischen Dichtung ist wohl überdacht, nicht bloß

impulsiv. Die Glieder sind klar abgehoben und entwickeln

ihre eigene Art; da sie aber alle dem Gesetz der Verwesentlichung

gehorchen, bilden sie doch eine harmonische Einheit,

aber eben nun in Fülle. Sehr klar sagt Staiger: »Klassisch

ist im Sinne Goethes die Einigung von Natur und Kunst,

die selten erfüllte Möglichkeit, daß der Geist des Künstlers

ebenso schafft wie die unbewußt schaffende Natur. Klassisch |#f0325 : 309|



ist die Einigung des Spontanen, des unmittelbaren Impulses

und wohlüberdachter Planmäßigkeit, des Besonderen und

des Allgemeinen, Willkürlichen und Gesetzlichen, jene

Einigung also, die sich am deutlichsten in der klassischen Sitte

bewährt, wo alles, was die Pflicht gebietet, aus Neigung, aus

Liebe geleistet wird. Und klassisch ist die Steigerung des individuellen

Daseins zum Typus, so daß der einzelne Künstler

zum Repräsentanten des ganzen Geschlechts wird.« Vollendet

scheint das Klassische in allen seinen Zügen in der folgenden

Stelle der »Iphigenie«: in der Fülle und Harmonie der sprachlichen

Bilder, in der erhabenen Gestaltungsebene, die natürlich

dem Klassischen zukommt, in der breiten Bewegung, im

Lebendigen, in der Verschmelzung des Konkreten und des

Wesenhaften:



Ihr Götter, die mit flammender Gewalt

Ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt

Und gnädig-ernst den lang' erflehten Regen

Mit Donnerstimmen und mit Windesbrausen

In wilden Strömen auf die Erde schüttet,

Doch bald der Menschen grausendes Erwarten

In Segen auflöst und das bange Staunen

In Freudeblick und lauten Dank verwandelt,

Wenn in den Tropfen frisch erquickter Blätter

Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt

Und Iris freundlich bunt mit leichter Hand

Den grauen Flor der letzten Wolken trennt:

O laßt mich auch in meiner Schwester Armen,

An meines Freundes Brust, was ihr mir gönnt,

Mit vollem Dank genießen und behalten!

Es löset sich der Fluch, mir sagt's das Herz.

Die Eumeniden ziehn, ich höre sie,

Zum Tartarus und schlagen hinter sich

Die ehrnen Tore fernabdonnernd zu.

Die Erde dampft erquickenden Geruch

Und ladet mich auf ihren Flächen ein,

Nach Lebensfreud und großer Tat zu jagen.


   (Schluß dritter Aufzug)



Mit Recht wird beobachtet, daß solche klassische Kunst

nur immer in wenigen höchsten Augenblicken gelingt.

Wenn aber versucht wird, diesen Augenblicken Dauer zu

verleihen, werden aus den schöpferischen Leistungen Normen |#f0326 : 310|



abgeleitet: aus der Idealklassik, wie sie E. R. Curtius

nennt, entsteht eine Normalklassik. Wenn diese Normen aus

der antiken Kunst herkommen, wenn der Kunstverstand

ausdrücklich bemüht wird, ihnen zu folgen, wenn nach genauen

Regeln gearbeitet wird, so sprechen wir von Klassizismus.

Mit ihm entstehen künstlerische Gefahren, denen eben

jede Klassik auf die Dauer ausgesetzt ist: die Erstarrung und

die Banalität.



Gerade aus solchen Gefahren erwächst die Gegenkraft,

setzt sich immer wieder eine andere Gestaltungsform als

Gegenschlag durch. Man betont heute als Gegenform gegen

das Klassische den Manierismus. Ursprünglich sah man ihn

als Entartung des Klassischen. Mit der Zeit bildete er eine

bestimmte Epoche in den bildenden Künsten, die Zeit nach

Raffael. Man denkt heute dabei auch an die Literatur. Curtius

versucht, den Ausdruck zur umfassenden Bezeichnung alles

Gegenklassischen zu erweitern. So würde der Manierismus

zu einer Konstante in der europäischen Kunst. Doch kann man

wohl kaum Barock, Romantik, Expressionismus usw. alle

ohne Gezwungenheit unter diesen Begriff ordnen. Denn

Manierismus hat doch einen klar und deutlich umschriebenen

Gehalt, so daß er besser für eine bestimmte Art gegenklassischer

Gestaltungsform verwendet wird. Was den Manierismus

als umgrenzbare Gestaltungsform kennzeichnet, ist die

Tatsache, daß hier nicht nach allgemeingültigen Normen

gestaltet wird, sondern daß persönlicher Ausdrucksdrang zugrundeliegt.

Das gilt für alle antiklassischen Formen. Dem

Manierismus eignet es, daß er diesen persönlichen Ausdrucksdrang

mit herkömmlichen, zur Verfügung stehenden Formeln,

Gebilden gestalten will. Er verwendet Kunstformen

willkürlich, nach persönlichem Geschmack und aus einer

ganz einmaligen inneren Haltung. Das führt leicht dazu,

daß nun solche Formen verzerrt werden, daß der Mensch

mit ihnen sein Spiel treibt. In diesem persönlich-willkürlichen

Einsatz überlieferter Gebilde zum persönlichen Ausdruck hat

man wohl das Wesentliche des Manierismus zu sehen.



Eine solche grundlegende Haltung wirkt sich nun im

ganzen eines Kunstwerks aus. Auch ihr entspricht die Ergreifung |#f0327 : 311|



eines bestimmten Weltausschnitts. Solche Willkür

der Formenverwendung führt dazu, auch die außersprachliche

Wirklichkeit willkürlich zu erfassen. Der Manierist

sieht die Dinge vielfach anormal, anders als andere. Von hier

führt der Weg zum Grotesken, das gerade in manieristischen

Kunstbereichen immer wieder auftaucht. Der Manierist

greift vor allem das Schreckhafte, das Verzerrte heraus und

sieht es in die gebotene Welt hinein. Die Übersteigerungen

und Verzerrungen in der Gestaltung der Wirklichkeit führen

zu wilden Ausschreitungen, zum Pornographischen, zu

Pansexualismus. Aber immer wieder erkennt man dabei, wie

überlieferte Formen eingesetzt oder umgeformt, oft auch

reformiert werden. Die Welt erscheint in solcher Kunst als

Labyrinth, nicht mehr als Harmonie wie in der Klassik. Die

manieristische Sprachkunst besteht vor allem aus einer Anhäufung

der rhetorischen Schmuckformen. Die Metaphern

sind auffällig und gesucht. Im spanischen Barock verwendet

man das Wort »wassersüchtig« für geistige Aufgeblasenheit,

vergleicht das Zitherspiel dem Vogelgesang. Man liebt Lautspiele

aller Art. Zum Beispiel läßt man in einem Vers alle

Worte mit dem gleichen Laut beginnen. Das tat schon der

alte Römer Ennius:



O Tite, tute, Tati, tibi tanta, tyranne, tulisti.


Das Tollste leistete sich der Mönch Hucbald. Er schrieb ein

Loblied auf die Kahlköpfigkeit, das er an Karl den Kahlen

richtete; in allen 146 Versen beginnt ─ zu Ehren des Königs ─

jedes Wort mit c! Es gibt eine Fülle solcher Sonderbarkeiten.

Besonders wichtig sind die Gedankenspiele. Man spitzt einen

Gedanken auf ausgesuchteste Weise zu. So bilden sich die

Formen des Epigramms, die französische Pointe; italienisch

nannte man solche Zuspitzungen Concetti. Daraus entwikkelte

sich die Manier des Konzeptismus im 17. Jahrhundert.

Gepflegter, vornehmer Ausdruck war die Grundlage für

solche zugespitzte Bilder. Daher spricht man in Spanien von

Kultismus. In solcher Stilgebung nannte man den Stuhl die

Annehmlichkeit der Konversation; Philipp Zesen hat in der

deutschen Dichtung diese Formen gepflegt. Auch der Aufbau |#f0328 : 312|



der Gedichte zeigt da oft ganz streng durchdachte Anlageformen.

E. R. Curtius nennt eine solche das Summationsschema:

es werden bestimmte Feststellungen aneinander gereiht

und am Schluß in knapper Wiederholung der Aussagen

die Summe gezogen. Berühmt ist der Eingangsmonolog in

Calderóns »Das Leben ist Traum.« Aber es gibt auch in der

deutschen Literatur ein schönes Beispiel, Grillparzers »Abschied

von Gastein«. In der ersten Strophe preist der Dichter

die schönen Tage von Gastein, wo ihm vergönnt war, von

den Qualen des Dichtens auszuruhen. Damit ist das Thema

angeschlagen: Dichten ist Leiden, gibt aber anderen Freude.

Das führt nun der Dichter in den drei Mittelstrophen an drei

Vergleichen aus: der vom Blitz getroffene Baum bietet ein

herrliches Schauspiel, das Leiden des Perlentieres bringt die

schöne Perle hervor, das Zerbrechen und Zerstäuben des

Wasserfalles erfreut in seinem Farbenspiel. Und nun folgt

in der letzten Strophe die Zusammenfassung:



Der Dichter so: wenn auch vom Glück getragen,

Umjubelt von des Beifalls lautem Schall,

Er ist der welke Baum, vom Blitz geschlagen,

Das arme Muscheltier, der Wasserfall;

Was ihr für Lieder haltet, es sind Klagen,

Gesprochen in ein freudenleeres All,

Und Flammen, Perlen, Schmuck, die euch umschweben,

Gelöste Teile sinds von seinem Leben.


Was dieses Schema von der klassischen Anlage unterscheidet,

ist die streng rationale Durchführung im Gehalt, in der festgehaltenen

Parallelität, in der logischen Verbindung und Einführung

der Zusammenfassung. Man spürt den Reiz und

die Freude am einwandfrei durchgeführten Schema.



Zum Unterschied von der klassischen Gestaltungsform

wechselt der Manierismus die Gestaltungsebenen; er bewegt

sich auf allen dreien. Die Barockdichtungen manieristischer

Prägung sind meist erhaben, manche Gedichte, die durch ihre

Spitzfindigkeiten glänzen, sind sonst mittlerer Art, aber auch

auf die derbe Ebene steigt der Manierismus herunter, wenn

er die schon erwähnten Auswüchse gestaltet, wenn das Groteske

in bestimmten Formen vorbricht.

|#f0329 : 313|



Auch dem Manierismus drohen Gefahren in der Übersteigerung

seiner Grundsätze. Das übertriebene Spiel mit

Kunstformen und formalen Kunststücken kann zur Auflösung

jeder großen Linie führen, das Herausarbeiten des

Abnormalen, das Umbiegen alles Normalen ins Deformierte

kann auch in völligem Irrsinn enden. Klassische Kunstgesetzte

und die mit ihnen verbundene Weltschau bieten dann einzig

Rettung.



Man hat den Manierismus als Gestaltungsform dem Barock

übergeordnet. Aber es scheint doch wesentliche Unterschiede

zwischen beiden zu geben. Freilich muß beachtet werden,

daß der Barock doch vor allem eine geschichtliche Kunstform

ist. Aber einige Züge gehen über das Historisch-Einmalige

hinaus, so daß man bis zu einem gewissen Grade auch

den Barock in der Dichtung als typische Gestaltungsform ansehen

kann. Wir greifen hier besonders die Züge heraus, die

ihn vom Manierismus abheben. Aber es bleibt zu beachten,

daß beide manches Gemeinsame haben, so daß gerade in

diesem Bereich die Verflochtenheit zwischen allgemein Typischem

und Historischem sehr dicht ist. Die Wirklichkeit

wird im Barock vor allem im Hinblick auf das Jenseitige

gesehen. Also wieder ein Ausschnitt, der danach bestimmt ist,

ob das Stück Wirklichkeit zum Jenseits in Bezug gesetzt

werden kann: als Gegensatz oder als Ausfluß oder als Symbol.

Die Spannung zwischen dem Diesseits und Jenseits, wie sie

besonders deutlich immer wieder in den Sonetten von Gryphius

heraustritt, bestimmt das Weltbild. Aber auch der Zug

der Verwesentlichung bekommt so seine ausgeprägte Art.

Eben im ständigen Hinblick auf das Jenseitige, in dem erst

das Wesen sich offenbart, haben wir sie in barocker Dichtung

zu sehen. So können Sprüche des Angelus Silesius hier beispielhaft

stehen:



Ich selbst bin Ewigkeit, wenn ich die Zeit verlasse

Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.


Die Seel ist ein Kristall, die Gottheit ist ihr Schein;

Der Leib, in dem du lebst, ist ihrer beider Schrein.


Mensch, werde wesentlich; denn wann die Welt vergeht,

So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.
|#f0330 : 314|



In diesem Weltbild liegt auch der Sprachstil des Barock begründet.

In der Spannung von Diesseits und Jenseits ist einerseits

das Statische, anderseits auch die dauernde Bewegung

begründet, in der die Spannung ihre dynamische Kraft entfaltet.

Auch der immer wiederkehrende Stilzug der Antithese

gestaltet die weltanschauliche Gespanntheit. Der Mensch

steht in diesem Kosmos als der Ergriffene, er erlebt die Allmacht

und Größe Gottes, die Buntheit der Welt: daher die

großen Worte, das Rauschhafte, das Gewaltige. In der Verskunst

des Barock kommen ebenfalls die beiden Elemente des

Statischen und des Dynamischen zum Ausdruck: in der strengen

Form des Alexandriners und der scharf abschließenden

des Epigramms das in sich Ruhende, in den großen Reihenbildungen

und der Wucht der vom Vorgangswort getragenen

Bewegung das Dynamische. Das Rauschhafte und Überwältigende

im strengen Maß ist der Zug des Barock, wo sich

Manierismus am wenigsten aufdrängen will. Der gleiche Zug

der Spannung zwischen zwei Gegensätzen zeigt sich auch im

Aufbau. Auf der einen Seite sind barocke Dichtungen von

strenger Architektur, rational durchdacht, in der Handlungsfülle

besonders der Romane so konstruiert, daß alles aufgeht

und sich löst trotz aller Verwicklungen, Verkleidungen, Verkennungen:

ein Riesenapparat, der klaglos funktioniert wie

das Planetensystem nach den Gesetzen, die Kepler damals

entdeckt hat. Aber auf der anderen Seite wird diese Konstruktion

verborgen im Prachtmantel der Handlungsfülle,

der aufwühlenden Vorgänge, dem scheinbar planlosen Hin

und Her zwischen den Personen. So geht eine dauernde

mächtige Bewegung durch das Ganze solcher großer Dichtungen.

Und doch auch hier das Statische: dadurch wird es

erreicht, daß jeder Teil, besonders im Dasein der dargestellten

und handelnden Menschen, weniger Glied einer fortlaufenden

Kette ist als vielmehr immer in bestimmtem Bezug zum

Jenseits gebracht wird.



Ganz anders als Manierismus und Barock ist die romantische

Gestaltungsform. Das Romantische bietet so viele Seiten in

der künstlerischen Gestaltung, daß man kaum imstande ist,

eine Einheit in der schillernden Buntheit zu erkennen. Vielleicht |#f0331 : 315|



ist gerade das ein Wesenszug des Romantischen. Die

Wirklichkeit wird in aller Fülle erlebt und gestaltet. Das unterscheidet

die Romantik vom Realismus, der nur die unteren,

vom Idealismus, der nur die oberen Bereiche vor allem herausgreift.

Ihr ist nichts Irdisches fern, sie greift auch auf die

geheimnisvollen, rätselhaften und unheimlichen Seiten, die

die Wirklichkeit bietet. Man denke an die Gegensätzlichkeiten

im Weltbild E. T. A. Hoffmanns. Und zwischen diesen

mannigfaltigen Schichten und Seiten der Wirklichkeit fehlen

scharfe Grenzen, alles verschwimmt, geht ineinander über.

Aber auch romantische Dichtung bleibt nicht an der Fülle

solcher Einzelheiten hängen: in diesem Überschäumen soll

eben das Wesen des Lebens in seinem unendlichen Reichtum

von Tag- und Nachtseiten heraustreten. Also wieder eine

ganze andere Art, aus der außersprachlichen Wirklichkeit

durch die Sprachkunst ins Wesenshafte vorzudringen. Vor

allem drängt im Romantischen diese Fülle und Bewegtheit

zum Hintergründigen, zum Metaphysischen. In diesem Tieferen

erhält die Fülle und Buntheit ihre Einheit. Diese romantische

Weltgestaltung läßt sich bis in die sprachlichen

Einzelheiten durchverfolgen: im Wortschatz schon wird die

Buntheit der Welt greifbar: schlichte, kindliche, volkstümliche

Worte neben unheimlichen und derben und wieder

solche, die aufs Innere und Jenseitige hinweisen. In Novalis

erreicht die Kunst, in der Fülle der mannigfaltigsten Wortbereiche

und -gehalte die Buntheit der Welt lebendig werden

zu lassen, ihren Höhepunkt. In der Reimkunst, in der

Meisterschaft der Assonanzen Brentanos, im rhythmischen

Verschweben wird das Gleiten ohne scharfe Grenzen Gestalt.

So bunt ist auch der Aufbau, der eben in der scheinbaren

Willkür wieder die Fülle der Welt gestalten will. Und die

sogenannte romantische Ironie, das Spiel des Dichters mit

seiner Schöpfung, das Zerreißen zusammenhängender Bereiche,

das Hineintreten des Dichters selber in die von ihm

geschaffene Welt, das Reden über die Dichtung in der Dichtung

selbst: das alles ist sinnbildliche Gestaltung der bunten

Weltfülle, die im Geistigen des Weltgeists und im Kleinen des

Dichters ihren Zusammenhang findet. Hier liegen die Ansätze |#f0332 : 316|



zu manchen Beziehungen zum Manierismus, die Vorliebe

für das Groteske ist gerade in der Romantik wieder

deutlich, die Nachtseiten der Natur führen zum Skurrilen

und Abnormalen. Aber ein Unterschied besteht: es spielt im

Romantischen das Spiel mit überlieferten, festen Formeln und

Bildern, Metaphern und Topoi eine geringe Rolle gegenüber

Barock und Manierismus. Da brechen unmittelbarste persönliche

Gestaltungen durch.



Und das verbindet wieder das Romantische mit anderen

Gegenstößen zum Klassischen, die, wenn man alle geschichtlichen

Verwirklichungen überblickt, zu typischen Gestaltungsformen

emporgehoben werden können: Ausbrüche aus

jeder Bindung, auch der an Formeln und Metaphern. Es sind

meist kurze Stöße: Sturm und Drang, Expressionismus. Die

Welt wird hier sehr persönlich, geradezu willkürlich erlebt,

heftigste innere Wallungen bestimmen die Wirklichkeitsgestaltung,

das Innere wird wichtiger, das Außenwirkliche

tritt zurück. Reiner Ausdruck des bewegten Inneren gestaltet

sich im Sprachlichen: Ausrufe, stoßhafte Satzbewegung, die

auf die Konvention verzichtet, ja sie bewußt zerbricht, Vorherrschen

des Vorgangsworts, Zerreißen ruhiger und größerer

Formen.



Die vorangehenden Angaben sind sicher lückenhaft und

müßten in Einzelheiten vertieft und ergänzt werden. Sie sollen

zeigen: die Fülle der Möglichkeiten, dichterisch eine Welt

aus erlebten Bereichen der außersprachlichen Wirklichkeit und

zugleich ihre Überwindung in wesenhafte Bereiche hinein

durch die Kräfte der Sprache und des Aufbaus zu errichten,

ist unendlich groß. Typische, immer wiederkehrende Gestaltungsformen

können bis zu einem gewissen Grade eine Übersicht

über diese Fülle bieten, enthalten aber auch die Gefahr,

dichterisches Schaffen auf zu starr umrissene und an Zahl zu

sehr eingeschränkte Formen hin ─ einem rationalen System

zuliebe ─ auszurichten.

|#f0333 : E317|



IV

GESAMTBLICK UND WERTUNG


Vielschichtigkeit der Dichtung



Die bisherige Betrachtung der Dichtung hat eine große

Vielseitigkeit der Gesichtspunkte gezeigt, von denen aus sich

die Eigenart der Dichtung offenbart. Zur übersichtlichen

Ordnung der Seiten, von denen aus wir die Dichtung betrachten,

haben wir zuerst mehr den Gehalt, dann die Gestalt

einer Dichtung beobachtet. Vom Gehalt aus haben sich

vier Punkte ergeben: 1. Welchen Bezug die Dichtung zur

außersprachlichen Wirklichkeit hat, welchen Ausschnitt sie

gibt, mit welcher Einstellung, wie sie diesen Ausschnitt umformt

und neu gestaltet. 2. Wie sie die jeder Dichtung eigene

Verwesentlichung des Gestalteten leistet, also zum Dauernden,

Tiefen, zum Wesen vordringt. 3. Wie das Menschliche

sich in der Dichtung auswirkt, da ja doch jede Dichtung das

Werk eines menschlichen Schöpfers ist, von dessen Art sie

sich nie ganz trennen kann. 4. Welche menschlich-dichterische

Weltauffassung in der Dichtung geprägt ist. Von der Gestaltung

her haben wir zuerst die sprachkünstlerischen Kräfte

dargestellt: von den vielen einzelnen Elementen, in denen

sich schon künstlerische Möglichkeiten zeigen, über die Stilkräfte

und ihre mannigfaltige Verflechtung, wo erst die Elemente

zu wirken beginnen, bis zu den Stilarten, in denen sich

erst die stilistische Eigengeprägtheit einer Dichtung zeigt,

hat sich uns die ganze Verflochtenheit und der Reichtum

künstlerischer Werte der Sprache gezeigt, ohne die Dichtung

nicht sein kann. Aber die Sprachkunst genügt nicht. Der Aufbau

einer Dichtung in seinen Gliedern und Kräften, und wie

er sich in der Bindung der Glieder und in ihrer gegenseitigen

Gespanntheit entfaltet, ist ebenso wichtig. Dazu treten die

Gestaltungsebenen und ihre Mischungen, auf denen sich eine

Dichtung bewegt, und endlich die Gestaltungsformen, wie |#f0334 : 318|



sie sich in bezug auf alle eben erwähnten Seiten zu bestimmten

Dichtungstypen ausprägen. Schon das alles zeigt die unendliche

Vielfalt in dem Gefüge eines dichterischen Kunstwerks.

In irgendeiner Weise sind die jetzt erwähnten Seiten

an jeder Dichtung zu beobachten.



Anders ist es mit drei Eigenschaften jeder Dichtung, die

immer in einem bestimmten Grade vorhanden sind. Schon

dadurch ergeben sich wieder viele Schattierungen. Das ist

zunächst die Vielgestaltigkeit. Sie ergibt sich aus der Fügung

der einzelnen Kräfte, die die Gestalt prägen. Es macht einen

Unterschied, ob in der Dichtung eine bestimmte Wortart

vorherrscht oder alle in gleicher Weise zusammenwirken;

ob eine breite oder rasche Satzbewegung bestimmend ist;

ob und welche Stilkräfte für die Sprachstruktur wesentlich

sind; auch im Aufbau können die Kräfte verschieden eingesetzt

werden: es herrscht nur eine Art der Glieder vor, etwa

Stimmungsgruppen oder Figuren, oder sie wirken alle zusammen.

Weiter: ob die Bindung oder die Gespanntheit in

der Gesamtanlage der Dichtung vorherrscht, ob der Bau

streng rational oder mehr wie ein Organismus gewachsen ist.

Weiter ist es wichtig, ob die Gestaltungsform sehr rein in

einer Dichtung heraustritt oder vermischt mit anderen usw.

Hier gibt es Grade von einer gewissen Eintönigkeit, da nur

ganz bestimmte Kräfte immer wieder eingesetzt werden, bis

zu höchster Buntheit und Fülle der aufbauenden Elemente,

wobei wieder Disparatheit oder Zusammenklang in verschiedenster

Stärke das Bild der Struktur einer Dichtung rein von

der Form her bereichern.



Jede Dichtung formt im sprachlich-geistigen Bereich ein

Stück Welt. Das zeigt alle möglichen Grade von Weltfülle.

Hier unterscheiden sich die Dichtungen schon nach ihrem

Umfang: ein Roman oder ein großes Drama kann eine viel

breitere und mannigfaltigere Welt vor uns aufbauen als

ein kleines lyrisches Gedicht. Denn in einem solchen wird

eher auf engstem geistigem Raum in die Tiefe gelotet. Aber

auch innerhalb der umfangreichen Dichtungsarten gibt es

große Unterschiede. Die antike und die französisch-klassische

Tragödie zeigt einen streng umgrenzten einheitlichen Weltausschnitt, |#f0335 : 319|



die Tragödie Shakespeares größte Fülle und Mannigfaltigkeit

in demselben Werk.



Mit dieser Weltfülle und der formalen Vielgestaltigkeit

hängt dann auch die Vielstimmigkeit einer Dichtung zusammen.

Wieder ist hier dem lyrischen Gedicht eine Grenze gezogen;

doch auch da gibt es Unterschiede: man denke an

Goethes »Selige Sehnsucht« und an Gedichte Mörikes zum

Unterschied von Rokokoversen oder Rückert. Aber innerhalb

großer Dichtungen sind die Unterschiede viel deutlicher.

Neben Goethes »Lehrjahren« mit der Fülle an Stimmungen

und Haltungen, wie sie sich aus der großen Zahl der charakterlich

mannigfaltiger Figuren und ihrer Schicksale ergeben,

steht Stifters »Nachsommer«, der in nur wenigen Stimmungen

durchs Ganze durchführt; neben den beinahe einstimmigen

Romanen und Erzählungen Kafkas steht die Vielstimmigkeit

des »Dr. Faustus«. Schon hier aber stellen wir fest, daß diese

Unterscheidung noch kein eindeutiges Werturteil ermöglicht.

Dasselbe gilt für die Dramen. Die griechischen und die französischen

Tragödien sind beinahe völlig auf eine Stimmung

abgetönt. Das zeigt sich deutlich im Unterschied etwa von

»König Ödipus« und »Antigone« von Sophokles; es ist entscheidend,

daß im ersten vor allem die Königsgestalt mit

ihrer Haltung in der Mitte steht, im zweiten die ganz anders

geartete Mädchengestalt. Man vergleiche auch die beiden

scheinbar so nahen Tragödien zweier wild-erhabener Frauengestalten:

Racines »Phèdre« und seine »Athalie«; man könnte

vergröbernd sagen: im ersten Drama ist es die von Phädra

selber erschütternd erlebte Liebesleidenschaft, im zweiten der

unbändige Drang nach Herrschertum. Ganz anders sind hier

wieder die Dramen Shakespeares in ihrer großen Vielstimmigkeit.

Es genügt, an die Vielzahl der ineinander verflochtenen

und aufeinander folgenden Stimmungen im »Hamlet« und

im »Lear« zu denken.



Die Dichtung als ästhetisches Gebilde zeigt nun einen weiteren

Reichtum, der in irgendeiner Weise immer vorhanden

ist, aber in der Art, wie er sich zeigt, wieder viele Möglichkeiten

offenbart: die Tiefenschichtung. Wir haben schon öfter

erwähnt, daß in jeder Dichtung als einem Kunstwerk das, |#f0336 : 320|



was unmittelbar gestaltet ist und uns unmittelbar als erstes

entgegentritt, zugleich etwas Tieferes durchscheinen läßt.

Man kann vorsichtig theoretisch trennend von mehreren

Schichten sprechen. Dabei hat jede Schicht ihre besondere

Formung. Etwa so: die sprachliche Gestaltung, rein auf die

Fügung der Worte und Formen bezogen, richtet sich nach

der Konvention der sogenannten Grammatik, indem sie ihr

entweder folgt oder sie zu zerbrechen sucht. Das Weltbild,

das sich in der Dichtung entfaltet, folgt auch bestimmten

Strukturgesetzen: es ist anders angelegt in Goethes »Faust«

und anders in Kafkas »Schloß«. Weiter zeigt sich, daß die

Formung der je vorderen Schicht auch für die der nächsthinteren

bestimmend ist: das Weltbild des »Faust« ist in

seiner Art auch von der ganz eigenartigen dramatischen Form

bestimmt, und die »Lehrjahre« zeigen im Aufbau des Weltbildes

auch Züge, die durch die Tatsache der epischen Gestaltung

gegeben sind. Und doch auch umgekehrt: im ganzen

gesehen sind die äußersten Schichten von der tiefsten bestimmt.

Aus dem Weltbild Kafkas ergibt sich auch die sprachlich-kompositorische

Durchführung, ja noch das kleine

Heinesche Gedicht ist in seinem sprachkünstlerischen Ablauf

Prägung aus einer bestimmten menschlichen Tiefe.



Die Eigenart der Schichtung gerade des dichterischen Kunstwerks

kann man sich vor Augen führen, wenn man sich an

den Schichtenbau des Seins erinnert, wie ihn der Philosoph

Nicolai Hartmann durchgeführt hat. Er unterscheidet von

unten nach oben die Schichten des Materiellen, des Organischen,

des Seelischen und des Geistigen. Jede höhere Schicht

ist in ihrem Dasein von der unteren bestimmt und ohne sie

nicht denkbar. Man kann nun auch im Kunstwerk diesen

Schichtenbau erkennen, allerdings sind da die verschiedensten

Sprünge und Verflechtungen oder Zusammendrängungen

möglich. Immerhin ist bei den bildenden Künsten die materielle

Fundierung und das Geistige der Tiefe deutlich. Bei der

Dichtung läßt nun ihre unbedingte und ausschließliche Fundierung

auf der Sprache schon eine Eigenart erkennen. Gewiß

ist auch die Sprache materiell fundiert: physiologisch in der

Lautung, noch materieller in der Schrift. Aber schon in der |#f0337 : 321|



Sprache sind auch die anderen Schichten wesentlich. So hat

es die Dichtung mit einem selber schon sehr mannigfach

strukturierten Untergrund zu tun. Weiter aber ist eigenartig,

daß in der Dichtung (wie auch in anderen Künsten) die beiden

Mittelschichten des Organischen und des Seelischen

eigentlich erst in der Schicht des Geistigen erscheinen, als

in sie eingefügt: eben weil das Kunstwerk die Schöpfung

eines Menschen ist, müssen die organischen und seelischen

Bereiche auch irgendwie erkennbar sein, aber nicht so sehr

unmittelbar, sondern im Bereich des auf der Materie ruhenden

Geistigen.



Mit der Schichtung dieser Bereiche in der Dichtung hat

man sich schon oft abgegeben. Man hat verschiedene Schichtenfolgen

gesehen. Dabei ist folgendes festzuhalten: Auch die

Gestaltungskräfte sind schon geschichtet. Ich erinnere daran,

wie zwar die sprachkünstlerische Gesamtgestalt erst alle einzelnen

Züge wirken läßt, daß aber diese Gesamtgestalt unbedingt

auf die Elemente des Stils in ihrer Mannigfaltigkeit,

auf das Zusammenwirken der Stilkräfte usw. gegründet

ist und ohne sie nicht möglich wäre. Also schon hier eine deutliche

Schichtung. Dasselbe gilt auch für die Gestaltung der

Personen in der epischen und der dramatischen Dichtung.

Auch hier ergibt sich das Gesamtbild der vom Dichter geschaffenen

Gestalt aus den kleinsten Elementen, die seinen

Aufbau leisten, sie selber aber haben keinen Eigenwert, sie

gehen im Ganzen unter, das aber ohne sie nicht so wäre. Es

ist also diese Schichtung vom Äußerlichen in die Tiefe keine

einfache Reihung von klar auslösbaren Schichten, sondern

ein mannigfaches Geflecht von selber schon geschichteten

Gebilden.



Nach diesen Vorbemerkungen können wir versuchen, den

Schichtenbau einer Dichtung theoretisch zu zergliedern. Unbedingt

auszugehen haben wir in der Dichtung von der sprachlichen

Gegebenheit, von der Tatsache, daß ein Sprachwerk

vorliegt. Diese Basis, ohne die eine Dichtung undenkbar ist,

ist aber selber, theoretisch gesehen, doppelseitig: sie ist immer

Lautung und immer Sinngestaltung. Dabei ist der Sinn gar

nicht anders da als in der wirklich ausgesprochenen oder |#f0338 : 322|



innerlich vorgestellten Lautung, und umgekehrt wirkt diese

als Lautung und nicht bloß als Schall nur, indem sie einen

Sinn hat. Die Dichtung baut also schon auf einem sehr verwickelten

geistigen Gebilde auf. Diese sprachliche Gegebenheit

führt aber in der Dichtung sofort in einen weiteren Bereich,

in den der Sprachkunst. Die Sprache entfaltet in einer

Dichtung ihre wesenhaften Kräfte, dient nicht bloß als Instrument

der Verständigung, sondern schafft durch ihre

Werte eine eigene Welt. Das gelingt durch die Vertiefung

der sprachlichen Struktur in den Stilkräften, die das Sprachgebilde

aus einem Sprachwerk zu einem Sprachkunstwerk

machen. Von dieser Grundlage aus bauen sich die größeren

Zusammenhänge auf: der Aufbau der Dichtung, der selber

wieder in die Tiefe schauen läßt. Stifters »Nachsommer« ist

in mehrfacher Hinsicht von der Mitte her angelegt: Das

mittlere Kapitel bringt die höchste Sinngebung und führt

vom Sinngehalt des ersten in den des zweiten Teils. Dieser

Augenblick ist auch die zeitliche Mitte des ganzen Ablaufs.

Zugleich bildet das Rosenhaus die zuerst gesuchte, dann erlebte

Mitte des Bildungsweges Heinrichs: von hier aus greift

er in die Welt in immer weiteren Griffen, hierher kehrt er

immer wieder zurück. Man könnte dartun, daß mit diesem

Bau schon zugleich ein Menschenbild gestaltet wird, der

Mensch der Innerlichkeit, der aus dem tiefsten Inneren bestimmt

ist. In diesem Bau also wird ein Tieferes unmittelbar

erlebbar. Ferner die Personen, die ein Dichter in einer epischen

und dramatischen Dichtung schafft. Jede dieser Personen,

vor allem aber die Hauptgestalten, sind nicht nur

Figuren für sich, sondern führen in die Tiefe. Adrian Leverkühn

ist nicht bloß die Zentralgestalt von Th. Manns Roman,

sondern langsam erfassen wir, daß er zu einem Symbol wird,

daß in ihm Wesen und Schicksal des deutschen Volkes greifbar

wird, wie es der Dichter sieht. In der Gestalt Kaiser

Rudolfs II. in Grillparzers »Bruderzwist in Habsburg« wird

nicht nur Grillparzers Wesen selber lebendig, ist nicht nur die

Zentralgestalt des Dramas da, sondern wir erleben an seinem

Verhältnis zu seiner vielfach aufgesplitterten Mitwelt etwas

von der Struktur und Tragik des Geschichtlichen und ihn selbst |#f0339 : 323|



als Symbol für die Eigenarten und Fragwürdigkeiten des

Herrschertums. In der Gruppierung und gegenseitigen Bezogenheit

der Personen hat Schiller in seiner »Luise Millerin«

die tragische Verflochtenheit aufgezeigt, die zum furchtbaren

Ende der beiden Liebenden führen muß, besonders dadurch,

daß er in der seelischen Art Ferdinands und Luisens

Wesentliches des Adels ─ sein rücksichtsloses Drauflosgehen

─ und des Bürgertums ─ seine ängstliche Gebundenheit ─ wirken

läßt, so daß die beiden Geschöpfe nicht bloß durch die

äußere Kabale, sondern durch ihre innerste Haltung getrennt

und vernichtet werden. In der Art und dem Verhältnis der

Personen also erleben wir zugleich die Gespanntheit des

sozialen Gefüges als eines menschlichen Schicksals. Endlich

führt auch die Handlung in die Tiefe. Daß Fausts Weg eine

Aneinanderreihung von Aufstiegen, höchsten Erlebnissen

und darauffolgenden Zusammenbrüchen ist, aus denen er

sich immer wieder aufrafft, mag zunächst eben nur den

Handlungsablauf kennzeichnen. Aber gerade in dieser folgerichtig

und betont durchgeführten Reihung erschauen wir

endlich Schicksal und Tragik des Menschenlebens überhaupt.

Daß aber diese Handlung von überirdischen Bereichen und

Vorgängen umrahmt und durchflochten ist, macht nicht nur

die Handlung reicher und gespannter, sondern wird Symbol

für die Eingeordnetheit des Lebens in höhere und weitere

Zusammenhänge, die der Tragik des ewigen Scheiterns einen

tieferen Sinn geben.



So zeigt sich, wie die mannigfachen Seiten und Glieder

einer Dichtung, jede für sich und alle zusammen, immer zugleich

Tieferes ahnen lassen. Das ist jener grundlegende Zug

jeder echten Dichtung: das Herausformen des Wesenhaften,

die Verwesentlichung, die nun hier als eine Art Schicht in

der Anlage einer Dichtung erscheint. An dieser Stelle wird

der Sinn und die Aufgabe der Symbole besonders deutlich;

denn in ihnen vor allem vermögen wir das Tiefere zu ahnen

und zu schauen. Damit endlich ergibt sich als Letztes gleichsam,

daß solche Dichtung Welterhellung ist: sie gestaltet

nicht nur die äußere Fülle der Welt, wenn auch meist nur

in einem sehr begrenzten Ausschnitt, sondern führt uns in |#f0340 : 324|



dieser Gestaltung immer tiefer, läßt immer wesentlichere Zusammenhänge

auch in den einzelnen konkreten Zügen aufleuchten,

bis endlich diese in der Dichtung gestaltete Welt

auch ihre tiefsten Geheimnisse ahnen läßt, bis von innen heraus

diese Welt erhellt wird. Dabei muß Erhellung nicht immer

bloß Enträtselung heißen, eine Erhellung kann auch

darin bestehen, daß wir die Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit

der Welt als ihr Wesentliches für uns Menschen erleben.

Die Hauptsache bleibt für die Dichtung immer nur, daß diese

Erhellung durch keine anderen Mittel ermöglicht wird als

allein durch die künstlerischen Kräfte, die einer Dichtung

gegeben sind und die wir immer wieder in ihrer Fülle und

zugleich Funktion aufgezeigt haben.



Die Vielseitigkeit, Vielgestaltigkeit, Weltfülle, Vielstimmigkeit

und Tiefenschichtung der Dichtung drängt uns nochmals

zur Frage, wie nun trotzdem eine Ganzheit entsteht.

Wir fassen in anderen Zusammenhängen schon Gesagtes zu

diesem Zwecke zusammen. Eine erste schließende Kraft ist

bereits die Tatsache der Formung selbst. Schon daß Dichtung

ein Sprachwerk ist, hebt sie ja als Gebilde deutlich von allem

anderen ab, eben als sprachlich Geformtes. Zugleich aber wird

in jeder einzelnen Dichtung etwas Menschliches, Seelisches

durch die weltschaffende Kraft der Sprachkunst in einen

neuen, für sich selbst bestehenden Bereich gehoben und für

sich von allen übrigen Bezügen zum Schöpfer entfernt: ein

Gebilde für sich, das aus eigener Kraft nun in die Tiefe führt.

Die Einheit wird auch durch Auslese und Begrenzung errungen:

die außersprachliche Wirklichkeit wird nur in ganz

bestimmten Ausschnitten in Dichtung übergeführt und in

ihr umgeformt. Diese Begrenzung schließt alles aus, was die

Ganzheit gefährden könnte. Dabei muß die Disparatheit von

Weltstoff in einer Dichtung nicht zu jeder Zeit in gleicher

Weise die Ganzheit gefährden. Begrenzung und Auslese

führen zugleich zu einer Verdichtung des Gestalteten, mithin

zu einer Schließung zur Gesamtgestalt. Daß Auslese,

Begrenzung und Verdichtung allein schon durch die Sprache

jederzeit geleistet wird, indem ja ursprünglich die Worte

Erfahrungsstücke aus bestimmter Einstellung zu ihnen umgrenzend |#f0341 : 325|



herauslösen, schafft sofort besonders günstige Grundlagen

für die Ganzheit einer Dichtung. Die einzelnen durchgehenden

Formungskräfte bilden auch an der Einheit; also

etwa das Vorherrschen bestimmter Stilzüge: das starke Vorherrschen

der Ausrufe und Anrufe, besonders in der drängenden

Form herausfordernder Fragen, bildet einen durchgehenden

Grundzug in Goethes »Prometheus«. Die besondere

Satzdynamik, die durch eine Kleistnovelle stürmt, bewirkt

den einheitlichen Guß des Kunstwerks. Die Schlußrahmung

in Grillparzers Lustspiel »Weh dem, der lügt!« gibt

der Abenteuerreihe im Inneren des Stückes ein klares Ziel und

rafft das Ganze kräftig zusammen. Endlich erwirken auch die

Stimmung und das Weltbild, das ja doch als solches eine

Ganzheit ist, die Geschlossenheit des Kunstwerks. Die Stimmung

der Rätselhaftigkeit und Ausweglosigkeit hält eine

Erzählung Kafkas fest zusammen, die innere Unsicherheit

und Zerrissenheit des Helden gibt manchem modernen

Roman die Einheit.



Die Wertung



Damit berühren wir ein besonders schwieriges Kapitel der

Poetik. Wir haben schon einigemal vom Wert einer Dichtung

und von der Wertung im Rahmen der Dichtungslehre oder

gegenüber einer einzelnen Dichtung gesprochen. Wir haben

ausdrücklich ein erstes Mal auf diese Fragen hingewiesen, als

wir von den Wertungsmöglichkeiten sprachen, die sich aus

dem Weltbild einer Dichtung ergeben (S. 23 ff.). Was dort

gleich zu Anfang über Grundlegendes ganz kurz angedeutet

wurde, ist hier zu wiederholen. Damals haben wir uns nur

um die Werthaftigkeit gekümmert, die sich aus dem Weltbild

ergibt. Zugleich aber ist klar geworden, daß Wertung

vom Weltbild der Dichtung her zwar notwendig, zugleich

aber bedenklich ist, weil man gerade dadurch das Künstlerische,

die Gestaltung eben dieses Weltbildes, leicht vernachlässigt.

Jede Wertlehre der Dichtkunst setzt eine bestimmte

Theorie der Dichtung oder der Ästhetik überhaupt voraus.

Freilich hängt sie auch vom Stand der gesamten Wertphilosophie |#f0342 : 326|



ab. Da es beim Werten nie um eine rein theoretisch

feststellende Haltung allein geht, ist es verständlich,

daß die wertende Betrachtung der Dichtungen verschiedene

Schwankungen durchgemacht hat. Die geschichtliche Betrachtung

der Dichtung hat sich vielfach gar nicht mit Wertfragen

abgegeben, oder es waren rein persönliche Wertschätzungen,

ohne sie eigentlich zu beabsichtigen. Erst vor

etwa 40 Jahren beginnt man sich intensiver auch in der Wissenschaft

mit der Wertfrage in bezug auf die Dichtung und

auf die Kunst überhaupt abzugeben. Zunächst fehlte es diesen

Betrachtungen aber an der einfachen Überlegung, was Wert

überhaupt ist, und an der Unterscheidung zwischen sachlicher

Beschaffenheit und Wert einer Dichtung.



Den Weg zum Wert findet man nur über das Werterleben,

über die ganz konkrete persönliche Werterfahrung. Beim

Werterleben ist das Gefühl entscheidend. Werterleben stellt

sich immer dann ein, wenn unser Gefühl unmittelbar auf das

Entgegentretende antwortet, und zwar in zweifacher Hinsicht

in besonderer Weise: es ist damit ein Erleben des Seinsollens

gegeben, man erfährt irgendwie die innere Stimme,

das als wertvoll erleben zu sollen. Zugleich ist damit eine

bestimmte Erfahrung von Kraft und Tiefe verbunden.



Das, was am Gegenstand uns dieses Erleben auslöst, ist der

Wert. Er ist nicht ein konkretes Merkmal am Gegenstand. Aber

daß er eine »Wirklichkeit«, d. h. etwas Wirkendes und damit etwas

Existierendes ist, ist eine Erfahrungsgewißheit. Schon daß

man über Werte spricht, ist ein Beweis, daß es eine Bewandtnis

mit ihm hat. Werte sind etwas an sich; das Bewußtsein

kann sie nicht schaffen, nur erfassen oder verfehlen. Der

Wert ist immer da, bevor er erlebt wird. Daß man sich in

bezug auf ihn täuschen kann, ist wieder ein Beweis für sein

Dasein. Der Gegenstand, an dem wir das Werterleben haben,

der uns wertvoll ist, ist der Wertträger oder das Gut.



Wichtig ist nun der nächste Schritt: es gibt verschiedene

Klassen von Werten. Der Unterschied der einzelnen Wertklassen

ist uns wieder durch Werterfahrung unmittelbar

gegeben und daraus theoretisch beschreibbar. Einer davon ist

der ästhetische Wert. Soweit er durch sprachliche Werke ausgelöst |#f0343 : 327|



wird, sind wir im Bereich der Dichtung. Aber es ist

bekannt, daß Dichtungen auch andere Werterlebnisse auslösen

können: ethische, theoretische, religiöse usw. Hier ist

aber eine klare Unterscheidung nötig: die anderen Werte

werden an dem erfahren, was in der Dichtung der sogenannte

Gehalt ist, an dem, was die Dichtung aussagt. Aber das ist

gerade nicht der Bereich, an dem der ästhetische Wert erfahren

wird. Denn der ist uns an der Gestalt, an all dem, was

wir in diesem Teil betrachten, gegeben. Nicht an der Gestalt

als solcher, sondern an einer bestimmten Qualität, die man

auf der einen Seite im weitesten Sinn als schön bezeichnet,

auf der anderen Seite eben dadurch genauer bestimmen kann,

daß in ihrer Vollendetheit Tieferes sich uns offenbart. Überall,

wo uns ein Gebilde als solches in seiner Form, in seinem Sosein

einen solchen Eindruck macht, daß uns dadurch Hintergründigeres

in ihm aufgeht, daß wir selbst dadurch im Innersten

angesprochen werden, haben wir es mit einem ästhetischen

Werterleben zu tun. In der Gestalt einer Dichtung und

nur in ihr ist uns aber auch der Gehalt gegeben. Das Verstehen

des Sinnes gehört auch zum Erleben der Dichtung, weil ja

ihre Gestalt einen Gehalt, einen Sinn hat. Damit kommen

aber auch die anderen Werte, die aus dem Sinn erfahren

werden, zur Geltung. Doch sie sind ─ das ergibt sich aus dem

Wesen der Dichtung als eines Kunstwerkes von selber ─ in

das ästhetische Gebilde eingefügt. Die Werte des Dargestellten

sind nicht die Werte der Darstellung, aber sie fundieren sie

teilweise, sind ihnen einverleibt. Umgekehrt werden diese

fundierenden Werte durch den sie überwölbenden ästhetischen

Wert teilweise umgeformt. Das Religiöse wird in einer

Dichtung anders erlebt als etwa unmittelbar im Gottesdienst,

ethische Werte anders als im sozialen Handeln usw. Daraus

ergibt sich schon, daß dem ästhetisch Erlebenden auch die

anderen Werte zugänglich sein müssen, sonst kann er das

Ganze der Dichtung nie im Innersten erfahren. Es braucht also

schon eine große Wertaufgeschlossenheit dazu. Daher sind

auch die Wirkungen um so tiefer. Die Begegnung mit einem

Kunstwerk ist eine Vertiefung des Menschen, ist eine große

Bereicherung unseres Inneren; sie wühlt uns auf und ergreift |#f0344 : 328|



uns in allen Schichten. Das allein schon ist ein Beweis dafür,

daß der Wert nicht ein Hirngespinst, eine Einbildung ist.

Aber sicher sind diese tiefen Erlebnisse nicht allen Menschen

zugänglich. Das scheint bedenklich. Man spricht manchmal

davon, daß nur die Übereinstimmung aller (consensus

omnium) die Objektivität eines Wertes, hier also eines ästhetischen

verbürge. Das ist ein Irrtum. In bezug auf jede Wertklasse

gibt es bei vielen Menschen Wertblindheit. Nicht allen

Menschen geht der Wert einer komplizierten Maschine ein,

nicht allen die Wahrheitswerte aus den höchsten Erkenntnissen

der höheren Mathematik. Aber kaum ein Mathematiker

würde deshalb den Wert solcher Erkenntnisse in Zweifel

ziehen lassen. Mit vollem Recht. Und es ist kaum eine Frage,

ob mehr Menschen an der Matthäuspassion oder an leichter

Unterhaltungsmusik Gefallen finden, an einem Selbstbildnis

des späten Rembrandt oder an einem öden Farbdruck, an

Goethes »Faust« oder an einem Dutzendroman in den üblichen

Heften. Ein Consensus omnium würde hier zu merkwürdigen

Ergebnissen führen. Majorität hat in Sachen des Werterlebens

nichts zu sagen. Die innere Erfahrung ist für einen Wert das

einzige Kriterium. Den Wert der Dichtung erleben nur

wesenhafte Menschen. Nur ihnen ist die Wertordnung offenbar.

Und manchmal muß solch ein wesenhafter Mensch auch

lange ringen, bis ihm der Wert voll aufgeht. Auch das ist

möglich, daß tief veranlagte Menschen nicht für alle Wertträger

einer Wertklasse empfänglich sind. Es ist über die

Wesenhaftigkeit oder ästhetische Aufgeschlossenheit eines

Menschen noch nichts gesagt, wenn er am »Witiko« oder an

Kafkas »Schloß« oder an Dantes Werk keine tiefen Werterfahrungen

hat. Besonders Kunstwerke der Vergangenheit

können uns aus der gesamten geschichtlichen Lage heraus

fremd werden. Aber hier kann auch das Umgekehrte eintreten:

die Wertempfänglichkeit kann auch für solche uns

ferner liegenden Kunstwerke wieder geweckt werden. Wenn

das möglich ist, ist damit zugleich bewiesen, daß der Wert

einer solchen Dichtung nicht zeitbedingt und daher vergänglich

ist. Aber zur Erringung dieser Aufgeschlossenheit bedarf

es bestimmter Voraussetzungen. Dazu gehört einmal ganz |#f0345 : 329|



allgemein die Zeitlage. Dem von allen Ungewittern erschütterten

20. Jahrhundert ist der Barock zugänglicher als dem

19. Jahrhundert. Auch persönliches Ringen um die Werterfahrung,

Bemühen beim Eindringen in die Werthaftigkeit

eines Kunstwerkes kann uns neue Werte erschließen. Man

wird ohne Bemühen nicht den vollen Wert des »Faust« oder

des »Parzival« erleben, auch nicht den des Petersdomes oder

eines Gemäldes von Picasso. Hier nun hilft auch der Interpret,

der sich tief in die Zeit, aus der das Kunstwerk stammt, und in

die Struktur dieses Werkes einfühlt und der dann dem anderen

die Werte erschließt. Denn Wertaufgeschlossenheit hängt

nicht nur von der Beschaffenheit eines Menschen ab, sondern

auch von einer intensiven Bildungsarbeit. Nur wer sich ums

Kunstwerk ständig bemüht, wer lernt und immer neue Erfahrungen

sammelt und immer wieder strebt, ins Innere der

Dichtung zu dringen, nur dem wird der Wert in einer tiefen

inneren Erfahrung aufgehen. Daher kann man sagen, daß dem

geschulten und gewissenhaften Interpreten der Wert einer

Dichtung eher zugänglich sein wird als einem gutwilligen

Laien. Freilich nicht einem trockenen gelehrten Herumarbeiten

an einem Kunstwerk und nicht einem schönrednerischen und

selbstgefälligen Drumherumreden. Wer aber durch Begabung

und eigene Bildungsarbeit, wozu auch gelehrtes Forschen gehört,

in die Werthaftigkeit einer Dichtung tief eingedrungen

ist, hat geradezu die Pflicht, auch andere einzuführen: auch

darin besteht der Sollensruf des Werterlebens.



Man kann nun versuchen, das im Werterleben Erfahrene zu

beschreiben. Man kann es in Urteile fassen und zu begründen

versuchen, indem man auch die Bedingungen erforscht, die

am Kunstwerk erfüllt sein müssen, damit ein Werterleben

möglich ist, die also wohl auch Bedingungen für den Wert

eines solchen Gebildes sind. Dieses theoretische Bemühen ist

die Wertung. Wertung ist nicht Werterleben, sie setzt es vielmehr

voraus, kann es also auch nie ersetzen. Sie ist die theoretisch-wissenschaftliche

Beschäftigung mit den Bedingungen

und Zusammenhängen, aus denen das Werterlebnis unmittelbar

herauswächst.



Die Wertung steht vor großen Schwierigkeiten. Wir |#f0346 : 330|



konnten schon früher manche herausheben: welche Kriterien

sind maßgebend? Soll der Gehalt berücksichtigt werden, der

Umfang oder die Größe einer Dichtung, ihre Weltanschauung?

Dabei wandelt sich der Geschmack. Das hat für große,

umfassende Dichtungen weniger Bedeutung. Denn sie enthüllen

anderen Zeiten und anderen Geschmackseinstellungen

wieder neue Seiten ihres Daseins und wachsen damit in ihrer

Bedeutsamkeit nur um so mehr heraus. Aber gerade in der

Lyrik erleben wir starken Geschmackswandel. Was vor zwei

Generationen noch geschätzt wurde, z. B. die Gedichte von

Rückert, Heyse, Bierbaum und Falke, ist heute beinahe schon

der Vergessenheit verfallen, dafür haben seit etwa 40 Jahren

Hölderlin, Mörike und jetzt auch manche Barocklyriker einen

hohen Rang errungen.



Trotzdem ist Wertung eine Aufgabe der Dichtungswissenschaft.

Nicht nur für die literaturgeschichtliche Einordnung

einer Dichtung ist sie wichtig, sondern vor allem, um eine

Dichtung in ihrem ganzen Dasein zu erfassen, und endlich auch

als Einführung in das Erlebnis der Dichtung, um die Menschen

der Dichtkunst aufzuschließen.



Von der Wertung sind andere Einstellungen zu unterscheiden.

Die Wirkungsgeschichte einer Dichtung hat mit

der Wertung und dem Werterleben nichts zu tun. Sie ist

aber insofern wichtig, als sie uns vom Dasein einer Dichtung

in der geschichtlichen Welt Kunde gibt. Die Wirkung, die

etwa Vergil durch das ganze Mittelalter ausgeübt hat, die

Wirkung Shakespeares in den verschiedenen Epochen deutscher

Literatur und auf verschiedene deutsche Dichter, das

Nachwirken Schillers im 19. und 20. Jahrhundert: das sind

Tatbestände, die auch zur Erfassung der Dichtung gehören,

die aber in den Bereich der Dichtung als geschichtlicher

Wirklichkeit einzuordnen sind. Eng mit diesen Fragen verwandt

sind die nach der Wertung der Dichtung durch andere.

Wir haben gerade starke Umwertungen erwähnt. Wie Dichtung

von anderen Menschen, von früheren Epochen, von bestimmten

Dichtern gewertet wurde, gibt uns eine sehr wesentliche

Ergänzung zu den literaturgeschichtlichen Zusammenhängen.

Für die Poetik haben solche Erkenntnisse methodischen |#f0347 : 331|



Wert: sie geben uns vielleicht Maßstäbe des Wertens,

vor allem aber errichten sie Warntafeln, indem sie uns Irrtümer

des Wertens aufzeigen. Denn das Werten als theoretische

Formulierung aller Fragen, die mit dem Wert einer

Dichtung zusammenhängen, ist schwieriger und ausgesetzter

als jedes andere Urteilen. Man kann hier nicht den Satz

gelten lassen: wahr ist nur, was beweisbar ist. Übrigens gibt es

ja auch in »strengen« Wissenschaften wahre Sätze, die nicht

beweisbar sind: die Axiome, die schon aus den Begriffen einleuchten,

und Sätze der unmittelbaren inneren Erfahrung,

z. B.: ich habe jetzt eine Schmerzempfindung. Gerade diese

Art von Einsichten ist für uns hier wichtig. Die Feststellung

einer eigenen Werterfahrung ist über jeden Zweifel erhaben.

Ob wir allerdings dann richtig werten, ist eine andere Frage.

Auch ist zu beachten, daß die Art einer Erkenntnis von der

Art des zu erkennenden Gegenstandes abhängt. Ein Kunstwerk

und sein Wert können nie logisch bewiesen werden wie

ein Satz der Mathematik. Sein Wert ist im Augenblick einer

Werterfahrung im Gefühl erlebt. Auf dieses Werterleben

gründet sich das Werturteil. Die Wahrheit eines Werturteils

kann nicht bewiesen, sondern aus der inneren Erfahrung aufgewiesen

werden. Nicht logische Beweise helfen zum richtigen

Werterleben, da gibt es andere Wege; einen negativen:

man muß nicht zuständige Motivierungen abbauen. Eine

solche nicht zuständige Wertung wäre etwa die auf Grund

rein logischer Erwägungen zur Metaphysik im »Faust«; vor

allem aber auch Motivierungen aus politischen Erwägungen,

wie sie uns das 20. Jahrhundert in jeder Richtung beschert hat.

Endlich hat sich nun auch ergeben, daß etwa die Maßstäbe,

die wir an eine moderne Dichtung als Erlebnisausdruck des

Dichters legen, für sehr ausgedehnte Bereiche früherer Dichtungsgeschichte

nicht gelten, so für den Barock, den Minnesang,

ja teilweise noch für Schiller. Das heißt aber nicht, daß

in solchen Dichtungen, wie etwa bei Heinrich von Morungen,

Walther von der Vogelweide, Gryphius usw. nicht auch persönliches

Welterfahren und persönliches Leid mitwirken an

der künstlerischen Gestaltung. Und einen positiven Weg: das

Helfen und Auffordern zum Versenken in die Dichtung.

|#f0348 : 332|



Für das Werten von Dichtungen sind gewisse Voraussetzungen

nötig. Dazu gehört vor allem eine bestimmte Beschaffenheit

des Wertträgers, in diesem Falle also des Gedichts.

Der Wert ist immer eine innere Qualität von etwas.

Daß er sich aber verwirklicht, dazu gehört ein Substrat, hier

also das Vorhandensein des Gedichts. Wir müssen die Eigenschaften

von Gedichten herausgreifen, die Bedingungen für

ein Werterlebnis sind: das sind etwa die Stilwerte, die Gesetzlichkeiten

des Aufbaus usw. Aber alle Wertmaßstäbe, die so

gefunden werden, können nie Werterlebnisse ersetzen, sie

können sie auch nicht unmittelbar auslösen, sie können nur

hinführen und das Wertungsvermögen bilden. Sondern umgekehrt

müssen wir immer wieder betonen, daß ein Werten

erst möglich ist aus einer Werterfahrung heraus. Das Eindringen

in den Text ist eine weitere wichtige Voraussetzung.

Nur gründliches Studieren des Aufbaus, der Stilzüge, der

Zusammenhänge usw. kann in die Kunst des Gedichtes

hineinführen. Wenn wir sie in all ihren Zügen erfaßt haben,

dürfen wir sagen, daß wir die Bedingungen begriffen haben,

die für ein Werterleben am Gedicht grundlegend, die also

auch für den Wert an ihm unerläßlich sind. Aber das Eindringen

in den Text ist selber wieder an Voraussetzungen gebunden,

die oft verkannt werden. Es ist falsch, wenn man glaubt,

ohne Voraussetzungen die interpretierende Versenkung in

den Text leisten zu können. Das Wichtigste sind allgemeine

Kenntnisse über Art, Wesen und Formen einer Dichtung. Das

fängt schon ganz einfach damit an, daß ich wissen muß, was

ein Gedicht ist. Man wendet gegen den Wert allgemeiner

Einsichten in bestimmte Formen und Stilzüge ein, daß im

Spezialfall diese Einsichten doch nicht stimmen. Wie kann

ich aber wissen, daß sie in diesem Fall nicht stimmen, wenn

ich eben diesen allgemeinen Zug nicht kenne? Erst auf dem

Hintergrund solcher allgemeinen Einsichten kann ich das

Besondere und Einmalige eines bestimmten Zuges einer

Dichtung erst recht in seinem Dasein, in seiner Entstehung

und seinem Sinn im Ganzen erfassen. Grundsätze des Wertens

sind auch deshalb nötig, weil sonst der Willkür des Interpretierens

Tür und Tor geöffnet wäre. Versuche, in die oft noch |#f0349 : 333|



schwer zu erfassende Kunst unserer Zeit einzudringen, sind

nicht einfach, aber durchaus nötig. Doch gerade da wird ein

Rückgrat gewissenhaften Kunstbewußtseins verlangt. Man

darf weder vergessen, daß schon Jahrhunderte, ja noch mehr,

vor unseren Tagen Kunstwerke geschaffen worden sind, noch

einfach meinen, alle Versuche in der Kunst unserer Tage

seien schon Kunstwerke. Wenn solche Maßstäbe fehlen, sind

Aussagen möglich, die rücksichtslos behaupten, weil das

Werk von einem Schizophrenen stammt, muß es ein Kunstwerk

sein, oder: Verzerrung und Zertrümmerung alles

Menschlichen ist humanistische Gesinnung, nur solche Zertrümmerung

ist Kunst. Wie kann man von solchen Behauptungen

noch zur großen Kunst der Vergangenheit hinfinden,

zu Raffael, Michelangelo, zu Beethoven, zu Sophokles, zu

Shakespeare? Oder haben solche Werke uns Heutigen nichts

mehr zu sagen? Nicht, daß solche Erscheinungen moderner

Kunst abzulehnen sind; aber die Gefahr setzt ein, wenn man

nur mehr sie als Kunst wertet. Maßstäbe fürs Werten müssen

zugrunde gelegt werden, die auch an die ewigen Werke der

Weltliteratur angelegt werden können. Zweitausend Jahre

abendländischer Kunst sind immerhin doch nicht ganz ohne

Gewicht gegenüber den Schöpfungen der letzten 50 Jahre.



Erst unter all diesen Voraussetzungen ist es möglich, überhaupt

gewisse grundlegende Maßstäbe für das Werten von Dichtung

errichten zu können. Die ersten zwei Grundfragen bleiben

immer: 1. Ist es ein Gedicht? Hier ist der erste unbedingte

Maßstab die dichterische Sprache. Wir haben uns bemüht,

ihre Grundzüge herauszuarbeiten. 2. Ist es ein gutes Gedicht?

Damit sind wir schon bei einem sehr allgemeinen Wertmaßstab:

gut ─ schlecht. Sicher kann man sagen, daß ein Gedicht,

das einem künstlerisch aufgeschlossenen, erfahrenen und

innerlichen Menschen ein tiefes Werterleben auslöst, ein

gutes Gedicht ist. Wir können auch weitergehen: solche

Werterlebnisse werden sich sicher nicht einstellen, wo die

primitivsten technischen Regeln der Sprachgestaltung und vor

allem der künstlerischen Form verletzt sind. Technische Vollendung

bis zu einem gewissen Grade ist also eine Voraussetzung.

Aber entscheidend ist, daß man den Eindruck hat: |#f0350 : 334|



hier hat ein bestimmter Gehalt seine ihm eigene vollendete

künstlerische Gestaltung gefunden. Wo aber deutlich wird,

daß die Gestaltung zwar gewollt, aber mißglückt ist, handelt

es sich um ein schlechtes Kunstwerk. Wo aber solche Gestaltung

überhaupt nicht beabsichtigt ist, ist von einem Kunstwerk

von vornherein nicht die Rede. Solch strenge Maßstäbe

sind bei kleinen Gedichten verhältnismäßig leicht anzulegen,

viel schwerer aber bei großen Dichtungen. Aus der

Begrenztheit menschlichen Schöpfertums ergibt sich ohne

weiteres, daß wohl jede große Dichtung ─ wobei hier nicht

nur an den Umfang gedacht wird ─ schwache Stellen aufweist.

Sie können nach dem italienischen Philosophen Benedetto

Croce zweierlei Art sein: Unvollendetheiten, wo eben der

Dichter nicht die Kraft hatte, auf gleicher Höhe zu bleiben.

Oft sind solche Teile vielleicht nur als vorläufige Übergänge

gedacht gewesen, dann aber aus irgendeinem Grunde stehen

geblieben. Dabei kann man beobachten, daß große Dichter

sich selbst über solche Schwächen meist sofort und

genau im klaren sind und das auch in nachfolgenden sachlichen

Aussagen deutlich aussprechen, so etwa Schiller in

seinen Selbstrezensionen. Aber zwischen theoretischer Einsicht

und höchstem schöpferischem Können bestehen eben Spannungen.

Solche Schwächen werden nur im Zusammenhang

des ganzen Werkes gewertet werden können. Es macht einen

Unterschied, ob sie zahlreich sind, ob es entscheidende Stellen

der Dichtung betrifft, ob es schweres Versagen in der Gestaltung

ist. Eine andere Art schwacher Stellen sind kleine

Aufbauglieder, die für Übergänge notwendig sind, auch

kleinere mehr gedankliche Teile, kurzum Stellen, die aus dem

Gefüge des Ganzen nicht wegzudenken, aber doch eben an

sich künstlerisch nicht durchgebildet sind.



Die Frage nach gut und schlecht hat uns neuerlich auf die

Bedeutung der Form in der Dichtung geführt. Denn nur solche

Dichtungen können von vornherein als gut bezeichnet werden,

die dichterisch durchgestaltet sind. Dabei darf nun der

Ausdruck Form für die Wertung nicht zu sehr eingeengt

werden. Drei Fragen drängen sich in dieser Hinsicht auf.



1. Die Frage nach den überlieferten Formen wie Topoi, |#f0351 : 335|



Metaphern, üblichen Vergleichen und Bildern, Allegorien,

Emblemen, bestimmten rhetorischen Figuren. Das Entscheidende

ist nicht, wieviele dieser Formen eine Dichtung aufweist.

Sondern vielmehr ist es wichtig festzustellen, welche es

sind, wie also der Dichter aus dem gebotenen Schatz ausgewählt,

vor allem aber, was er daraus gemacht hat. Nicht die

Tatsache, daß an einer Stelle ein seit dem Hellenismus bekannter

Topos eingesetzt wird, ist maßgebend, sondern wie der

Topos in der Dichtung eingesetzt ist, wie er wirkt und welche

Bedeutung er im Gehalt und in der künstlerischen Form hat.

Die sinn- und wirkungsvolle Einfügung, der Wert als Glied

ist einzuschätzen.



2. Form haben auch in ihrer Anlage sehr mannigfaltige,

reichgegliederte, ja spannungsreiche Dichtungen. Ja sogar:

Fehlen mächtiger Spannungen, Durchführung mit Hilfe eines

einzigen Formschemas, dauerndes Gleichbleiben der Gestimmtheit

führen zu Eintönigkeit, und sie ist eine Ursache

für das Ausbleiben eines Werterlebens. Die Gefahr einer

Wertminderung ist sogar dann gegeben, wenn gerade mit

Monotonie ein bestimmter Gehalt, eine Haltung gestaltet

werden soll. Das trifft teilweise auf die Erzählungen Kafkas zu.

Künstlerische Gestalt ist durchaus vorhanden, wenn sie große

und tiefgehende Spannungen und Gegensätze umfaßt. Man

denke an Dramen Shakespeares oder an die großen Romane

der Weltliteratur. Wir haben schon erwähnt, daß gerade Zerrissenheit

ein Kompositionsprinzip sein kann. Kein Zweifel,

daß der »Ulysses« von James Joyce eine Fülle disparatester

Glieder aufweist, aber sie alle sind zu einem deutlichen Ganzen

zusammengezwungen. Es kommt eben darauf an, den Sinn

der einzelnen Glieder fürs Ganze zu bestimmen. Der Teil in

diesem Roman, der sich in eine Reihe Zeitungsanzeigen aufzulösen

scheint, will eben die Atmosphäre der Redaktionsstube

bis in diese radikale Sprachgestaltung hinein lebendig machen.

Brüche und Unstimmigkeiten können sogar sinnvoll sein,

etwa zur Kennzeichnung einer Figur oder als eine Art, weltbildhafte

Situationen zu charakterisieren. Es ist tatsächlich

künstlerisch bedenklich, wenn man eine zerrissene Welt harmonisch

gestaltet. Denn durch solche Gestaltung wird sie |#f0352 : 336|



verfälscht. Aber es darf nicht übersehen werden, daß die Gespanntheiten,

Zerrissenheiten und Zertrümmerungen unserer

modernen Welt zwar in der Gespanntheit der Formung deutlich

erlebbar sein müssen, aber doch das Zusammenfügen zu

einer großen künstlerischen Ganzheit gelingen muß, wenn es

ein Kunstwerk sein soll, das ja aus der Gestaltung lebt. Meist

wird sich diese künstlerische Rundung daran zeigen, daß

durchs Ganze trotz allem eine einheitliche Grundgestimmtheit

geht. Zweifellos kommen wir durch solche Gestaltungen

an Grenzen der Kunst, zugleich aber ist es großen Dichtern

gerade da möglich, durch ihre Leistung diese Grenzen hinauszuschieben

und damit neue künstlerische Möglichkeiten zu

erringen. Aber Spannungen können auch Unstimmigkeiten

bedeuten, es kann zu Brüchen kommen. Sie sind gerade dann

zu erkennen, wenn sich nicht irgendein Sinn des betreffenden

Gliedes im Ganzen der Dichtung finden läßt, oder wenn er

sich nur spitzfindig hineinkonstruieren läßt.



3. Diese Feststellungen über Spannungsmöglichkeiten

dürfen aber nicht dazu führen, klare Formen, Einfalt und geschlossene

Schlichtheit als solche abzuwerten. Gewiß kann

allzu glatte Form im ganzen oft Oberflächlichkeit, sogar Flucht

vor den Bedrängnissen der Welt bedeuten, statt ihrer künstlerisch

Herr zu werden. Aber grundsätzlich nur Zerstörung,

Hilflosigkeit, Aufgeben jeder Persönlichkeit, Zerstückelung

der Welt, ja sogar Vernichtung der künstlerischen Form für

künstlerisch einzig belangvoll in der heutigen Zeit zu halten

und das Gegenteil sogar als Unwahrheit anzusehen, ist arges

Danebengreifen. Auch Aussagen wie die, daß makellose

Form dem Geist der Kunst heute zuwider sei, daß Künstler nur

sei, wer an der zerbrechenden Form der Welt verblute, sind

gefährlich. Auch früher haben Künstler gelitten und Leiden

dargestellt, aber das Kunstwerk ist daran nicht zerbrochen.

Und immer wieder muß gesagt werden: Solche Ansichten

können uns den Wert gewisser Dichtungen unserer Zeit erschließen,

aber es besteht die Gefahr, daß sie zu ausschließlich

nur mehr solche Dichtungen Kunst nennen und damit die

Wege zur großen Dichtung von Homer bis Goethe verschütten.

Und die weitere Gefahr entsteht, daß echte Dichtung der |#f0353 : 337|



Gegenwart, die zur Einfalt und stillen Größe aus all dem

Zerrissenen hinfindet oder auch nur hintastet, z. B. auch alle

echt christliche Dichtung der Gegenwart, als oberflächlich

oder verlogen angeprangert wird. Solches ist tatsächlich geschehen.





Wir sind damit schon in die Nähe der Begriffe schön und

häßlich gekommen. Auch sie enthalten Werturteile, und zwar

ausgesprochen ästhetische. Aber auch da gilt es, sich vor

Mißverständnissen zu hüten. Vor allem: Diese Urteile gelten

unmittelbar für die Gestaltung. Moderne Ästhetiker haben

wieder das Wort »schön«, wie wir das schon S. 35 f. angedeutet

haben, als Qualitätsbezeichnung für den ästhetischen Wert im

weitesten Sinn eingesetzt. In diesem Sinne wäre schön eben

das ästhetisch Wertvolle. Es würde unter sich alle Besonderungen

des Ästhetischen einbegreifen. Wir könnten dann in

leichter Abwandlung einer Bestimmung bei Nicolai Hartmann

mit Rücksicht auf das dichterische Werk, das auf

Sprache fundiert ist, sagen: Schön ist alles, dessen Gestaltung

uns ein Tieferes, ein Inneres offenbart. In diesem Zusammenklang

einer Gestalt und eines Inneren kann man Einstimmigkeit

sehen und eben darin wieder das Schöne erleben. Gewiß

muß da der Gehalt des Wortes »schön« sehr gedehnt

werden, wenn man an moderne Dichtung bestimmter Art

denkt. Vielleicht wäre der Ausdruck »ästhetisch vollendet«

oder ein ähnlicher vorzuziehen. Denn bei »schön« denkt man

immer doch irgendwie an Harmonie, und Zerrissenheit kann

durchaus künstlerisch belangvoll und bedeutsam sein. Man

kann eben die Welt entweder als Harmonie erleben und gestalten

oder als Labyrinth (R. Hocke). Damit geraten wir in

den Begriff des Häßlichen. Bei ihm ist die Unklarheit noch

größer. Vielfach spricht man von häßlichen Gegenständen.

Das ist etwa der Fall, wenn man an das Gedicht G. Benns von

der Krebsbaracke denkt. Thersites ist häßlich, ebenso Richard

III. Im naturalistischen Drama kommen solche Häßlichkeiten

zur Genüge vor. In allen diesen Fällen handelt es sich tatsächlich

um Häßliches im Bereich der Gestalt, also des Ästhetischen.

Das Häßliche im sittlichen Sinn wollen wir hier von

vornherein ausschalten. Häßlich im ästhetischen Sinn ist also |#f0354 : 338|



das Unstimmige, die Disharmonie, der Widerspruch der

Teile zueinander oder des Äußeren mit dem Inneren. Nun

sind aber alle diese häßlichen Gestalten und Situationen, die

wir eben anführten, im Kunstwerk ja nicht die Gestaltung des

Kunstwerks, sondern das, was dargestellt wird, wenn man

will, der Gegenstand. Gerade die großen Beispiele eines

Thersites und Richard zeigen aber sofort, daß in der Dichtung

das Wort »häßlich« als Wertung nur verwendet werden sollte,

wenn es sich um die künstlerische Gestaltung selbst handelt.

Das Mißglücken der Gestaltung ist dann häßlich. Aber immerhin

besteht die Möglichkeit, daß auch einzelne häßliche

Formzüge im Rahmen des Ganzen sinnvoll und damit gerechtfertigt

sind. Hier herein gehört ─ wenigstens teilweise ─ wieder

die Frage der Deformation und der Verfremdung, die

schon berührt worden ist (S. 70 f., 277 f.). Deformation kann

zu Häßlichkeit führen, aber sie kann entweder in der künstlerischen

Gesamtgestalt sich als stimmig, als passend erweisen

oder als Kritik rationaler Geordnetheit künstlerisch wertvoll

sein. Aber immer stoßen wir hier an Grenzen. Doch was sagen

wir zu Dichtungen, die nur Häßliches gestalten? Ist das nicht

durchaus zulässig vom künstlerischen Standpunkt? Und doch

drängt sich einem ein Gefühl auf, als ob Dichtungen, die nur

im Häßlichen und Schlechten wühlen, trotz aller künstlerischen

Vollendung bedenklich seien. Hier ist aber zu beachten,

ob es solche Dichtung überhaupt gibt, ob höchste Gestaltung

wirklich dabei stehen bleibt, da sie ja doch Tiefes, Letztes enthüllen

soll, und solches Tiefste und Letzte kaum schlecht im

radikalen Sinn ist. Und wenn das doch einmal zutrifft, daß

vollendete Gestaltung nur diesen Bereich enthüllt, dann ist

wohl das Urteil erlaubt, daß hier Gestaltung virtuosenhaft

um ihrer selbst willen da und gar nicht imstande ist, Tiefen

zu enthüllen. Und das ist immerhin ein negatives Werturteil.





Es gibt noch einige andere Begriffspaare, die als Maßstäbe

zur Wertung herangezogen werden. Zunächst einmal der

Gegensatz von echt und unecht. Von einigen wird er sehr

wichtig genommen, von anderen abgelehnt. Man sieht die

Echtheit etwa in der großen umfassenden Einheit aller Elemente. |#f0355 : 339|



Das ist noch ziemlich unbestimmt und ließe sich auch

mit der Forderung des Zusammenstimmens in eins bringen.

Echt ist wohl genauer alles im Gedicht, was aus einem tiefen

Gefühl herauswächst, was aus ihm gestaltet ist und nicht bloß

geredet.



Knapp unter der Stadt, in der die Paläste stehn,

Die Türme der Dome in Wolken greifen,

Wo blühende Zweige in Gärten wehn

Und alle die müßigen Schritte schweifen ─

Knapp unter der Stadt, in der die Autos jagen,

Die Frauen Seide und Glitzern tragen,

Wo in den Nächten durch goldene Säle

Auf Wogen von gepudertem Fleisch

Das Sinne verwirrende Gekreisch

Von heiseren Geigen niederprasselt ─

Knapp unter der Stadt, da sind die Kanäle!
(Wildgans)


O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend

An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren,

Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;

Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.

O, das versunkene Läuten der Abendglocken
(Trakl).



In der ersten Strophe des ersten Gedichts kann man die blendenden

Bilder beachten, die klar angeordnet sind, sich steigern

und sich aus möglichst wirksamen Wortgruppen zusammenfügen.

Der letzte Vers überrascht, das Wort »Kanäle« trifft

hart auf das Rauschende der ersten Verse. Diese Kanäle werden

in den folgenden, hier nicht angeführten Versen in der gleichen

Wortfülle weiter dargestellt. Ganz anders wirkt das

Gedicht von Trakl. Auch hier sehr wirkungsvolle Bilder aus

nicht minder wirkungsvollen Worten gefügt. Aber auch der

unmittelbare Gefühlsausdruck bricht im zweimaligen »o«

durch, der einfachere Satzbau setzt einfach die furchtbaren

Bilder hin und baut sie nicht zu einem großen, kunstvoll geordneten

und gesteigerten Spannungsgefüge auf wie das erste

Gedicht. Man fühlt: Hier bricht ein echtes Gefühl unmittelbar

in der Sprachgestalt durch, dort wird es von Bildern ausgeformt,

die teilweise schon in langer Tradition bereitstehen, es

wird beredet. Man könnte das unecht nennen. Aber erst wenn

man das geradezu virtuosenhafte Spiel mit den weiteren Bildern |#f0356 : 340|



verfolgt, verdichtet sich dieser Eindruck zu voller Einsicht.

Eine gewisse Unechtheit, nicht des Gefühls, wohl aber

der Gestaltung, müssen wir dem Dichter Wildgans vorwerfen.

Damit aber streifen wir eine sehr schwierige Frage: Ist dieses

Kriterium der unmittelbaren Gefühlsgestaltung immer zutreffend?

Kann nicht auch eine alle Möglichkeiten und alle

bereitstehenden Mittel meisterhaft beherrschende Gestaltung

künstlerisch wertvoll sein? Wir sind an einer entscheidenden

Frage. Wer das Menschliche in der künstlerischen Gestaltung

mitfühlen will, wird dem zweiten Gedicht unbedingt den

höheren Wert zuerkennen; zweifelhaft mag das bei dem sein,

der allein das künstlerische Gebilde als Ding für sich betrachtet.

Die Lösung liegt wohl da: Wo bei gleicher Vollendetheit

des Formalen zugleich das Menschliche durchbricht, wird

sicher der höhere Wert liegen, weil ja so auch die größere gehaltliche

Fülle aus der Gestalt heraus offenbar wird. Freilich

bleibt die Frage, ob überhaupt aus bloßem Drang rhetorischen

Darstellens höchste Formvollendung erreichbar ist.



Eine andere Unterscheidung ist die zwischen tiefer und

flacher Kunst. Diese ist aus unserer Begriffsbestimmung klar.

Kunst, die in ihrer Gestalt besondere Tiefen enthüllt, die also

in viele sich öffnende Schichten blicken läßt, ist tief, solche,

die weniger in die Tiefen lotet, ist flach. Das muß nichts mit

gut und schlecht zu tun haben. Ein heiteres Frühlingslied kann

vollendet sein, wenn es auch keine metaphysischen Tiefen

öffnet, und manche Dichtungen wollen Tiefe geben, sind

aber nichts als versifizierte philosophische Abhandlungen, bei

denen man erst hinter die Form und Darstellung greifen muß,

um zum Gehalt zu stoßen ─ wie bei einer Sachdarstellung mit

Recht. Hier aber wird vorgetäuscht, in der Kunst läge schon

der Sinn. In echter, tiefer Kunst haben wir an der künstlerischen

Gestalt und in ihr selbst den tiefen Gehalt, so im »Faust«,

in den »Hymnen an die Nacht«. Flache Kunst, die zugleich

schlecht ist, nähert sich allerdings dem Kitsch.



Zuletzt sei noch der Begriff einer großen Dichtung geklärt.

Wir wollen das Wort »groß«─ganz seinem Sinn entsprechend ─

nicht mit »tief« oder »wertvoll« usw. gleichsetzen. Wir denken

an eine Dichtung, die durch den umfassenden, weit- und |#f0357 : 341|



tiefreichenden Gehalt ausgezeichnet ist. Daß sie auch gut sei,

ist vorausgesetzt. Wir bezeichnen also wohl den »Faust«, den

»Don Quijote«, den »Hamlet«, die »Divina Commedia« usw.

als große Dichtungen, weil in ihnen in künstlerischer Form,

also in ihnen als Dichtung ein umfassender Gehalt gestaltet

wird, die Zueignung Goethes, eine Novelle Boccaccios nicht,

ohne daß damit am künstlerischen Wert Kritik geübt wird.

|#f0358 : E342|

|#f0359 : E343|



VIERTER TEIL

DIE ENTFALTUNG DER DICHTERISCHEN

MÖGLICHKEITEN
|#f0360 : E344|



I

DIE AUSGANGSPUNKTE


Vorfragen


Mit der Betrachtung der Dichtungsgattungen und -arten

betreten wir ein sehr bekanntes, aber sehr schwieriges Gebiet.

Die verschiedensten Fragen drängen sich auf. Soll man nach

Formen, Gattungen, Arten, nach Typen oder gar Urphänomenen

einteilen? Lassen sich alle Dichtungen klassifizieren,

oder gibt es Mischformen? Sind die reinen oder die Mischformen

die wertvolleren? Ist die Einteilung rein theoretisch

aus Einsichten in das Wesen der Dichtung vorzunehmen, oder

spielen geschichtliche Tatsachen auch eine Rolle? Endlich: Was

ist mit solchen Einteilungen gewonnen?



Eine Tatsache aber drängt sich auf: Es gibt wesenhafte

Unterschiede in der Art, sprachkünstlerisch zu außerdichterischen

Sachverhalten Stellung zu nehmen. Es ist etwas anderes,

ob ich mich über etwas Erlebtes in einem Lied ausdrücke, ob

ich einen Bericht gebe oder ob ich das Ereignis in einem Spiel

wiedergebe. Da sind schon Andeutungen dessen gegeben, was

man ganz allgemein als lyrisch, episch und dramatisch bezeichnet.

Aber das sind noch grobe Sonderungen. Wenn wir

nicht äußerlich sein oder einfach diktatorisch Feststellungen

treffen wollen, müssen wir tiefer schauen und umsichtig vorgehen.





Die Ursachen für die verwirrte Lage und die Uneinigkeit

in der Gattungsfrage sind verschieden. Eine sehr wichtige

ist die Tatsache, daß allen diesen Einteilungsversuchen verschiedene

Gesichtspunkte zugrunde gelegt werden. Man verquickt

menschliche Grundhaltungen mit theoretischen Forderungen,

bestimmten ästhetischen Sichten, geschichtlichen

Traditionen und Umbrüchen. Eine klare Überschau kann so

nie zustande kommen.

|#f0361 : 345|



Eine weitere ist die Terminologie. Die Unklarheit in ihr

liegt vor allem darin, daß die Fachausdrücke bald aus geschichtlicher

Einstellung, bald aus ästhetischen Blickpunkten

oder aus psychologischen Überlegungen hervorgehen. Auch

wesentliche Unterschiede zwischen den Sprachen bestehen.

Trotzdem darf man den Sprachgebrauch nicht vernachlässigen,

denn in ihm ist die tatsächliche Auffassung dieser

Sachverhalte festgelegt.



Schon innerhalb der deutschen Fachausdrücke ─ und ähnlich

ist es in anderen Sprachen ─ herrscht Verwirrung. Goethe

nannte Lyrik, Epik und Dramatik Naturformen, ein neuerer

Grundhaltungen; Elegien, Oden, Hymnen waren für Goethe

Dichtarten, für einen anderen sind es Gattungen. Man sollte

aber auf alle Fälle heute, entsprechend der Übung bei allen

Begriffseinteilungen, den Ausdruck »Gattung« immer für die

übergeordneten Bereiche verwenden, den Ausdruck »Art« für

die untergeordneten. Auch die Worte lyrisch, episch und

dramatisch sind sehr verschieden gebraucht. Wenn man, abgesehen

von den Schwankungen in der strengen wissenschaftlichen

Terminologie, lyrisch als schwungvoll, episch als breit,

dramatisch als »in Gesprächsform« faßt, dann wird Schiller

zum Lyriker, Homer ist vielfach dramatisch und Shakespeare

vielfach episch. Trotzdem wird man immer wieder Schiller

und Shakespeare als Dramatiker, Homer als Epiker bezeichnen.

Hier ist Sauberkeit notwendig.



Wichtig ist es auch zu erkennen, daß scheinbar gleiche

Worte in verschiedenen Sprachen Verschiedenes bedeuten.

Einige Beispiele aus dem Vergleich des Deutschen und des

Englischen. Das deutsche Wort Lyrik faßt einen großen Bereich

zusammen in deutlicher Entgegenstellung zu Epik und

Dramatik, das englische ›lyric‹ hebt mehr einen bestimmten

inneren Gehalt heraus. »Dichtung« umfaßt im Deutschen auch

Prosa, z. B. den »Werther« oder den »Grünen Heinrich«.

Englisch ›poetry‹ gilt nur für Versdichtung. Das Wort

›fiction‹ fehlt dem Deutschen als Sammelname für moderne

epische Gestaltung. Die Einführung des Ausdrucks in die

Fachsprache der deutschen Poetik gibt, wie wir sehen werden,

zu Bedenken Anlaß. Englisch ›novel‹ bedeutet Roman, den |#f0362 : 346|



Ausdruck Novelle kennt der Engländer nicht, denn ›short

story‹ ist nicht Novelle, der deutsche Ausdruck Kurzgeschichte

ist eine Lehnübersetzung. Alle diese Überschneidungen,

vor allem auch die Tatsache, daß die Einteilung Lyrik ─

Epik ─ Dramatik im Englischen nicht genau wiedergegeben

werden kann, zeigen: Die geistige Gliederung aller Bereiche

der Dichtung ist in den zwei Sprachen verschieden, damit

auch die ordnende Sicht auf alle Gebiete der Dichtung. Die

Engländer sehen in ihrer Poetik aus ihrer Sprache heraus

andere Probleme als die Deutschen. Daraus ergibt sich die

Tatsache, daß die poetischen Erörterungen zunächst immer

auf eine bestimmte Sprachgemeinschaft beschränkt sind. Auch

was in diesem Buch dargestellt wird, geht von der deutschen

Sichtweise aus. Man muß sich also immer bewußt bleiben, daß

die einzelnen Sprachgemeinschaften je in ihrer Weise zu den

Fragen der Dichtung Stellung nehmen. Das mag eine Einseitigkeit

sein; sie kann aber nicht vermieden werden. Zugleich

lernt so der geistig Aufgeschlossene auch die anderen Sichten

kennen, und sie alle runden sich doch zu einem langsam werdenden

Gesamtbild von den Möglichkeiten dichterischer Gestaltung.





Eine weitere Ursache für die Verworrenheit ist die Geschichte

der Fachsprache der Poetik. Nur kurz sei gesagt, daß

die heute übliche Scheidung von Lyrik, Epik und Dramatik

nichts Naturgegebenes ist, sondern daß diese Gruppierung in

Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, in Frankreich erst

in der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich wird. Die Geschichte

der Einteilung spiegelt geistige Wandlungen des Abendlandes.

Eine Einheitlichkeit in der Einteilung der Dichtungsgattungen

gab und gibt es nicht, auch der Gehalt der Worte Lyrik, Epik

und Dramatik hat sich im Lauf der Zeiten gewandelt. Und

wenn wir heute die Dichtung im ganzen nach Lyrik, Epik und

Dramatik gliedern, so ist das eben unsere heutige Sicht auf das

Gesamte des Dichterischen, aus der sich auch neue Einsichten in

die Dichtkunst ergeben. Dabei ist die Dreigliederung selbst

wohl wahrscheinlich aus unserer heutigen Art, die Dinge zu

sehen, durchaus gerechtfertigt. Aber es muß immer damit gerechnet

werden, daß Gattungen aussterben können. Auch die |#f0363 : 347|



Möglichkeit neuer Gattungen, für die wir in unserem System

noch keinen Platz haben, ist gegeben. Das heißt: Es hat Dichtungen

gegeben und es kann wieder solche geben, die in das

Dreiersystem nur gewaltsam eingebaut werden können.

Denn es ist ja erst knapp zwei Jahrhunderte alt. Und in diesem

Zeitraum können frühere Arten aus bestimmten Gründen

ganz zurückgetreten sein und neue sich erst langsam durchsetzen.

Eine Poetik allerdings, die das Ganze der Dichtung

auch zeitlich überblicken möchte, sollte weit genug sein, ohne

Gewaltsamkeit auch wirklich zu ordnen. Von diesem Gesichtspunkt

aus sei auch hier der Versuch gewagt, in einer

bestimmten Richtung an der geheiligten Dreizahl zu rütteln.



Ein geschichtlicher Blick auf das Werden der Gattungen

und Arten gibt den Eindruck, daß sich ihre Zahl im Lauf der

Entwicklung stark vermehrt. Das hängt nicht bloß damit

zusammen, daß wir das zeitlich Naheliegende in seiner bedrängenden

Fülle reicher gliedern müssen, um es geistig zu

bewältigen, sondern wohl auch mit der gesamten immer

weitergehenden Lebensausdifferenzierung auf unserer Kulturstufe:

Die Umwelt wird immer verwirrender und umfangreicher,

so muß auch unser Stellungnehmen immer feiner ausgegliedert

werden. Das betrifft auch das künstlerische Antworten

auf alle uns zustoßenden Bedrängnisse. Dabei besteht

in der Poetik tatsächlich die Gefahr einer Überdifferenzierung:

Petersen hat ein Rad der Dichtungsarten versucht, auf dem er

neben der Urdichtung und innerhalb der drei Hauptgattungen

nicht weniger als 37 Arten unterbringt. Diese Überdifferenzierung

hängt auch damit zusammen, daß Typologisches und

Geschichtliches willkürlich vermischt werden.



Diese verwirrende Vielheit hat auch dazu geführt, alle diese

Bemühungen abzulehnen, die Einteilung in Dichtungsgattungen

mit allem Nachdruck zu bekämpfen. Croce hat das

vor allem getan. Die Gattungen seien aus den Normen der

Poetiken seit dem Hellenismus erwachsen, diese Lehrbücher

hätten Autorität erlangt und die Dichter sich ihnen gebeugt.

Doch hat er nicht völlig überzeugen können. Gewiß wird

man die Autorität der Lehrbücher in ihrer Wirkung auf die

Ausbildung und Durchformung der Gattungen und Arten |#f0364 : 348|



stark beachten müssen. Aber es gibt auch andere Antriebe für

die Gestaltung innerhalb gewisser typischer Gesetzmäßigkeiten.

Das gilt nicht nur für die Dichtkunst. Einerseits liegt

das an den inneren menschlichen Haltungen der Dichter, aber

auch an den Bedürfnissen des Publikums, um gleich zwei ganz

entgegengesetzte Antriebe zu nennen. Die Formen wirken ja

auch so stark, daß sie sogar den Gehalt berühren. Umgekehrt

können große Künstler freier schalten. Auch für die Interpretation

sind diese Gruppierungen wertvoll: Sie ermöglichen,

die Dichtungen klarer in den Blick zu bekommen, sie nach bestimmten

Gesichtspunkten gerade in ihrer Eigenart zu erkennen.





Und so haben sich immer wieder neue Versuche der Einteilung

gefunden, trotz Croces Ansicht. Im folgenden nur

einige Beispiele: Berger bringt die Epik mit dem Vorherrschen

der Anschauung, die Lyrik mit dem des Gefühls, die

Dramatik mit der symbolischen Einheit der Idee zusammen.

Hankiss begründet die Einteilung nach den verschiedenen

Gemütshaltungen. Spoerri geht schon sehr ausführlich vor:

Die Lyrik eröffnet die innere Welt, sie pflegt die Ich-Form;

die Epik blickt auf die äußere Welt, sie pflegt die Er-Form;

die Dramatik stellt den Menschen zwischen die äußere und

innere Welt, der Mensch selbst wird hörbar und sichtbar, es

entwickelt sich die Du-Form.



Man kann also heute wohl folgende Einstellungen zu diesen

Fragen treffen: 1. Eine scharfe theoretische Aufstellung und

Durchführung von drei Hauptgattungen. 2. Eine Auflockerung

in bestimmte Gruppenbildungen. 3. Eine völlige Verwerfung

aller Einteilungsversuche. 4. Eine Trennung in innere

Haltungen und in traditionelle Formen.



Im folgenden Versuch bleibt das Maßgebende überall die

dichterische Gestalt. Aber ein geschlossenes System in logischer

Vollkommenheit ist unmöglich. Bevor wir die großen

Gruppen im einzelnen betrachten, soll gezeigt werden, von

welchen Gesichtspunkten aus man zu Einteilungen kommen

kann und wie sich die heute üblichen herausentwickeln. Wir

gehen die Übersicht von fünf Seiten an: 1. Von den inneren

menschlichen Haltungen, 2. von den Urformen sprachkünstlerischen |#f0365 : 349|



Gestaltens, 3. von den Arten der sprachkünstlerisch

geformten Wirklichkeit, 4. von der Ausbildung geschichtlicher

Gattungen und Arten, 5. von der Bildung von Typen.



Die grundlegenden menschlichen Haltungen



Wir meinen die menschlichen Haltungen, die sich aus dem

Betroffensein von der Welt ergeben. Der Mensch reagiert verschieden

auf die im Erleben ihm begegnende Wirklichkeit.

Man kann das auf die verschiedenen seelischen Grundhaltungen

aufteilen. Der eine Mensch antwortet mit seinem Begehrungsvermögen,

als das »Wesen, welches will« (Schiller), der

andere mit seinem Erkenntnisvermögen, als das Wesen, das

erkennt und überschaut, ein dritter unmittelbar mit dem Gefühl,

als das Wesen, das sich im Fühlen ausspricht. Man kann

mit einiger Vorsicht in diesen Haltungen schon Wege zum

Drama, zum Epos und zur Lyrik finden. Auch was wir gerade

früher von Spoerri erwähnt haben, hat mit diesen inneren

Haltungen zu tun. Aber vor allem Staiger hat diese menschlichen

Grundhaltungen herausgearbeitet, die zu bestimmten

dichterischen Gestaltungsweisen gehören. In diesem Sinne

verwendet er die Ausdrücke lyrisch, episch, dramatisch. Nie

meint Staiger damit die tatsächlichen, in der Dichtungsgeschichte

auftretenden Gattungen, sondern er sucht gleichsam

nach der platonischen Idee dieser Gestaltungsweisen, nach

ihrem tiefsten Wesen, und er sucht es in menschlichen Grundhaltungen,

also auf anthropologischem Wege. Wie sich diese

Grundhaltungen dann in konkreten Dichtungen auswirken

und zeigen, ist eine weitere Frage der Poetik, die Staiger in

seinem Buch nur am Rande betrachtet. Daß Staiger die Worte

lyrisch, episch und dramatisch in diesem anthropologischen

Sinne nimmt und damit vielfach in Widerspruch zur üblichen

Verwendung, auch in der Wissenschaft, gerät, muß zur

Kenntnis genommen werden; er versteht mit ihnen eben

diese Grundhaltungen in ihrer Auswirkung in der dichterischen

Gestalt.



Dabei zeigt sich, daß diese Grundhaltungen mit dem Zeiterleben |#f0366 : 350|



des Menschen eng zusammenhängen. Denn in allem

Betroffensein von der Welt, vom Sein wird der Mensch vor

allem von der Tatsache erregt, daß alles Sein Zeit ist. Wir

können uns in den Strom der Vergänglichkeit hineinfühlen,

zurücksinken in die Erinnerung; wir können vom Ufer der

Gegenwart aus gleichsam dem Strom zuschauen; wir können

auch auf das hin angespannt sein, was erst kommt. Der Zusammenhang

der dichterischen Gestaltungsweisen mit dem

menschlichen Zeitbezug ist nicht ganz eindeutig, aber man

kann doch wohl am ehesten so sagen: In der Offenbarung

eines gegebenen Zustandes wird uns die Gegenwart bewußt,

die Zeitlichkeit ist hier ganz ohne Beschwernis und Angespanntheit.

Auch das, was im Zurückwenden erfaßt wird,

wird in die Strömung des seelischen Erlebens hereingenommen.

Wir nähern uns hier deutlich dem Lyrischen, wobei

wir nun die Worte im Sinne Staigers nehmen. Vergangenes

Geschehen kann in der dichterischen Gestaltung erinnernd beschworen,

wieder in die Gegenwart heraufgehoben werden,

aber doch zugleich als Vergangenes bewußt bleiben: eine

Grundhaltung des Epischen. Wieder anders ist unsere Haltung

gegenüber dem Zukünftigen: Hier spielen Sorge und Angespanntheit

eine entscheidende Rolle. Da taucht die Atmosphäre

des Schicksals auf. Wir spüren das auch dann, wenn

Vergangenes langsam enthüllt wird. Im »Ödipus« ist alles, was

enthüllt wird, schon längst vergangen, aber wir sind angespannt

auf seine Enthüllung, die in der Zukunft liegt. Hier ist

das Zeiterleben besonders deutlich. Wir sind im Bereich

dramatischen Gestaltens.



1. Die eine Grundhaltung können wir in kleiner Abänderung

von Staigers Ausdruck als Verinnerung bezeichnen. Es ist

eine Stimmung, in der wir in den Dingen sind und sie in uns:

wir gehen in dem Stück Welt, das uns begegnet, auf und

nehmen es in unser Inneres ganz herein. Solche Stimmung

erschließt uns das Dasein unmittelbarer als Anschauung oder

Begriff. »Alles Seiende ... ist in der Stimmung nicht Gegenstand,

sondern Zustand. Zuständlichkeit ist die Seinsart von

Mensch und Natur in der lyrischen Poesie« (Staiger). Es fehlt

jeder Abstand zwischen Subjekt und Objekt, es ist ein völliges |#f0367 : 351|



Ineinander. Gerade hier aber zeigt sich bereits, daß der Ausdruck

»lyrisch« gegenüber der üblichen Weise eingeengt wird.

Diese hier beschriebene menschliche Haltung ist in vielen Gedichten

grundlegend, vor allem im schlichten Lied; aber wir

finden sie gerade nicht in anderen Formen, die man üblicherweise

auch als lyrisch bezeichnet, z. B. in der Ode. Denn hier

tritt der Mensch der Welt wirklich in einer gewissen Spannung

gegenüber. Wir sehen also schon, wie im Begriff der

Lyrik mehreres zusammenfließt und daß also der Sammelname

Lyrik sich nicht mit der Grundhaltung der Verinnerung

oder des Lyrischen deckt. Das ist keine Kritik an Staiger oder

höchstens eine solche am Gebrauch des Wortes lyrisch, vielmehr

eine Warnung, unbesehen die lyrische Haltung auf alle

lyrischen Arten anzuwenden.



2. Ich versuche nun, hier eine weitere Grundhaltung einzuschieben,

die sich in den anderen nicht völlig unterbringen

läßt: die Betrachtung. Es ist eine Haltung, die wir Ruhendem

gegenüber einnehmen. Man versenkt sich in ein ruhendes Stück

Welt, in einen bestimmten Zusammenhang, in einen menschlichen

Charakter, ein Gebilde der Natur, etwa eine Pflanze,

eine Landschaft, den Mond. Zum Unterschied von der Verinnerung

bleiben wir uns hier des Abstandes bewußt, es tritt

kein Verschmelzen von Mensch und Welt ein. Die betrachtende

Haltung ist aber durchaus gemüthaft gestimmt, wenn

auch der klärende Verstand mitwirken kann Es gibt viele

lyrische Gedichte im üblichen Sinn, die aus dieser Haltung

hervorgehen, aber nicht bloß lyrische. Ich denke etwa an

Goethes Gedichte »Die Metamorphose der Pflanze« und

»Schillers Reliquien«.



3. Das Zuschauen ist eine andere Haltung und muß vom

Betrachten unterschieden werden: während die Betrachtung

sich dem Ruhenden widmet, wendet sich das Zuschauen Vorgängen

zu. Auch der Zuschauende hat Abstand vom Angeschauten,

das wie ein Strom vor ihm vorüberfließt. Der

Zuschauende hat räumlichen und zeitlichen Abstand: Er

schaut ins Vergangene zurück, er blickt in seine Tiefen. Aber

indem er dieses Vergangene sprachlich gestaltet, befestigt er

es, stellt es uns vor. Er versucht, ihm Dauer zu verschaffen. |#f0368 : 352|



Das ist die Grundhaltung des Epischen. Wir erkennen sie

klar in ältesten uns erhaltenen Formen der epischen Dichtung,

im Epos, also vor allem in den homerischen Dichtungen.

Wieder darf diese Grundhaltung nicht einfach auf die Epik

überhaupt übertragen werden. Es gibt epische Dichtungen,

die kaum etwas mit dieser Haltung zu tun haben. Ich weise

etwa jetzt schon auf eine knappe Ballade hin. Wir wollen

wieder festhalten, daß es sich hier um eine andere, jetzt die

dritte, Grundhaltung handelt, die sich in Sprachkunstwerken

ausformt. Wir nennen diese Haltung das Epische.



4. Eine vierte Grundhaltung möchte ich ganz allgemein

das Hingerissensein nennen. Sie zeigt sich in zwei Formen.

Einmal als das Pathetische. Ein pathetischer Mensch stimmt

sich nicht mehr ein, er betrachtet nicht ruhig und hat auch

nicht die Geduld, zuzuschauen. Er ist ergriffen vom Gegenüber

und drängt danach, von erhöhtem Stand andere mit

aller Kraft darauf hinzuweisen. Diese Haltung verlangt bereits

deutlich andere Menschen, ein Publikum, dem er vom Podium

aus zuruft. Es ist der vom Erlebten Ergriffene, der Mitgerissene.

Die andere Form ist die Haltung des Problematischen.

Da drängt der Mensch in angespannter Haltung einem

Ziel zu, das er erreichen will. Dieses Ziel ist ihm etwas bereits

Vorausgeworfenes (Problema ist ursprünglich das einem Vor-

Geworfene, Aufgegebene), in Anspannung strebt er drauflos,

es einzuholen, damit sich die Spannung löse. Alles ist in

solcher Haltung des Ziels wegen da, es gibt kein ruhiges Nacheinander,

alles hat Funktion in größerem Zusammenhang.

Gerade weil hier die Teile unselbständig sind, entsteht Spannung,

weil keiner befriedigt und löst, sondern nur weiter

spannt. In der Verbindung vom Pathetischen und Problematischen

liegt das Dramatische. Wir dürfen in dieser Haltung

nicht bloß das Denkerische sehen, sondern gerade in

diesem Gerichtetsein, in diesem Angespanntsein liegen vor

allem Willenskräfte bloß, wieder öffnet sich das Innerste.

Wieder besteht ein Widerspruch zum Üblichen, diesmal im

umgekehrten Sinn: Denn nicht nur alles, was man gewöhnlich

als dramatisch oder Dramatik bezeichnet, fällt hier herein,

sondern auch manches, was in die Gattungen des Epischen |#f0369 : 353|



und Lyrischen gehört. Es handelt sich hier auch wieder

um innerste Haltungen, die lebendig werden in der Weltbegegnung

und sich in sprachlicher Gestaltung auswirken.



Es wird selten vorkommen, daß diese Haltungen in einer

Dichtung rein für sich vorkommen, daß eine Dichtung also

entweder nur Verinnern, Betrachten, Zuschauen oder Mitgerissensein

ist. Es ist sogar zu erwarten, daß die möglichen

Grundhaltungen in irgendeiner Weise immer alle vorhanden

sind. Das Dramatische setzt das Epische voraus, denn etwas

muß angeschaut werden, wenn Spannung entstehen soll.

Auch das Epische setzt bis zu einem gewissen Grad das

Lyrische voraus: Nur wenn der Erzähler mit dem Angeschauten

und also uns Vorgestellten gefühlsmäßig eins war, kann

er es so vorstellen, daß es uns nicht gleichgültig sei. Das Zusammenwirken

der drei Haltungen wird aber immer strukturiert

sein, d. h. eine wird den Kern bilden, die anderen

werden sich in bestimmter Weise einfügen.



Aus diesen in einer Dichtung immer vorhandenen menschlichen

Grundhaltungen erklärt sich nun aber eine weitere

Seite am Dasein der Dichtung: ihre Wirkung. Denn dadurch,

daß der schaffende Mensch als Mensch überhaupt an der

Weltbegegnung, die zur Dichtung führt, beteiligt ist, geht

dieses Menschliche auch in die Dichtung ein und kann von

ihr ausstrahlen auf die, die sie erleben. Hier treffen wir wieder

auf den einen wesentlichen Zug an jedem dichterischen Werk:

auf den Einbau des Menschlichen. Das ist bei der dramatischen

Haltung des Pathos und der Problematik ohne weiteres klar,

denn wir haben ja betont, daß in der pathetischen Haltung

ein gegenüberstehender Mensch verlangt wird und alles

Angespanntsein auf ein Ziel zu treibt zu derselben Anspannung.

Aber auch die anderen Haltungen regen menschlich

an. In der künstlerischen Gestaltung des Verschmelzens mit

einem Stück Welt in der lyrischen Haltung wird ja dieses

Einssein selbst lebendig und in den Werten der künstlerischen

Form uns unmittelbar zugänglich. Und das Zuschauen des

Dichters in der epischen Haltung, der dabei die breite Fülle

des Vergangenen entfaltet, macht auch uns zu Zuschauenden.

Freilich sind zwischen den Wirkungsmöglichkeiten der einzelnen |#f0370 : 354|



Haltungen bezeichnende und wesenhafte Unterschiede.

Die unmittelbarste und heftigste übt die dramatische

Haltung aus. Diese Heftigkeit fehlt dem Lyrischen, seine

Wirkung ist mehr innig und innerlich, gilt mehr für den

einsamen Menschen, während das Dramatische unmittelbar

an eine Vielheit gerichtet ist. Die Wirkung des Epischen ist

vor allem in ihrem Verlauf vom Dramatischen verschieden:

ruhige Dauer gegenüber heftiger Gespanntheit.



Die Urformen sprachkünstlerischen Gestaltens



Bei den grundlegenden menschlichen Haltungen haben wir

vor allem auf die Art geachtet, wie der Mensch von der ihm

begegnenden Welt getroffen wird, wie er innerlich auf sie

antwortet und wie diese Haltung dann auch in der sprachkünstlerischen

Formung durchklingt. Jetzt achten wir bei

der dichterischen Gestaltung auf die Art, wie der Dichter

seine sprachliche Welt hinausstellt, also auf das Hinausgestalten

eines Inneren in die Welt. Man kann das schon in den

engsten Gebilden der Sprache angedeutet finden. Zunächst

der reine sprachliche Ausdruck, der keine Absicht hat, sondern

nur verlautet: die Silbe. Dann das Gebilde, das etwas

aus der Erfahrungswelt herausgrenzt, vor uns hinstellt und

uns anschauen läßt: das Wort. Endlich die Sprachgebilde,

die einen Sinn aufbauen, deren Glieder in engster gegenseitiger

Verflechtung zu einem Ganzen hinwachsen: die Sätze.



Wir suchen nun die verschiedenen Arten klar herauszuheben,

wie dieses Hinausgestalten möglich ist. Urformen nennen

wir sie deshalb, weil sie auch in der ausgefaltetsten Großdichtung

noch erkennbar sein müssen, wie sie auch schon

in den einfachsten Gedichten da sind. Eine erste solche Urform

möchte ich das Singen nennen. Vielleicht ist es überhaupt

die Wurzel aller sprachkünstlerischen Formung, verbunden

allerdings mit der Musik. Seelische Erfahrungen und

Stimmungen werden im Singen nicht bloß hinausgetönt in

die Welt und erzeugen dadurch eine Selbstbefreiung des

Menschen vom Hochdruck der Stimmungen, freudiger oder |#f0371 : 355|



drückender, sondern sie werden dadurch zugleich zu objektiven

Gebilden, so daß der Mensch sein Inneres aus sich

hinausstellt und sich von ihm trennt: ein schöpferischer Vorgang

der Selbstbefreiung, der im Ausdruck zugleich Gestaltung

und Form wird. Wir spüren, daß wir mit dieser Urform

einem großen Teil dessen nahekommen, was man unter

lyrischen Arten versteht.



In dieser Urform liegt noch reinster Ausdruck eines Inneren.

Aber in der sprachkünstlerischen Formung können

auch Leistungen zur Kunst emporgeläutert sein, die sprachlicher

Darstellung überhaupt eignen. Der von mir deutlich

abgehobene Gegenstand, der mich zur Betrachtung angeregt

hat, kann nun auch in der sprachkünstlerischen Neuschöpfung

einfach gezeigt werden, wir stellen ihn durch die Kraft

der Sprache eindringlich in die Welt hinein: das Zeigen.

Selbstverständlich hat das Zeigen viel Verwandtschaft zu den

beiden folgenden Urformen, so daß es gewagt erscheinen

könnte, es gesondert herauszustellen. Aber es bestehen doch

deutliche Unterschiede, gerade auch in der Formung.



Ist der »Gegenstand«, der mich betroffen hat, den ich anschaue,

ein Vorgang, ein Ereignis, eine Handlung, etwas Geschehendes,

und will ich ihn nun sprachlich neu schaffen, so

daß im Sprachvorgang der andere mitablaufen kann, neu

erlebbar wird, so treffen wir auf die Urform des Erzählens.

Hier bauen wir vor uns die Welt auf aus sprachlichen Kräften,

suchen ihr dieselbe Fülle zu geben, mit der sie uns entgegengetreten

ist, aber gestalten sie als Werden, als einen Vorgang,

nicht als ruhendes Gebilde. In der Gestaltung der Welt als

Verlaufendes können wir erst recht ihre Fülle greifen.



Bisher war der Mensch als Singender, Zeigender, Erzählender

immer noch gleichsam Bestandteil auch der künstlerischen

Gestalt, es war in der betreffenden Dichtung immer einer

mitvernehmbar, der sang, zeigte, erzählte. Er kann aber in der

Gestaltung ganz zurücktreten: er schafft menschliche Figuren,

die er nun gleichsam als selbständige handeln läßt, er stellt

sie als Lebewesen vor uns hin und ist nur mehr in feinsten

Zügen dem aufmerksamen Beobachter vernehmbar: das

Darstellen. Es rollt menschliches Geschehen ab, als wenn es |#f0372 : 356|



eine Welt in sich wäre, nicht mehr hinausgestellt von einem

Schöpfer. Dabei aber wird der Dichter gedrängt, ein anderes

Mittel einzusetzen, einen Raum, in dem diese Darstellung

Selbständigkeit gewinnen kann: die Bühne. Wir schreiten

mit dieser Urform über die reine Form der Dichtung hinaus.

Aber immerhin: es scheint doch, daß wir auch in diesen Urformen

sprachkünstlerischen Gestaltens Wege zu den üblichen

Dichtungsgattungen vor uns hätten, wie das auch der

Fall war bei der Herausarbeitung der menschlichen Grundhaltungen.





Die Arten der sprachkünstlerisch geformten Wirklichkeit



In jedem Sprachwerk wird ein Stück geistiger Welt aufgebaut.

Nur in geistigem Ergreifen werden wir der Wirklichkeit

um uns Herr. In der Sprachkunst wird kraft der

Sprache und ihrer Stilwerte diese geistige Welt ein Gebilde

für sich, das als solches keinen unmittelbaren Bezug mehr

zur Wirklichkeit außer der Sprache hat. Diese sprachgeschaffene

Welt ist in sich geschlossen. Freilich: Wenn man

die Dichtung als Ganzes sieht, sind immer zwei Bezüge zur

außersprachlichen Wirklichkeit da: die Dichtung geht immer

aus einer Auseinandersetzung des Menschen mit der

Welt hervor und prägt sich in der Sprache aus, in der ja

dieser Bezug eingeformt ist. Und die Dichtung als geschlossene

Gestalt vermag in die Welt hinaus zu wirken. Die

sprachkünstlerisch geformte Wirklichkeit kann nun verschieden

geartet sein, woraus sich auch wieder mögliche

Arten dichterischer Prägung ergeben. Besonders entfalten

sich diese Arten in dem Verhältnis, in dem die dichterische

Wirklichkeit zur außersprachlichen stehen kann.



1. Wir gehen von dem Fall aus, daß eine außersprachliche

Wirklichkeit so auf uns wirkt, daß sie sprachlich aufgegriffen

und in der Sprache neugeformt wird. Das kann vom Menschen

her auf ganz verschiedene Weise geschehen. Es kann

dabei das Persönliche stark beteiligt sein, so daß die Neuformung

aus einem Erlebnis hervorgeht. Das Persönliche kann |#f0373 : 357|



auch sehr zurücktreten, so daß die ergriffene Sache ganz für

sich herausgestellt wird, wie das in philosophischen und mathematischen

Sätzen besonders rein der Fall ist. Die erste

Art ist nun begreiflicherweise für die Dichtung besonders

wichtig. Es kommt also zu einem starken Ergriffenwerden

eines Menschen von der Welt oder einem Bereich davon.

Dieses Ergriffenwerden drängt zu sprachlicher Aussage und

Formung. Wir haben es hier also mit dem Aussprechen unmittelbaren

Welterfahrens
zu tun. Und man wird der sprachlichen

Formung in irgendeiner Weise immer dieses unmittelbare

Ergriffenwerden anmerken: von der menschlichen Seite

her im starken Betonen dieses Menschlichen und des Einmaligen

der Welterfahrung (im Bereich der Ich-Formen, in

der Eigenwilligkeit der Bilder usw.), von der Seite der Welt

her in der Intensität, mit der sie sprachlich aufgegriffen wird

(Wortschatz der Nähe, spontane Sprachführung als Zeichen

für dauerndes unmittelbares Ergreifen jedes Stückes usw.).

Aber es kommt eben doch zu einem sprachkünstlerischen

Gebilde. Das heißt aber: Es löst sich dadurch vom einmaligen

Erlebnis ab und hebt die erfahrene Wirklichkeit durch die

Sprachkunst in einen für sich bestehenden Raum empor, die

erfahrene Wirklichkeit wird zu einer neuen Wirklichkeit im

Raum der Dichtung. Man kann nicht sagen, diese sprachliche

Wirklichkeit sei so geformt, »als ob« sie aus der außersprachlichen

hervorgehe. Was von dieser von drängender Wichtigkeit

bleibt, geht restlos in die sprachkünstlerische Form ein,

je mehr desto lebensvoller, aber sonst bestehen keine Bande

mehr, wie das etwa bei der Sachdarstellung der Fall ist, die

ja immer auf die außersprachliche Wirklichkeit hinweist.



Es schienen so golden die Sterne,

Am Fenster ich einsam stand,

Da hört ich aus weiter Ferne

Ein Posthorn im stillen Land.
(Eichendorff)



Ein unmittelbares Ergriffenwerden von einem Stück Welt

war sicher der Anstoß, aber nun ist es ein dichterisches Gebilde

für sich, das auch dann voll auf uns wirkt, wenn wir

uns nicht mehr das persönliche Erleben des Dichters bewußt

machen. Sondern menschliches Ergriffensein in unmittelbarster |#f0374 : 358|



Stärke (Ich-Form) wird hier sprachkünstlerisch dauergeprägt

und gewinnt Leben für sich: wo das war, wann das

war, mit wem es geschehen ist, das bleibt alles außerhalb, nur

daß ein Mensch von einem Zauber ganz bestimmter Art erfaßt

wurde, geht zugleich mit dem Zauber ins Gebilde ein.

Jedes lyrische Erlebnisgedicht geht so auf dem Weg zur Verwesentlichung

über die Einmaligkeit ins allgemein Menschliche

hinaus, ohne diesen Zauber, daß ein Mensch so etwas

einmal erlebt haben kann, aufzugeben, auszuschalten; aber

er ist im Höheren aufgehoben. Da liegt der große Unterschied

zu einer sachdarstellerischen Beschreibung und Darlegung

eines Erlebnisses.



2. Man kann bestimmte Bereiche der Erfahrungswelt zu

einem geordneten Gefüge von Begriffen zusammenfassen.

Auch das geschieht durch die Sprache, aber in sachdarstellerischer

Haltung. Das ist die wissenschaftliche Betrachtung und

Ordnung eines Stückes der Welt. Zweck der sprachlichen

Darstellung ist, diese Ordnung mitzuteilen, zu festigen und

aufzubewahren. Nun besteht aber die Möglichkeit, daß dafür

dichterische Mittel eingesetzt werden. Freilich drängen hier

außerdichterische Maßstäbe herein, man beurteilt dieses

sprachkünstlerische Gebilde dann auch nach Begriffen, nicht

nach ästhetischen Grundsätzen. Doch kann es sein, daß in

einer solchen sprachkünstlerischen Formung, in den sprachlichen

Bildern und Vergleichen, in den sich bildenden Symbolen,

im dynamischen Ablauf und in den Lautungswerten

erst die Ordnung des Erlebten erwächst. Es wird also in

solchem Fall das Aufbauen und Zusammenfügen einer Ordnung,

die aus der außerrsprachlichen Wirklichkeit gespeist wird, im

Sprachgebilde selber Wirklichkeit.



Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze,

Stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht.

Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde

Stille befruchtender Schoß hold in das Leben entläßt

Und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten,

Gleich den zärtesten Bau keimender Blätter empfiehlt.

Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild

Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,

Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos; |#f0375 : 359|



Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,

Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,

Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.


   (Goethe, Metamorphose der Pflanzen)



Gewiß sind hier erzählerische und lyrische Elemente enthalten.

Aber im Gesamten erwächst hier eben doch eine

Ordnung, und zwar rein in sprachkünstlerischer Prägung.



3. Eine weitere Möglichkeit, in der Dichtung eine Wirklichkeit

aufzubauen, führt über die bisher betrachteten hinaus.

Bei der ersten wird das persönliche Erlebnis an einer erfahrenen

Wirklichkeit mit in die dichterische Gestaltung als wesentlich

hineingenommen, bei der zweiten die Ordnung einer

außersprachlichen Wirklichkeit sprachkünstlerisches Ereignis.

Nun kann aber der Dichter durch die Darstellung von Personen,

die er schafft, von kausalen Zusammenhängen, durch

Ereignisfolgen und ihre Verflochtenheit einen Vorgang gestalten,

der nun ganz für sich allein besteht, der zwar in seinen

Elementen noch den Bezug zu unserer Welt um uns deutlich

macht, aber ein unmittelbares menschliches Ergriffensein wie

in der Lyrik nicht mehr kennt. Hier stellt der Dichter nun

wirklich eine Welt rein sprachlich dar, und zwar als Vorgang.

Der Unterschied freilich zur ersten Art darf nicht überspannt

werden. Denn der Übergang von der dichterischen Gestaltung

eines persönlichen Ergriffenwerdens zur Formung eines

Vorgangs rein innerhalb des Sprachraums ist unmerklich. Die

früher gebrachten Eichendorff-Verse könnten durchaus auch

die Einführung in die Erzählung eines Vorgangs sein, wobei

eben das Ergriffensein des erzählenden Menschen mit eingeformt

würde. Man hat Dichtung, die einen Vorgang gestaltet,

der rein für sich aus den Kräften der Sprache lebt und

aus dem das Dabeisein eines erzählenden Menschen ausgeschaltet

bleibt, neuerdings nach angloamerikanischem Vorbild

Fiktion genannt. Das heißt also »Erfindung«. Im Englischen

ist das unbedenklich, weil »fiction« schon lange diesen

Gehalt ─ dichterische Vorgangsgestaltung ─ in sich ausgeformt

hat. Aber in der deutschen Sprache bezeichnet der Ausdruck

»Fiktion«, besonders auch in der philosophischen Fachsprache,

immer noch »bloße Annahme«, »bloße Einbildung«. Es |#f0376 : 360|



scheint also bedenklich, ihn in diesem Sinne zu übernehmen.

Im übrigen kommen wir damit auf die alte Scheidung von

Erlebnisdichtung und pragmatischer Dichtung zurück. Das

Entscheidende bleibt eben: Ein rein durch sprachliche Mittel

geschaffener Vorgang läuft in einer sprachlichen Gestaltung

vor uns ab.



Nun lassen sich aber bei dieser Art einer sprachkünstlerisch

geschaffenen Wirklichkeit zwei Möglichkeiten unterscheiden.

Das Gemeinsame beider ist der in der Sprache geschaffene

und in ihr sich entfaltende Vorgang. Aber das eine Mal geschieht

diese Entfaltung in voller Ruhe und Ausgeglichenheit;

es eröffnet sich die Fülle einer Welt, so daß im Ablaufen

des Vorgangs ein großes Weltbild zugleich lebendig wird.

So finden wir es in den großen Epen. Das andere Mal erwächst

der Vorgang als eine ganz anders geartete Wirklichkeit: eine

Wirklichkeit, die durch Zerrissenheit, durch Gegensätze und

Klüfte gekennzeichnet ist. So baut sich in der Dichtung durch

die Kraft der Sprache eine Welt voller Urgespaltenheit auf.

Hier nähern wir uns der dramatischen Gestaltung.



Bei der Betrachtung der verschiedenen Arten sprachkünstlerisch

geformter Wirklichkeit muß man sich aber darüber

klar bleiben, daß es Übergänge und Mischformen gibt.

In einem Gedicht wie dem »Römischen Brunnen« C. F.

Meyers tritt das persönliche Erlebnis sehr stark zurück, es ist

in der sprachlichen Formung kaum mehr spürbar. Im Ich-

Roman dagegen kann mit dem Erzählen eines Vorgangs zugleich

das persönliche Ergriffensein des Erzählenden mitgeformt

sein. Man denke an »Werther«, »Hyperion«, aber

auch an das Rückblick-Kapitel in Stifters »Nachsommer«.

Auch in satirischen und grotesken Dichtungen können solche

Mischungen und Übergänge vorkommen. Eine besondere

Art hat sich in der neueren englischen Literatur ausgebildet

mit den sogenannten Dramatic Monologues. Besonders seit

Browning sind sie häufig: es gibt solche Dichtungen auch

von Tennyson, Swinburne, Eliot, Yeats und Pound. Hier

kommt es zu einer völligen Verschmelzung von Vorgangsgestaltung

und Erlebnisgestaltung. Der sprachlich geformte

Vorgang wird nicht so sehr als solcher in geschlossener Weise |#f0377 : 361|



gegeben, sondern in rein persönlicher Spiegelung eines Menschen,

der ihn erzählt, wobei das Ergriffensein, das Erlebnis

zugleich, und zwar sehr eindringlich, mitgeformt wird. Wir

werden noch auf diese Form zurückkommen. Sie zeigt sich

übrigens auch in manchen der Balladen C. F. Meyers.



Ausbildung geschichtlicher Gattungen und Arten



Die bisher betrachteten Möglichkeiten dichterischer Gestaltung

sind immer nur von bestimmten Gesichtspunkten

aus gesehen. Sie können sich in der verschiedensten Weise

verquicken und vermischen: man kann in Hingerissenheit

erzählen, man kann ein geschlossenes Weltbild darstellerisch

bewältigen, man kann die Urgespaltenheit der Welt auch

verhältnismäßig ruhig anschauen. Reine Formen des Verinnerns,

Anschauens, des Hingerissenseins, solche des Singens,

Erzählens und Darstellens, endlich die der unmittelbaren

Welterfahrung und der für sich bestehenden Vorgangsgestaltung

sind sehr selten. Solche Urformen gibt es in der

geschichtlichen Wirklichkeit kaum. Von den Formen des

Betrachtens, Zeigens und Ordnens, die wir vorsichtig als

Zwischenformen eingeführt haben, ist gesagt worden, daß

sie in sich schon Elemente der anderen enthalten können.



Wir müssen uns darüber klar sein, daß Gattungsformen,

wie sie etwa aus dem Bisherigen herausgesponnen werden

könnten, nichts Ewiges sind, ja nicht einmal eine geschichtliche

Wirklichkeit darstellen. Alle diese dichterischen Möglichkeiten

konkretisieren und entfalten sich in bestimmten

Einzeldichtungen, in bestimmten Epochen und unter bestimmten

geschichtlichen Einflüssen. Diese Formen müssen

erst immer mit Leben erfüllt werden. Die Bedingtheit der

ewigen Gattungsformen durch die jeweilige geschichtliche

Situation, wenn sie dichterische Wirklichkeit werden wollen,

kann als allgemein gültiges Gesetz der Poetik angesehen werden.

So erscheinen das Lyrische, Epische, Dramatische mehr

als Kräfterichtungen, die sich in konkreten Werken und Gattungen

mannigfach verknüpfen. In der geschichtlichen Wirklichkeit |#f0378 : 362|



bilden sich auf diese Weise bestimmte Gattungen aus,

die mit der Zeit üblich werden. Sie ergeben sich auch aus dem

menschlichen Ordnungssinn, der danach verlangt, auch innerhalb

des Bereichs der Dichtung bestimmte Gruppen und Formen

festzulegen. Dazu kommt, daß sich aus geschichtlichen

Entwicklungen heraus immer neue Kombinationen der bisher

betrachteten Möglichkeiten ergeben, so daß die üblich gewordenen

Gattungsordnungen entweder aufgesprengt oder beseitig

werden. Die Ballade tritt heute etwas zurück, der Roman

hat Formen entwickelt, von denen man sich im 19. Jahrhundert

noch kaum träumen ließ. Von der Didaktik schweigt

die moderne Poetik lieber, während diese Gattung noch bis

zu Goethe und Schiller angesehen und wichtig war.



Denn die Ausbildung üblicher Gattungen und Arten hängt

von den verschiedensten Bedingungen ab. Zunächst schon

ergeben sich ganz allgemeine Einsichten. Gattungen und

Arten, wie sie tatsächlich bestehen, sind Kunstgebilde, deren

Ursprung dunkel ist. Sie sind eine besonders günstige Lösung

einer Verbindung bestimmter Gehalte und Formelemente.

Durch solche günstige Lösungen bilden sich feste Traditionen.

Sie findet der dichterische Gestaltungsdrang vor. Er kann sie

nun, wenn sie ihn fördern, übernehmen, er kann sie auch umformen

oder zerbrechen.



Wir berühren da die Macht der Begriffe und der Tradition

in der Poetik. Besonders im 17. und 18. Jahrhundert war die

Vorherrschaft der Gattungsbegriffe sehr stark. Eine Tragödie

hatte sich genau nach den in der Theorie aufgestellten Normen

zu richten. Sie hatte also nur bedeutende Personen als

Figuren, der Bürger durfte nur in Komödien auftreten. Die

Vermischung der dramatischen Arten, wie sie damals in

England üblich wurden (»Merchant of London«) und von

dort aufs Festland kamen, führte zu endlosen theoretischen

Debatten. Man kann daran deutlich erkennen, wie dichterisches

Schaffen von der Theorie und der Tradition abhängig ist.

Dabei wirken sie nicht immer gleich. Im 17. und 18. Jahrhundert

vor allem spielte die Tradition eine große Rolle. Es

war selbstverständlich, daß sich jeder Dichter an die überlieferten

Formen hielt. Aus ihnen hatte er das Beste herauszuholen. |#f0379 : 363|



Aber wenn die Tradition im 19. Jahrhundert nicht

mehr so stark band, in bestimmter Weise gilt sie immer.

Kaum, daß ein Dichter einfach drauflos dichtet, sondern er

schreibt ein Gedicht, ein Sonett, eine short story, eine Novelle,

einen Roman oder ein Theaterstück. Und gerade dann, wenn

etwa der Roman heute neue Formen aufweist, so ist es schon

bezeichnend, daß er noch so heißt, und auf alle Fälle hebt

sich der Dichter in der neuen Gestaltungsart bewußt von der

früheren Form ab, sie wirkt also gleichsam negativ. Dasselbe

bei den neuen Versuchen auf dem Theater. Sie entstehen in

bewußter Auseinandersetzung mit den herkömmlichen Formen.

Es scheint also heute kaum noch möglich, daß sich eine

Dichtung ganz außerhalb des Rahmens bestimmter Gattungen

stellt. Das beweist nicht nur die Kraft der Tradition,

sondern auch, daß die Gattungen doch nicht bloß geschichtlich

gebundene und konventionelle Gebilde sind. Sehr stark

wirkt auch die Theorie auf das dichterische Schaffen. Man

weiß, wie sich Goethe und Schiller um die Grundgesetze

des epischen und des dramatischen Schaffens bemüht haben

und wie ihre theoretischen Überlegungen geradezu zur

Sicherung ihres dichterischen Schaffens gewachsen sind. Man

denkt zugleich an die Theorien von Opitz und Gottsched,

die für die Dichter der Zeit bis zu gewissem Grade bindend

waren. Besonders lehrreich ist das, was neuere Forschungen

zur Novellendichtung der romanischen Länder herausgearbeitet

haben (Pabst). Es bestand seit dem späten Mittelalter

und bis hinein ins 18. Jahrhundert eine reiche und genau

ausgebaute Theorie der Novelle in den romanischen Ländern.

Die Fülle der Poetiken in diesen Jahrhunderten ist ja überhaupt

bezeichnend. Und nun kann man beobachten: die

kleineren Dichter, die unsicheren von geringer persönlicher

Schöpferkraft, richten sich ziemlich genau nach den Lehren.

Die großen aber, Boccaccio, Cervantes, Margarete von Navarra

und La Fontaine, suchen sich den Vorschriften zu entziehen.

Man konnte zeigen, daß sie das in sehr starkem Maße

getan haben, ja daß sie vielfach die Vorschriften in ihrem dichterischen

Schaffen geradezu ins Gegenteil verwandelt haben;

besonders gilt das für die Vorschriften, daß der Novellendichter |#f0380 : 364|



genaue Quellenangaben zu bringen hätte und daß

in den Novellen moralische Lehren eingebaut sein müßten.

Aber äußerlich suchen sie den Vorschriften treu zu bleiben,

sei es aus dem Druck der Konvention oder auch aus ironischer

Einstellung. Die Dichter verwenden häufig den Topos der

Bescheidenheit: sie vermöchten eben nicht so vollkommen

der Theorie gerecht zu werden. Oder sie fingieren Quellen,

oder sie deuten im Titel eine moralische Lehre an, die dann

in der Dichtung kaum eine Rolle spielt. So ergibt sich, daß

im damaligen Zeitraum eine Fülle verschiedenster Erzählformen

lebt, die sich stark voneinander unterscheiden und

wenig gemeinsame technische Mittel haben. Durch diese Tatsachen

wurde man verleitet zu behaupten, es gebe keine Gattungsgesetze

und keine Urform der Novelle. Dem widerspricht

schon die Tatsache, daß sich die Dichter in irgendeiner

Weise mit diesen Vorschriften auseinandersetzen. Auch fällt

es auf, wenn man behauptet: La Fontaines »Contes« entsprechen

in keiner Weise den Gesetzen der »Form Novelle«,

»trotzdem wird sich kein Einsichtiger weigern, die Contes et

Nouvelles zur Novellistik und zum Schönsten der Novellistik

in der Weltliteratur zu rechnen« (Pabst). Es muß also

auch solchen Forschern etwas Gemeinsames aufgehen, das sie

berechtigt, bestimmte Erzählungen unter dem Namen Novellistik

zusammenzufassen. Hier sind wir an einem entscheidenden

Punkt der Poetik der Dichtungsgattungen. Zwei Tatsachenbereiche

sind herauszuheben. 1. Es gibt Theorien einzelner

Dichtungsarten, die sich geradezu zu immer strengeren

und ausführlicheren Vorschriften für solche Dichtungen auswachsen.

Das hat geistesgeschichtliche Ursachen, die in geschichtlichen

Lagen, in bestimmten Welt- und Kunstanschauungen

begründet sind. Solche Theorien werden von mittelmäßigen

Dichtern befolgt; die Mittelmäßigkeit ihrer Erzeugnisse

dürfte aber eher in der Mittelmäßigkeit des schöpferischen

Geistes als in den Theorien und der Tatsache ihrer

Befolgung liegen. Große Dichter formen Großes, auch wenn

sie sich danach richten (Racines Tragödien), sie befolgen die

Regeln oft nur äußerlich, wachsen aber innerlich darüber

hinaus, wie Boccaccio und Cervantes in ihren Novellen, oder |#f0381 : 365|



sie zerbrechen ganz öffentlich als Revolutionäre alle Regeln.

Das tut die gesamteuropäische Romantik weitgehend mit den

strengen Gattungsgesetzen. So erscheinen die Theorien als

geschichtliche Kräfte, die binden, anregen, hindern und abstoßen.

Aber es bleibt zu fragen: wie kommt es z. B. zu einer

Theorie der Novelle oder der Tragödie? Liegen da nur geschichtliche

Ursachen vor? Oder spiegelt sich in den Theorien

und ihren Ausdifferenzierungen nicht irgendwie das dunkle

Wissen, das Ahnen von bestimmten, im schöpferischen Menschen

und seiner Auseinandersetzung mit der Welt begründeten

Urformen dichterischen Schaffens? Man müßte den

Ursprüngen und Anfängen der Regeln und Theorien genau

nachgehen, um darüber Aufschlüsse zu erhalten. 2. Der früher

angeführte Satz, daß La Fontaines »Contes et Nouvelles«

zwar den Formen der Novelle nicht entsprechen, aber trotzdem

zu den schönsten Erzeugnissen der Novellistik gehören,

heißt genau besehen folgendes: Diese Dichtungen entsprechen

nicht den historisch in ganz konkreten Zusammenhängen

ausgebauten Regeln für theoretisch formierte Gattungen,

aber in ihnen wirken sich Urangelegenheiten dichterischen

Schaffens aus, Grundformen einer bestimmten Art

des Erzählens. Denn man kann nicht annehmen, daß der Forscher,

der diesen Ausdruck Novellistik verwendet, ihn bloß

als Sammelnamen für kurze Erzählungen nimmt; dann hätte

er doch ebensogut sagen können: sie gehören zu den schönsten

Erzählungen der Weltliteratur. Aber das meint er nicht.

An diesem Punkt spüren wir die theoretisch nie völlig auflösbare

Verstricktheit geschichtlich bedingter und geregelter

Formen und dichterischer Schöpfungsarten, die aus ─ wagen

wir den Ausdruck ─ ewigen Grundrichtungen sprachkünstlerischen

Antwortens auf die Welt hervorgehen.



Die geschichtliche Gebundenheit dichterischer Arten zeigt

sich auch noch in einem anderen. In gewissen Epochen bilden

sich ganz besondere Arten aus und erreichen da eine hohe

Vollkommenheit. So die Legendendichtung im Mittelalter,

das Sonett in der italienischen Frührenaissance und dann in

der Barockdichtung, eine bestimmte Dramenform im Zeitalter

Elisabeths mit ihrem Höhepunkt Shakespeare; weiter der |#f0382 : 366|



soziale Familien- und Bürgerroman im England des 18. Jahrhunderts

und dann vor allem der deutsche Bildungsroman des

19. Jahrhunderts. Und scheint nicht das sogenannte »epische

Theater« eine besondere Schöpfung unserer Zeit zu werden?

Dasselbe gilt sogar für Vers- und Strophenformen: Dantes

Terza Rima, der Alexandriner der Barockzeit, der Blankvers.

Hier spüren wir deutlich geschichtliche und gesellschaftliche

Einflüsse auf die literarische Gruppenbildung. Wenn nun die

Bindungen an die Ursprungssituation solcher Gruppenbildungen

sich lösen, dann sterben sie langsam ab. Das erkennt

man heute besonders deutlich am Bildungsroman, der aus

einer menschlichen Situation und einem Menschenbild gewachsen

ist, die heute weitgehend geändert sind. Die spätere

Wertschätzung solcher Arten als Dichtungsmöglichkeiten überhaupt

geschieht dann bereits unter veränderten Umständen.

Wir werten heute die Homerischen Epen, das Drama Shakespeares,

den »Wilhelm Meister«, die Sonette des Gryphius zwar

immer noch oder auch erneut als hohe dichterische Kunstwerke

und mit ihnen zugleich die Arten, für die sie kennzeichnend

sind. Aber diese Wertung dürfte völlig verschieden sein von

der, die ihnen die Zeitgenossen zuteil werden ließen.



Es kommt also mit der Zeit zur Ausbildung fester Formen.

Sie könnte in zweifacher Richtung verfolgt werden. Das

eine Mal sehen wir, wie eine bestimmte Art, die sich in gewissen

Epochen zur höchsten Vollendung entfaltet hat, immer

weiter wirkt, wenn auch unter verschiedenen Namen. So

etwa die griechische Odendichtung. Umgekehrt gibt es aber

auch ein Weiterwirken des Gattungsnamens. Es ist verschieden,

was in bestimmten Zeiten alles unter dem Namen »Ode«

verstanden wurde. Man hat versucht, dieses Sich-Ausformen

dieses Sich-Entfalten von Arten mit dem organischen Wachstum

zu vergleichen. Das kann lehrreich sein, verleitet aber,

die vielen rationalen und gelenkten Antriebe zu verkennen,

die im Geistesleben, also auch in der Kunst, wirken. Sicher

aber kann man beim Werden dichterischer Arten zwei Kräfte

unterscheiden: solche, die vorantreiben und weiterleiten, die

also z. B. zu der immer breiter werdenden Pflege des Sonetts

geführt haben; man mag sie mit G. Müller Führkräfte nennen. |#f0383 : 367|



Und solche, die dahin wirken, daß sich Arten in ihrem Innern

ausbreiten, daß neue Bereiche anschließen, daß sich die Formen

runden, wie das an der Entfaltung des Romans seit dem 18. Jahrhundert

zu sehen ist; G. Müller nennt sie Schwellkräfte.



Bei der Ausbildung fester Formen ist die Entstehung und

die Wirkungsgeschichte zu unterscheiden. Petrarca war nicht

der Schöpfer des Sonetts, das seine Wurzeln in der lyrischen

Dichtung des Mittelalters hat; aber von ihm aus tritt es

seinen Siegeszug durch die Renaissance-Literaturen an. Anders

wieder ist es mit dem Geschichtsroman. Auch er hat seine

Wurzeln in verschiedensten literarischen Bereichen. Die ersten

bedeutungsvollen Leistungen entstehen beinahe gleichzeitig

in England mit W. Scott und in Deutschland mit Achim

von Arnim. Aber die größere Durchschlagskraft Scotts regt

erst recht die Dichter des 19. Jahrhunderts an. Sehr reich und

verzweigt sind etwa die Ansätze zur echten Bauerndichtung.

Man kann nicht sagen, daß Gotthelf ihr Schöpfer ist, auch ist

die spätere Bauerndichtung nicht von ihm allein abhängig.

Für die Ausbildung fester Formen sind zwei Begriffe wichtig.

Zunächst der des Musters. Es handelt sich bei der Tradition

immer auch um die Wirkung bestimmter Muster. Auch

große Dichter richten sich etwa in Jugendwerken nach ihnen,

so Goethe nach Shakespeare, und zwar in dem Maß, daß

Herder ihn sogar warnte. Für Uhlands Dramen sind die

Schillers ausschließliches Muster gewesen. Ein anderer Begriff

ist der des Spielraums. Es zeigt sich, daß die einzelnen

Gattungen auch auf eine bestimmte Länge eingestellt sind.

Man kann nicht allzulange rein lyrisch gestimmt sein, daher

sind lyrische Gedichte in der Länge beschränkt, sonst ermüden

sie. Umgekehrt verlangt das epische Zuschauen eine

gewisse Entfaltungsmöglichkeit, Epen müssen also eine gewisse

Länge haben. Endlich stehen einzelne dichterische Arten

auch mit sprachlicher Formung in bestimmter Beziehung.

Die Oden im strengen Sinn des Wortes, also Gedichte in einer

der antiken Odenstrophen, und die Sonette haben hier kaum

Freiheiten. Und gerade diese streng gebauten Gedichte zeigen

neben dem Gefühlhaften auch starke Elemente der Reflexion,

während diese in den Liedern und Hymnen, die in der metrischen |#f0384 : 368|



Form lange nicht so gebunden sind, zurücktreten. Für

die Elegie scheint sich das Distichon besonders zu eignen,

ebenso auch für das Epigramm. Bei diesem ist das leicht zu

begreifen: Epigramme verlangen einen klaren Abschluß, der

ist gerade im Distichon besonders deutlich ausgeprägt.



Im Lauf der Zeit werden besonders kleinere Arten zu klar

umschriebenen Gebilden, in denen nun auch ein ganz bestimmter

Gehalt geformt erscheint. Es entwickeln sich so

feste Formen, die von vornherein auf einen ganz bestimmten

Weltgehalt, auf ganz bestimmte Ausschnitte oder Sichtweisen

auf die Welt zugeschnitten sind. Neben den schon erwähnten

wie Sonett, Ode, Epigramm und Elegie etwa auch die Satire,

die Idylle, die Groteske und die Parabel.



Die großen Künstler und ihre Werke haben nun für die

Ausbildung und Gestaltung bestimmter dichterischer Arten

eine besondere Bedeutung. Zunächst können die geheiligten

Formen einer Tradition durch sie fragwürdig werden. Denn

große Dichter können sie entweder zerbrechen, wie das Goethe

im ersten Teil des »Faust« ganz unbedingt tut, wie es Gryphius

und Rilke mit der Sonettenform vielfach getan haben. Sie

können aber die Arten aus Erstarrung befreien und innerlich

erweitern. Das erkennt man deutlich an der Entwicklung

der Novellenform durch die großen Dichter der frühen Neuzeit.

Sie können aber auch die Gesetzlichkeiten dichterischer

Arten und Gattungen festigen und unterbauen, wie das Goethe

und Schiller in ihrem Briefverkehr mit Epik und Dramatik

getan haben. Große dichterische Leistungen können dann auch

Muster werden, nach ihnen beginnen sich kleinere Dichter,

Nachahmer auszurichten. Denn sie spüren, daß die von den

großen geprägten Gattungsformen gleichsam optimale Lösungen

dichterischer Formung darstellen. So werden mit der

Zeit aus großen Dichtungen, die über das Konventionelle

hinausragen, Musterformen, die eine neue Konvention einleiten.

Die Musterhaftigkeit großer Gattungsformen führt

dann zum Begriff des Klassischen als des Vorbildhaften.



Aus all diesen Verflechtungen heraus bildet sich nun doch

mit der Zeit ein Gerüst, das uns hilft, Dichtungen ihrer gestalterischen

und gehaltlichen Art nach einzuordnen und so |#f0385 : 369|



besser zu bewerten. Wir haben uns aus der ganzen Entwicklung

heraus angewöhnt, Dichtungen entweder als lyrisch

oder als dramatisch oder als episch zu bezeichnen. Das sind

keine Äußerlichkeiten, sondern bestimmte, vor allem historisch

gewordene Ausprägungen von dauernden dichterischen

Möglichkeiten, wie wir sie zu Anfang dieses Abschnittes aufgewiesen

haben. Auf diesem Untergrund eines losen Systems

sehen wir heute die dichterischen Formen aufgegliedert. Aber

nicht nur zeitliche Einschränkung ─ »heute« ─ ist geboten,

sondern vielleicht müßte man hinzufügen: in unserer deutschen

Sprachgemeinschaft. In diesem Augenblick wachsen

die Begriffe Lyrik, Epik, Dramatik über das Historische

wieder hinaus in ein geistig-künstlerisches Ordnungsgefüge,

in dem durch diese Ausdrücke einmal Dichtungen unter

gewissen Gesichtspunkten zusammengefaßt werden als in

ein gewisses Ordnungsschema, dann auch bestimmte künstlerische

Eigenarten, Stilqualitäten, wenn man will, festgehalten

werden.



Wir fassen also die lyrischen Arten unter dem Sammelbegriff

Lyrik zusammen, die epischen Arten unter dem Sammelbegriff

Epik und die dramatischen Arten unter dem Sammelbegriff

Dramatik. Zwischen die Lyrik und die Epik stellen

wir nun versuchsweise die Didaktik in ihren verschiedenen

Arten. Sie hat durchaus unscharfe Grenzen gegenüber Lyrik

und Epik, besonders heute, wo diese Gattung schon sehr

zurücktritt, von vielen überhaupt abgeleugnet wird. Aber es

bleibt doch zu beachten, daß diese Gattung früher von Bedeutung

war, daß manche bedeutende dichterische Leistung

unter sie eingeordnet werden kann und daß ihr eben doch

bestimmte Grundhaltungen entsprechen, aus denen sie sich

ebenso zusammenfügt wie Lyrik, Epik und Dramatik aus den

ihren. Daß dieses Schema, eben weil es Grenzen errichtet,

selbst seine Grenzen hat, dessen müssen wir uns immer bewußt

bleiben. Große Dichtungen der Weltliteratur können

es sprengen und zu Gestaltungen emporsteigen, denen gegenüber

jede Schematik versagt. Und dann ist es aus bestimmten

geschichtlichen Situationen heraus immer wieder möglich,

daß sich dichterische Gestaltungen ausbilden, die sich dem |#f0386 : 370|



Ordnungsschema nicht einfügen, ohne daß sie an Wert

verlieren. Besonders seit der Romantik sind solche Verschwebungen

zu beobachten.



Bildung von Typen



Während wir im Vorangehenden aus dem Bereich allgemeiner

Einsichten in immer vorhandene dichterische Möglichkeiten

zu den geschichtlichen Bedingtheiten übergegangen

sind, wollen wir jetzt noch einmal aus dem Geschichtlichen

zu den dauernden Typen aufsteigen. Die Gewinnung solcher

nun eben wieder zeitlosen Typen stellt uns vor methodische

Schwierigkeiten. Es handelt sich darum, aus Dichtungen, die

zu einer bestimmten Gattung oder Art gehören, das Typische,

das Grundlegende und Wesenhafte, das die Dichtungen einer

solchen Gattung oder Art verbindet, herauszuschälen. Das

könnte zunächst auch einmal aus einer einzelnen Dichtung

gewonnen werden, wenn wir tief genug in ihre Eigenart

hinunterschauen, um gleichsam das Wesentliche ihrer künstlerischen

Gestaltung in den Blick zu bekommen. Aber zuerst

müßte feststehen, ob diese Dichtung ein wesentlicher Vertreter

des Typs ist. Homers Epen sind Beispiele für eine bestimmte

Art epischer Gestaltung, kaum für alle; man denke

an die altgermanischen Heldenlieder. Hier bestünde also die

Gefahr, einen engeren als den gesuchten Typus zu finden.

Ein anderer Weg ist es, aus einem Blick über alle zur Gattung

gehörenden Einzelwerke, also durch Abstraktion, auf die

gemeinsamen Wesenszüge zu kommen. Aber abgesehen von

der Fülle der Werke gibt sich sofort die Schwierigkeit, daß

man also doch schon die bestimmenden Merkmale der Gattung

haben müßte, wenn man wissen will, welche Werke zur

Gattung gehören. Auch eine Gattungsgeschichte ist nur möglich,

wenn man zuvor einen Einblick in die Wesenszüge der

Gattung hat. So bleibt nur der Weg der gegenseitigen Korrektur:

durch die Betrachtung einer Fülle von Dichtungen

gelangt man immer mehr zum Wesen, und je mehr wir das

Wesen erfassen, desto besser werden wir die Zugehörigkeit |#f0387 : 371|



eines Werkes zur Gattung erkennen und desto vollkommener

wird unser Blick auf die geschichtliche Entwicklung der

Gattung werden.



Wir suchen also in dieser letzten Betrachtung über geschichtlich

gebundene Gattungen zu zeitlosen Möglichkeiten

dichterischer Werksetzung vorzustoßen. Wir wollen für diese

Gruppen statt des Wortes Gattung das Wort »Typus« wählen.

Die Gattung bezeichnet mehr eine konkrete Gestaltung, der

Typus betont die durchwaltenden Tendenzen, die jederzeitige

Möglichkeit. Dabei zeigt sich, daß in geschichtlichen Verwirklichungen

und Mischungen die Typen selbst sich nicht

wandeln. Freilich sind auch diese zeitlosen Grundformen dichterischen

Schaffens mindestens kulturkreismäßig bestimmt:

die Ballade und das Heldenlied dürften in diesem Typus kaum

im Chinesischen anzutreffen sein. Der Typus als solcher besteht

zeit- und raumlos. Aber Verwirklichungen zeigen sich

nicht überall und jederzeit.



Bei der Betrachtung solcher Typen, die kaum je in ein

vollständiges System gebracht werden können, ordnen wir

nicht mehr nach den großen Gattungen, indem wir die möglichen

Typen in sie einordnen, sondern gruppieren nach

anderen Gesichtspunkten. Wir unterscheiden vor allem einfache

Formen und höhere Formen.



Die Betrachtung der einfachen Formen ist verhältnismäßig

jung. Es sind die urtümlichsten Formen sprachlicher Geprägtheit.

Sie sind, ähnlich den grammatischen Formen, nicht persönlichkeitsgebunden.

Man kann sie sich dadurch entstanden

denken, daß die Vielheit und Mannigfaltigkeit der Welt durch

einen geistigen Akt, durch Geistesbeschäftigung also, zu Gestalten

verdichtet wird, und zwar in bestimmter sprachlicher

Prägung. Die Sprache selbst, in einem geistigen Akt, ergreift

ein Stück Welt und macht es in einer bestimmten Form bündig.

Man bezeichnet diese sprachlich-geistigen Verdichtungsgebilde

auch als sprachliche Gebärden. Man kann verschiedene

Arten einfacher Formen unterscheiden. Zunächst schon

solche, in denen eben eine solche Sprachgebärde sich in reiner

Form darstellt, andere, in denen zwischen diesen sprachgebärdehaften

Verdichtungen verbindende Teile vorkommen, |#f0388 : 372|



die also bereits zusammengesetzter Natur sind. So kommt

man zu einer weiteren Unterscheidung von Groß- und Kurzformen.

Die erste Aufreihung der möglichen einfachen Formen

stammt, nach vorbereitenden Arbeiten anderer, von

Jolles, wobei er selbst mit der Möglichkeit gerechnet hat, daß

die Reihe noch ergänzt werden könnte, etwa durch die Einbeziehung

der Fabel. Wir wollen die von Jolles betrachteten

kurz kennzeichnen. 1. Die Legende. Sie gibt sich äußerlich

als Lebensbeschreibung eines Heiligen. Wesentlich daran

aber ist, daß sich dieses Leben in der Legende um bestimmte

Wunder und Tugenden konzentriert. Bestimmte Erfahrungen

verdichten sich dabei zu einer sprachlichen Gebärde,

einem einprägsamen Bild, wie etwa dem vom Rad mit scharfen

Klingen, in dem sich die Verfolgungen der Christen verdichten.

2. Die Sage. Sie ist in ihrer Form schwerer zu fassen

als die Legende. Jolles sieht in ihr vor allem die Verdichtung

eines Daseinsbereichs um die Begriffe Familie, Stamm, Blutsverwandtschaft.

Wir werden später auf sie als literarische

Form nochmals zurückkommen. 3. Die Mythe. In ihrer konkreten

Form erscheint sie als Mythos. Die Mythologie ist

dann die Gesamtheit der Mythen und die Wissenschaft davon.

Die Grundform ist eine Weltschöpfung, die sich aus

Frage und Antwort aufbaut. Etwa: Wer hat die Sterne gemacht?

Wie war es vor ihrer Erschaffung? In der Antwort

wird in verdichtender Form in einem Geschehen ein Wissen

vermittelt. 4. Das Rätsel. Hier fragt einer, und wir müssen

antworten. Und zwar besteht eine Notwendigkeit dazu: es

geht oft ums Leben, wenn wir das Rätsel nicht lösen. Wer

das Rätsel aufgibt, verrätselt, der Ratende muß es enträtseln.

Diese einfache Form, die etwas in ein Geheimnis hüllt und

es dadurch ausschließlich zum Besitz eines Bundes macht,

entwickelt sich in breiteren Formen in der modernen Zeit, so

im Detektivroman; auch in den Romanen und Erzählungen

Kafkas spüren wir diese Form noch durch. 5. Der Spruch. Er

formt eine bestimmte Erfahrung der Vergangenheit und

schließt damit diese Erfahrung ab. Ihm eignet eine scharfe

Aussageform, meist ein bestimmtes rhythmisches Schema.

»Wer das Glück zur Mutter hat, dem ist die ganze Welt |#f0389 : 373|



Vetter.« »Lügen haben kurze Beine.« Neuere Entwicklungsformen

sind das Sprichwort, die Sentenz, das geflügelte Wort,

die sich aber alle in bestimmter Weise vom reinen Spruch

abheben. 6. Der Kasus. Die Welt erscheint da in einem Gefüge

von Normen, an denen Handlungen gewertet werden,

die Normen wieder werden an anderen gewertet. Man

könnte sagen, es handelt sich um die Fraglichkeit von Rechtsfällen.

Es wird also eine Frage gestellt in bezug auf einen

Rechtsfall, es soll in diesem Zusammenhang gewertet werden.

Eine Lösung aber bringt der Kasus nicht. Sie würde schon

in die Nähe der einfachsten Novellenform führen. 7. Das

Memorabile. Irgendein Ereignis wird nicht in einem nüchtern

logischen Bericht gegeben, der von Anfang zum Ende lückenlos

durchführt, sondern in einer bestimmten Gestaltung, wie

wir sie etwa in Zeitungsberichten vom Selbstmord eines angesehenen

Menschen antreffen können. Solche Darstellung

bemüht sich, aus einem Geschehen etwas als Einmaliges herauszuheben

und von hier aus dann das Ganze zu beleuchten.

Die weiteren Einzelheiten fügen sich dem Dienst an der Deutung

ein. Hier zeigen sich deutliche Beziehungen zur erzählkünstlerischen

Gestaltung, insbesondere zur Anekdote.

8. Das Märchen. Ähnlich wie bei der Sage liegen hier die

Dinge nicht so einfach, wie sie Jolles sieht. Grundlegend ist

für ihn die Erwartung, wie es in der Welt eigentlich zugehen

sollte. So ergibt sich häufig eine Zweiteilung: zuerst die Darstellung,

wie es nicht sein sollte, dann die Wendung zum

Gewünschten. Aber das Märchen erscheint doch schon mehr

als eine sehr künstlerische Erzählform. Wir werden später

auch darauf zurückkommen. 9. Der Witz. In ihm wird etwas

Gebundenes gelöst: ein unzulängliches Gefüge wird in Ordnung

gebracht und dabei eine Spannung wohltuend aufgehoben.

Von hier aus kommen wir in den Bereich jener

dichterischen Weltauffassung, die sich in mannigfaltiger

Weise aus der Freiheit der geistigen Überlegenheit ergibt.



Man kann die einfachen Formen auch zu bestimmten typischen

Formen verbinden, wie das Mohr, über Jolles hinausgehend,

versucht hat. Da können sich vier Gruppen ergeben.

Die erste sind die gegenstandsbezogenen Formen. Die Welt |#f0390 : 374|



und das Leben stellen selbst schon bestimmte Formen immer

wiederkehrender Art bereit, die dann durch einen geistigen

Akt herausgehoben und geprägt werden. So bilden sich der

Schwank, der Witz. Die Prägnanz des Ereignisses führt oft

zu festen sprachlichen Formen: »Hier steh ich, ich kann nicht

anders.« Die zweite bilden die Darbietungsformen. Die Lage

des Sprechers zum Hörer prägt die Form in der mannigfaltigsten

Weise aus; es kommt hier rein auf die Art an, wie

etwas dargeboten wird. Dadurch unterscheiden sich der Witz,

die Anekdote, die Verkündigung, die Streitrede. Der dritte

Typus sind die ornamentalen Formen, in denen deutlich ein

abstrakter Formsinn waltet; z. B. Reihenbildungen, Kettenformen.

Also ist die pragmatische Erzählweise der ornamentalen

durchaus feindlich. Der vierte Typus ist der mit gewordenen

Formen. Hier handelt es sich um Gebilde, die zunächst

hochentwickelte Kunstformen darstellen und dann mit der

Zeit zu einfachen Formen werden; denn ihre Züge prägen

sich in immer klarerer Form und eindeutiger Weise aus.

Dahin kann man das Märchen und die Novelle mit einiger

Vorsicht rechnen.



Wichtig bleibt es, zu erkennen, in welchem Bezug diese

einfachen Formen zu höheren dichterischen Gebilden stehen.

Auf der einen Seite ist ihre Bedeutung hervorzuheben. Auch

die hochentwickeltsten Dichtungsformen ziehen aus den einfachen

Formen immer wieder Lebenskräfte. Die einfachen

Formen verwirklichen sich in höheren Gattungen als eine Art

Topos, so der Schwank, der Witz, die Fabel usw. Man

beachte, daß im »König Ödipus« des Sophokles in bestimmter

Weise die Form des Rätsels durchwirkt. Vor allem spüren

wir die ornamentalen Formen auch in den höchsten Kunstgattungen,

etwa im Rhythmus, in den mannigfaltigen Reihenbildungen.

Im Roman können in den pragmatischen Ablauf

Glieder eingefügt sein, die sich als Ausprägung einer einfachen

Form ausweisen; sie können damit tiefern Sinn fürs

Ganze, gerade im Gegengewicht zum Vorgangsablauf erhalten.

Im barocken, aber auch im modernen Roman finden

sich solche Strukturteile. Anderseits aber ist zu bedenken:

Nie wird es gelingen, die ganze Kunst und Tiefe des »Ödipus« |#f0391 : 375|



rein auf die einfache Form des Rätsels zurückzuführen, aus ihr

abzuleiten. Überhaupt werden die einfachen Formen vor

allem nur für die Epik und Dramatik keimbildend sein, nicht

für die Lyrik. Und entscheidend bleibt die Frage: welche

umbildenden und gestalterischen Kräfte lassen über solchen

einfachen Formen große Dichtungen entstehen? Sie können

hier gut mit den sprachkünstlerischen Möglichkeiten der

grammatischen Formen, der Stilkräfte und der Lautungen

verglichen werden. Sie alle sind unbedingt notwendige Voraussetzung

für eine Dichtung, aber sie sind wesenhaft nicht

ausreichend für das Gebilde einer Dichtung.



Näher liegen der Betrachtung der Dichtung die höheren

Formen. Es sind die typischen Bildungen, die sich aus den

überlieferten Gattungen und Arten als wesenhaft ergeben,

eben als Typus. Man wird niemals versuchen, aus den Balladen

eine bestimmte Ideal- oder Urballade zu konstruieren

und sie gar etwa in der Wirklichkeit zu suchen. Aber man

kann sehr wohl vom Balladenhaften sprechen, das man dann

gewissen Gedichten mehr oder weniger zuspricht. Wir kommen

so tatsächlich zu Zügen, die einen Typus Ballade ausmachen.

Dasselbe gilt für Begriffe wie Novelle, Roman,

Idylle usw. Das heißt also: aus den möglichen Grundhaltungen

und Formen sprachlichen und dichterischen Bildens

entstehen geschichtliche, konkrete Gattungen und Arten, die

durch Epochen hindurch üblich sind und an die sich Dichter

halten. Aus solchen Gattungen und Arten lösen wir in geistiger

Schau überzeitliche durchgehende Tendenzen dichterichen

Formens innerhalb der großen Gattungen der Lyrik

Epik und Dramatik ab, gewinnen dadurch einen Einblick in

die grundsätzlichen und daher dauernden Gestaltungsmöglichkeiten

im Bereich der Dichtung. Wir dringen von dieser

Seite neuerlich in das Wesen der Dichtung ein. Dabei müssen

wir uns bewußt bleiben, daß diese Tendenzen und Möglichkeiten

immer nur an konkreten dichterischen Gebilden

greifbar werden.



Aber auch Spannungen, Mischungen und Verflechtungen

zwischen den Typen sind möglich. Sie können geschichtlich

bedingt sein, so in den Formen, die die deutsche Romantik |#f0392 : 376|



ausgebildet hat: lyrische Abwandlungen des Romans, starke

lyrische Einsprengsel in den Dramen. Auch das sogenannte

epische Theater ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen.

Vor allem aber können in solchen Zwischenformen große

eigenwillige künstlerische Kräfte am Werk sein. Das großartigste

Beispiel bietet Goethes »Faust«. Hier ergeben sich neue

Wertungsfragen. Denn ohne Zweifel kann Mischung Unklarheit,

Unausgeprägtheit, Verschwommenheit bedeuten

und also den Wert einer Dichtung mindern. Der große

Dichter aber vermag gerade über Spannungen der Typen

zu neuer Ganzheit zu kommen. Sie gelingt ihm durch die

Geschlossenheit der sprachkünstlerischen Formung trotz aller

Mannigfaltigkeit, durch den Gesamtaufbau des Werkes,

durch die Art der Verwesentlichung und durchgehende Symbolik,

damit auch durch das künstlerisch gestaltete Weltbild.

So kann er die typen- und gattungsmäßigen Spannungen und

Mischungen überwölben. Um aber gerade die Art dieser

Ganzheit zu erfassen, ist es notwendig, die Gattungen und

Typen und ihre Gesetzlichkeiten zu kennen. Auf ihrem Hintergrund

heben sich die konkreten Gestaltungsweisen eines

dichterischen Kunstwerks ab.



Die Fülle der Möglichkeiten, nach denen Dichtungen in

Gattungen, Arten und Typen geordnet werden können, ihre

mannigfachen Verflechtungen und besonders die eigenartige

Spannung zwischen allgemein-künstlerischer, typologischer

Ordnung, die sich aus ewigen Gesetzen künstlerischen Schaffens

ergibt, und der Ordnung, wie sie aus geschichtlicher Bedingtheit

auch der Dichtung folgt und wie sie in der Wirkung

von Theorie, Tradition, Mustern und der anregenden Vorbildhaftigkeit

großer Dichter deutlich wird, möchte die

Frage nach dem Sinn solcher verwirrenden Ordnungsgruppierung

erwecken. Wir müssen festhalten, daß jede Kunst,

und deshalb auch die Dichtung, nach gattungsmäßiger Ordnung

strebt. Jeder Dichter schafft im Rahmen einer wenn auch

noch so weit gespannten Ordnung, indem er sich entweder

einfügt oder sich bewußt oder unbewußt dagegen stemmt.

Auch die zu Anfang dieses Abschnitts dargestellten menschlichen

Grundhaltungen und die urtümlichen Formen sprachkünstlerischen |#f0393 : 377|



Gestaltens spielen eine entscheidende Rolle,

denn es handelt sich hier um menschliche Typen. Vor allem

aber haben unsere Überlegungen gezeigt, daß Dichtung immer

auch in der geschichtlichen Wirklichkeit steht und sich

gerade in dieser geschichtlichen Wirklichkeit Gattungsordnungen

ausbilden, die für die Schaffung, aber auch die Erfassung

von Dichtung wichtig werden. Denn vor allem bilden

solche Ordnungen eine Hilfe, die künstlerischen Eigenarten

der Dichtung überhaupt und der Fülle ihrer Möglichkeiten

in den Blick zu bekommen. Auf dem Hintergrund

solcher Ordnungen, deren allgemein-typologischer und geschichtlicher

Verflechtung wir uns immer bewußt bleiben

müssen, können wir erkennen, wie eine Dichtung künstlerisch

mit den vorgegebenen Bindungen fertig wird und sie in ein

dichterisches Ganzes einschmelzt oder wie sie sie durchbricht

und neue Formen schafft.



II

DIE LYRIK


Schwierigkeiten der Bestimmung



Das Wort »lyrisch« selber sagt uns aus seinem Ursprung

her nichts: es bedeutet ursprünglich: zum Spiel der Leier

gehörig, und war also für Gesänge und Lieder ganz allgemein

gebräuchlich. Die Etymologie kann hier so wenig mehr aufklären

wie etwa bei »Tragödie«, das wörtlich »Bocksgesang«

bedeutet. Aber auch sonst ist gerade bei der Lyrik eine umfassende

und doch aus dem Wesen geschöpfte Bestimmung

sehr schwer. Vielfach kann man sich des Eindrucks nicht erwehren,

es werde unter diesem Begriff alles an Dichtung zusammengefaßt,

was weder episch noch dramatisch ist. Diese

Schwierigkeit ergibt sich zunächst aus der Mannigfaltigkeit

der Arten. Nur die Kernarten sind von klarer Struktur und

damit deutlich in ihrem Wesen umgreifbar: Lied, Ode, |#f0394 : 378|



Spruch. Ein weiterer Grund sind aber die fließenden Grenzen

zu anderen Gattungen und Arten. Bei deren Betrachtung muß

manches wieder gebracht werden, was schon behandelt ist.

Denn hier bei diesen an Umfang meist kleinen, aber sehr

intensiven Arten wird manches erst brennend, zugleich aber

deutlich.



Fließende Grenzen bestehen schon zu den anderen sprachlichen

Aussagen überhaupt. Denn zunächst einmal erscheint

das lyrische Gedicht auch als eine Aussage über einen Sachverhalt,

der uns gegenübertritt. Es würde also scheinbar in

denselben großen Bereich gehören wie die Sachdarstellungen.

Der Unterschied ist zwar sofort klar, wenn wir nur auf die

Grenzfälle blicken: in der sprachlichen Darstellung eines

mathematischen Verhältnisses tritt der Darstellende völlig

zurück, die Aussage steht eindeutig im Dienst, den Sachverhalt

möglichst klar, eindeutig und genau darzustellen und mitzuteilen.

Beim lyrischen Gedicht tritt der Darstellende stark

hervor: wie er den Sachverhalt erlebt, wird sprachlich geformt.

Aber zwischen diesen Grenzfällen gibt es Zwischenstufen

und unmerkliche Übergänge. Wo liegt die Grenze

zwischen einer persönlich ergriffenen, innerlich bewegten

Stelle eines philosophischen oder religiösen Werkes und den

Hymnen an die Nacht von Novalis? Mit der Kategorie »Aussage

eines Sachverhalts« ist da nicht weiterzukommen. Wir

helfen uns, wenn wir erkennen, daß die ausgesagte Wirklichkeit

in ihrem Hinweis auf die außersprachliche zurücktritt,

daß also die Intentionalität auf Außersprachliches schwindet;

das rein Sprachliche zieht alles auf sich. Das Ich und sein Erlebnisfeld

verschmelzen zu einem nur in der Sprachgestaltung

vorhandenen Bereich. Man kann diesen Unterschied auch

durch die Gegenüberstellung von theoretisch und existentiell

verdeutlichen. Bei der theoretischen Äußerung eines Ichs

über ein Objekt liegt der Ton der Darstellung auf dem Objekt

oder zumindest ist auch eine sehr subjektbetonte Aussage

deutlich auf ein Objekt als ihr Ziel gerichtet. Bei der existentiellen

Darstellung liegt der Ton auf dem Ich, und es kommt

der Darstellung mehr darauf an, das Objekt in den menschlichen

Bereich als ein Erlebnisfeld hereinzuziehen. Damit verliert |#f0395 : 379|



die Sprache hier ihre Funktion der Mitteilung von etwas

und wird Ausdruck eines Inneren oder allgemein Menschlichen.

Durch diesen Ausdrucksakt entsteht ein sprachliches

Gebilde eigener Art, in dem der Ausdruck zu einem für sich

bestehenden Gebilde geprägt wird. Was an »Objektivem«

in ein solches dichterisches Gebilde eingeht, wird in diese

innere Haltung hereingezogen.



[Beginn Spaltensatz]

Es war, als hätt der Himmel

Die Erde still geküßt,

Daß sie im Blütenschimmer

Von ihm nun träumen müßt.
[Spaltenumbruch]

Die Luft ging durch die Felder

Die Ähren wogten sacht,

Es rauschten leis die Wälder,

So sternklar war die Nacht.
[Ende Spaltensatz]

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.
(Eichendorff, Mondnacht)



Die zweite Strophe scheint auf den ersten Blick reine Darstellung

außersprachlicher Sachverhalte. Aber nur auf den

ersten. Denn durch die Strophe geht ein klarer Rhythmus be

stimmter Art, der die ganze Aussage sofort aus dem Bereich

bloßer Sachdarstellung heraushebt. Auch die Reihung der

vier Bilder zu einem Ganzen baut gleichsam etwas Neues

auf. Der dritte Vers ist in seiner Reihung nicht nüchterne

Prosa, sondern betont einen stimmungshaften Gehalt. Und

das »so« im letzten Vers ist nun unmittelbarer Ausdruck. Damit

wird schon die Strophe an sich deutlich auch Ausdruck

einer Stimmung, der Sachverhalt wird in den Erlebnisbereich

eines Ich hereingezogen und zugleich durch die Sprachkunst

mit stillsten Mitteln zu einer eigenen kleinen Welt gemacht.

So wird also hier durch ganz einfache, aber sehr wirkungsvolle

Mittel Außenwelt in persönliches Erleben hereingezogen,

ihrer Sachlichkeit entkleidet und aus Welthaltigkeit und

menschlicher Haltung ein ganzheitliches Gebilde rein im

Sprachbereich geschaffen. Aber die Strophe ist von zweien

umgeben, in denen diese Haltung von vornherein ganz eindeutig

ist. Beide gehen deutlich von persönlichem Ergriffensein

in der Gestaltung aus. In dieser sprachlichen Umwelt

wird der eben gekennzeichnete Charakter der zweiten

Strophe noch viel mehr herausgehoben. Wir erkennen nun |#f0396 : 380|



deutlich, daß die Sprachkunst vor allem in solchen sprachlichen

Bereichen, die scheinbar einen objektiven Sachverhalt

aussagen, aus der sachdarstellerischen Haltung hinausführt

und damit eine sprachgebundene Wirklichkeit aufbaut.



Wir haben schon einige Male in dieser einführenden Betrachtung

der Lyrik vom Ich gesprochen. Wir stoßen auf das

lyrische Ich. In der dichterischen Gestaltung wirkt sich immer

ein Menschliches aus. In dieser Gattung verdichtet sich das

Menschliche in besonders starker Weise zu einem Ich, das aus

einer bestimmten Ergriffenheit heraus spricht. Das Gedicht

enthüllt seine innere Fülle erst, wenn das Gestaltete als ein von

einem Ich Erlebtes erfaßt wird. Ein Ich gehört als die eine

Seite ebenso notwendig zu dieser sprachlichen Wirklichkeit

wie das Erlebnisfeld auf der anderen Seite; aber im sprachlichen

Gebilde verschmelzen sie völlig. Wer ist nun dieses Ich?

Die einen behaupten, es sei der ganz konkrete Dichter. Wenn

man Goethes Verse hört: »Aug, mein Aug, was sinkst du

nieder? / Goldne Träume, kommt ihr wieder?« so liegt es sehr

nahe, hier unmittelbar den Dichter sprechen zu hören, eben

Goethe. Beim Gedicht Eichendorffs ist das nicht so eindeutig.

Und tatsächlich lehnen viele es ab, im lyrischen Ich den

Dichter zu meinen. Besonders deutlich ist es in der Lyrik der

Anakreontik, vielfach aber auch im Minnesang, daß wir vom

Dichter als dokumentarisch feststellbarer Person absehen

müssen. Ebenso im Rollenlied, wo also der Dichter bewußt

die lyrische Aussage einer bestimmten Person in den Mund

legt. Die vielen Frauenstrophen und Wechsel in der Minnelyrik

sind Beispiele dafür. Und doch sind auch diese Gedichte

so gestaltet, daß ein ergriffenes und sprechendes (singendes)

Ich notwendig mit eingeformt ist. Das Gedicht erscheint als

die Aussage eines Subjekts. Für die künstlerische Wertung des

Gedichts und für die Erfassung des Gehalts und der Stimmung

ist die Frage, wer das Ich ist, ob es der Dichter ist, gänzlich

unbedeutend. Nur für die Biographie des Dichters und die

geschichtlichen Zusammenhänge mag die Beantwortung der

Frage einige Bedeutung haben. Wir müssen auch das lyrische

Ich, das ja in das Gedicht völlig eingeschmolzen ist, aus der

außersprachlichen, also geschichtlich-konkreten Welt ganz |#f0397 : 381|



herauslösen und in die im Gedicht geformte Welt einfügen.

Es scheint aber nicht nötig, von einer offenen Struktur des

lyrischen Gedichts zu sprechen, da die Bezüge zum außersprachlichen

Ich und zur außersprachlichen Welt verschwebend

seien und man eben doch auch an den Dichter und eine

bestimmte Landschaft usw. denken könne. Als Gebilde bleibt

das Gedicht in sich geschlossen und vollendet. Die Frage des

Bezugs zur Außenwelt berührt die Tatsache, daß alle Dichtung

─ auch die epische und die dramatische trotz ihres von

der Realität abgehobenen Vorgangs ─ in die konkrete geschichtliche

Welt in der mannigfachsten Weise eingefügt ist.



Weil also hier keine fundamentalen Unterschiede zwischen

den Dichtungsgattungen vorliegen, sind auch Übergänge der

Lyrik zu den anderen Gattungen möglich. Zuerst zur Epik.

Es handelt sich hier nicht um lyrische Einlagen in epischen

Dichtungen, sondern um die Einschmelzung von einfachen

Vorgängen in die lyrische Gestaltung. In Eichendorffs »Mondnacht«

können wir in jeder Strophe von einem Vorgang

sprechen. Aber er ist so geformt, daß durch ihn eben das persönliche

Ergriffensein, die innerste Haltung des Ich erfaßbar

wird. Es fehlt ja die Verbindung des Vorganghaften mit

Menschen. Aber es gibt auch eine andere Beziehung: es kann

ein Vorgang unter Menschen in einer Dichtung erzählt

werden, also eine reine Vorgangswelt geprägt sein; aber die

Gestaltung ist so, daß daraus vor allem eine ganz bestimmte

Grundgestimmtheit, eine durchgehende Gemütshaltung vordringt.

Es ist so, als ob der Vorgang selber, der da dichterisch

abläuft, zugleich mit seinem Erlebnis durch ein Ich gestaltet

würde, daß also der vom Ich ergriffene »Sachverhalt« der

dichterisch geformte Vorgang wäre. Auf diese Weise würde

solche Dichtung nahe an die Lyrik herantreten. So kommt es,

daß gewisse Arten nicht eindeutig eingeordnet werden. Die

Ballade wird oft als lyrisch bezeichnet. Tatsächlich herrscht

die eben angedeutete Gestalt sehr stark in Goethes »Erlkönig«

und »Fischer« vor. Auch die Elegie und die Idylle bilden in

dieser Hinsicht Übergangsformen. Vielleicht könnten genaue

Interpretationen jeweils feststellen, ob die Vorgangsgestaltung

oder das Ergriffensein eines Ichs durch den Vorgang sprachkünstlerisch |#f0398 : 382|



und im Aufbau, den Symbolen, mithin im

Ganzen der künstlerischen Form gewichtiger ist. Auch die

Länge kommt, wie schon erwähnt, in Frage. Es wird aber

durchaus möglich sein, daß gerade wertvolle Gedichte hier

nicht in ein System eingeordnet werden können.



Die Grenzen zum Drama sind klarer gezogen. Doch können

immerhin Beziehungen da sein. Es kann auch in einem

lyrischen Gedicht die Urgespaltenheit der Welt das Ergreifende

und Ergriffene sein, vielfach gerade in moderner Lyrik.

Es kann Lyrik eine starke innere Gespanntheit zeigen, wie

besonders in den Oden und Hymnen Hölderlins oft, eine

Pathetik, die Staiger vermochte, solche Gedichte aus dem

Bereich der lyrischen Grundhaltung herauszunehmen. Endlich

gibt es reine Rollenlieder, etwa im Volkslied und im

Minnesang, wo also »der Dichter« ganz zurücktritt und von

ihm geschaffene ─ hier allerdings nur angedeutete ─ Personen

sich ausdrücken. Alle drei Züge sind auch dem Drama eigen.

Aber kaum dürfte sich ein lyrisches Gedicht finden, in dem sie

alle drei zugleich auftreten. Also kann es sich nur um Annäherungen

zur dramatischen Gattung handeln. Aber gerade

die Darlegungen Staigers, der das Pathetische, besonders in

der Oden- und Hymnendichtung, zum Dramatischen zieht,

zeigen, daß in der Grundhaltung, aus der das Gedicht erwächst,

solche fließenden Grenzen möglich sind.



Wenn man die Didaktik als selbständige Gattung sieht,

dann sind die Grenzen gerade dazu nicht immer einfach zu

ziehen. Man wird bei der Deutung vor allem darauf achten

müssen, ob gegenüber dem persönlichen Ergriffenwerden von

einem Stück Welt mehr dessen Betrachten, dessen Zeigen und

Ordnen in einem dichterischen Zusammenhang hervortritt.



Eine letzte Grenzziehung ist nicht immer einfach. Eine

gänzlich ungeschulte Primanerreimerei kann ebenso aus Ergriffensein,

etwa aus einem echten und tiefen Liebeserlebnis

hervorgehen wie ein berühmtes Liebesgedicht der Weltliteratur.

Ist das Primanergeschreibe auch ein lyrisches Gedicht?

Wenn man nur das Persönliche des Ergriffenwerdens

und die Verschmelzung des lyrischen Ichs mit dem Gegenüber

betrachtet, dann ist es als Gedicht der lyrischen Gattung |#f0399 : 383|



anzusehen. Nun tritt aber die künstlerische Formung hinzu.

Sobald erkennbar ist, daß auch der Primaner in der Sprache

und durch ihre Mittel aus dem Ergriffensein heraus ein Gebilde

für sich gestalten will, werden wir dem Produkt die

Bezeichnung nicht verwehren können. Nur spielen hier die

Unterschiede im Wert eine entscheidende Rolle: es gibt eben

gute und schlechte Gedichte.



Versuch der Wesensumschreibung



Wir erinnern uns zuerst an die verschiedenen Seiten, von

denen aus wir zu den Gattungen vorgedrungen sind, auf denen

wir schon in gewisser Weise auf Lyrisches gestoßen sind.

Zuerst haben wir das an der menschlichen Grundhaltung des

Verinnerns beobachtet. Aus dem Eintauchen in ein Stück

Welt und aus dem daraus folgenden Hereinziehen dieser

Welt in das Innere des Menschen haben wir die lyrische

Grundhaltung erkannt und gekennzeichnet. Die nächste

Richtung ging aus von den Grundformen sprachkünstlerischen

Gestaltens. Wir haben dabei das Singen herauszuheben.

Aus einer intensiven Gestimmtheit wächst dieses Singen

heraus, und im Ertönen befreit sich der Mensch gleichsam von

dem, was ihn ergreift; zugleich aber wird so das Herausgesungene

zu einer neuen Gestalt. Endlich ist daran zu erinnern,

daß die sprachkünstlerisch geformte Wirklichkeit unter

anderem auch aus dem unmittelbaren Ausdruck des Ergriffenwerdens

wachsen kann. Das alles sind Züge, die wir in den

lyrischen Arten vereint wiederfinden. Doch zeigt sich bereits

eine historische Beschränkung. Das Singen ist nicht die einzige

Möglichkeit lyrischen Gestaltens. Das Singen führt zur

Kunst der sprachlichen Lautungsgestaltung hin: die Sprachmusik,

der Rhythmus, die Klangwirkungen bilden für viele Gedichte

ein entscheidendes Kennzeichen ihrer künstlerischen Art.

Aber das ist nicht die einzige Möglichkeit der Lyrik. Ganz

andere treffen wir im Minnesang, im Barock, in der Moderne.

Da treten das rein Sangbare, der Stimmungszauber,

der durch einen schwingenden Rhythmus erzeugt wird, |#f0400 : 384|



zurück, und andere Sprachkräfte bestimmen den künstlerischen

Charakter. Daß also die sogenannte Sprachmusik in der

Lyrik auch zurücktreten kann, ist klar. Was aber dann die

Kunstart bestimme, muß erst gesagt werden. Mit dem verwaschenen

Begriff der Bildlichkeit ist zunächst nicht viel erreicht.

Wir werden im weiteren darauf zurückkommen. Hier

ist nur zu zeigen, daß das Singen allein und seine Art das Gesamte

lyrischer Möglichkeiten nicht umgreift, daß sich tatsächlich

im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung auch

andere Formen ausgebildet haben. Aber so viel kann gefaßt

werden: die Grundlage lyrischer Dichtung ist seelische Bewegtheit.

Und im lyrischen Gedicht treten an die Stelle von

Weite und Breite vor allem Innerlichkeit und tiefe Kraft.



Eine neuerliche Besinnung auf wesentliche Unterschiede

zur Dichtung, die einen Vorgang als selbständige Welt gestaltet,

und zu der, die wir Didaktik nennen, kann das noch

fester begründen. Daß in der sogenannten fiktionalen Dichtung,

wie man unter dem Blick auf die Vorgangsgestaltung

epische und dramatische Dichtung zusammenfassen kann, die

Persönlichkeit des Dichters ganz zurücktrete, ist nicht das

Ausschlaggebende. Wir werden erkennen, daß zumindest in

der epischen Dichtung immer auch der Erzähler in die Gestaltung

mit einbezogen ist, allerdings in den verschiedensten

Arten und natürlich nicht als die historische Dichterpersönlichkeit.

Das Maßgebende ist die Vorgangsgestaltung. Die

dichterische Welt ist nicht in erster Linie und unmittelbar

Einheit eines Stückes Welt und des erlebenden Ich, sondern

eine Welt für sich, in der Menschen handeln und leiden. Daß

da jemand erzählt oder unter einer bestimmten Gesamteinstellung

auf der Bühne eine Handlung dargestellt wird, ist zwar

für den Gesamtcharakter der epischen und dramatischen

Dichtung wichtig, steht aber nicht im Vordergrund, wenn

nach der durch die Sprachkunst erzeugten Wirklichkeit gefragt

wird. Von hier aus erinnern wir nochmals an die Frage,

warum die Vorgänge in Eichendorffs »Mondnacht« nicht ein

epischer Vorgang sind: es fehlt der handelnde oder leidende

Mensch, und die Gestaltung des Vorgangs steht nicht im

Vordergrund, macht nicht den Strukturkern aus, sondern |#f0401 : 385|



diese Vorgänge sind die vom lyrischen Ich ergriffenen Weltbereiche,

sind sein unmittelbares Erlebnis. Eine andere Überlegung

kann noch weiter klären. Im bekannten Rilke-Gedicht

»Der Panther« werden in jeder Strophe Vorgänge gestaltet: in

der ersten das Schauen, in der zweiten das Schreiten des Panthers

im Käfig. In der dritten Strophe das erregend geschilderte

Hineinschreiten eines Bildes in das Innere und sein Sterben.

Und doch kann auch hier nicht von einem Vorgang in

seiner Geschlossenheit gesprochen werden. Zunächst sind es

drei verschiedene, die sich nicht zur Geschlossenheit eines umfassenden

Vorgangs zusammenfinden, und dann sind es wiederholte

Vorgänge, auch der dritte wird mit »manchmal« eingeleitet.

Mit der Darstellung von etwas Dauerndem verliert das

Ganze den Eindruck einer geschlossenen Vorgangswelt, die

dargestellt wird, es ist eine Art Zustand, der dem Dichter

einen tiefen Eindruck macht und den er mit diesem Eindruck

formt. Die lyrischen Einlagen in epischen Dichtungen geben

auch Gelegenheit, sich auf das Wesen des Lyrischen zu besinnen.

Man kann zwei Arten unterscheiden. Das eine Mal

werden sie den Personen der Erzählung in den Mund gelegt.

Es ist also eine echte lyrische Gestaltung aus dem Erleben

einer Person. Wenn dagegen, wie oft bei Eichendorff, aber

nicht immer, und auch bei anderen Romantikern, die Erzählung

unterbrochen wird durch ein lyrisches Gedicht, so liegt

ein anderer Fall vor. Es muß nicht unbedingt ein Bruch in der

epischen Kunstform sein, obwohl das in der schablonenhaften

Verwendung lyrischer Einlagen in manchen pseudoromantischen

Erzählungen durchaus der Fall ist. Wenn das

lyrische Gedicht nicht einer Person der Erzählung zugewiesen

werden kann, dann ist es der Erzähler, der nun zu singen

beginnt. Er ist selbst gleichsam vom Erzählten ergriffen, so

wie oft der Balladendichter, und singt aus dieser Ergriffenheit

heraus. Sicher wird der epische Fortgang unterbrochen,

genau so wie in der griechischen Tragödie die Handlung

durch die Chorhymnen. Das kann zunächst die rein menschliche

Stimmung des ganzen Kunstwerks eindringlicher machen,

es kann aber auch wirkungsvolle Pausen, Entspannungen

oder Anspannungen in den Ablauf hineinlegen. Vom |#f0402 : 386|



Standpunkt der strengen Form der einzelnen dichterischen

Arten, von einer Auffassung her, daß die Gesetze der einzelnen

dichterischen Gattungen unbedingt eingehalten werden

müssen, mag das ein Fehler sein. Aber solche Verquikkungen

kommen auch in wertvollen Kunstwerken vor. Daß

aber diese Einlagen sich so stark abheben, ist nicht nur dem

Unterschied von Prosa und Vers zuzuschreiben, sondern

eben der Tatsache, daß zwischen Epik und Lyrik doch ein

tiefer Wesensunterschied besteht.



Alle diese Überlegungen, Abgrenzungen und Vergleiche

führen doch auf die Möglichkeit, das Wesen des lyrischen

Gedichts im weitesten Sinn zu umreißen. Es ist unmittelbares

Welterlebnis und dessen Gestaltung. Unmittelbar ist dieses

Erlebnis, weil das Ich ein Stück Welt unmittelbar ergreift

und von ihm zugleich ergriffen wird, ohne daß der persönliche

Weltbezug zunächst aufgeschoben wird durch die Neugestaltung

eines nur im Sprachkunstwerk lebendigen Vorgangs

und erst aus ihm wieder aufklingt. Das Weltstück und

das menschliche Stellungnehmen dazu gehen eine völlige

Einheit ein, und diese verdichtet sich und wird dauernde, von

der übrigen Welt abgehobene Gestalt in der Dichtung.



Die Eigenart und der Zauber des lyrischen Gedichts besteht

in der völligen Einheit von Innerlichkeit und Gebildehaftigkeit.

Das Hinausstellen ins Bild macht ja eben erst das Gedicht

zum selbständigen Kunstwerk. Aber was da hinausgestellt

wird, ist Innerlichkeit, ist das Ergriffenwerden eines Menschen

von einem Stück Welt. Möglich ist die Gestaltung und

zugleich das Hinausstellen der inneren Bewegtheit durch die

stilhaften Werte der Sprache: dadurch, daß in den Wortgehalten

und den Lautungen im weitesten Sinn, im Sprachablauf

und den höheren Stilgebilden sich der Mensch ein

Organ geschaffen hat, diese inneren Vorgänge und Bewegtheiten

auszudrücken und zu formen, und dadurch, daß Sprache

aus ihrem Wesen heraus immer Dauergebilde zu schaffen vermag,

die das »aufheben«, was in sie einströmt. Durch die Verwesentlichung,

die schon in der Sprache, viel mehr noch in

der Sprachkunst und in der Dichtung da ist, tritt das rein Subjektive

des lyrischen Ich, sein einmaliges Erleben und Gestimmtsein |#f0403 : 387|



zurück gegen ein höheres Ich gleichsam, wir vernehmen

nicht mehr einen Einzelmenschen, sondern aus einem

Menscheninnern das Herz der Welt.



Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.


Das ist nicht mehr ein einzelner, der singt; sondern im Rhythmus

der Verse, im Klangzauber der Lautgruppen, in der Satzbewegung

und im inneren Gehalt der einzelnen Worte,

ihrem Gefühlsreichtum wird das menschliche Sehnen nach

einem Jenseits überhaupt Gestalt. Daß es aus einem »ich«

spricht, gibt dem Gebilde das Menschliche, wir hören jemanden

unseresgleichen. Und deshalb kann auch das Gedicht in

unsere Tiefen wirken und dort aus den Stilwerten der Sprache

ein Stück menschlich ergriffener Welt enthüllen. Aber schon

hier ist auch zu betonen, daß dieser Bogen vom lyrischen Ich

über die allgemein menschlichen Bereiche der Verwesentlichung

zum empfangenden Menschen zwar ins außerzeitliche

Höhere führt, aber doch immer von einer einmaligen, daher

geschichtlichen Situation ausgeht und im Empfangenden auf

eine solche stößt.



In der Gebildehaftigkeit des lyrischen Gedichts liegt es,

daß es in sich ruht und so sich gleichsam selbst genug ist:

»Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst« (Mörike).

Und doch ist es ein Kraftfeld verschiedener Spannungen: von

Mensch zu Mensch, von der Realität in die hohen Bereiche,

von Zeitlichkeit in Ewigkeit. Und durch die Kräfte der

Sprache umfaßt es die rationalen und die irrationalen Seiten

des Menschlichen. Im Dasein des lyrischen Gedichts klingen

die Geheimnisse der Welt und des Menschen auf.



Die Bereiche, auf die der Mensch stößt, von denen er

ergriffen wird, und die er in sich hereinzieht, die Bereiche also,

denen im Gedicht das lyrische Ich begegnet, sind zahlreich.

Die ganze Welt des Äußeren und Inneren bietet Stoff. Man

könnte danach auch die Lyrik einteilen. Aber das wäre

äußerlich; daher seien hier nur Andeutungen gegeben. Am

unmittelbarsten ergreift den Menschen sein eigenes Inneres: |#f0404 : 388|



die Seele, die Gefühle, die Leiden und Freuden, die Liebe vor

allem, dann draußen die Welt, soweit sie nicht vom Menschen

geschaffen ist: die Natur in all ihrer Fülle vom Blümlein bis

zur unendlichen Sternenwelt, endlich alle Gebilde auch, die

der Mensch geschaffen hat. Mit Recht haben also moderne

Dichter auch Dinge innerlich ergriffen, die zunächst nüchtern

und rational erscheinen, die aber auch den Menschen erregen

und formen können: Maschinen, moderne technische Errungenschaften,

Atome usw. Vielfach können in einem Gedicht

auch verschiedene Weltbereiche zusammenwachsen,

etwa das Menscheninnere und die Natur, die Natur und die

Technik.



Gestaltungsfragen



Drei Fragen scheinen für das Erfassen der Lyrik von besonderer

Bedeutung: Die Spannung zwischen dem reinen

Ich-Gedicht und der Tatsache, daß ein Gedicht ein Gebilde

für sich ist, dem alles Persönliche fehle. ─ Die Frage nach dem

Gefühlhaften des lyrischen Gedichts. ─ Die Entgegensetzung

von volkstümlicher und rein individueller Lyrik. Die sprachlichen

Fragen werden in einem eigenen Kapitel betrachtet.



a) Die Ichbetontheit ist gerade im Hinblick auf die moderne

Lyrik vielfach in Frage gestellt worden. In der Spannung

zwischen dem, der im lyrischen Gedicht redet oder singt, und

dem, was ihn innerlich dazu antreibt, gibt es viele Schattierungen;

je mehr das »was« zurücktritt, desto greifbarer wird

das lyrische Ich sein. Es ist also von vornherein diesem Begriff

eine gewisse Weite gegeben. Daraus ergibt sich, daß man es,

wie wir schon betont haben, niemals unbedingt mit dem konkreten

Dichter gleichsetzen muß. Man kann von ihm absehen,

ohne davon abzusehen, daß hier ein Ich spricht. Aber es gibt

sicher eine große Gruppe lyrischer Gedichte, wo das menschliche

Dabeisein, das persönliche Ergriffensein oder ein ausgeprägt

individueller Ausdruck eine wesentliche Rolle im

Rahmen der künstlerischen Gestalt spielen. Man mag hier

vom Typus der Ich-Lyrik sprechen.



Wir werden hier wieder auf den Begriff des Erlebnisses geführt, |#f0405 : 389|



den wir schon einmal erörtert haben (S. 85 f.). Wir

haben dort schon gesehen, daß er heute vielfach auf Ablehnung

stößt. Das geht soweit, daß man jetzt hören kann,

Homer und Plato hätten überhaupt nichts erlebt; oder: das

Wort »Gemüt« hätte in moderner Literaturwissenschaft überhaupt

nichts mehr zu tun. Auf die Gefahr hin, in den Geruch

der Vergreisung zu kommen, sei aber trotzdem gesagt: diese

Äußerungen sind nur möglich, wenn man die Worte Erlebnis

und Gemüt so einengt, daß man mit ihnen im entsprechenden

Sinne arbeiten, d. h. sie ablehnen kann. Daß sie vielfach

mißbraucht wurden und werden, ist noch kein Anlaß, den

Gehalt, der in ihnen liegt, die Erfahrungsbereiche, die mit

ihnen umgrenzt und erfaßt werden, selbst abzulehnen oder

gar lächerlich zu machen. Nochmals betonen wir, daß wir

jede Weltbegegnung eines Menschen, die in seine Tiefe dringt,

die sein Inneres ergreift, bewegt und formt, ein Erlebnis

nennen. Und wenn ein Dichter wirklich ein tiefes, vollendetes

und glühendes Liebesgedicht, das uns ergreift, schaffen sollte

ohne im mindesten jemals Liebe »erlebt« zu haben, dann ist

immerhin die innere Erregung, ein schönes und vollendetes

Gedicht zu schaffen, vorhanden: also doch ein Erlebnis.



Ein erstes Kennzeichen der Lyrik nach unserer Wesensbestimmung

ist die Gestaltung einer unmittelbaren Weltbegegnung;

im lyrischen Gedicht wird ein Etwas gestaltet und

zugleich, daß es irgendwie erlebt wurde. Es scheint aber nicht

unbedingt nötig, daß es in der Ich-Form geschrieben sei.

Eichendorffs Gedichte sind reine Beispiele der Ich-Form.

Aber auch C. F. Meyers »Römischer Brunnen«, viele Gedichte

Rilkes, z. B. »Der Panther«, enthalten sehr deutlich das Ergriffensein

eines Menschen. Das prägt sich im Rhythmus, in

den Bildern, in dem Gehalt der Worte aus. Doch tritt das

Ich insofern zurück, als es sprachlich nicht da ist. Ob der

Dichter selber das Erlebnis gehabt hat und wir es ihm glauben

sollen, oder ob wir wissen, daß das im Gedicht gestaltete

menschliche Ergriffensein nur »erfunden« ist, also eine Fiktion

sei, spielt für das dichterische Gebilde nur insofern eine Rolle,

als man die Ergriffenheit des Dichters an der Vollendung der

künstlerischen Form spüren wird. Das Wesentliche bleibt, daß |#f0406 : 390|



im lyrischen Gedicht ein menschliches Stellungnehmen aus

den Tiefen mitgeformt, also lebendig ist. Die Möglichkeiten,

wie der Mensch, der der Welt aufgeschlossen oder erschüttert

begegnet, im lyrischen Gedicht miteingeformt wird, sind

zahlreich. Es kann eine lebendige, leidende oder lachende

Einzelperson greifbar vor uns hintreten, sie kann sich verschleiern,

es kann ganz allgemein und mehr abstrakt menschliches

Stellungnehmen deutlich werden.



An besonderen Grenzfällen können diese Tatsachen noch

näher beleuchtet werden. Es gibt Naturgedichte, in denen das

unmittelbare Eintauchen eines Menschen in die Fülle der

Natur sprachliche Wirklichkeit wird, und solche, in denen

ein Bereich der Natur beinahe zeichenhaft für einen inneren

Zustand eines Menschen gesetzt wird. Im einen Gedicht fehlt

Symbolisches weithin, im anderen erstarrt Symbolik zu

Zeichen oder Chiffren. In echt romantischen Gedichten

wachsen Bilder gleichsam aus dem Unbewußten herauf und

werden zu Symbolen, wie die blaue Blume bei Novalis. In

symbolistischen Gedichten dagegen ist es vielfach so, daß von

vornherein bestimmte Bilder als Symbole für Menscheninneres

gesetzt werden; als wenn der Dichter vorher auf die

Suche nach solchen Symbolen gegangen wäre. So kommt es,

daß Gedichte der ersten Art, man denke vor allem an Goethe,

Eichendorff, Brentano, gleichsam aus einer Stimmung, aus

einem tiefen Gefühl herauswachsen, während solche der

zweiten eher erst zu einem solchen Gefühl hinführen. Die

einen gestalten einen Menschen, der ganz in die Natur versenkt

ist und sie in sich aufgenommen hat, die anderen die

Suche nach einem Gegenstand, der als Zeichen für das Innere

ausgestaltet werden könnte. Es mag auch sein, daß solche

Unterschiede mit der Entwicklung der Naturauffassung zusammenhängen,

ob nämlich der Mensch in der Natur sich

selber sucht, also in der Naturerkenntnis vor allem sein Erkennen

studiert, oder ob der Mensch in der Natur und ihren

Geheimnissen Gott sucht. Als Ergebnis dieser Betrachtung

von Grenzfällen zeigt sich: es gibt Gedichte, in denen die

unmittelbare Weltbegegnung in einem Versenken in die

Welt besteht, andere, in denen sich vor allem die menschliche |#f0407 : 391|



Persönlichkeit bespiegelt und für sie und ihre Gestaltung alles

mögliche aus der Welt bereitgestellt wird. Gegenüber einer

oft zu großen Sentimentalität von Dichtern des 19. Jahrhunderts

steht ein Zurücktreten des Menschen aus dem Gedicht in

unserem Jahrhundert. Er ist nicht mehr Akteur seines Inneren.

Aber das Menschliche bleibt immer im Grunde. Karl Krolow

sagt: »Aber selbstverständlich hat die zeitgenössische deutsche

Naturlyrik ─ wie jede echte Dichtung ─ ihr ganz bestimmtes

menschliches Pathos.« Eine Frage der Terminologie ist es,

wie man das Wort »Erlebnisgedicht« verwenden soll. Wenn

ein menschliches, und zwar ein ganz persönliches Erlebnis,

dichterisch gestaltet wird, wie das sehr ausdrücklich in der

deutschen Romantik der Fall ist, kann man von Erlebnisgedicht

oder allgemeiner von Erlebnislyrik sprechen. Und man

scheidet davon dann alle Gedichte aus, in denen das Menschliche

etwas zurücktritt, oder wo, wie im Symbolismus, Bilder

für das menschliche Innere und seine Möglichkeiten geschaffen

werden. Aber man darf nicht vergessen, daß auch in

ihnen der ergriffene Weltbereich als erlebter gestaltet wird,

also dieses Ergreifen mit eingeformt erscheint.



Es gibt nun wirklich eine andere Gruppe lyrischer Gedichte,

die vor allem den Eindruck vollendeter Kunstgebilde machen:

Gedichte, die in ihrer Vollendetheit und Geschlossenheit, abgelöst

von allem unmittelbaren Weltbezug, da sind und dadurch

wirken. Hier scheint das persönliche, menschliche Dabeisein

sehr stark zurückzutreten. Und man hat von hier aus oft

geradezu die Meinung geäußert, Gedichte seien reine Kunstgebilde,

die das Menschliche in der Form ganz ausgeschaltet

haben. Baudelaire hat einmal gesagt: »Es ist das wunderbare

Vorrecht der Kunst, daß das Schreckliche, kunstvoll ausgedrückt,

zur Schönheit wird, und daß der rhythmisierte, gegliederte

Schmerz den Geist mit einer ruhigen Freude erfüllt.«

Von hier geht die symbolistische Formkunst aus. Aber

allzu neu sind solche Äußerungen nicht; schon Schiller hat

in seinen ästhetischen Schriften Ähnliches vertreten. Die hohe

Formkultur, die mit dem Symbolismus in Europa erneut einsetzt

und die schon in der Barockzeit gepflegt wurde, hat

ihren tieferen Sinn: es ist eine Rettung des Menschen vor dem |#f0408 : 392|



Chaos ins Geistige hinein. Es ist die andere Seite des Grotesken:

in grotesker Kunst wird das Chaotische selbst geistig bewältigt,

indem es geformt, in künstlerische Gebilde umgesetzt

wird; in der reinen Formkunst ─ die nichts mit der epigonalen

Reimerei etwa der Münchner im 19. Jahrhundert zu

tun hat ─ findet der Geist einen Halt gegenüber dem Andringen

des Chaotischen und Dämonischen. Darin sieht ja auch

Gottfried Benn Eigenart und Sinn des Gedichts: es ist ein

Kunstprodukt, das höchste Anforderungen stellt, höchste

Formvollendung fordert und gerade damit dem Geist Halt,

Kraft und Auftrieb gibt.



Diese Strenge der Gestaltung hat solche moderne Lyrik,

aber nicht nur sie allein, wie immer wieder im Blick auf eine

mehrtausendjährige Geschichte der Lyrik betont werden

muß, gemeinsam mit einer Form, die man Dinggedicht nennt.

Wir stellen zuerst zwei Gedichte gegenüber:



Auf eine Lampe

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,

An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,

Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs.

Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand

Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,

Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.

Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist

Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form ─

Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?

Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
(Mörike)



Der römische Brunnen

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt

Er voll der Marmorschale Rund,

Die, sich verschleiernd, überfließt

In einer zweiten Schale Grund;

Die zweite gibt, sie wird zu reich,

Der dritten wallend ihre Flut,

Und jede nimmt und gibt zugleich

Und strömt und ruht.
(C. F. Meyer)



Das erste Gedicht ist von vornherein dadurch gekennzeichnet,

daß der Mensch den Gegenstand anspricht und im Ansprechen

zugleich seine Freude über ihn ausdrückt. Es wird also

gleich zu Beginn der menschliche Bezug zum Ding eindringlich |#f0409 : 393|



herausgestellt, das Erlebnis der Lampe mit eingeformt. So

ist das Gedicht von Anfang her in eine bestimmte menschliche

Sphäre getaucht. Auch der Vers 7 ist Gefühlsausdruck; daß

und wie der Mensch vom Gegenstand angesprochen worden

ist, wird hier auch eingeformt und durch die Stilkraft des

Ausrufs sogar stark herausgehoben. So erscheint das Gedicht

nicht als Beschreibung einer Lampe, sondern die Freude an

der Schönheit des Gegenstandes ist der Ausgangspunkt, und

die Gestaltung dieser Freude klingt deutlich mit und gibt dem

ganzen Gedicht das Persönliche und mithin das Menschliche.

Alles, was am Gegenstand erlebt wird, enthüllt seine Schönheit.

In ihm erfährt der Sprecher die Schönheit des Kunstwerks

und daß in einem solchen die Schönheit lebendige Gestalt

wird, daß sie in ihm da ist, gleichgültig, ob sonst noch

jemand sie sieht. Und tatsächlich vermag das lyrische Ich im

letzten Vers ganz von sich abzusehen und rein die Schönheit

und ihre eigene innere Seligkeit auszusagen. Nur wirkt das

nicht abstrakt, weil eben vom Anfang her alles ins menschliche

Erleben getaucht ist. Im Gedicht C. F. Meyers lebt eine ganz

andere Haltung. In starker Verdichtung, die ein Vergleich

mit der ursprünglichen Fassung besonders deutlich machen

könnte, wird nur eine Seite von dem, was der Anblick des

Brunnens bieten könnte, vom Menschen aufgegriffen und

gestaltet: die Bewegung des Wassers; das Auf und Ab, das

Vollgießen, das Sich-Verschleiern, das Überfließen; und von

hier an wird diese Bewegung ins Allgemeine gehoben: statt

vollgießen und überfließen heißt es nun nehmen und geben

und endlich strömen und ruhen. Mit diesem Aufstieg ins

Allgemeine enthüllt sich aber der ganze Vorgang als Symbol.

In dieser Bewegung des Auf und Ab, des Nehmens und

Gebens, des Strömens und Ruhens enthüllt sich ein Zug des

Lebens und damit dieses überhaupt. Die Verallgemeinerung

wirkt nicht rational abstrakt, weil sie sich allmählich aus dem

greifbaren Bild herauslöst. Hier scheint das lyrische Ich ganz

geschwunden. Aber es ist da und wirkt sich auf andere

Weise aus: Es wird ja keine sachliche Beschreibung geboten,

sondern gleich zu Beginn das Gesamte von bestimmter Seite

gesehen und in bestimmter Hinsicht erlebt. Und immer mehr |#f0410 : 394|



im Verlauf der wenigen Verse wird aus dem Gegenstand in

bestimmter Beleuchtung ein Bild, in dem nun das Leben

selbst durchscheint. Dieses Sehen und Deuten ist aber menschliches

Dazutun, menschliche Art, die Dinge zu ergreifen. Das

lyrische Ich ist weiter in der sprachlich-künstlerischen Leistung

besonders greifbar: schon der erste Vers zeigt das: er ist

alles eher als Sachdarstellung. Die zwei rhythmischen Hebungen

am Anfang »aufsteigt«, das Herausheben des Wortes

»auf« durch die rhythmische Sonderstellung und durch die

markante Stellung an der Spitze, die starke Spannung im Gehalt

von »auf« und »fallend«, wodurch auch die Hebungsintensität

der zweiten Vershälfte vermindert wird, der a-

Klang, der den Vers beherrscht, das alles zeigt in der Kunst,

mit der hier ein sprachliches Bild von höchster Eindringlichkeit

ersteht, die innere Kraft, mit der hier ein Mensch das

Ding ergreift, sofort in seine Sphäre rückt und ihm damit

einen tieferen Sinn gibt. Wenn also auch hier das unmittelbare

Welterlebnis eines Menschen selbst Gestalt wird, die beiden

Gedichte von Mörike und Meyer unterscheiden sich ─ im

Rahmen der lyrischen Gattung ─ doch sehr. Dort das Aufsteigen

vom Erleben der Lampe über das liebevolle Ergreifen

der Einzelheiten zum Ideal der Schönheit, die am Schluß im

Kunstgebilde sich enthüllt; hier die Verdichtung eines Stükkes

Wirklichkeit im sprachlichen Neuaufbau nur einer Seite,

aber mit um so größerer Intensität, bis dieses Gebilde zum

Symbol des Lebens, genauer eines Zuges am Leben wird, also

gleichsam zurückgebogen in die Welt.



Die Form des Dinggedichts löst sich gleichsam auf diesem

Weg vom Gedicht Mörikes zu dem Meyers deutlich heraus.

Das eindringende Anschauen und Betrachten eines Stückes

der Wirklichkeit verbindet sich zum Unterschied vom bloß

beschreibenden, didaktischen Gedicht mit der Deutung des

Weltstücks. Das Dinggedicht widmet sich vor allem dem

ruhenden, in sich geschlossenen Ding. Auch das Tier kann das

sein. Der Panther in Rilkes Gedicht bewegt sich zwar, aber

diese Bewegung hat kein Ziel, sie führt im Kreis oder ─ wie

in der letzten Strophe ─ ins Nichts, das lebendige Strömen und

Sich-Fortbewegen fehlt, auch der Käfig mit den Stäben umschließt |#f0411 : 395|



in stärkster Weise. Das Dinggedicht, wie es in reiner

Form besonders in der Zeitspanne zwischen Meyer und Rilke

heraustritt, ergreift immer deutlicher Kunstgebilde (Michelangelo-Statuen,

Apollo-Torso), die schon an sich durch das

Wesen des Kunstwerks starke Geschlossenheit aufweisen. Um

sie in der Sprache zu ergreifen und neu zu formen, muß

gerade hier besondere Kunststrenge und Formvollendetheit

erstrebt werden. In der sprachlichen Formung werden dann

diese Kunstgebilde vielfach zu Symbolen für irgendeinen Zug

des Menschlichen. Das ist nur möglich, wenn sie in besonderer

Weise umgeformt und verdichtet werden. Gerade

dieses sprachliche Umformen ist aber eine eindeutig geistige

Leistung, ein Ergreifen einer außersprachlichen Wirklichkeit

und ihre Verdichtung. Solche Leistung ist nur aus tiefstem

Versenken, aus Erleben möglich. Und in der sprachlichen

Durchführung und der Formzucht wird diese Innerlichkeit,

die sich dem Gebilde stellt, selbst Gestalt. Es ist aber auch eine

andere Richtung möglich: daß nämlich das Gebilde als etwas

dem Menschen Fremdes erlebt wird; hier entfaltet sich der

Eindruck der Entfremdung, der Fremdheit, dessen, was den

Menschen von außen her bedroht. Aber auch diese entfremdende

sprachliche Neuformung geht nicht aus Gleichgültigkeit

hervor, man spürt in solcher Gestaltung den inneren

Schauer, mit der sie geleistet wird. Dringt solche Fremdheit in

hohe Bereiche, so wird etwas wie Schicksalsmacht lebendig.

Eine letzte Möglichkeit des Dinggedichts liegt dann darin,

daß es durch die erfaßten Dinge hindurch zum Sein selbst vordringen

will, wie das gerade bei Rilke zu beobachten ist.



Im Dinggedicht als der reinsten Form jenes lyrischen Kunstwerks,

das in voller Formenstrenge selbst nur Gebilde sein

will, tritt gewiß das lyrische Ich zurück. Man wird hier den

Ausdruck Erlebnisgedicht kaum gebrauchen können. Trotzdem

aber ist das lyrische Ich, der Mensch, der dieses Gedicht

spricht, nicht ausgeschaltet. Denn daß das Ding in bestimmter

Weise gesehen wird, daß es in der Sprache neu gestaltet wird,

daß es gedeutet wird und so zum Symbol werden kann, das

alles beweist, daß das Ding in bestimmter Weise erfaßt wird,

daß jemand um sein Wesen ringt. Da bricht das Menschliche |#f0412 : 396|



durch, man spürt, wie ein Stück Außenwelt von einem

Menschen ergriffen und gedeutet wird. Das ist aber nur

möglich, wenn der Mensch aus seiner Tiefe heraus zum Ding

vordringt. Wieder zeigt sich, daß im lyrischen Gedicht ein

unmittelbares Welterlebnis Gestalt wird.



b) Wie steht es mit dem Gefühl im lyrischen Gedicht? Im

Dinggedicht glaubt man vor allem, von jeder Emotion absehen

zu müssen. In dieser Art lyrischer Gedichte scheint

vielen der Beweis dafür zu liegen, daß auch die Lyrik nichts

mit dem Gemüt zu tun habe. Es sei wieder betont, daß wir

unter Gemüt das Innerste des Menschen verstehen, den Kern,

von dem aus sich sein ganzes geistiges Leben entfaltet. Auch

Kälte, Distanziertheit, Scheu, Fanatismus des rationalen

Ringens usw. sind Auswirkungen dieses Seelengrundes und

gehören in den Bereich, den wir, dem tiefen Gehalt des

Wortes folgend, Gemüt nennen. Gerade in der modernen

Lyrik ist das Problem der Ausscheidung alles Gemüthaften

brennend geworden. Auch wenn wir bedenken, daß sie nur

einen winzigen Bruchteil des gesamten lyrischen Schaffens der

Menschheit darstellt, müssen wir sie gerade wegen ihrer bedrängenden

Nähe einbeziehen in einen Versuch, das Wesentliche

des lyrischen Gedichts zu erfassen.



Eine erste Erklärung für diese These von der Gemütlosigkeit

ist eben das Zurücktreten des lyrischen Ichs. Wenn wir

Eichendorffs »Mondnacht« mit C. F. Meyers »Römischem

Brunnen« vergleichen, so ist dieses Zurücktreten ganz deutlich.

Aber wir haben bei der Betrachtung des zweiten Gedichts

bis in die Einzelzüge hinein erkannt, daß in allen künstlerischen

Kräften ein Menschliches vernehmbar wird, das den

Brunnen so und nicht anders erfaßt hat. In den Bildern, der

rhythmischen Bewegtheit und im Weg von der Konkretheit

des Anfangs zum tiefen Allgemeinen des Schlusses spürt

man im Kunstwerk selbst als dessen wesentlichen Bestandteil

das innerste Dabeisein eines Menschen. Dasselbe haben

wir am »Panther« von Rilke erkannt. Und hier sei auf die

Betrachtung zurückverwiesen, die wir einem Gedichte Benns

gewidmet haben (S. 90 f.). Ein anderes modernes Gedicht

lautet:

|#f0413 : 397|



Echsen, mächtigen Flugs, kommen meerüberwärts,

Fangen tiefer dich ein, wenn du am Steuer sitzst.

In der Steile des Wegs

Spürst dus hinter dem Motorsturm:


Altes, Ältestes noch, Anruf aus Eisen, Öl,

Unvordenkliche Zeit, Anderes dir und fern,

Einsam nahegerückt nun,

Unbezähmt und zum Herzen dir.


Starten Spiegel und Glas? Streuten den Meersand her,

Grau auf Lippe und Kinn. Schwarzer Olivenhain

Steht im Bunde, dein eigner

Augenbogen, die Stirn, die Hand.


   (W. Höllerer, Im Diesellärm)



Ohne genau auf das Gedicht eingehen zu müssen, spüren wir

bis ins letzte aus allen Einzelheiten und aus dem Gesamtton

das Ergriffensein des Menschen von den Mächten der Gegenwart,

in denen Urältestes seinem Innern vernehmbar wird.

Hier ist gemüthafte Gestaltung unüberhörbar. Wie ist es im

knappen und scharfen Epigramm? Wir greifen einige Beispiele

aus Lessing heraus:



Frau Trix besucht sehr oft den jungen Doktor Klette.

Argwohnet nichts! Ihr Mann liegt wirklich krank zu Bette.


Es hat der Schuster Franz zum Dichter sich entzückt.

Was er als Schuster tat, das tut er noch: er flickt.


Die gute Galatee! Man sagt, sie schwärz' ihr Haar;

Da doch ihr Haar schon schwarz, als sie es kaufte, war.


Sie sind alle gleich gebaut: in einem ersten, längeren Teil wird

eine Spannung erregt, der zweite Teil schließt überraschend

ab und reizt zum Lachen. Wie das der Dichter möglich macht,

ist schon in diesen drei Sinnsprüchen jedesmal verschieden.

Auch hier liegt die Gestaltung eines unmittelbaren Welterlebens

vor. Der Sachverhalt wird von ganz bestimmter

Seite erfaßt: das ist das Persönliche. Diese bestimmte Erfassung

allein macht den pointierten Schluß möglich. In ihm bricht

die schon von Anfang an im stillen wirkende Haltung des

Dichters durch. Er spielt mit dem Ding (oder Menschen) und

stellt es bloß, indem er zuerst harmlos tut und dann plötzlich

spottet oder, wie im ersten Spruch umgekehrt, wo der Spott |#f0414 : 398|



in der Doppeldeutigkeit der Harmlosigkeit liegt. Immer aber

ist deutlich: die Gedichte packen ein Stück Wirklichkeit aus

der Haltung geistreichen Darüberstehens, zumeist aus Spott.

Auch hier also Gestaltung aus einer innersten Haltung, die

nicht in den rationalen Bewußtseinsschichten auflösbar ist.



Wir wollen die Frage der Gemüthaftigkeit nun an Merkmalen

der modernen Lyrik prüfen. Drei Züge drängen sich

auf: eisige Intellektualität ist der erste, besonders wenn mit

scharfem Verstand Stück für Stück sprachlicher Konstruktionen

aufmontiert wird. Das zweite sind die starken dissonanten

Spannungen: Neben Intellektualität Durchbruch

archaisch-mythischer Züge, neben Schlichtheit Absurdität,

Spannungen zwischen den Themen, zwischen dem Thema

und seiner sprachlichen Formung; man liebt Abnormität,

Überraschung, Befremdung. Der dritte Zug ist Enthumanisierung:

seit Mallarmé wollen viele Dichter bewußt alles

Menschliche ausschließen. Ein Beispiel ist ein Gedicht des

Spaniers F. Garcia Lorca (übersetzt von H. Friedrich):



[Beginn Spaltensatz]

Die Elipse eines Schreis



Geht von Berg



Zu Berg.

[Spaltenumbruch]

Von den Oliven her



Wird er zum schwarzen Regenbogen



Über der blauen Nacht.

[Ende Spaltensatz]

Der allgemeine Zug, der sich aus all diesen Merkmalen zu

ergeben scheint: Es gibt in solcher Lyrik keine Seele.



Zunächst muß bemerkt werden, daß nicht das gesamte

lyrische Schaffen der Gegenwart unter diese Merkmale gestellt

werden kann. Sogar die Auswahl, die H. Friedrich in

seinem Buch über die Struktur der modernen Lyrik bringt,

böte Ausnahmen. Es besteht also von vornherein die Gefahr,

ein einseitiges Bild zu geben, wenn man nur diese Züge heraushebt.

Größer wird die Gefahr, wenn man diese Züge als

Wertmaßstab ganz allgemein nähme und alles abwertete, was

nicht diese Züge trägt. Aber nehmen wir an, dies seien tatsächlich

die Eigenarten aller modernen Lyrik. Es fällt zunächst

auf, wie der Begriff des »Gemütes« eingeengt wird. Nur dadurch

ist es möglich, zu sagen, daß in der modernen Lyrik das

Gemüt fehle. Die entscheidende Frage ist immer: ist in solchen

Gedichten ein innerstes Menschliches noch da? Friedrich sagt: |#f0415 : 399|



»Das schließt nicht aus, daß ein solches Gedicht dem Zauber

der Seele entspringt und ihn weckt. Aber das ist etwas anderes

als Gemüt. Es ist eine Vielstimmigkeit und Unbedingtheit der

reinen Subjektivität, die nicht mehr in einzelne Gefühlswerte

zerlegbar ist. ›Gemüt? Gemüt habe ich keines‹, sagt der große

Zauberer Benn von sich. Wo gemütsähnliche Weichheiten

sich einstellen wollen, fährt ein Querschläger dazwischen, zerreißt

sie mit harten, dissonantischen Worten.« Da ist deutlich,

daß »Gemüt« im engen Sinn des Weichen, Behaglichen,

Sentimentalen genommen wird. Wollte man sich auf »Innerstes

des Menschen« einigen, ich glaube, die Meinungsverschiedenheiten

würden stark eingeschränkt. Denn wenn ein

Dichter dort, wo Weichheiten sich einstellen wollen, solche

mit harten, dissonantischen Worten zerreißt, so offenbart sich

darin erstens sehr deutlich ein lyrisches Ich, dann auch eine

innerste Haltung, aus der dieses Zerreißen herausstößt. Und

wenn Gesamthaltungen sich nicht mehr in einzelne Gefühlstöne

zerlegen lassen, so heißt das doch nicht, daß diese Gesamthaltung

nichts mit dem Innersten zu tun hat.



So ist auch die eisige Intellektualität eine innerste menschliche

Haltung, etwas, wo sich der Kern, das Wesen, also das

Tiefste eines Menschen, offenbart. Gewiß eine ganz andere Haltung

als die, aus der romantischen Lyrik gespeist ist oder gar

sentimentale Schmachtverse, aber eben doch Gestaltung aus

dem Innersten. Auch die dissonanten Spannungen in modernen

Gedichten sprechen aus einem menschlichen Inneren, aus

der Not und Zerrissenheit, in die unsere Menschheit hineingestoßen

worden ist. Schreie solcher Art kommen aus dem

Tiefsten der Menschen, sie zeigen auch das Ergriffenwerden

von der Wirklichkeit, die auf sie eindrängt. Valéry sagt: ein

Gedicht solle ein Fest des Intellekts sein, Breton dagegen, ein

Gedicht solle der Zusammenbruch des Intellekts sein. Valéry

betont also das Rationale, Breton den Durchbruch archaischer

Kräfte durch die Schichten des Rationalen. Das ist eine

große Spannweite. Aber: was heißt denn »Fest« anderes, als

das innerste Ergriffensein von dem Glanz des Intellekts? Da

bricht ein Jubel aus über die Leistungen des Intellekts, der

Intellekt feiert seine Möglichkeiten, und der Mensch erlebt |#f0416 : 400|



dieses Feiern: wieder ist das Ergriffensein des Innersten da.

Und auch ein Zusammenbruch wirkt immer auf den tiefsten

Menschen, sonst ist es für ihn gar kein Zusammenbruch. Zu

einem Zusammenbruch werden äußere Sachverhalte nur für

den, der sie als solchen erlebt und im Innersten davon erschüttert

wird. Und endlich die Enthumanisierung. Mallarmé sagt:

»Du reste, je ne veux rien d'humain.« Da ist die Enthumanisierung

als Ziel gesetzt. Aber man beachte das »je« und »veux«:

ein Ich und ein Wille sind da, die irgendwohin streben, aber

selbst nicht ausschaltbar sind. Im Streben nach der Enthumanisierung

ist das Menschliche ─ eben als Streben ─ als unaufhebbar

mitgegeben. Und von der Sprache in Gedichten des Franzosen

Ponge, die Brot, Türe, Muschel, Kiesel, Kerze, Zigaretten

zum Gegenstand haben, sagt Friedrich: »Sie deformiert

nicht eigentlich die Dinge, sondern läßt sie so sehr erstarren

oder gibt den von Natur aus starren ein so seltsames Leben,

daß eine geisterhafte Unwirklichkeit entsteht. Ausgeschieden

aber ist der Mensch.« Als Stoff, aber nicht als der, der eben in

der sprachlichen Schöpfung die Dinge so ergreift und gestaltet

und der als Gestaltender in die Dichtung mit eingeht. Und wo

Starrheit, seltsames Leben und geisterhafte Unwirklichkeit in

der Sprache lebendig werden, da wächst solche Schau nicht

aus den beruhigten Bewußtseinsschichten, sondern aus

menschlichen Tiefen. Benn selbst spricht vom monologischen

Charakter solcher Gedichte, d. h. sie sprechen niemanden mehr

bewußt an, sind an niemanden gerichtet, aber sie sprechen aus

jemandem heraus. Und die sprachliche Gestaltung auch der

modernen Lyrik mit diesen Zügen zeigt, daß in aller

eisigen Intellektualität, aller Dissonanz und allem Streben

nach Enthumanisierung ein tiefes Innere des Menschen beteiligt

ist. Es bleibt auch in solcher Lyrik bei einem unmittelbaren

Welterlebnis.



c) Für die Gestaltung ist auch der Unterschied von individueller

Lyrik
und volkstümlicher Lyrik wichtig. Der erste

Ausdruck ist eine Verlegenheit. Denn selbstverständlich ist

jedes Gedicht die Schöpfung eines Einzelmenschen, ob er

bekannt ist oder nicht. Aber es ist ein Unterschied auch

künstlerischer Art, ob ein Gedicht in weiten Kreisen lebendig |#f0417 : 401|



ist und bleibt, oder ob es nur besonders künstlerisch aufgeschlossenen

Menschen in seinem Wert sich öffnet. Natürlich

gibt es Übergänge. Aber die letzten Hymnen Hölderlins,

Rilkes »Duineser Elegien« und »Sonette an Orpheus«, Goethes

Gedichte in der Gruppe »Gott und Welt« usw. sind sicher nicht

volkstümlich. Daran können wir die Unterschiede beobachten.

Es kommt nicht auf die Größe des Kreises an, in dem

Lieder lebendig sind. Bergmannslieder sind Volkslieder und

doch nur in einem engen Kreis wirklich gesungen. Aber es

gibt lyrische Gedichte, die ausschließlich denen zugänglich

sind, die hoher Kunst aufgeschlossen sind. Dieser Kreis ist

durchaus nicht fest, er kann durch Bildungsarbeit erweitert

werden. Das Wesentliche solcher Lyrik ist nicht etwa der

Umstand, daß rein individuelle Gehalte gestaltet sind, sondern

daß es Gehalte sind, die nur dem aufgehen, der sich etwas

gründlicher mit der Welt geistig auseinandersetzt. Und die

Kunstform selbst ist nicht schlicht und einfach. Um ihre

Werte zu erleben und damit das Gedicht erst ganz zu erfassen,

muß auch hier Aufgeschlossenheit gegenüber allen Feinheiten

und Höhen künstlerischer Gestaltung vorausgesetzt werden.

So könnte der Ausdruck Kunstlyrik mit Vorsicht gebraucht

werden, weil in solchen Gedichten das Künstlerische in viel

reicherer und strengerer Weise durchbricht. Das kann bis zur

Künstlichkeit führen, die dem echten Volkslied fremd ist.

Und individuell mag man solche Lyrik auch deshalb nennen,

weil sie sich vor allem dem einzelnen in seinem Versenken ins

Gedicht erschließt, nicht so sehr in einem Gemeinschaftserlebnis.

Gedichte Stefan Georges werden zwar der George-

Gemeinde in gemeinsamem Hören oder Lesen ein tiefes

Erleben sein, aber nur über die innere Bereitschaft und Vorbereitetheit

jedes einzelnen, der also von vornherein darauf

eingestellt ist, während ein Volkslied oft erst die Singenden

für den Augenblick zur Gemeinschaft zusammenschließt. Die

Grenzen aber bleiben fließend, ohne daß damit Wertunterschiede

gesetzt wären. Man denke an so viele Gedichte

Eichendorffs. Immer aber wird in der individuellen Kunstlyrik

das allgemein Menschliche auch eingeformt sein, der

Mensch als solcher wird immer angesprochen werden.

|#f0418 : 402|



Die volkstümliche Lyrik im weiten Sinn hat aus ihrem Wesen

heraus immer die Möglichkeit, in einer Gemeinschaft lebendiger

Besitz zu werden. So unterscheiden sich schon die

Sprichwörter von den Epigrammen. Auch auf dem Gebiet

der Epik und Dramatik gibt es volkstümliche Arten: Volksballade,

Volksbuch, Volksstück. Hier allerdings ist mehr an

die Wirkungsmöglichkeit auf breite soziale Schichten gedacht,

im Volkslied im engen Sinn aber an das Singen in einer

Gruppe, die gerade dadurch immer wieder zur Gemeinschaft

wird. Nicht also in der Entstehung aus dem Volk, wie man

romantisch meinte, sondern im Leben im Volk im breitesten

Sinn liegt das Entscheidende. Dazu gehört vor allem ein

Gefühlsgehalt, der alle Menschen sofort anspricht: Liebe,

Abschied, Tod, Frühling, Krieg, Tanz, Erntefest, Weihnachten

usw. Nicht alle Völker und Zeiten sind dem Volkslied

gleich günstig. Besonders lebendig war es vom 13. zum

17. Jahrhundert im deutschen Volk. Diese Gehalte werden

lebendig in ganz bestimmten Kunstformen. So gehört zum

Volkslied immer die Melodie ─ ein Volkslied, das nicht gesungen

wird, ist kein echtes ─, dann eine verhältnismäßig einfache

Form: meist klar gebaute und gereimte Strophen. Der

Kehrreim ist häufig, und von ihm aus kann es am leichtesten

zu Umformungen kommen: er wird erweitert, umgesungen,

mit anderem Text versehen. Wenn sich diese Umformungen

auf das ganze Lied ausdehnen, kommt es zum sogenannten

Zersingen. Was hat Uhlands »Guter Kamerad« im Lauf verschiedener

Kriege alles an Umformungen und Erweiterungen

über sich ergehen lassen müssen! Das beste Zeichen echter und

lebendiger Volkstümlichkeit. Schlichtheit der Form bedeutet

aber weder Ärmlichkeit noch Kunstlosigkeit. Man hat erkannt,

daß dem Volkslied eine organische Form eignet. Jede

Zeile bildet eine Ganzheit für sich, zwei schließen sich zur

nächsthöheren zusammen, beide Paare zur Strophe, mehrere

Strophen zum Lied; so wachsen Einheiten zu immer

höheren zusammen. Das kann zum Kriterium eines echten

Volkslieds werden. Ein Beispiel aus dem Ambraser Liederbuch

von 1582:

|#f0419 : 403|



Mit lust thet ich außreiten,

durch einen grünen wald,

darinn hört ich singen,

singen,

drey vögelein wol gestalt.


Es seind doch nicht drey vögelein,

es seind drey jungfrewlein,

sol mir das eine nicht werden,

werden,

gilt mir das leben mein.


Das erst das heißet Elselein.

das ander heißt Bärberlein,

das dritt hat keinen namen,

namen,

das mus mein eigen sein.


So bilden sich auch feste architektonische Strukturen, die

jedem Volkslied ein unverkennbares Gesamtgepräge geben.

Aus der deutlichen Geformtheit, die ja durch die Melodie

mitgegeben ist, entstehen dann u. a. die mannigfaltigen

Formeln der Wiederholung usw. Aus dieser einfachen, aber

klaren Geprägtheit erwachsen weiter bestimmte Symbole und

Motive, die immer wiederkehren. Aber auch eine gewisse

Sprunghaftigkeit geht daraus hervor: geprägte und sinnvolle

Bilder fügen sich zu immer höheren Einheiten zusammen,

Übergänge und Zwischenglieder sind da nicht nötig und

würden sogar stören.



Im Lauf der Zeit haben sich zwei andere Formen entwikkelt,

die manche Beziehungen zum Volkslied haben: der

Gassenhauer und der Schlager. Aber auch diese beiden sind

trotz mancher Zwischenformen deutlich zu unterscheiden.

Beide sind nicht so langlebig wie ein echtes Volkslied. Der

Gassenhauer hängt mit einer bestimmten sozialen Schicht zusammen,

er wird mit der Zeit ausgesprochen proletisch. Die

Sprache ist derb, oft zotig, die erfaßte Wirklichkeit gehört

den unteren Bereichen an. Dabei ist aber der Gassenhauer

eine ausgesprochen städtische, ja später sogar großstädtische

Erscheinung. Darin liegt auch der Bezug zum Schlager.



Dieser ist modern, hängt aufs engste mit der Zivilisation

und der Vermassung zusammen. Hier geht es nicht mehr um |#f0420 : 404|



echte Gemeinschaft im Lied, sondern um eine Massenerscheinung

für ganz kurze Zeit, die rasch durch eine andere ersetzt

wird. Der künstlerische und menschliche Wert ist meist sehr

gering, wenn nicht gar ein völliger Unwert:



Vis à vis vom Wendelstein

Gibt es viele Tändelein,

und ein kleines Mädelein vom Wendelstein sagt niemals nein.


Aber Schlager können als boshafte und witzige Zeitkritik

auch positive Werte haben. In einem wird der Geschäftsbetrieb

um das Oberammergauer Passionsspiel aufs Korn

genommen. Hier liegt eine echte Wirklichkeitserfassung aus

bestimmter Blickrichtung vor, die gerade die eine, peinliche

Seite einer ursprünglich großen Angelegenheit herausstellt:

Schärfe, Bissigkeit und Rücksichtslosigkeit sind die innere

Haltung:



Die ganze Welt ist eine Einbahnstraße,

sie führt zu einem ganz kleinen Nest,

das lebt in einem ungeheuren Maße

seit sechzehn-vierunddreißig von der Pest.


Judas mit dem roten Bart,

Magdalene blondbehaart.

Es kräht der Hahn, der Dollar rollt.

Der liebe Gott hats so gewollt.

Let us go to Owerammergou.


Die Sprache der Lyrik



In der Lyrik treffen wir auf die intensivste Sprachkunst.

Man kann sich in großen epischen und dramatischen Dichtungen

Stellen denken, wo die rein künstlerische Sprache für

Augenblicke zurücktritt oder ganz ausgeschaltet bleibt. Bei

der Lyrik ist das unmöglich. Sie wächst ja aus dem unmittelbaren

Erleben, geht aus dem Inneren hervor und muß ganz

in Sprache geprägt werden. Die lyrische Sprache weist aus

innerem Reichtum eine große Fülle auf. Schon die Verbindung

des Seelischen und der erfaßten Welt in gedrängtester

Form ergibt das. Alle sprachlichen Kräfte werden wirksam

und verflechten sich gegenseitig in mannigfaltigster Weise.



An dieser Stelle sei grundsätzlich, aber nur kurz auf die |#f0421 : 405|



Frage der Vertonung eingegangen. Denn viele lyrische Gedichte

regen ja immer wieder dazu an, in Musik gesetzt zu

werden. Dabei muß beachtet werden, daß die Musik von der

Dichtung, von der Sprache überhaupt beeinflußt wird. Reine

Instrumentalmusik wird anders gehört und hat andere Gesetzlichkeiten

als Vokalmusik. Hier muß man die Worte verstehen,

aber trotzdem bleibt die Musik die Hauptsache. Denn

in vertonten Liedern kommt es, wie überhaupt in gesungener

Dichtung ─ auch für die Oper gilt das ─ nicht zu einer bloß

äußerlichen Summierung der dichterischen und der musikalischen

Wirkung. Zumindest bedeutet solche Summierung

keine Erhöhung des ästhetischen Genusses und Wertes. Eine

innige Verschmelzung tritt ein, in der jede Kunst gleichsam

ihr Opfer bringen muß. Zugleich muß aber eine Kunstgattung

bestimmend bleiben, den Kern bilden und die Gesamtstruktur

bestimmen. Das ist bei allen Vertonungen doch eindeutig

die Musik. Besondere Verhältnisse liegen im Melodrama

und im Rezitativ vor. Damit ergibt sich aber sofort

eine Gefahr für die Sprachkunst. Denn alle Stilwerte eines

Gedichtes können nur dann wirken, wenn sie sich im Rahmen

der reinen Sprachkunst voll und ungehindert entfalten können;

das ist aber bei der Vertonung nicht der Fall. Höchste

Formen der Lyrik: die Ode, die Hymne verlieren ihre dichterische

Kraft, wenn sie in Musik eingetaucht sind. Nur ganz

schlichte Vertonungen wären möglich, solche aber widersprächen

der Stimmung des Gedichts. Daher wünschte

Goethe möglichst einfache Vertonungen. Als Dichter hatte

er völlig recht. Es gibt nur ganz selten den glücklichen Fall,

daß Musik wertvolle Lyrik eher unterstützt. Vielleicht ist

das bei einigen Mörike-Liedern von Hugo Wolf der Fall.

Hier liegt auch die Ursache dafür, daß viele herrliche Lieder

vom rein dichterischen Standpunkt aus wertlos sind.



In der Lyrik spielt die Aktualisierung der Stilwerte eine besondere

Rolle. Denn gerade hier kommt es drauf an, daß alle

Werte der Worte, der Satzbewegung und vor allem der

Lautung ihre volle Kraft entfalten. Da kann die Kunst des

Dichters Worte wieder zur höchsten Entfaltung bringen. Das

innere Erleben der Welterfassung, also die Seele und der von |#f0422 : 406|



der Außenwelt aufgefangene Gehalt, verbinden sich zu einer

Schöpfung von besonderer Intensität. Dabei ergibt sich eine

Gefahr: Worte, Bilder, Satzgebilde können auch in der Dichtung

der Verflachung anheimfallen. Wenn immer wieder

Worte aus einem bestimmten Gefühlszusammenhang gebraucht

werden, besteht die Gefahr der veräußerlichenden

Sentimentalität, der Verkitschung. Immer wieder Herz und

Schmerz, immer wieder Liebe, Sehnsucht, Frühlingslüftlein

und Mondesnacht: da verlieren die Worte die Innerlichkeit

und Gestimmtheit des Gehalts, sie werden zu Schablonen

oder zu rosarotem Kitsch. Es bedarf großer Dichter, wenn sie

trotz der Gefahr es vermögen, auch solchen Worten wieder

ihre echte Stimmung und ihren tiefen Gehalt zu geben. Hier

liegt auch die Gefahr, daß modernen Menschen die romantische

Lyrik oder Schillers Sprache verekelt sind ─ wegen

ihrer Nachtreter. Da kann nur feine Einführung retten und

die Fähigkeit, von aller Verkitschung abzusehen. In dieser

Lage ist es auch begründet, daß viele Dichter unserer Zeit

von solchen Worten ganz absehen. Und wenn die als poetisch

etikettierten Worte nicht mehr brauchbar sind, so greifen sie

eben zur Alltagssprache. Neben Rilke, Benn, Brecht sind

vor allem angloamerikanische Dichter zu erwähnen: Auden,

T. S. Eliot und andere. Wenn nicht die Alltagssprache in

ihrer Nüchternheit eben auch eine bestimmte Gefühlslage,

die der Ernüchterung, der Blasiertheit, der hoffnungslosen

Verödung gestalten soll, dann steht der Dichter vor der Aufgabe,

auch den schon ganz verblaßten Gebrauchswörtern der

täglichen Rede das Leben wieder einzuhauchen, das sie einst

besessen haben. Hier spüren wir dann ganz die Bedeutung

der Aktualisierung.



Schweigen scheint das Gegenteil von Fülle der Sprachkunst

zu sein. Aber auch Sparsamkeit kann künstlerisch wirken.

Knappheit gegenüber Gesprächigkeit bringt erst recht die

Werte der einzelnen Worte zum Schwingen. Fülle bedeutet

also nicht Wortreichtum, sondern Intensität, Vermeiden des

Leerlaufs. Besonders werden die Worte herausgehoben, wenn

die Satzbewegung scheinbar oder wirklich nicht weitergeführt

wird, wenn also der Satz ins Schweigen mündet.

|#f0423 : 407|



Fühlst du die Jahre steigen?

Welle auf Welle rollt an.

Schweigen, Gespräche und Schweigen ...

Und dann?


Aus Tau und Grünem ein Blitzen ...

Pfirsich und Birnenbiß ...

Flammende Pappelspitzen ...

Leuchtende Finsternis ...


Fieber, Fröste und Schauer ...

Leise verrauchendes Blut.

Schmeckst du die salzige Trauer?

Schmecke sie gut.


Salz der Meere, der Erde ...

Würze des Ichs und des Alls. ─

Habe den Mut: Werde

Salz.
   (Hagelstange, Salz)



Zur vollen Entfaltung der sprachkünstlerischen Möglichkeiten

gehört gerade in der Lyrik die Lautung. Was im Alltag

verflacht und unnötig wird: der Rhythmus, der Klangzauber

der Worte und der Wortfolgen, die Dynamik, die Gleichklänge:

das alles beginnt im Gedicht zu wirken, aus diesen

Lautungen wachsen auch die Tiefen heraus. Aber freilich:

es ist ein Irrtum, den Gehalt der Worte, den Sinn der Satzbewegung

für überflüssig zu halten, nur mehr Gehörseindrücke

gelten zu lassen. Denn Sprache hat immer Sinn, Gehalt.

Alle Versuche der reinen Musik in der Dichtung haben

versagt. Dichtung ist Kunst aus Sprache, und Sprache ist

nicht bloß Klang und Geräusch, sondern eben in der Lautung

gestalteter Gehalt. »Wie in der modernen Malerei das autonom

gewordene Farben- und Formengefüge alles Gegenständliche

verschiebt oder völlig beseitigt, um nur sich selbst

zu erfüllen, so kann in der Lyrik das autonome Bewegungsgefüge

der Sprache, das Bedürfnis nach sinnfreien Klangfolgen

und Intensitätskurven bewirken, daß das Gedicht überhaupt

nicht mehr von seinen Aussageinhalten her zu verstehen

ist« (H. Friedrich). Der Vergleich ist falsch, er verfälscht das

Wesen der Sprache. Denn sie ist nicht bloß Klang, sondern

Sinn. Würde der Sinn ausgeschaltet, so wäre es keine Sprache

mehr, und auf diesem Gebilde der Sinnlosigkeit könnte keine |#f0424 : 408|



Dichtung mehr aufbauen. Solche Versuche können also als

Entgleisung angesehen werden. In diesen grundlegenden Bereichen

kann die Poetik sogar Normen geben. Es ist auch

bezeichnend, daß im erwähnten Satz doch wieder von Aussageinhalten

gesprochen wird: es müssen also doch welche

vorhanden sein. Es geht hier um Zerbrechen des Zusammenhangs

zwischen Lautung und Sinn und damit um Zerstörung

der Sprache.



Im lyrischen Gedicht wirken alle Stilkräfte zusammen. Wir

haben früher an Mörikes Gedicht »Auf eine Lampe« gesehen,

wie durch die Stilkräfte des Anrufs und des Ausrufs gerade

das Menschliche, das Seelische in die Beschreibung eines

Dinges hineingenommen wird und gerade dadurch die Beschreibung

zum unmittelbaren Welterlebnis, also zum lyrischen

Gedicht wird. Auch die Satzbewegung, die Dynamik

des Redens ist von großer Bedeutung: in ihr wird der Vorgang

des Welterfahrens, wie er aus der Tiefe des Inneren

kommt, mit all seinem Vorwärtsdrängen, seinem Stocken,

seiner Lösung und Beruhigung lebendige Gestalt. Im ersten

Nachtlied Goethes ist diese Bewegung von eindringlichster

Wirkung:



Der du von dem Himmel bist,

Alles Leid und Schmerzen stillest,

Den, der doppelt elend ist,

Doppelt mit Erquickung füllest,

Ach, ich bin des Treibens müde!

Was soll all der Schmerz und Lust?

Süßer Friede,

Komm, ach komm in meine Brust!



Natürlich ist vor allem das sprachliche Bild als durchgehende

Kraft auch für die Lyrik, und gerade für sie von größter Bedeutung.

Aber nochmals sei darauf hingewiesen, daß Anschaulichkeit

nicht das Entscheidende ist. Gewiß kann sie

eine Rolle spielen:



Am grauen Strand, am grauen Meer

Und seitab liegt die Stadt.

Der Nebel drückt die Dächer schwer

Und durch die Stille braust das Meer

Eintönig um die Stadt.
   (Storm)

|#f0425 : 409|



Sicher sind in dieser Strophe auch anschauliche Bilder vorhanden,

solche, die also irgendwelche Sinnesvorstellungen

wecken und aus deren Art eine Stimmung aufsteigt. Auch

wirkt hier die Lautung sehr stark; trotzdem kann man schon

hier erkennen, daß vor allem der Gehalt der Worte und damit

der gefühlhafte Sinn der Wortfügungen geschlossene Bilder

schafft. Noch viel deutlicher ist das für den Beginn von

Mörikes »An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang«:



O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe!

Welch neue Welt bewegest du in mir?

Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir

Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?

Einem Kristall gleicht meine Seele nun,

Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen;

Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn,

Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen,

Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft

Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft.


Nur in ganz wenigen Versen beruht der dichterische Wert

in der Gestaltung sinnlicher Vorstellungen. Die entscheidenden

Verse aber sind völlig unanschaulich, besonders die Verse

1, 4, 7─10. »Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen« ist

unanschaulich. Aber die einzelnen Worte werden in ihrem

Gehalt vertieft durch die Zusammenfügung: »Eindruck« bekommt

erst die richtige Fülle durch das folgende »Wunderkräfte«,

diese wieder klingen zusammen mit »naher«, es besteht

eine Spannung zwischen der Nähe und dem Wunderbaren;

beides wirkt ─ aus dem Wortgehalt heraus ─ zusammen

um so erregender. Und endlich »offen«: es schließt das

Bild, das mit »Eindruck« begonnen hat, beide Worte, der

erste und der letzte Sinnträger erhöhen sich gegenseitig, wobei

hier vielleicht wirklich beinahe ein sinnlicher Eindruck

entsteht. Aber »offen« ist auch mit »Wunderkräfte« verbunden:

daraus erwächst das Geheimnisvolle, Ergreifende, wie

nun das Innere des Menschen sich öffnet und Wunderkräfte

in sich aufnimmt. Nur in dem Wortgehalt und dem Zusammenklingen

dieser und in der Tatsache, daß hier vor allem die

Gefühlswerte der Worte lebendig werden, ruht die dichterische

Wirkung und zugleich die gebildehafte Geschlossenheit. |#f0426 : 410|



In der Kunst also des Zusammenfügens von Wortgehalten

und von Lautungskräften, auch vor allem des Rhythmischen,

und dem Wecken der tiefen Töne, des Gemüthaften

in den Worten und Fügungen, gründet das Entstehen

des sprachlichen Bildes.



Im Wortgehalt und dem darin enthaltenen Seelischen verbinden

sich Weltstücke, eben aus dem Wesen des Wortes, und

innerliche Stellungnahme zu ihnen zu einem sprachlich einheitlichen

und dichten Ganzen. In dieser sprachlichen Verdichtung

von Welterfassung und innerlicher Stellungnahme

dazu liegen auch Wandlungsmöglichkeiten der sprachlichen

Bilder in der Lyrik. Nicht nur im geschichtlichen, sondern

auch im phänomenologischen Sinn. Die Vollendung ist die

völlige Verschmelzung beider Bereiche, wie wir sie bei Goethe

finden, aber auch in dem eben betrachteten Mörikevers: »dem

Eindruck naher Wunderkräfte offen«, wo im ganzen und in

jedem Wort beides da ist und nur mehr rational auseinandergelöst

werden könnte. Aber es kann auch der Wirklichkeitsgehalt

vorherrschen oder das rein Innerliche, es kann ein

Bruch zwischen Mensch und erfaßter Welt spürbar werden,

oder ein deutliches und bewußtes Sinndeuten des Erfahrenen

oder ein Überwuchern des Ideellen. Sehr wesentlich für ein

lyrisches Gedicht ist das Durchhalten eines bestimmten Bildes,

wenn auch in leichten Metamorphosen. Großartig das

Bild vom Wasserlauf in »Mahomets Gesang« von Goethe.

Damit entstehen dann Symbole, denn diese durchgehenden

Bilder werden durch die Wiederholung, durch das Hineinstellen

in immer neue Zusammenhänge, durch leichte Umformungen

und Wandlungen immer sinnschwerer, bis sich

in ihnen der ganze Gehalt verdichtet und offenbart: in ihnen

aufgehoben erscheint. Wunderbar kann man diese fortschreitende

Verdichtung bis zum Schmetterlingsbild in Goethes

»Seliger Sehnsucht« verfolgen. Werden diese Bilder immer

konzentrierter und knapper, so kann Unglaubliches an Sinnverdichtung

erreicht werden, aber die Weite des Symbols

und seine Lebendigkeit gehen verloren. »Himmliches Feuer«,

»goldener Rauch« sind solche Gebilde bei Hölderlin. Sie bekommen

Zeichencharakter. Man spricht in diesem Sinne von |#f0427 : 411|



Chiffren. Es kommt dabei tatsächlich zu Verschlüsselungen,

also zu einer Art Geheimsprache. Dabei haben diese Chiffren

an jeder Stelle des Gedichts eine ganz bestimmte Funktion. Besonders

bei Trakl kann man Wesen und Sinn solcher Chiffren

beobachten. »Stadt« ist sprachliche Verdichtung für alle Hoffnungslosigkeit

und Verwesung menschlicher Werte. Auch

die Farbworte haben bei ihm solchen Sinn. Aber schon hier

wird deutlich, daß ein gewisser Gefühlswert, der am Grundgehalt

des Farbworts hängt, immer durchklingt und nur je

in einem bestimmten sprachlichen Zusammenhang verschiedene

Schattierungen erhält. Mannigfaltig ist das Wort

»Mauer« bei Trakl eingesetzt. Aber es darf wohl nicht eine

Vordergrundsbedeutung, also etwa die konventionelle Bedeutung

mit dem chiffrenhaften Stellenwert kombiniert

werden. Sondern in allen Stellen bleibt irgendwie der Erfassungskern

des Wortes erhalten: Umgrenzung, Begrenzung.

Je nach dem sprachlichen Zusammenhang und vor allem also

nach den Eindrucksworten, die das Wort »Mauer« begleiten

und färben, können die verschiedensten Gefühlswerte heraustreten:

von Geborgenheit, Schutz und Wärme bis zu Tod,

Drohung und Eiseskälte. Aber immer werden diese Stimmungen

eingefügt in den Gehalt von Begrenzung. Es darf

also nicht zu sehr bloße Zeichenhaftigkeit eines chiffrenhaft

konzentrierten Wortgehalts gesehen werden, sondern es

bleibt doch bei einem tieferen Gehalt, der durchklingt. Je

mehr solcher Gehalt immer lebendig ist, desto eher kann

man von Symbol sprechen, je mehr das Wort bloßes Zeichen

wird, also wirklich Chiffre, desto mehr verflüchtigt sich der

innere Reichtum der Sprache. Wir haben hier ein Kriterium

hoher Dichtung vor uns. Gewarnt muß davor werden, daß

man beim bildhaften Zusammenschießen von stimmungshaften

Wortgehalten wieder nur ans Gewohnte, Trauliche

der üblichen Wortstimmung denkt. Es können in entsprechender

sprachlicher Umgebung ganz andere Gefühlstöne

lebendig werden. Aber immer bleibt: unmittelbare Welterfahrung

wird Gestalt. Auch in dem erschütternden Gedicht

Benns »Schöne Jugend«, wo der Dichter allem Kitsch im

Anblick der Furchtbarkeit und Rücksichtslosigkeit des Lebens |#f0428 : 412|



die Maske herunterreißt. Aber es bleiben eindringlichste

sprachliche Bilder, nur werden eben andere Weltausschnitte

erlebt, und zwar so, daß man die Erschütterung des lyrischen

Ich mitspürt.



Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,

sah so angeknabbert aus.

Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.

Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell

Fand man ein Nest von jungen Ratten.

Ein kleines Schwesterchen lag tot.

Die andern lebten von Leber und Niere.

Tranken das kalte Blut und hatten

Hier eine schöne Jugend verlebt.

Und schön und schnell kam auch ihr Tod:

Man warf sie allesamt ins Wasser.

Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!



Die Stilkräfte sind auch entscheidend für den Bau der

lyrischen Gedichte. In Gedichten, in denen die Lautungswerte

stark sind, wird auch der Bau durch sie bestimmt. Der rhythmische

Fortlauf und der Klang der Laute, die Dynamik der

Redebewegung führt zu einem Aufbau, der durch Gleiten,

durch unmerkbare Übergänge, durch allmählichen Stimmungswandel

gekennzeichnet ist. Hofmannsthals Gedichte

weisen vielfach solche Anlage auf. Wo aber stark in sich geschlossene

Bilder den Stil bestimmen, erhält der Aufbau eine

scharfe, klare Linie; die Glieder sind deutlich voneinander abgehoben.

Man mag solche Anlagen als musikalisch und plastisch

bezeichnen, muß sich aber klar sein, daß damit nur ein

Eindruck wiedergegeben wird, nicht die Anlage in ihrer Art

durchschaut ist.



Da moderne Lyrik vielfach scheinbar neue Züge aufweist,

daß sie vielen ─ und nicht nur Banausen und Vergreisten,

wie überkluge Kritiker gerne möchten ─ mindestens fremd

ist, soll die Bedeutung der Sprache in der modernen Lyrik noch

kurz betrachtet werden. Ein Grundzug ist sehr klar. Man

rückt von der Sprache als Mitteilungsinstrument so stark als

möglich ab. Man will nicht mehr, wie banale Lyrik des

19. Jahrhunderts, Gefühle oder Gegenstände beschreiben mit

Worten, die vor allem ihrer konventionellen Bedeutung wegen |#f0429 : 413|



gesetzt sind, sondern man will aus der Sprache Neues

herausholen. Mit anderen Worten: die Sprache soll ihrer

ökonomisierenden Verflachung enthoben werden. Das ist

eine sehr bedeutsame Seite der modernen Lyrik. So merkwürdig

ihre Versuche oft sein mögen, sie steht da in einer

großen Tradition, der alle großen Lyriker angehören: Sprache

als geheimnisvolle und schöpferische Kraft. Das versucht auf

ihre Weise die poésie pure der Franzosen. Mallarmé meint

damit die Reinheit der Wesenserfassung durch die Sprache,

die Befreiung von allen alltäglich-ökonomisierten Beimengungen.

Ein Beispiel der Phantasie in der Sprache statt jeglicher

Art von Mitteilung. Die Gefahr beginnt dort, wo nun

Dichter ─ noch nicht Mallarmé ─ in diesem Wesenhaften

das rein Klangliche meinten und damit auf der anderen Seite

das Wesen der Sprache verfehlten, da sie nicht nur Klang ist.

In diesem schöpferischen Spiel mit der Sprache lebt die alte

Sprachmagie auf: daß man mit den Worten der Sprache

nicht nur die Dinge benennt, sondern sie in seine Gewalt

bekommt, sie hat oder bannt. Nur besteht in moderner Lyrik

wieder die Gefahr, daß man zu sehr nur die Wirkungen der

Sprachlautungen sucht. Freilich werden so die tiefen Werte

und Wirkungen der Lautungen wieder lebendig, wird die

Sprache bereichert und zugleich das Menschliche betont.

Denn in den Werten der Lautungen wirkt eindeutig das

Menschliche. Aber wenn der Sinn zu Sinnlosigkeit wird,

wenn Lautgebilde geformt werden, die keine Worte mehr

sind oder nur noch an bekannte Worte anklingen, dann wird

eben die Frage wieder brennend, ob das noch Sprache ist,

und damit auch: noch Dichtung.



Wir kommen damit zu einer Technik in moderner Dichtung

überhaupt, die aber besonders in der Lyrik auffällt: die

Montage. Zunächst meinte Benn damit das Aneinanderfügen

von dichtesten Bildern, aus deren Zusammenwirken sich erst

der Gesamtgehalt ergibt. Zum Beispiel:



Ein Wort ─, ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,

ein Flammenruf, ein Sternenstrich ─,

und wieder Dunkel, ungeheuer,

im leeren Raum um Welt und Ich.
|#f0430 : 414|



In den ersten zwei Versen bestehen die Bilder wirklich nur

aus je einem Wort mit Artikel. Dadurch aber treten die Gehalte

dieser Worte erst recht heraus. Durch dieses Heraustreten

der Wortgehalte werden die einzelnen Worte selbst

zu selbständigen Gebilden, es beginnt der Wortkult. Man

schafft neue Worte, stellt sie in willkürlicher Weise zusammen.

Damit offenbart sich einerseits wieder das Menschliche:

hier sogar als rücksichtsloser Herrschaftsanspruch des Menschen

über die Sprache und ihre Möglichkeiten. Andererseits

eine helle und wirklich eiskalt berechnende Intellektualität.

Hier will und kann das »lyrische Ich« absolut über die Sprache

verfügen. Freilich kann in solchem Wortkult rationalistischer

Prägung plötzlich ein Umschlag eintreten: man spürt uralte

Wortgläubigkeit, eine unbedingte Verehrung der sinnerschließenden

Macht der Sprache. Solche Gedichte schalten

zunächst völlig frei mit dem Wortmaterial: sie zerlegen es,

bauen es um, experimentieren mit den Möglichkeiten der

Wortbildung. Man bereichert den Wortschatz durch Worte

aus der Gaunersprache, der Fremd- und Fachsprachen. Die

erste Strophe der »Bildzeitung« aus Enzensbergers Sammlung

»Verteidigung der Wölfe« heißt:



Du wirst reich sein,

markenstecher, uhrenkleber:

wenn der mittelstürmer will

wird um eine mark geköpft

ein ganzes heer beschmutzter Prinzen

turandots mitgift unfehlbarer tip

tischlein deck dich:

du wirst reich sein.



In diesen Versen sehen wir auch eine andere Eigenart solcher

montierten Lyrik: Das Wortmaterial anderer Gedichte

zu variieren oder solche Gedichte durch variierte Zitate zu

parodieren. Ein Vers desselben Enzensberger heißt: »Stiftet

lieber, was bleibet: die Dummheit.« Der Aufbau solcher

Gedichte ist durchdacht, Verse und Strophen stehen zueinander

in strengstem Bezug durch Wiederholungen, Reime,

Stabreime usw. Eine andere Strophe heißt:

|#f0431 : 415|



Die spieldose mit der alten Sarabande nicht

sarabande nicht

bande nicht

nicht.


Hier spielt der Rhythmus und der eigenartig verstummende

Satzbau eine Rolle.



Auf keinen Fall erschließen sich solche Gedichte sofort dem

Verständnis. Aber mit dem Verständnis allein ist es ja bei

einem lyrischen Gedicht nicht getan, auch nicht damit, daß

man die Kunst oder die Künstelei bewundert. Erst wenn wir

zumindest ahnen, daß hier ein Mensch von irgendeiner

Wirklichkeit ergriffen ist und beides, das Erfahrungsstück und

seine innere Stellung dazu, sprachlich, wenn auch noch so

eigenwillig, gestaltet, haben wir das lyrische Gedicht. Sicher

muß man mit einem unbedingten Urteil vorsichtig sein, weil

wir nicht wissen können, ob wir erst langsam fähig und aufgeschlossen

werden für solche Dichtung. Aber drei Dinge

müssen auf alle Fälle bedacht sein: 1. Man muß immer darauf

achten, daß man nicht bloße Spielerei und vor allem reinen

Bluff für Kunst hält. 2. Man wird nie zu echter Dichtung

gelangen, wenn man die Sprache vergewaltigt und ihre eine

Seite, nämlich die Sinngestaltung, einfach amputiert. 3. Es

sei zugegeben, daß in den meisten Fällen solcher Verse und

Strophen ehrliches Ringen steckt, ein Experimentieren mit

der Sprache und ihren Möglichkeiten. Daraus können auch

neue Stilmöglichkeiten entstehen. Aber solches Experimentieren

hat es auch früher zu jeder Zeit und in jeder Kunst

gegeben. Nur hat man solche Versuche nicht als Dichtung

angesehen. Warum soll man sie heute als solche werten?



Und ein letztes: muß jeder Ausdruck gewisser Menschen

unserer Zeit, in denen Chaos, Verzweiflung, Primitivität und

Intellekt eine merkwürdige Struktur bilden, schon Kunst

sein?



Die lyrischen Arten



Es ist hoffnungs- und sinnlos, ein logisches, in sich geschlossenes

und vollständiges System der lyrischen Arten aufzustellen.

Schon deshalb, weil immer neue Möglichkeiten innerer |#f0432 : 416|



Welterfahrung und ihrer Gestaltung denkbar, ja sogar wahrscheinlich

sind bei der Tatsache, daß für uns Menschen die

Wirklichkeit immer verwickelter und weiter wird und daher

auch immer neue Erregungen unseres tiefsten Inneren zu erwarten

sind. Es kann nur darum gehen, wesentliche Arten

lyrischer Dichtung herauszustellen. Dabei wird der geschichtliche

Blick auf das, was die Antike und das Abendland an

lyrischer Kunst geschaffen haben, sehr im Vordergrund stehen;

freilich aber soll versucht sein, von diesen geschichtlichen Arten

aus zu allgemeinen Einsichten in die wesentlichen Möglichkeiten

lyrischer Dichtung vorzudringen. Solche Übersichten

sind schon oft aufgestellt worden. Man kann versuchen, die

Fülle der Arten dadurch in den Blick zu bekommen, daß man

ein System verschiedener Einteilungsgrundsätze anlegt.

J. Wiegand unterscheidet nach der Grundstimmung Idylle,

Elegie und Satire, ohne zu beachten, daß in solcher Einteilung

das Frohe, das Bewegte kaum eingefangen ist; nach der

sprachlichen Stilhöhe scheidet er Ode, Hymne, Dithyrambus

mit steigender Stilhöhe, daneben das Lied; für den Gesang

fehlt der Platz; nach dem Umfang ordnet er Epigramm, Sinnspruch

und Lehrgedicht, wohl die bedenklichste Aufzählung.

Man kann versuchen, eine Polarität zugrunde zu legen. Das

tut eigentlich Staiger, wenn er aus dem Lyrischen das Pathetische

ausschaltet und damit einen Großteil der gesamten

Lyrik etwa Hölderlins. Staigers Trennung besteht zu Recht,

wenn man streng darauf achtet, daß es sich hier nur um

menschliche Grundhaltungen in der dichterischen Gestaltung

handelt. Aber diese Trennung führt uns doch eine Unterscheidung

nahe, die für die gesamte Lyrik als eine geschichtlich

gewordene Dichtungsgattung wichtig und von Günther

Müller durchgeführt worden ist. Er unterscheidet das schlichte

Lied von der angespannten Ode. Aus dem Lied entfaltet sich

das Chorlied, aus der Ode die strenge Form des Spruchs. In

der Mitte zwischen den beiden Gegenformen Lied und Ode

stehen der Gesang und die Hymne. Andere versuchen Dreiergruppen.

Petsch gruppiert nach Lied, Spruch und Hymnik.

Beim Lied unterscheidet er das Einzellied und das Chorlied;

reich ist die Aufgliederung des Spruchs: in Gedankendichtung, |#f0433 : 417|



lyrische Mythen und in die Gruppe Idylle, Elegie,

Satire. Dabei wird deutlich, daß die Grundsätze, nach denen

eingeteilt wird, wechseln. Bei der Hymnik unterscheidet er

wieder Ich-Hymnik und Chor-Hymnik. Kayser geht von

den drei Grundhaltungen aus, in denen Welterleben gestaltet

sein kann: zuerst das lyrische Ansprechen, dessen Grundform

der Ruf ist: daraus entfalten sich Preis, Jubel, Klage. Dann das

liedhafte Sprechen mit der Grundform des Liedes: daraus

wachsen Bitte, Gebet und Zuspruch. Endlich das lyrische

Nennen mit der Grundform des Spruchs, der sich in Sinnspruch,

Epigramm, Verkündigung, Beschwörung und Zauberspruch

aufgliedert. Wir wollen für unsere Übersicht folgende

Formen unterscheiden: die schlichte Form des einfachen

Liedes, die höhere Form des Gesanges; unter den innerlich

gespannten Formen vor allem das Sonett, die Ode

und die Hymne; dann daran anschließend die sogenannte

Gedankenlyrik und endlich die Spruchdichtung.



a) Die einfachste und schlichteste Form lyrischer Gestaltung

ist das Lied. In ihm wirkt die rein lyrische Grundhaltung am

schönsten und reinsten. Im Lied wird das völlige Verschmelzen

des Ichs mit der erlebten Welt Gestalt. Subjekt und Objekt,

Ich und Gegenstand sind nicht getrennt, daher nicht

unterscheidbar. Der Dichter ist im Strom der Welt und nimmt

diese Welt ganz in sein Inneres auf. So ergibt sich eine geschlossene,

einheitliche Stimmung. Hier spüren wir den

eigentlichen Sinn des früher verwendeten Wortes Verinnerung.

Die völlige Einheit ist auch in der sprachlichen Kunst

da: Lautung und Sinn verschmelzen, eins wirkt im anderen.

Aus solcher Haltung ergibt sich die einfache Form des Singens.

So kann auch der Leser oder Hörer keinen Abstand

nehmen, sich nicht mit Form oder Sinn eines Liedes auseinandersetzen.

Das lyrische Ich des Liedes ist ganz eingetaucht

in seinen eigenen Lebensrhythmus, seine Lebensvorgänge,

aus denen heraus es die Welt in sich hereinzieht und zu einem

Stück seines Lebens macht. Aus diesem Innesein in seinen geheimen

Lebenskräften und der in sie hineinverwandelten

Welt singt es heraus. So kann G. Müller zum inneren Gestaltgesetz

des Liedes kommen: »Es ist ... das Gesetz des |#f0434 : 418|



sinnenhaften Singens aus dem Innesein im Wellengang des

Blutes und im Kreislauf der Lebenskräfte.«



Es rauschen die Wipfel und schauern,

Als machten zu dieser Stund

Um die halbversunkenen Mauern

Die alten Götter die Rund.


Hier hinter den Myrtenbäumen

In heimlich dämmernder Pracht,

Was sprichst du wirr wie in Träumen

Zu mir, phantastische Nacht?


Es funkeln auf mich alle Sterne

Mit glühendem Liebesblick,

Es redet trunken die Ferne

Wie von künftigem, großem Glück.


   (Eichendorff, Schöne Fremde)



Gerade die letzte Strophe zeigt das Verschmelzen eindringlich:

Nirgends eine Beschreibung eines Außen, sondern alles

ist in bezug zum Inneren gesetzt, aber auch nur das erfaßt

und erlebt, was zu diesem Inneren stimmt. Die innere Gestimmtheit

umgreift auch die Natur, und diese wiederum

zieht das Innere in ihre Geheimnisse.



Aus diesem Wesen des Liedes entsteht eine Gefahr: die

des Zerfließens. Wo nichts mehr klar abtrennbar ist, wo eins

zugleich das andere ist, droht alle Gestalt zu entschwinden.

Hier spüren wir nun das Geheimnis echter und schöner Dichtkunst

ganz nahe: in der Bannkraft der Form. Gerade das Lied

verlangt sie und bannt so die Gefahr der Auflösung in lauter

verschwebende Stimmung. Dem dient der Strophenbau, der

gerade beim Lied beinahe zum Gesetz wird. Je einfacher die

Versform, also das Metrum, desto deutlicher prägt es sich ein

und kann als festes Rückgrat wirken. Der Reim bindet die

Verse aneinander und zur Strophe. Selbstverständlich offenbart

er auch sinnvolle, geheime Zusammenhänge zwischen

den Worten. Der gleiche Bau der Verse, der wiederkehrende

Reim und der Gleichbau der Strophen, also das Prinzip der

Wiederholung, schließt das Ganze in eine strenge Form, in

ein wertvolles Gefäß für den köstlichen Stimmungsgehalt.

Zu diesen Hilfen der Schließung gehört auch der Kehrreim,

also die Wiederholung eines oder mehrerer Verse am Schluß |#f0435 : 419|



jeder Strophe. Auch diese Wiederkehr derselben Verse schließt

jede Strophe deutlich ab und gibt so dem Ganzen Festigkeit

und Klarheit. Dabei kann der Dichter durch leichte Abänderungen

im Kehrreim neue Möglichkeiten herausholen. Der

Rhythmus, das Metrum bleiben, aber der Wortlaut kann abgewandelt

werden. Gerade solche Umformungen fallen im

gleichen Gebilde, als welches der Kehrreim am Ende jeder

Strophe deutlich heraustritt, besonders auf. Der Dichter

kann so Stimmungsbewegung schaffen, den Fortgang im

Aufbau herausheben. Die Kunstform des Liedes verzichtet

aber auf bestimmte rationale Verknüpfungen. Es fehlen

streng grammatische Bindungen der Sätze, logische Fügungen,

auch feine und überlegte Stimmungsübergänge. Alles ist

auf die Fügung ausgerichtet.



So erscheint das Lied auch als Kunstwerk von eigenartiger

Einheitlichkeit: höchste Kunstvollendung und Schlichtheit verbinden

sich: man merkt der Schlichtheit, der Innigkeit, der

einheitlichen Stimmung die Gerundetheit und Vollendung

der Kunst nicht an, zugleich aber hebt diese Kunstgestalt

das Gedicht über jedes Zerfließen in bloßer Stimmung empor.



b) Das Lied in seiner reinen Form kann in vielfacher Weise

abgewandelt werden. Alle die Entfaltungsmöglichkeiten

weisen zwei Züge auf: sie haben dieselbe Anlage wie das

Lied: klare, strenge Strophenform; aber sie sind einen Ton

höher gestimmt: feierlicher, mitreißender, erregender, gehobener.

Diese Gehobenheit zeigt sich schon im Gehalt: die

Weltausschnitte, die hier ergriffen werden, sind so geartet, daß

sie die Seele in stärkere Schwingungen versetzen, sie erheben,

tiefer erregen. Dem entspricht die künstlerische Gestalt: der

Stil ist gehoben, die Strophenform größer und kunstvoller.

Solche Gesänge schwingen weiter, sind daher länger.



Eine erste Form ist das Gemeinschaftslied. Hier singt nicht

mehr das einzelne lyrische Ich in seiner Einsamkeit, eine Gemeinschaft

wird angesprochen durch den erregenden Gehalt,

und im gemeinsamen Singen fühlt sie sich um so mehr gebunden

und in ihrer Gesamtheit höher gehoben. So wirken

die Kampflieder, alle vaterländischen Gesänge bis hinauf zu

den sogenannten Nationalhymnen, die nicht nur im musikalischen |#f0436 : 420|



Charakter, sondern auch im dichterischen reine

Gesänge in der eben gekennzeichneten Art sind. Dazu gehört

auch das Kirchenlied. Auch da singt eine Gemeinde, und sie

fühlt sich durch die religiöse Sphäre emporgehoben. Wie

mannigfaltig die Stimmungen innerhalb der Form des Gesanges

auch im Kirchenlied sein können, zeigen die ersten

Strophen zweier berühmter Beispiele:



Ein feste Burg ist unser Gott,

Ein gute Wehr und Waffen.

Er hilft uns frei aus aller Not,

Die uns itzt hat betroffen.

Der alt böse Feind,

Mit Ernst ers itzt meint.

Groß Macht und viel List

Sein grausam Rüstung ist.

Auf Erd ist nicht seins gleichen.
(Luther)


O Haupt voll Blut und Wunden,

Voll Schmerz und voller Hohn!

O Haupt, zu Spott gebunden

Mit einer Dornenkron!

O Haupt, sonst schön gezieret

Mit höchster Ehr und Zier,

Itzt aber hoch schimpfieret:

Gegrüßet seist du mir!
(Paul Gerhardt)



Die Strophenformen der Gesänge sind vor allem die Terzinen

und die Stanzen. Gerade diese geben Feierlichkeit, Gehobenheit.

Auch die sprachlichen Bilder gehören höheren

Bereichen an. Aber man kann vielleicht eine mehr ruhig gehobene

und eine mitreißende Art unterscheiden. Auch dafür

bieten sich zwei berühmte Beispiele an, aus denen die Eigenart

des Gesanges, seine Fülle, seine innere Höhe und der Reichtum

seiner künstlerischen Gestaltung deutlich werden:



Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte

Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,

Daß ich erwacht, aus meiner stillen Hütte

Den Berg hinauf mit frischer Seele ging;

Ich freute mich bei einem jeden Schritte

Der neuen Blume, die voll Tropfen hing:

Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,

Und alles war erquickt, mich zu erquicken.


   (Goethe, Zueignung)

|#f0437 : 421|



Ein Regenstrom aus Felsenrissen,

Er kommt mit Donners Ungetüm,

Bergtrümmer folgen seinen Güssen,

Und Eichen stürzen unter ihm;

Erstaunt, mit wollustvollem Grausen,

Hört ihn der Wanderer und lauscht,

Er hört die Flut vom Felsen brausen,

Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:

So strömen des Gesanges Wellen

Hervor aus nie entdeckten Quellen.


   (Schiller, Macht des Gesanges)



Zwei Sonderformen des Gesanges seien hier eingefügt. Zunächst

die Chorische Poesie. Auch sie ist an eine Gemeinschaft

gebunden, aber sie erwächst weniger aus gemeinsamer

Seelengrundlage als aus gemeinsamer Verrichtung: feierliche

Umzüge, Trauerfeiern, Siegesfeste, Dankfeste usw. Hier treten

das Rhythmische und die Sprachkunst stärker hervor als die

Melodie. Man könnte je nach den Verrichtungen kultische

Gemeinschaftsdichtung, Arbeitslied und Reigenlied unterscheiden.

Dann die Elegie. Der Ausdruck ist nicht ganz eindeutig.

Denn im Altertum wurde jedes Gedicht im elegischen

Versmaß so genannt, also im Distichon, das Hexameter und

Pentameter zur Einheit verbindet, soweit es nicht ein Epigramm

war. Mit der Zeit jedoch wurde immer mehr der

Ausdruck einer bestimmten Trauer als Kennzeichen der Elegie

genommen. Die Dichter selber gehen in der Bezeichnung

ihrer Gedichte nicht einheitlich vor. Wir denken hier an Gedichte

der sanften Trauer, nicht der leidenschaftlichen, pathetischen,

feierlichen. Aber auch diese sanfte Trauer wird nicht

liedhaft gestaltet: die Form ist nicht mehr schlicht, und schon

dadurch wird ein solches Gedicht in eine gewisse höhere

Sphäre emporgehoben. Auch die sanfte Trauer kann uns erheben

und ergreifen. Zu welcher religiös gestimmten Höhe

sie emporführen kann, zeigen die Schlußverse einer der reinsten

Elegien deutscher Sprache, der »Nänie« von Schiller:



Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,

Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.

Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,

Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
|#f0438 : 422|



c) Welterlebnis aus unmittelbarer Erfahrung muß nicht

immer in der völligen Verschmelzung von außen und innen,

von lyrischem Ich und Welt bestehen. Es kann auch eine

Distanz vorhanden sein, aus der heraus das Ich die Welt erlebt.

Es hält sie sich gleichsam vom Leibe, um sie im ganzen

erfassen und überblicken zu können. Und trotzdem ist das

Ich wie gebannt von dem Erlebten, zutiefst von ihm betroffen,

beansprucht. In der Dichtung dann werden diese beiden Bereiche

zusammengespannt zu einer neuen künstlerischen Einheit.

Diese lyrischen Arten werden also immer eine gewisse

innere Gespanntheit aufweisen: eine deutliche Getrenntheit

von lyrischem Ich und ergriffener Welt und doch eine Einheit

aus der Betroffenheit des Ich heraus. In solchen Gedichten

wird also immer auch etwas Reflektierendes enthalten

sein, der Mensch ist bis in die klaren Bewußtseinsbereiche,

bis in die rationalen Schichten hinein beansprucht. Es heben

sich ziemlich deutlich vier Arten ab, in denen sich solche

lyrische Gestaltung ausprägt.



Man hat in neuester Zeit eine dichterische Form als eigenartiges

Gebilde abheben können, die sich besonders in der

angloamerikanischen Literatur findet. Man nennt sie »Dramatic

Monologue
«, dramatischen Monolog. Ich nenne zuerst

einige Beispiele. Bekannt geworden ist diese Art durch Dichtungen

R. Brownings, z. B. »My last duchess« oder »Child

Roland«; dann A. Tennysons »Ulysses« und »Tithonus« und

T. S. Eliots »Prufrock«, »Ash Wednesday«, bis zu einem gewissen

Grade auch »Waste Land« und die »Four Quartetts«.

Auch Swinburne, Yeats und E. Pound haben solche Dichtungen

geschrieben. Man kann sie etwa so kennzeichnen: es

spricht eine bestimmte Person, meist eine aus der Geschichte

bekannte, zu einem Hörer. Die Worte erwachsen aus einem

tiefen und fülligen Erlebnis der Person. Es ist, wie Ezra Pound

reizvoll sagt, der lyrische Teil eines Dramas, dessen Rest der

Phantasie des Lesers überlassen bleibt. Also eine Aussage aus

einer ganz konkreten Situation, in der diese Situation und

alles, was damit zusammenhängt, lebendig wird, zugleich

aber auch das Erlebnis dieser Situation, die Ergriffenheit der

Person und damit auch ihr tiefes Inneres. Im »Ulysses« Tennysons |#f0439 : 423|



spricht der alte Odysseus lang nach der Rückkehr nach

Ithaka, als er von der Sehnsucht nach den Irrfahrten ergriffen

wird und beschließt, sein Land seinem Sohn zu überlassen

und selbst mit den überlebenden Gefährten nach neuen Ländern,

und sei es bis ans Ende der Welt, zu fahren. Es ist nun

sehr schwer, solche Dichtungen in das übliche Schema einzuordnen.

Nebenbei finden sich Beispiele dafür auch bei C. F.

Meyer, z. B. »Der Ritt in den Tod«, »Das kaiserliche Schreiben«,

»Michelangelo und seine Statuen«, »Cäsar Borjas Ohnmacht«,

»Der Landgraf«. Eindeutig ist, daß in solchen Dichtungen

das sprechende Ich eine ganz bestimmte, mehr oder

weniger umfangreiche Lage tief erlebt, in seinen Grundfesten

davon ergriffen wird, so daß in der Dichtung selbst beides,

die Situation und die Ergriffenheit, gestaltet ist: die Situation

wird nicht an sich, sondern nur als erlebte, in der Spiegelung

durch den Betroffenen herausgestellt, das Seelische offenbart

sich an der inneren Auseinandersetzung mit der Situation.

Das würde auf unsere Bestimmung der Lyrik treffen.

Deutlich ist in solchen Gedichten auch die Spannung zwischen

der Situation und dem Ich, das sich mit ihr innerlich

auseinandersetzen muß. Auch das berechtigt, diese Art von

Gedichten in die eben zu besprechende Gruppe einzuordnen.

Das Eigenartige an diesen Dramatic Monologues ist, daß

eine ganz scharf umrissene Person mit hineingestaltet wird, daß

also das sogenannte lyrische Ich hier greifbarere Formen annimmt.

Dadurch aber gewinnt auch die Erlebnisgestaltung

klarere Züge. Wir beobachten hier eine Darstellungsart,

die vor allem im modernen Roman wichtig geworden ist:

daß der Dichter nicht mehr von einem gewissen Standpunkt

aus erzählt, sondern daß er das Ganze vom Standpunkt einer

im Roman vorkommenden Person gestaltet. Damit aber

stoßen wir auf eine andere Tatsache: daß nämlich oft in

solchen Dramatic Monologues die Situation ein Ereignis ist,

das im Erlebnis der Person sich noch einmal spiegelt. Damit

aber rückt diese Form sehr nahe an die epische Gattung,

besonders an die Ballade heran. Wir haben es mit einer reinen

Übergangs- oder Zwischenform zu tun. Entscheidung könnte

nur bringen, wenn aus der Gestaltung völlig klar wird, ob es |#f0440 : 424|



dem Dichter auf die Erlebnisgestaltung ankommt, also auf

die Art, wie die sprechende Person vom Ereignis betroffen

wird, oder auf die Darstellung des Ereignisses, das er dadurch

besonders wirksam erzählt, daß er die innere Betroffenheit eines

Menschen mit einformt. Die Unentschiedenheit bedeutet kein

negatives Werturteil. Auch nicht alle Leser werden immer

gleich entscheiden. Aber gerade die Herausstellung gewisser

Formtypen ermöglicht, wie dieses Beispiel zeigt, die Eigenart

einer Dichtung auf dem Hintergrund solcher Gesetzlichkeiten

besonders klar zu erkennen. Wir werden also auf diese

Dichtungsart bei der Ballade nochmals zu sprechen kommen.

Tatsächlich gibt es einige, die man beinahe als Balladen bezeichnen

könnte, besonders die von C. F. Meyer erwähnten.



Eine andere berühmte Form dieser gespannten Lyrik ist

das Sonett. Die Strophenform und ihre Wandlungsmöglichkeiten

haben wir schon besprochen (S. 201 f.). Die strenge Form

zwingt jeden Gehalt in eine bestimmte Richtung. Die Spannung

zwischen dem Gehalt und der Form steht hier also

stark im Vordergrund. Zugleich aber läßt solche Form die

lyrische Verinnerung kaum zu. Gewiß hat auch das Lied eine

strenge Form, aber sie ist einfacher, nicht so verschlungen,

und vor allem in der Länge nicht fest umgrenzt. Nur ein

Gehalt, ein Weltausschnitt, dem der Dichter kritisch, distanzhaltend

gegenübersteht und den er auf die Formmöglichkeiten

hin erkennt, wird sich in solche Form bannen lassen.

Das glückt in den seltensten Fällen; dann nämlich, wenn

auch im Gehalt die ersten zwei Strophen den letzten beiden in

gewissem Sinne gegenüber- oder entgegenstehen, wenn die

Urform des Auf- und Abgesangs auch vom Sinn her erfüllt

wird. Meisterhaft in dieser Hinsicht ist das erste der Goethe-

Sonette:



Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale,

Dem Ozean sich eilig zu verbinden;

Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen,

Er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale.


Dämonisch aber stürzt mit einem Male ─

Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden ─

Sich Oreas, Behagen dort zu finden,

Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale.
|#f0441 : 425|



Die Welle sprüht, und staut zurück und weichet,

Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken;

Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben.


Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet;

Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken

Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.


Hier wird die traditionelle Sonettenform streng beachtet: Die

ersten zwei Strophen gestalten das Strömen, die Fortbewegung,

die letzten das Anstauen zum See, also eine Gegenbewegung.

Zugleich hat Goethe auch die Gefahr zu stark angespannter

Gedanklichkeit vermieden, einmal dadurch, daß

schon gegen Ende der zweiten Strophe der Übergang zur

Gegenbewegung eingeleitet wird, vor allem aber durch eindrucksvolle

Bilder, die die Innerlichkeit des Sprechenden

stark herausheben und damit echte Lyrik schaffen. Wir haben

schon früher auf eine andere Bauweise des Sonetts hingewiesen,

die vor allem in der englischen Form, aber auch vielfach

im deutschen Barocksonett deutlich ist: fugenartige Durchführung

in den ersten drei Strophen und krönende Zusammenfassung

in der letzten. Auch das ist noch immer ein

strenger, rundender Bau. Es kommt aber auch vor, daß ein

Sonnett in einer Bewegung durchkomponiert und weder der

krönende Abschluß noch die Antithese der ersten zu den

letzten Strophen beobachtet ist. Tritt dazu noch eine freie,

gegenüber der Norm geänderte Reimfolge und eine Abweichung

vom üblichen jambischen Fünftakter, so ist die

eigentliche Sonettenform durchbrochen, denn nur mehr die

Zahl der Strophen und Verse ist beibehalten. Das kommt

in den »Sonetten an Orpheus« von Rilke vor. Zum Beispiel:



Atmen, du unsichtbares Gedicht!

Immerfort um das eigne

Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,

in dem ich mich rhythmisch ereigne.


Einzige Welle, deren

allmähliches Meer ich bin;

sparsamstes du von allen möglichen Meeren, ─

Raumgewinn.


Wie viele von diesen Stellen der Räume waren schon

innen an mir. Manche Winde

sind wie mein Sohn.
|#f0442 : 426|



Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?

Du, einmal glatte Rinde,

Rundung und Blatt meiner Worte. (2/1)



Eine seltene Art strengster und schwierigster Formkunst

sind die Sonettenkränze. Vierzehn Sonette sind so aneinandergereiht,

daß der letzte Vers des vorangehenden Sonetts je der

erste des folgenden ist, der letzte des vierzehnten ist der erste

des ersten. Ein fünfzehntes Sonett besteht aus den Anfangsversen

aller vorangehenden. Die Schwierigkeit besteht in der

kunstvollen Formverschlingung und in der Auffüllung dieses

genau berechneten Gefäßes mit einem Gehalt. Gelingt das

Gebilde, so wirkt das Schlußsonett wie eine gewaltige Verdichtung

und krönende Zusammenfassung des Ganzen. Damit

erinnert ein solcher Sonettenkranz an den fugenartigen

Aufbau vieler deutscher Barocksonette. Viermal hat Weinheber

solche Sonettenkränze versucht, zweimal in »Adel und

Untergang«, zweimal in der »Späten Krone«. Hier hat er die

vierzehn Sonette aus den Versen je eines Michelangelo-

Sonetts herausentfaltet, so daß das fünfzehnte die Übersetzung

des Originals darstellt.



Die Ode ist eine besonders markante Ausformung der gespannten

Art der Lyrik. Die Gegenüberstellung von erlebtem

Weltausschnitt und erlebendem Ich ist hier besonders deutlich.

Das Ich ist aber trotzdem in zweifacher Hinsicht an das

Gegenüber gebunden: in einer Art richtender, wertender

Haltung und dennoch in gemüthafter Verbundenheit. Das

führt zu einem tiefen Durchschauen des Gegenüber und dies

wieder zu einer ganz ins Innere reichenden Betroffenheit des

lyrischen Ich. Die so ergriffenen Weltausschnitte ragen über

den Durchschnitt des Alltags empor oder werden eben durch

diese Einstellung aus ihm emporgehoben: Liebe, Natur,

Vaterland, Weltall, Gott. In der Strophenform ist diese Gespanntheit

Gestalt geworden. Oden stehen in den aus der

griechischen Dichtung überkommenen Strophenformen: sie

verzichten auf den Reim, das Metrum ist streng durchgehalten,

so daß ein festes, kunstvolles Rahmengebilde entsteht,

besonders auch durch die Eigenart des Schlußverses jeder

Strophe in all diesen Formen. Aber dieses Kunstgebilde steht |#f0443 : 427|



nun in starker Spannung zur durchgehenden Satzbewegung,

die über die Verse, oft über die Strophe hinausgeführt wird.

Dazu tritt eine Reihung der Worte, die dem Üblichen sich

fernhält, die jeden Ausschnitt der erlebten Welt immer wieder

neu unmittelbar aufgreift. Die Ode ist eine lyrische Art,

die durch alle Jahrhunderte seit den alten Griechen gepflegt

wurde. Sie steht im schärfsten Gegensatz zum Lied und stellt

so einen anderen Pol der Lyrik dar. Angespanntheit, Distanz

und wertendes Schauen neben tiefster Ergriffenheit vom Gewerteten

schaffen eine besondere seelische Höhenlage. Das

Gemeinsame aber zum Lied ist ebenso deutlich: unmittelbares,

in das tiefe Innere hineingreifendes Welterfassen.



Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!

Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,

Daß williger mein Herz, vom süßen

Spiele gesättiget, dann mir sterbe!


Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht

Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;

Doch ist mir einst das Heilge, das am

Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen:


Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!

Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel

Mich nicht hinabgeleitet; einmal

Lebt' ich wie Götter, und mehr bedarfs nicht.


   (Hölderlin, An die Parzen)



Die gesteigertste Form der Lyrik ist die Hymne. Man darf

bei diesem Namen nicht an die frühchristliche Hymnendichtung

denken, die vielmehr in ihrem Strophenbau und der

Durchführung des Endreims nach unserer Bezeichnung als

Gesang anzusehen ist. Eher sind die frühmittelalterlichen Sequenzen

und die mittelalterlichen Leiche in ihre Nähe zu

rücken. Ursprünglich waren die Hymnen Kultgesänge. Die

große Zeit der deutschen Hymnendichtung ist die Goethezeit.

Hier fehlt der Bezug zu einer Gemeinschaft, wie er in

der Kultdichtung vorhanden ist. Ein einzelner läßt sich aus

höchster Gehobenheit vernehmen. Die Grenzen zur Ode sind

nicht immer leicht anzugeben. Denn die Bereiche, die das |#f0444 : 428|



lyrische Ich hier anregen, sind im großen die gleichen wie bei

der Ode. Aber die Ergriffenheit ist stärker, der innere Schwung

höher, Feierlichkeit und Erhabenheit sind die Grundgestimmtheit.

Aus dieser inneren Einstellung erwächst die Form. Die

freien Rhythmen, wie wir sie (S. 188 f.) betrachtet haben, kommen

der Hymne zu. Welche Spannweite und Mannigfaltigkeit

in den freien Rhythmen möglich ist, haben wir angedeutet,

und diese Möglichkeiten zeigen zugleich die der Hymne

an. Goethe und Hölderlin, jeder in seiner Art, sind die großen

Meister dieser lyrischen Art. Die Gehobenheit kann zu rauschhafter

Ekstase führen, zu einem Überwallen der Erhabenheit:

im Dithyrambus. Das Überwallen kann Umschlagen der

Stimmung ins Ironische, Satirische werden, also beinahe Parodie.

Das wirkt sich in den Dionysos-Dithyramben Nietzsches

aus. Neben dieser Linie der freien Rhythmik von Goethe

über Hölderlin zu Nietzsche ─ natürlich keine geschichtliche,

sondern eine wesenhafte Linie ─ gibt es zwei ruhigere Arten:

Hymnen in rhythmischer Prosa wie die »Hymnen an die

Nacht« von Novalis und manche Dichtungen Maler Müllers,

die unter dem Namen Idyllen in Umlauf sind: »Kreuznach«

und »Das Heidelberger Schloß«, und Hymnen in Hexametern,

wie sie einige Göttinger und Hölderlin pflegten. Aber auch

hier bleibt das Ausschlaggebende: höchste innere Ergriffenheit,

Angespanntheit auf ein Hohes hin.



d) Die Gedankenlyrik läßt sich nicht ohne weiteres in unsere

Ordnung und Übersicht der lyrischen Arten einfügen.

Denn alle bisherigen Arten mit Ausnahme des Liedes können

auch Gedankenlyrik sein. Das heißt, das Einteilungsprinzip

ist bei der Gedankenlyrik ein anderes. Bisher versuchten wir,

einen Überblick über die möglichen Arten der Lyrik dadurch

zu bekommen, daß wir die Variationen, die Entfaltungsmöglichkeiten

der Grundbestimmung: unmittelbares Welterleben,

aufsuchten: schlichtes Verschmelzen von Ich und Welt,

Gehobenheit dieses Verschmelzens, endlich die vielen Schattierungen

einer inneren Angespanntheit in diesem unmittelbaren

Welterleben. Durch solche Ausgliederungen der

Grundhaltung ist auch die künstlerische Gestaltung bestimmt.

So kommen wir nie zum Bereich der Gedankenlyrik, er ist |#f0445 : 429|



grundsätzlich in all diesen Möglichkeiten schon mitgegeben.

Da aber der Begriff in der bisherigen Poetik eine Rolle spielt,

muß er auch betrachtet werden. Wir kommen zu ihm, wenn

wir die Weltausschnitte, die zur lyrischen Ergriffenheit führen,

auseinanderfalten und sondern, und zwar nicht mehr

nach Höhe und seelischer Bedeutsamkeit, sondern gleichsam

nach sachlichen Grundsätzen, die nicht im Wesen der Dichtung

unmittelbar liegen. Wir haben die Fülle der Bereiche,

die zu lyrischer Gestaltung führen können, schon erwähnt: das

Menscheninnere selbst, die menschlichen Kulturbereiche, die

Natur als die vom Menschen unabhängige Schöpfung im

weitesten. Zu den seelischen Bereichen und Vorgängen, die

dem Menschen zum eigenen Erlebnis werden, gehören neben

Liebe, Freude, Leid usw. auch die Gedanken: seelische Vorgänge

also, die in den Bereich des Rationalen hineinreichen,

Urteilszusammenhänge vom einfachsten und kürzesten bis

zu umfangreichen Gebilden rein denkerischer Art, wie das

Erfassen und Erkennen, das Suchen und Ringen um philosophische

Probleme, bis hin zu Weltbildfragen und -ordnungen.

Diese ideellen Zusammenhänge, der gedankliche

Gehalt im Weltbild, in tiefen Erkenntnissen, in sittlichen Forderungen,

sind nun der Weltausschnitt. Wenn von einem

solchen die Seele des Menschen aufs tiefste ergriffen wird,

wenn das Denken solcher Zusammenhänge das Innerste des

Menschen erregt und der Zusammenhang mit der Erregung,

dem tiefen Betroffensein in einer künstlerischen Einheit Gestalt

wird, dann sind wir im Bereich unmittelbaren Welterlebens,

im Bereich lyrischer Dichtung. So gesehen ist Gedankenlyrik

echte Lyrik, da ja aus den unendlichen Möglichkeiten

nur eine bestimmte in Sonderbeleuchtung gerückt

wird. Innerhalb dieses Gesamtbereichs an Gedanklichem kann

es viele Spielarten geben. Philosophische Zusammenhänge

sind immer Hauptanliegen der Gedankenlyrik gewesen. Die

heutige Welt unseres 20. Jahrhunderts bietet sie immer noch,

besonders im Existenzialismus. Aber die moderne Zeit mit

ihrer Überrationalisierung, mit der Fülle von Leistungen, die

aus schärfster Verstandeszucht und Urteilsanstrengung erwachsen:

Atomphysik, Astrophysik, Erzeugung von Elektronenrechenmaschinen |#f0446 : 430|



und bald Elektronengehirnen, schaffen

neue Gedankenbereiche, neue Rationalismen. Das Entscheidende

aber ist nun das Erlebnis. Wenn irgendwo in der Poetik,

spielt es hier eine Rolle, damit man in diesem Bereich der

Lyrik festen Boden habe und klare Entscheidungen fällen

könne. Wenn die Gedanken an die unendlichen Sternenwelten

außerhalb unseres Milchstraßensystems, an die Möglichkeit,

mit unseren Teleskopen nicht nur in ungeahnte örtliche Fernen,

sondern damit zurück in unendliche Zeiträume schauen

zu können, an die reich gegliederte Welt eines Atoms, an

die technischen Schöpfungen der modernen Menschheit

einen Menschen zutiefst erregen und innerlich aufwühlen und

dieser Mensch Dichter ist, das heißt hier Schöpfer im Bereich

der Sprachkunst: warum sollen seine Schöpfungen nicht auch

Dichtungen sein? Die innere Aufgeschlossenheit und Erregbarkeit

zusammen mit der sprachschöpferischen Fähigkeit

sind hier wie überall in der Dichtung Grundlage. Aus einer

solchen Bestimmung der Gedankenlyrik, wobei der Ausdruck

»Gedanke« vielleicht wirklich etwas gedehnt ist, ergibt sich

auch, daß die schlichte Form des Liedes kaum dafür in Betracht

kommt, denn um innige Erlebnisse des Verschmelzens

kann es hier nicht gehen. Daher sind alle anderen Formen, die

eine Gehobenheit, eine Angespanntheit zur Grundlage haben,

Rahmenmöglichkeiten der Gedankenlyrik: Sonett, Ode,

Hymne, auch der Gesang. Zeiten geistiger Hochkultur wie die

Epoche des deutschen Idealismus werden also beim Vorhandensein

dichterischer Schöpferkräfte immer auch Zeiten

echter Gedankenlyrik sein. Goethes Gedichte zur Naturphilosophie,

vor allem die, die er unter dem Titel »Gott und

Welt« gesammelt hat, Schillers sogenannte Ideendichtungen

sind Beispiele dafür. In den beiden Schlußstrophen des Gedichtes

»Das Ideal und das Leben«, das in seiner Ganzheit nicht

voll gelungen ist und um das er verschiedentlich gerungen

hat, ist dem Dichter sein Lieblingsgedanke, der Durchbruch

des Menschen zum rein geistigen Wesen, zur Welt der Ideale,

in einem eindringlichen Symbol, der Gestalt des Herakles und

seinem Schicksal, dichterisch Gestalt geworden:

|#f0447 : 431|



Tief erniedrigt zu des Feigen Knechte,

Ging in ewigem Gefechte

Einst Alcid des Lebens schwere Bahn,

Rang mit Hydern und umarmt' den Leuen,

Stürzte sich, die Freunde zu befreien,

Lebend in des Totenschiffers Kahn.

Alle Plagen, alle Erdenlasten

Wälzt der unversöhnten Göttin List

Auf die willgen Schultern des Verhaßten,

Bis sein Lauf geendigt ist ─


Bis der Gott, des Irdischen entkleidet,

Flammend sich vom Menschen scheidet

Und des Äthers leichte Lüfte trinkt.

Froh des neuen, ungewohnten Schwebens,

Fließt er aufwärts, und des Erdenlebens

Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.

Des Olympus Harmonien empfangen

Den Verklärten in Kronions Saal,

Und die Göttin mit den Rosenwangen

Reicht ihm lächelnd den Pokal.



Nun aber bietet die Gedankenlyrik tatsächlich Schwierigkeiten,

die zu ernsten Gefahren für das Dichterische führen.

Die Prägung gedanklicher Zusammenhänge verlangt an sich

schon geistige Anspannung. Auch der Denker und der Wissenschaftler

muß um die richtige und beste sprachliche Darstellungsweise

ringen. Wenn nun jemand es damit bewenden

läßt und dem Gedachten nur ein metrisches Mäntelchen umhängt

und gezwungene Reime hineinflickt, dann entsteht

kein Gedicht, sondern eine versifizierte Abhandlung. Da das

so häufig der Fall ist, kam auch die Gedankenlyrik so oft in

Verruf. Die sprachlich-dichterische Gestaltung ist die entscheidende

Leistung. Sie zeigt sich in der Umformung alles

Gedanklichen, alles Sachdarstellerischen in reine Sprachkunst.

Die einzelnen Stilkräfte müssen in ihrer Fügung und in

ihrem Zusammenwirken aus sich heraus das dichterische Gebilde

aufbauen. Anrufe und Ausrufe führen schon aus der

rationalen Darstellung heraus. Wesentlich ist auch die Dynamik

der Redebewegung, am wichtigsten aber ist die Gestaltung

durch das sprachliche Bild. Alle diese stilistischen Kräfte

selber aber könnten nur zu rhetorischer Umhüllung und Verbrämung

führen, wenn sie nicht wirklich Gestaltung innerer |#f0448 : 432|



Ergriffenheit, tiefster Aufwühlung sind. Nur weil eben die

gedankliche Bewältigung des ergriffenen Weltausschnitts an

sich schon Schwierigkeiten bereitet, kommt es so oft nicht

zur dichterischen Um- und Durchgestaltung. An sich aber ist

auch Gedankenlyrik durchaus möglich. Freilich rückt sie oft

in die Nähe der Didaktik. Was sie grundsätzlich davon unterscheidet,

ist die Grundhaltung, die jedem einzelnen gedankenlyrischen

Gedicht zugrunde liegt. Wenn die Gestaltung aus

der tiefen Ergriffenheit, der Aufwühlung durch einen Gedankenzusammenhang

herauswächst und wenn im Gedicht

dieser Gedankenzusammenhang als Erlebnis, also zugleich in

der Formwerdung seelischer Bewegtheit, lebendig wird, dann

liegt Gedankenlyrik vor. Kommt es dem Dichter aber darauf

an, aus betrachtender Haltung auf einen Gedankenzusammenhang

hinzuweisen, ihn zugleich in dichterischer Gestaltung

aufzubauen, dann tritt die innere Ergriffenheit in der Gestaltung

zurück, wenn sie auch eine der Antriebskräfte des

Gedichts gewesen sein mag. Wir können da von Didaktik

sprechen.



e) Eine besondere Art der Gedankenlyrik ist die Spruchdichtung.

Geschieht die dichterische Prägung eines gedanklichen

Zusammenhangs in besonders knapper und geschlossener

Form, dann nennen wir solche Gebilde Sprüche. Bevor

wir auf die Möglichkeiten und Formen eingehen, sei an einem

Beispiel das Lyrische auch an solchen Gedichten und die

Eigenart im Rahmen der gesamten Lyrik gezeigt.



Was wär ein Gott, der nur von außen stieße,

Im Kreis das All am Finger laufen ließe!

Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,

Natur in sich, sich in Natur zu hegen,

So daß, was in ihm lebt und webt und ist,

Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.


   (Goethe, Gott und Welt)



Es liegt ein knappes Gebilde vor uns, aus drei Reimpaaren

bestehend. Jedes Reimpaar bringt ein geschlossenes sprachliches

Bild. Das erste ist sehr anschaulich im strengen Sinn

des Worts: Gott und All getrennt, dieses von Gott an seinem

Finger gedreht: so wird eine Spannung zwischen Gott und |#f0449 : 433|



Welt greifbar, die Welt als etwas Mechanisches dem Gott

als etwas Großem gegenübergestellt. Im zweiten Reimpaar

wird die Verschmelzung von Gott und Welt gestaltet, Gott

gleichsam als Seele der Welt in ihr Inneres hineingezogen.

Das letzte Reimpaar lebt in seiner Wirkung von den Vorgangswörtern

des vorletzten und den Gegenstandswörtern

des letzten Verses: Leben, Kraft und Geist als das, was die

Welt ausmacht und zugleich das Göttliche in ihr darstellt.

Mit anderen Worten: Goethe hat aus seinem Gotteserleben

heraus, ergriffen von seiner Art, Gott zu sehen, diesen Gedankenzusammenhang

in knappe sprachkünstlerische Form

gefügt und auch seine eigene Ergriffenheit mitgeformt, was

schon im Ausrufcharakter des ersten Verses deutlich wird.

Aber das unmittelbare Innere eines lyrischen Ich tritt doch

etwas zurück gegen den Versuch einer knappen Form. Aus

dem tiefen Erleben Gottes in der Welt dringt der Dichter zu

einer beinahe formelhaften Prägung vor; die greifbaren und

eindrucksvollen sprachlichen Bilder gewinnen trotz der inneren

Unmittelbarkeit allgemein gültigen Charakter. Daraus

entsteht die Möglichkeit, sie als Beleg bei bestimmten Gelegenheiten

anzuwenden.



Es ist nun möglich, den Spruch von verwandten Formen

abzuheben. Vom Lied trennt ihn äußerlich meist die Kürze,

er besteht beinahe immer nur aus einer Strophe. Viel tiefer

unterscheidet er sich im Wesen: es fehlt die Sangbarkeit.

Denn nicht wird in ihm das Mitschwingen im Lebensrhythmus

und die völlige Verschmelzung des Ich mit dem erlebten

Weltbereich Gestalt, sondern der Sprecher nimmt deutlich

Stellung zum Erfaßten. Nur die Schlichtheit und Einfachheit

rückt ihn in die Nähe des Liedes. Vom Sprichwort trennt

ihn die betont künstlerische Form. Das Sprichwort kann in

Prosa geformt sein, oft steht es in Versen, sehr häufig reimt

es. Aber der Spruch als dichterische Form ist immer ein

Versgebilde. Daß häufig das Wort »Spruch« im Sinne von

Sprichwort verwendet wird oder als allgemeingültige, aber

knapp formulierte Aussage, sei nur nebenbei vermerkt. Aber

das Sprichwort ist volkstümlich, beinahe kunstlos und vor

allem viel knapper; es begnügt sich mit einem scharf geschnittenen |#f0450 : 434|



sprachlichen Bild. Im Spruch blüht Dichtung

wirklich auf. Der Aphorismus steht in Prosa, aber im Gehalt

nähert er sich sehr der Spruchdichtung. Nur fehlt ihm die

Hinaufführung ins Menschlich-Allgemeine, denn im Aphorismus

wirkt sich eine ganz individuelle Sicht und Aussage aus.



Der Spruch als dichterische Form kann zur Lyrik gerechnet

werden. Denn auf alle Fälle verdichtet sich in ihm eine Welterfahrung:

irgendein Bereich des Inneren, des Lebens, der

Natur, der Kunst, Religion usw. tritt dem Dichter entgegen,

er nimmt ihn scharf in den Blick und spricht ihn klar und

knapp aus. Zugleich aber ist der Dichter von dieser Begegnung

betroffen, zumindest gestaltet er eine Betroffenheit mit.

Die innere Erregung wird oft durch Geistesspiel abreagiert,

es kommt zu einer überraschenden Lösung. Aber gerade in

dem befreienden Lachen, in der Überraschung spürt man ein

Ich, das sich mit dem Problem abgegeben hat, fühlt man, daß

es sein Inneres angerührt hat, daß dieses Ich aus der Tiefe

heraus mit ihm fertig werden mußte. Grillparzer beginnt

einen Spruch mit dem Vers:



Erscheint Freund Wagner auch auf der Bühne?


Die Frage zeigt die Erregung, der Ausdruck »Freund« wirkt

zwiespältig, man spürt, daß ein Ich von der Tatsache betroffen

ist. (Nochmals sei gesagt, daß es natürlich nicht nötig ist, an

den konkreten Dichter Grillparzer zu denken. Ein Mensch

spricht sich hier aus, der von Wagners Erscheinen auf der

Bühne betroffen ist.) Der zweite Vers lautet:



Ein magrer Geist mit einer Krinoline.


Mit diesem Witz wird nun der Mensch mit der Lage fertig,

er tut sie ab, indem er sein Geistesspiel als geistige Überlegenheit

in ein scharfes sprachliches Bild prägt, in dem sogar

der »Geist« durch seine Sprachumwelt in merkwürdige Beleuchtung

gerät. Auf alle Fälle hat dem Sprecher der Tatbestand

Unruhe und Anregung verursacht. Unmittelbar ist

der Sprecher von einer Situation betroffen worden. Man kann

also den Spruch doch zur Lyrik rechnen. Denn auch in ihm

kommt es zur Gestaltung einer unmittelbaren Weltbewegung.



Wir haben hier den Spruch als eine besondere, klar abgegrenzte |#f0451 : 435|



dichterische Art herausgestellt. Als eine Form, die

sich in reiner Entfaltung immer und an jedem Ort finden

kann, als einen reinen Typus dichterischer Prägung. Aber in

der geschichtlichen Entfaltung gibt es nun verschiedene Formen.

In der mittelalterlichen Literatur spielt er eine große

Rolle, man weiß um die bedeutende Spruchdichtung eines

Walther, des jüngeren Reimar, des Freidank, Teichner,

Suchenwirt usw. Aber die mittelalterliche Form ist nicht eindeutig.

Es handelt sich wohl um zwei verschiedene Arten, die

eine, knapp und lehrhaft, die wirklich bloß gesprochen wurde,

und eine andere, allgemeineren und tieferen Gehalts, die nach

heutiger Ansicht auch gesungen wurde.



Man kann vielleicht am besten zwei Arten der Spruchdichtung

unterscheiden, wieder mehr Grenzfälle mit Übergängen

als gegensätzliche Typen. In der einen wird eine Lebensweisheit

in einem schönen, gerundeten Bild nahegebracht und

dauernd geprägt. Goethe ist ihr großer Meister:



Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!

Sieht man vom Markt in die Kirche hinein,

Da ist alles dunkel und düster;

Und so sieht's auch der Herr Philister.

Der mag denn wohl verdrießlich sein

Und lebenslang verdrießlich bleiben.


Kommt aber nur einmal herein,

Begrüßt die heilige Kapelle!

Da ist's auf einmal farbig helle:

Geschicht und Zierat glänzt in Schnelle,

Bedeutend wirkt ein edler Schein.

Das wir euch Kindern Gottes taugen,

Erbaut euch und ergetzt die Augen.


Ein zweistrophiger Spruch, wobei jede Strophe eine andere,

aber sehr kunst- und sinnvolle Reimbindung hat. Zwei Kennzeichen

drängen sich auf: die klare und eindringliche Bildprägung,

die mit dem ersten Vers festgelegt ist: von hier aus

wird alles entfaltet und in eine Tiefe geführt, die wirklich eine

ganze Ästhetik in nuce gibt. Dann die liebenswürdige Art,

die besonders im zweiten Teil durchklingt, aber auch den

Herrn Philister nicht verspottet oder tadelt, sondern sein läßt,

was er eben ist, Lebensweisheit in abgeklärter Form, verdichtet |#f0452 : 436|



in einem unvergeßlichen Bild, durch das Tiefe aufleuchtet.

Höchste Vollendung erreicht solche Spruchdichtung

im »Westöstlichen Divan«, besonders in den Talismanen.

Das erste:



Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Okzident!

Nord- und südliches Gelände

Ruht im Frieden seiner Hände.


Prächtiger Einsatz entfaltet die ganze Größe Gottes in knappsten

Sätzen. Der dritte Vers ist schon weicher (klingender

Versschluß) und führt in den vierten über, wo nun die ganze

demutvolle und ehrfürchtige, aber zugleich tief beglückte

Haltung eines ins Innerste Ergriffenen lebendig wird: jedes

Wort atmet den Frieden, und alle wirken in dauernder Vereindringlichung

zusammen. In solchen Sprüchen ist wirklich

ein Grenzfall zum Lied erreicht. R. Schumann hat diesen

Spruch auch vertont.



In der zweiten Art von Spruchdichtung kommt es auf die

möglichst scharfe, knappe Prägung des erlebten Gehalts an.

Weil diese Art als Aufschrift an Grabmälern, Torbögen usw.

üblich war, hat sie den Namen Epigramm (wörtlich: Aufschrift)

erhalten. Die scharfe Zuspitzung eines Gedankens ist

das Wesentliche. Der Sprecher ist von dieser Schärfe und

Verknappung selbst ergriffen, daher die Bildklarheit, die damit

oft heftige Spannung erzeugt. So schon bei Freidank:



Swer zwene wege welle gan,

der muoz lange schenkel han.


Immer kommt es also auch bei den Epigrammen auf die

klare Prägung in ein Bild an. Meist erfolgt dann in der zweiten

Hälfte der Umschlag, der aber nur wirkt in bezug zum

ersten Teil. Oft kann der Umschlag erst im letzten Wort

liegen und vorher nur leise angedeutet sein. Ein Spruch

Grillparzers lautet:



Ein Ochs ging auf der Wiese,

Wo er nach Kräften fraß;

Da waren Blumen und Kräuter,

Es kümmert ihn nicht weiter:

Für ihn war alles ─ Gras.
|#f0453 : 437|



Schon in dieser Form liegt eine Pointe. Sie vollendet sich

aber erst, wenn das Gedicht von seinem Titel her gelesen

wird: Der Literarhistoriker. Damit wird sofort das Ganze

vom Ochsen und vom Fressen an in eine bissige Stimmung

getaucht, die am Schluß in einer scharfen aburteilenden Spitze

endet.



Für diese scharfe Form der Epigramme hat sich das antike

Distichon als besonders günstig erwiesen, denn es schafft im

Pentameter wirklich einen markanten Abschluß. So sind

denn eine Großzahl aller Epigramme in dieser Strophenform

geschrieben. Aber nicht alle Distichen müssen Epigramme

in diesem Sinne sein. Auch Sprüche der ruhigen ernsten Art

wirken in solcher Form. Aber eines verbindet sie: die klare

Bauweise mit dem deutlichen Abschluß. Zwei Gegenbeispiele:





Schmeichelnd locke das Tor den Wilden herein zum Gesetze,

Froh in die freie Natur führ es den Bürger hinaus.
(Schiller)


Nicolai reiset noch immer, noch lang wird er reisen,

Aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg.
(Xenion)



Vom schlichten Lied über die hohen Formen der Oden

und Hymnen bis zum scharfen Spruch hat uns die sogenannte

Lyrik geführt. Ein unendlicher Reichtum an Möglichkeiten,

so daß wirklich die Frage nicht unberechtigt ist, ob da noch

eine Einheit zu finden sei, die alles zusammenhalte. Sie scheint

mir einzig in der Tatsache zu liegen, die wir als den Grundzug

dieser Gattung angegeben haben: Gestaltung einer unmittelbar

erlebten Wirklichkeit.

|#f0454 : E438|



III

DIE DIDAKTIK


Einführung



Es ist ein Wagnis, in einer modernen Poetik der Lehrdichtung

neben den drei anderen Gattungen, die sich nun schon

langsam als die drei einzigen und einzig möglichen in der

deutschen Poetik eingebürgert haben, einen selbständigen

Platz einzuräumen. Wir werden uns auch der Problematik

der Lehrdichtung im Laufe dieser Betrachtung immer wieder

bewußt werden. Aber die Einführung soll zeigen, daß doch

eine gewisse Berechtigung besteht, diese Gattung gesondert

zu betrachten.



Lehren treffen wir auch in den anderen Gattungen an. Wir

denken an das Tendenzdrama, an die Fabel, Parabel, Legende,

an viele Sprüche. Zugleich ist die Lehrhaftigkeit der Dichtung

oft geradezu als eine unter anderen Aufgaben angesehen worden.

Delectare und prodesse hat schon Horaz als die Doppelaufgabe

bezeichnet, genauer: mit Unterhaltung, mit Vergnügen

die Weisheitslehre verbinden. Jedenfalls wurde diese

Lehrhaftigkeit früher nicht verurteilt, sondern als wesentlich

angesehen. Noch Goethe sagt in seinem Aufsatz Ȇber das

Lehrgedicht« (1827), den wir noch öfter heranziehen werden:

»Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich; sie soll den

Menschen aufmerksam machen, wovon sich zu belehren wert

wäre; er muß die Lehre selbst daraus ziehen wie aus dem

Leben.«



Die Grenzen zu den anderen Gattungen sind oft fließend,

wie wir noch darzulegen haben. Aber vieles geht nicht rein

in die drei üblichen Gattungen auf, was tatsächlich an Dichtungen

geschaffen wurde. Schon im Altertum gehören große

Werke der didaktischen Gattung an: Hesiods »Werke und

Tage«, vor allem aber Vergils »Georgica«. Man bezeichnet es

als das schönste römische Dichtwerk und von reiner Klassizität. |#f0455 : 439|



Im Mittelalter war die Lehrdichtung eine voll berechtigte

Gattung. Thomasin von Zerkläres »Welscher Gast« ist neben

Freidanks Spruchsammlung »Bescheidenheit« besonders bekannt.

Aber auch die »Divina Commedia« von Dante hat

viel von Didaktischem an sich, denn sie will ja doch ein dichterisches

Gesamtbild der Welt und aller ihrer Reiche geben.

Das setzt sich noch in die frühere Neuzeit fort. Erst im

späten 18. und 19. Jahrhundert tritt diese Gattung in Zahl

der Dichtungen und in der Wertschätzung sehr zurück. Neuerdings

aber scheint sie wieder mehr Boden zu gewinnen, man

denke an die russischen Lehrstücke. Es zeigt sich also, daß

vom geschichtlichen Standpunkt aus die Aussonderung der

Didaktik berechtigt ist. Ist sie es auch vom ästhetischen, d. h.

ist sie auch ihrer künstlerischen Gestaltung nach eine eigene

Gattung? Goethe lehnt sie als eigene Gattung oder Naturform

neben den drei anderen ab. Denn diese drei Naturformen

seien nach der Form bestimmbar und zu kennzeichnen, die

Lehrdichtung aber nach ihrem Inhalt. Er gesteht ihr nur den

Platz einer Nebengattung zwischen Poesie und Rhetorik zu.

Die Feststellung, Didaktik sei nach einem anderen Gesichtspunkt

als die drei anderen Gattungen abgehoben und umgrenzt,

wäre allerdings sehr bedenklich. Denn ein solcher

Sprung im Einteilungsgrund einer Begriffsreihe wäre ein

logischer Fehler.



Es fragt sich aber wirklich, ob die Grundsätze, nach denen

man zur Einteilung der drei Gattungen kam, selber ganz

einwandfrei und klar sind. Wir haben bei der Betrachtung

der Einteilungsmöglichkeiten das Gegenteil erkannt. Bei der

langsamen Ausprägung der heute als üblich anerkannten

Gattungen haben die verschiedensten Kräfte und Gesichtspunkte

zusammengewirkt, und nicht immer logisch einwandfrei.

Ferner haben wir bei drei Blickpunkten, nämlich

bei den menschlichen Grundhaltungen, bei den Urformen

sprachkünstlerischer Gestaltung und bei den Arten sprachkünstlerisch

geformter Wirklichkeit erkannt, daß die Dreiteilung

nicht unbedingt eindeutig feststeht.



Innerhalb der Grundhaltungen haben wir neben der Verinnerung,

dem Zuschauen und der Angespanntheit, die wir |#f0456 : 440|



als die lyrische, epische und die dramatische bezeichnet haben,

eine andere abgehoben: das Betrachten (vgl. S. 351). Diese

Haltung hebt sich vom Verinnern vor allem dadurch ab, daß

beim Verinnern ein völliges Verschmelzen von Subjekt und

Objekt eintritt, ein Sich-Versenken in die Welt und ein

Hereinnehmen der Welt in sein Inneres zugleich, während

bei betrachtender Haltung eine gewisse Distanz da ist, ein

Bewußtsein einer Doppelpoligkeit: hier Betrachtender ─

dort betrachteter Gegenstand. Gewiß haben wir auch in den

lyrischen Arten diese Gespanntheit zwischen Ich und Welt

gefunden, aber dieses Angespanntsein, dieses Ringen um das

Objekt, das man in der Ode und Hymne finden kann, fehlt

dem sinnigen, stillen Betrachten völlig. Vom epischen Zuschauen

haben wir das Betrachten dadurch abgetrennt, daß

es sich beim Zuschauen um Vorgänge handelt, die vor uns

vorüberziehen, beim Betrachten um Ruhendes: beim Zuschauen

stehen wir am Ufer eines Stromes und sehen seinem

ruhigen Vorüberfließen zu; beim Betrachten aber versenken

wir uns denkend und beobachtend in einen Gegenstand und

seine innere Fülle, dabei werden auch unsere Gemütskräfte

angesprochen. Die Haltung, mit der wir einem Unfall, einem

Festzug, einem Wettspiel zusehen, ist anders als das Betrachten

einer Rose, eines Sonnenuntergangs, eines Landschaftsbildes.

Neben den Urformen des Singens, Erzählens und Darstellens

haben wir (S. 355) eine andere abzuheben versucht:

das Zeigen. Es drängt mich hier, den Gegenstand, den ich mir

in sinniger und eingehender Betrachtung zu Gemüte geführt

habe (man beachte das sprachliche Bild!), auch einem anderen

zu zeigen, und zwar so, daß auch er von seinem inneren Wert

überzeugt wird, also so, daß der Gegenstand in meinem

Zeigen auch dem anderen zu Gemüte geht. Das ist schon im

Tun des Bänkelsängers deutlich, am schönsten veredelt und

rein auf die sprachkünstlerischen Möglichkeiten aufgebaut

in Goethes »Metamorphose der Pflanze«, die uns überhaupt

ein besonders reiner Fall moderner didaktischer Dichtung zu

sein scheint. Wir stellen den Gegenstand durch diese Art des

sprachlichen Gestaltens eindringlich vor jemanden hin (Häufigkeit

der Stilkraft des Anrufs). Endlich haben wir beim |#f0457 : 441|



sprachkünstlerischen Aufbau einer neuen Wirklichkeit neben

dem unmittelbaren Weltbegegnen aus innerstem Zusammentreffen

und neben dem Gestalten eines Vorgangs, einer Handlung

auch eine dritte Möglichkeit angedeutet (S. 358): wir

bauen erst im sprachlichen Gestalten eine neue Ordnung auf,

in den sprachlichen Bildern, in den Vergleichen und in der

Gesamtanlage des Gedichts erwächst eine Ordnung des Erlebten.

So läßt Goethe vor uns die Metamorphose der Pflanze,

die ideelle Entfaltung aller pflanzlichen Möglichkeiten,

sprachlich lebendig werden, Vergil die Möglichkeiten des

Weinbaus oder der Bienenzucht usw. Hier stehen wir an dem

Punkt, wo die drei jetzt wiederholten Grundhaltungen und

-leistungen zusammenwirken zu einer dichterischen Einheit:

das, was sich mir im stillen Betrachten, und zwar schon in

sprachlicher Ausformung, eröffnet hat, zeige ich anderen

rein mit den Mitteln der Sprache und baue so vor ihnen diesen

Gegenstand zu einem geordneten und geschlossenen Ganzen,

und zwar wieder ausschließlich mit den Möglichkeiten

der Sprachkunst auf. Solche Dichtung nennen wir Lehrdichtung

oder didaktische. Sie erscheint doch bis zu einem gewissen

Grade als eine Einheit.



Umgrenzung



Aber ─ und darin bestehen ja die Schwierigkeiten und gründen

die Bedenken vor allem ─ gerade diese Gattung hat bedenklich

offene Grenzen nicht nur zu den anderen Gattungen

der Dichtung, sondern auch zu außerdichterischen sprachlichen

Leistungen.



Wir betrachten zuerst ganz kurz die Übergänge zu den

anderen Dichtungsgattungen, müssen dabei manches wiederholen,

nun aber von der anderen Seite sehen. Die nächste Beziehung

zur Lyrik liegt vor allem in der Tatsache, daß Gedankenlyrik

und Spruchdichtung besonders nahe Verwandtschaft

mit der Didaktik haben. Aber halten wir fest: in der

Gedankenlyrik ist die Grundhaltung die: ein gedanklicher

Zusammenhang, eine Erkenntnis, eine theoretisch gewonnene |#f0458 : 442|



Einsicht in einen Weltbereich wird vom künstlerischen

Menschen so tief erlebt, daß sie sein Inneres aufwühlen,

ja oft umformen. In der dichterisch völlig einheitlichen,

zum Ganzen verschmolzenen Gestaltung dieses erlebten

Weltbereichs, der in seinem sachlichen Bestand nur durch

Erkenntnis uns zugänglich gemacht werden kann, und

der tiefen Aufgewühltheit, der inneren Ergriffenheit davon

liegt ein echt lyrisches Dichten vor: ins Innerste greifende,

unmittelbare Welterfahrung. Es ist ein Sprechen aus dem persönlichen

Inneren heraus. Wenn es aber dem Dichter darauf

ankommt, das eingehend Betrachtete wirkungsvoll anderen

zu zeigen und dabei zugleich in seinem Aufbau sprachlich neu

zu ordnen, so sind wir im Bereich der Didaktik. Manchmal

wird es schwer zu entscheiden sein, ob das eine oder das andere

vorliegt. Will Schiller in den »Künstlern« die Aufgabe und

den Lebenssinn der Künstler sprachlich gestalten oder seine

eigene Ergriffenheit von diesem Lebensbereich? Es kommt

da auch auf die innere Bereitschaft des Lesers an, ob er sich

belehren lassen will, oder ob auch er innerlich vom Erlebten

zutiefst ergriffen wird. Auch in der Spruchdichtung sind

solche Übergänge möglich. Die früher angeführten Epigramme

wollen kaum etwas zeigen und dabei neu ordnen,

sie sind letzte scharfe Zuspitzung einer erlebten Erfahrung

aus tiefem Dabeisein, meist mit dem Gefühl der geistigen

Überlegenheit. Aber man kann in einem Spruch auch Lehren

geben, hinweisen auf das, was sein soll, andeuten, wie es sein

soll, aber eben in greifbaren und wirkungsvollen sprachlichen

Bildern, in kräftigen Anrufen und Ausrufen. Bei Dichtungen,

die so zwischen den Gattungen stehen, muß es nicht um Mißglücktes

gehen, um Zwitter. Denn wir wollen bedenken, daß

zwar strenge Dichterrichtungen, wie es vor allem die Klassiker

sind, auf genaue Trennung der Gattungen und also genaue

Befolgung der Gesetzlichkeiten jeder Gattung achten,

daß aber Zwischenformen und gattungsmäßige Mischdichtungen

durchaus bedeutend sein können. Es könnte jemandem,

der Didaktik grundsätzlich als Gattung ablehnt, möglich sein

zu zeigen, wie bekannte didaktische Dichtungen solche Zwischenformen

und Übergangsmöglichkeiten darstellen.

|#f0459 : 443|



Besonders eng sind die Beziehungen zwischen Didaktik

und Epik. Man hat z. B. Vergils »Georgica«, auch Hesiods

»Werke und Tage« als Epen bezeichnet. Und tatsächlich hat

Vergil seinem Werk im Aufbau von vier Büchern einen gewissen

durchgehenden Gang gegeben, der es in die Nähe

eines gestalteten epischen Vorgangs rückt. Auch die Fabeln

mit ihren angehängten oder doch zumindest aufdringlichen

moralischen Lehren gehören hierher, ebenso die Parabeln.

Tatsächlich bemühen sich echte Dichter oft, ein zu Lehrendes,

das, was sie zeigen und vor uns aufbauen wollen, in einen Vorgang

umzuformen oder zumindest mit Vorgangshaftem so

oft als möglich zu durchsetzen. Wir werden das noch näher

betrachten. Aber auch hier ist wieder das Entscheidende die

Gewichtigkeit des Vorgangshaften in der Gesamtstruktur der

Dichtung. Wenn das Erzählen eines deutlich abgehobenen

und für sich bestehenden Vorgangs sprachlich und künstlerisch

im Vordergrund steht, wenn sich das Lehrhafte nur als

Zusatz ergibt, können wir unbedingt von epischer Dichtung

sprechen. Also auch hier gibt es deutliche Grenzfälle und

Übergänge.



Auch zur dramatischen Dichtung gibt es Bezüge. Wenn

man mit allen Mitteln lehren will, wird man auch die künstlerischen

nicht ausscheiden, und der angespannten, beschwörenden

Rhetorik liegt die Bühnendarstellung besonders: denn

von der Bühne herab, auf erhobenem Stand mitten unter

Zuhörern ist eindrückliches Lehren immer am besten durchzuführen:

darum die Katheder in Schulen und auf Hochschulen,

die Kanzeln in der Kirche und die ersten primitiven

Podien der Wanderbühnen. Vom Drauflosreden ist es nicht

mehr weit zum Agieren ─ man denke an temperamentvolle

Straßenprediger im angloamerikanischen Raum. So ist das

heutige russische Lehrstück aufzufassen, wo eben durch das

Hinstellen von handelnden Personen am wirkungsvollsten

Propaganda getrieben werden kann. Am großartigsten hat

das Ordensdrama des 17. Jahrhunderts, besonders das Jesuitentheater

die Möglichkeiten ausgestaltet, in dramatischen Aufführungen

die Lehren des Christentums den Zuhörern nahezubringen.

Hier allerdings ist die künstlerische Gestaltung so |#f0460 : 444|



stark, daß man kaum mehr von Lehrstücken reden wird.



Die Lehrdichtung hat nicht bloß offene Grenzen zu den

anderen Dichtungsgattungen, sondern sie stößt auch an den

Rand der Sachdarstellung, zumindest an den Bereich der

Sprachwerke, in denen Gedankengänge mitgeteilt werden

sollen, wenn auch manchmal in künstlerischer Form. So

können wir eine erste Randform darin erkennen, daß einfach

irgendwelche Sachdarstellungen versifiziert werden. Grammatische

Regeln werden in gereimte Verse gebracht, weil

solche rhythmisierte Sprache besser ins Gedächtnis eingeht,

geographische, astronomische, physikalische und geschichtliche

Kenntnisse werden in Versen vermittelt. Wir haben es

hier nicht mit Dichtung zu tun. Verse und Reime allein sind

keine Kriterien für dichterische Sprache. Aber die Problematik

der Lehrdichtung setzt dort ein, wo künstlerische Gestaltung

mit der theoretischen Darstellung eines Wissenschaftsgebietes

zusammentrifft. Denn hier sollen zwei Arten

sprachlicher Darstellung verbunden werden, die wir zunächst

scharf getrennt haben: theoretische und ästhetische. Der tiefe

Unterschied beider hat uns beschäftigt, als wir die Struktur

der Sprachkunst von der der Sachdarstellung abgehoben

haben. Theoretische Darstellung will Kenntnisse vermitteln,

Gedankenzusammenhänge festhalten für jederzeitige Verfügbarkeit.

Sprache weist hier über sich hinaus auf Außersprachliches,

Sprache ist Dienerin. In der ästhetischen Gestaltung,

wie sie uns am reinsten in der Dichtung entgegentritt,

baut die Sprache aus ihren eigenen Kräften eine Welt

auf, die im Sprachlichen gegründet und damit sprachgeschlossen

ist. Hier weist die sprachliche Gestaltung nicht

mehr auf Außersprachliches hin. Das sind sehr starke Gegensätze,

und in diese Gegensätzlichkeit gerät die Didaktik.

Goethe im schon erwähnten Aufsatz spricht davon: »Gar

mancher würde begreifen, wie schwer es sei, ein Werk aus

Wissen und Einbildungskraft zusammenzuweben, zwei einander

entgegengesetzte Elemente in einen lebendigen Körper

zu verbinden.« Dabei macht es einen Unterschied, in welcher

Kulturepoche solche Lehrdichtungen entstehen. Denn in

frühen Zeiten waren die einzelnen Kulturgebiete noch nicht |#f0461 : 445|



so getrennt und ausgegliedert wie in Spätzeiten einer Kultur.

Wissensvermittlung und -darstellung konnte da ohne weiteres

mit tiefem Erleben einer sprachgestalteten Welt verbunden

werden, denn die Sprache hat in solchen Perioden noch nicht

zu sehr unter dem Ökonomisierungsvorgang gelitten, sie entfaltet

in jedem Sprachwerk alle ihre Kräfte, auch die ästhetischen.

Wissensdarstellung, Erleben und Sprachgestaltung

können zu einer höheren Einheit noch verschmolzen, besser:

noch gar nicht auseinandergetreten sein. In Spätzeiten gliedert

sich alle kulturelle Leistung in mannigfacher Weise aus.

Theoretisches Tun trennt sich vom praktischen und von

ästhetischer Schau, und endlich sondern sich die einzelnen

Wissensgebiete bis zur Spezialisierung, die heute ein ernstes

Kulturproblem darstellt. Daher mag es auch kommen, daß

in jungen Epochen Lehrdichtung häufiger und selbstverständlicher

ist als in späten, daß also heute diese Gattung

vielfach abgelehnt wird. Was gleichsam von der ehemaligen

höheren Einheit übriggeblieben ist, ist die künstlerisch wertvolle

Sachprosa, wie wir sie in stilistisch meisterhaften Vorträgen,

in manchen Geschichtswerken und philosophischen

Schriften finden können.



Vom modernen Standpunkt aus wird man also wohl kaum

genötigt sein, in der Poetik eine eigene Gattung Didaktik aufzustellen,

weil sie eben in der tatsächlichen dichterischen Produktion

als eigengesetzliches Gebilde nicht mehr vorkommt.

Überblickt man aber, so gut es gehen mag, die gesamten

Möglichkeiten dichterischen Schaffens, wie sie sich in den

einzelnen geschichtlichen Epochen zeigen, aber so, daß man

eben die wesentlichen Formen herausarbeitet, dann dürfte die

Didaktik doch einen Platz in der Poetik beanspruchen. Hier

erkennen wir klar, daß die Frage der Gattungen sehr verwickelt

ist, daß es sogar möglich ist, daß ganze Gattungen

aussterben. Das scheint weitgehend bei der Lehrdichtung der

Fall zu sein. Man hat es auch manchmal bei der Lyrik behauptet,

wohl kaum mit Recht. Zugleich ergibt eine solche

Feststellung aber auch, daß die allmähliche Ausbildung neuer

Gattungen durchaus möglich ist: entweder durch Aussonderung

und Verselbständigung mancher Sonderformen oder |#f0462 : 446|



durch Neuverbindung von Gattungsgesetzlichkeiten, wie

vielleicht im sogenannten epischen Theater, oder durch ganz

neue Einstellungen, zu denen der künstlerische Mensch im

Angesicht unserer Wirklichkeit geführt wird.



Das Entscheidende in der ganzen Frage liegt in der dichterischen

Gestaltung. Auch Goethe hat betont, daß es auf den

mehr oder weniger hohen Grad des poetischen Wertes eines

solchen Gebildes ankommt. Man kann gerade in Zeiten hoher

dichterischer Schöpferkraft beobachten, wie lehrhafte Dichtung

das zu Vermittelnde immer reiner in künstlerische Gestalt

einformt, so daß die Lehrwirkung völlig unbewußt eintritt.

Wir beobachten das an vielen Dichtungen des Rittertums,

besonders dort, wo die Ritterlehren selbst in epische

Dichtungen eingefügt sind, etwa die Lehren des Gurnemanz

und des Trevrizent in Wolframs »Parzival«, aber auch bei

Hartmann, Gottfried und Walther. Und auch solche Dichtungen

wie Goethes »Metamorphose der Pflanze« und manche

von Schillers sogenannten Ideendichtungen zeigen reine dichterische

Gestalt.



Die künstlerische Gestalt



Die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der Didaktik

sollen von zwei Seiten betrachtet werden. Zuerst von Seite

der Sprachkunst. Auch in der Lehrdichtung muß die Sprachkunst

das Ausschlaggebende sein. Sachdarstellung muß auch

in der Didaktik ausgeschaltet bleiben, die ästhetischen Werte

der Sprache müssen sich voll entfalten, sie sind der notwendige

künstlerische Raum, in dem sich wie jede Dichtung auch die

Didaktik allein entfalten kann.



Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet,

Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild.

Zwar nicht immer das gleiche; denn mannigfaltig erzeigt sich,

Ausgebildet, du siehst's, immer das folgende Blatt,

Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile,

Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ.


   (Goethe, Metamorphose der Pflanze)



Der Pentameter mit seiner deutlich wirkenden Schlußkadenz

schafft an sich schon je mit seinem Hexameter geschlossene |#f0463 : 447|



Gebilde, die in sich und aus sich wirken. Dann fallen vor

allem Worte mit starker Einprägungskraft auf, hier tatsächlich

auch solche, die deutlich Gesichtsvorstellungen wecken,

zugleich mit ihnen aber auch ins Innere hineinwirken: türmen

z. B. Vor allem aber die drei Eindruckswörter des vorletzten

Verses in ihrer dichten Aufeinanderfolge, noch dazu im

Komparativ; die folgende Verbindung des »in« mit dem Akkusativ

schafft hier deutlich das Bild der Richtung, damit

einer Bewegung. Ihr steht nun der letzte Vers entgegen: dem

»ausgedehnt« das »verwachsen«, das hier besonders das Zusammengezogene

herausformt, das »vorher« in die Vergangenheit

zurückweisend; der Bewegung im Ausdruck »in

Spitzen und Teile« wirkt das »ruhten im untern Organ«

kräftig entgegen: in den Wortgehalten, im Vokalklang, im

Dativausdruck. Dazu tritt noch der Anruf »du siehst's«, der das

Ganze sofort aus dem Bereich nüchterner Sachdarstellung

heraushebt, da mit allem immer ─ die Anrufe wiederholen

sich häufig ─ ein Mensch mitgestaltet ist.



Aber es soll ja nicht bloß sprachkünstlerisch wertvolle Darstellung

sein, sondern Dichtung. Die sprachkünstlerischen

Grundlagen sind in diesem Gedicht Goethes deutlich. Nun

aber kommt das Entscheidende: schafft der Dichter hier in der

Sprachkunst eine Eigenwelt, die ganz im Sprachlichen ruht

und nicht auf etwas Außersprachliches hinweist? Hier liegt

eine der brennenden Fragen der Lehrdichtung. An den eben

gebrachten Versen kann man erleben, daß wirklich im Sprachraum

eine Welt geschaffen wird, die ganz im Sprachlichen

verhaftet ist. In den zitierten Versen wachsen Blätter auf wie

in einem anderen epischen oder lyrischen Gedicht, wo der

Dichter im Sprachlichen eine Landschaft, ein Naturbild erzeugt.

Es tritt uns so unmittelbar in der Sprache gegenüber,

daß wir gar nicht daran denken, das außerhalb der Sprache

gemeinte Bild zu suchen. Es gibt dort keines, das uns nötig

wäre, es lebt in der Sprache, und zwar ganz wesenhaft. Der

Dichter betrachtet, zeigt und ordnet eine Welt, die er ganz

mit den Kräften der Sprache geschaffen hat, die in ihnen ruht.

Je mehr es einem Lehrgedicht gelingt, eine solche dichterisch

begründete Eigenwelt zu schaffen, desto höher der Wert einer |#f0464 : 448|



solchen Dichtung. Der Blick hinüber in die außersprachliche

Wirklichkeit, der irgendwie in jedem Lehrgedicht angelegt

ist, vollzieht sich erst nachher im Leser. Er war durch die

Dichtung in Wesenhaftigkeiten hineingeführt, lebte in einem

dichterischen Raum, ausgefüllt mit Gestalten aus dichterischer

Schöpfung. Von hier aus blickt er dann in die wirkliche Welt,

richtet sie an dem wesentlichen Bild der dichterischen Welt

aus und schafft die wirkliche dann um, indem er sie aus den

gewonnenen Einblicken ästhetischer Art vertieft. In solchen

seltenen Fällen vollendet sich didaktische Dichtung.



Auch von der künstlerischen Gesamtgestalt aus wollen wir

die Lehrdichtung betrachten. Das erste ist, daß auch solche

Dichtungen ihre Ganzheit daran gewinnen, daß in ihnen ein

geschlossener Weltausschnitt durch die Gestaltung ersteht. So

ruhen die »Georgica« Vergils im Gesamtrahmen »Lob Italiens«,

in den er dann die Möglichkeiten landwirtschaftlicher Arbeit

einbaut. Schiller gibt in seinem »Spaziergang« ein Bild von der

Entwicklung menschlicher Kultur, aber eingespannt in das

geschlossene Bild eines Spaziergangs. Goethe entfaltet in der

»Metamorphose der Pflanze« aus dem Bild von den Entwicklungsmöglichkeiten

des Blattes ein umfassendes Ganzes der

Gesetze, die die Natur bestimmen. Vielfach stehen didaktische

Dichtungen unter einer durchgehenden Stimmung. So die

Verehrung des Wunderbaren bei Goethe, die Heimatliebe bei

Vergil. Auch dieses Stimmunghafte in seinem Grundton und

seiner Wandlung und Entfaltung durch das ganze Gedicht

schafft Einheit und Geschlossenheit und läßt wirksam werden,

daß die Dichtung aus dem tiefen Inneren eines Menschen

kommt. So wird der Grundzug des Menschlichen auch in

einer solchen Dichtung zu finden sein.



Lehrgedichte können in ihrer Gesamtanlage entweder breit

oder knapp gehalten sein. Die häufigere Form ist die idyllische

Breite und Behaglichkeit, wie sie eben der ruhigen Betrachtung

als Ausgangslage entspricht. Dazu kommt ein meist

heiterer Ton, aber das Komische bleibt aus solchen Dichtungen

eher ausgeschlossen. Lehrgedichte lieben es, zu fabulieren.

Schillers »Spaziergang« ist anders angelegt. In dieser Dichtung

entstehen deutliche Steigerungen und Spannungen, so die von |#f0465 : 449|



der Schönheit und Geklärtheit der Natur bis zu den furchtbaren

Ausbrüchen menschlicher Leidenschaft. Auch naturwissenschaftliche

Gedichte, etwa aus dem Bereich der Geologie,

können mit dramatischen Spannungen und heftigen

Überraschungen und Steigerungen arbeiten. So umfangreiche

Gedichte wie Vergils »Georgica« können beide Grundformen

verbinden, wenn auch das Breite und Ruhige vorherrscht und

nur in gewissen Teilen Ballung und Heftigkeit auftritt.



Sehr häufig läßt sich eine Mischung der Gattungen beobachten.

Es können rein lyrische Stellen eingefügt sein, die sofort

eine bestimmte Atmosphäre schaffen. Diese strahlt dann auf

weite Bereiche aus. Oft aber unterbricht der Dichter lehrhafte

Darlegungen und legt erzählerische Teile ein. So lockert

Vergil auf diese Weise häufig sein Lehrgedicht auf und belegt

bestimmte Einsichten mit Erzählungen.



Damit aber kommen wir zum wichtigsten Kunstgriff aller

didaktischen Dichtung: Umformung weiter Teile in einen

Vorgang oder in Vorganghaftes. Schon das Zeigen eines Zusammenhangs

von Gedanken oder Tatsachen kann so stark

vordrängen, daß es zu einem durchgehenden Vorgang wird,

wenn er auch nicht unbedingt die ganze Struktur beherrscht.

In Goethes »Metamorphose der Pflanze« ist diese Form vollständig

durchgeführt. Schon der Einsatz schafft eine bestimmte

Situation zwischen zwei Menschen, sie wirkt dann durchs

Ganze weiter, indem der Dichter immer wieder seine Geliebte

anredet und belehrt:



Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung

Dieses Blumengewühls über den Garten umher.


Und nun besteht die ganze Durchführung darin, diese Verwirrung

zu lösen und an ihrer Stelle langsam eine Ordnung

zu entfalten, die das geheime Gesetz der Natur offenbart.

Auch der Aufbau einer Ordnung wird also hier zu einem

Vorgang. Die Pflanze und alle ihre Möglichkeiten und Formen

enthüllen sich allmählich vor unserem Blick als ein hohes

Wunder der Schöpfung. Im »Spaziergang« ist die ganze Kulturgeschichte

in einen Spaziergang eingeformt. Diese Einkleidung

geht durch, tritt zu Zeiten etwas zurück, wird aber |#f0466 : 450|



immer so gehalten, daß sie im Untergrund mitwirkt. Manchmal

aber, besonders am Anfang und Schluß, beherrscht das

Bild des Spaziergangs die ganze Darstellung, gibt so Geschlossenheit

und Rahmung. In solcher Gestaltung liegt der Weg

zur rein epischen Dichtung. Hier im Gedicht Schillers ist er

bewußt nicht zu Ende gegangen. Denn der Vorgang des

Spaziergangs kann nicht als Handlung durch einen Menschen

oder an einem beurteilt werden, zugleich bilden sich in

solcher Dichtung Gruppen von Vorgängen, Teilvorgänge, so

daß kein einheitlicher Vorgang entsteht, außer der grundlegende

des Spaziergangs. Aber eine Lehrdichtung erhält

durch solche vorganghafte Umformung ein eigenes und festes

Gepräge, es entsteht so wirklich eine dichterische Eigenwelt.



Arten



Die Lehrdichtungen können nach verschiedenen Gesichtspunkten

gesichtet werden. Eine Einteilung nach dem Stoff

geht am Dichterischen vorbei, denn es wäre eine Übersicht

nach Wissensgebieten. Wir betrachten drei Gruppen. In der

ersten fassen wir Dichtungen zusammen, die irgendwelche

Vorschriften geben, also ausführliche Unterweisungen, wie

man etwas zu machen hat. Sehr bekannt in der Dichtungsgeschichte

sind verschiedene Dichtungslehren in Versen. Man

denkt an den Brief des Horaz an die Pisonen, der als »ars

poetica« bekanntgeworden ist. Boileau hat einen umfangreicheren

»Art poćtique« in vier Gesängen geschrieben. In

solchen Dichtungen finden wir oft die reinste Versifizierung

von Regeln zur dichterischen Form. Das Dichterische

schmilzt hier auf Rhythmus und Reim zusammen. Nicht alle

Teile von Boileaus Gedicht sind so trostlos nüchtern wie die

folgenden Verse:



N'offrez rien au lecteur que ce qui peut lui plaire.

Ayez pour la cadence une oreille sévère:

Que toujours dans vos vers le sens, coupant les mots,

Suspende l'hemistiche, en marque le repos.


Oft dringt doch der Ton einer amüsanten Belehrung im

Rahmen einer Konversation durch, gesellschaftliche Kultur |#f0467 : 451|



des Redens schafft einen wenn auch blassen und dünnen Ton

der Gehobenheit. Ganz anders geht Vergil in seiner »Georgica«

vor. Zunächst einmal sind seine Lehren vom Landbau usw.

in die schon erwähnte durchklingende Stimmung der warmen

Vaterlandsliebe des Dichters getaucht. Dann sind sie eingebaut

in eine Art Geschichte des Landes in seiner Fruchtbarkeit,

seiner Pflanzen und Tierwelt und der menschlichen Arbeit an

Acker, Feld, Wiesen und Tieren. Vom höchsten Gott geht

diese Geschichte aus. Zugleich unterbricht er rein Lehrhaftes

oft durch Erzählungen berühmter Männer und Taten, auch

die rein lehrhaften Stellen wie die über Bienenzucht, Weinbau

usw. werden in Vorgänge des Bienenzüchtens, des

Bienenlebens, des Weinbaus, des Wachsens der Reben und

der Weinbereitung umgeformt. Stimmungsbilder der Jahreszeiten,

Bilder von Gewittern usw. begleiten das Ganze. So

schafft der Dichter hier eindringliche Darstellungen.



Lehren können auch auf dem sittlichen Gebiet gegeben

werden. Damit kommen wir wieder zur Spruchdichtung.

Denn in solch knapper Form des Spruches lassen sich Weisungen

des richtigen Verhaltens am besten bringen. Das

Dichterische besteht hier in einer scharfen, oft unvergeßlichen

Bildprägung, die so eindringlich wirkt, daß damit zugleich

die Lehre gegeben ist. Es bedarf keines moralischen Zeigefingers,

das dichterische Bild ersetzt ihn, gewinnt aber in der

eindringlichen Gestalt noch mehr Wirkung. Große Meister

sind die mittelalterlichen Spruchdichter, allen voran auch

Walther von der Vogelweide.



Aus der Spruchreihe »Nieman kan mit gerten« als Beispiel

nur Teile der ersten und zweiten Strophe:



[Beginn Spaltensatz]

Nieman kan mit gerten

kindes zuht beherten:

den man zeren bringen mac,

dem ist ein wort als ein slac...
[Spaltenumbruch]

Hüetent iuwer zungen:

daz zimt wol dien jungen.

stoz den rigel für die tür,

la kein boese wort dar für ...
[Ende Spaltensatz]



Besonders die zweite Reihe schließt mit einem wirklich anschaulichen

Bild, in das die Leher als Befehl wirkungsvoll

eingefügt ist.



Eine zweite Gruppe von Lehrdichtungen bilden die Beschreibungen.

Sie bauen technisch auf der alten Lehre des |#f0468 : 452|



Simonides auf: ut pictura poesis. Erst Lessing hat bekanntlich

im »Laokoon« dieser wirklich nachahmenden Poesie den Boden

unter den Füßen weggezogen. Seine Begründung ist heute

durch eine vertiefte Sprachauffassung zu ergänzen und zu verbessern.

Sprache ist selbst schon eine geistige Welt in geprägter

Form, Gestaltungen in ihr müssen auf dieser Tatsache aufbauen.

Beschreibungen sind also genau genommen Neubau

von Wirklichkeiten aus den Kräften der Sprache, aber so, daß

die außersprachliche Wirklichkeit damit gemeint ist. Freilich

tritt ─ und das ist das Entscheidende ─ auch die persönliche

Stellungnahme dazu; schon dadurch, daß eine Beschreibung

sprachlich gestaltet ist, wird sie Beschreibung von einer bestimmten

Sicht aus, eben der, die durch die Sprache vorgeprägt

ist. Es ist also nicht nötig, daß jede Beschreibung eines

Ruhenden in Vorgang aufgelöst wird, wie es Lessing fordert.

Eine Beschreibung formt auch die Einstellung des Beschreibenden

mit. In dichterischer Form vertieft sich noch diese

Einstellung. Dazu kann auch in echt ästhetischer Weise der

Durchblick durch das Beschriebene auf ein Höheres gelingen.

Das ist schon bei der bekannten Beschreibung des Enzians in

Albrecht Hallers »Alpen« der Fall:



Dort ragt das hohe Haupt vom edeln Enziane

Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin,

Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne,

Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret ihn;

Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen,

Türmt sich am Stengel auf und krönt sein grau Gewand,

Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen,

Strahlt von dem lichten Blitz von feuchtem Diamant.

Gerechtestes Gesetz! Daß Kraft sich Zier vermähle,

In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.


Die ersten vier Verse gestalten in einem klaren Bild die Stellung

des Enzians: es ist menschliche Sicht, der Dichter zieht

das Bild in sein menschliches Erfahren von Gemeinschaft

hinein und sieht es von hier aus. Auch in den späteren Versen

schaffen die Vorgangsworte Bewegung und Leben. Das

letzte Verspaar öffnet, zwar etwas ungeschickt, den Blick auf

Tieferes: auf das Geheimnis des Zusammenklangs von Leib

und Seele: der Enzian wird zum Symbol dieser Bindung. In |#f0469 : 453|



englischen Lehrdichtungen finden wir dichterische Darstellungen

der Geologie, des Vulkanismus, der Wetterkunde usw.

Mit anderen Worten: Zustände und Vorgänge in der großen

Natur können so tief erlebt werden, daß sie aus diesem Erleben

heraus in dichterischer Form neu geschaffen werden.

Dann kann echte Dichtung entstehen. Wenn es dem Gelehrten

allerdings nur darauf ankäme, in angenehmer Versform

Wissen zu vermitteln, dann würde der dichterische Wert

eines solchen Gebildes wohl fraglich sein.



Schon die Verse Hallers haben gezeigt, daß hier keine bloße

Beschreibung vorliegt, sondern Deutung und Vertiefung des

Gesehenen in der sprachlichen Neugestaltung. Von hier geht

es hinüber zu einer Form der Lehrdichtung, in der nun eindringlich

hinter dem Betrachteten und Gezeigten im Aufbau

einer Ordnung ein Weltbild sichtbar wird; die ewigen Gesetze

der Schöpfung wirken sich im Vordergründigen aus, aber

alles in der Sicht eines Menschen. Wir können von Weltbildöffnung

in solcher Dichtung sprechen. Der Blick kann sich

dabei auf verschiedene Bereiche der Wirklichkeit um uns

richten. Vielleicht darf man schon Platons Dialoge in ihrer

künstlerischen Vollendung unter diese Gruppe von Lehrdichtungen

rechnen. In ihnen scheint die Verschmelzung

theoretischer Schau und dichterischer Gestaltung einmal gelungen.

Wohl auch deshalb, weil ja sein Weltbild mit dem

Blick auf die ewigen Ideen an sich schon im Bereich des

Ästhetischen liegt. Eine ganz andere Form bieten die berühmten

politischen Sprüche Walthers, vor allem die drei Reichstöne.

Auf dem Hintergrund eines weiten und eindringlichen

Naturbildes ersteht ihm die Not und Unordnung des deutschen

Volkes. So wirkt der zweite Reichston; es ist ein lauter

Ruf um Rettung, also stark lyrisch gebaut. Aus diesem Ruf

aber ersteht eine Lehre: die Notwendigkeit der Ordnung, der

Lenkung, des Herrschertums. Hier gelingt es also Walther aus

tiefem inneren Erleben, das bis zur Erschütterung führt, eine

neue Ordnung als wünschenswert aufzubauen, aus den Kräften

der Sprache und Dichtung.



Während in Walthers Sprüchen die politische Ordnung der

Menschenwelt in knappen Bildern gestaltet wird als mangelhafte |#f0470 : 454|



Wirklichkeit und als ideales Wunschbild, geht Goethe in

der »Metamorphose der Pflanze« von den Urformen der

Pflanze aus, also vom Engsten und Kleinsten, enthüllt aber in

ihren Wandlungen die geheimen Kräfte und Gesetze der Allnatur.

Gleich zu Anfang, nach der Anrede an die Geliebte,

wodurch der persönliche Ton ins Ganze kommt, deutet er

sofort diese Höhen und Hintergründe an:



Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern;

Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,

Auf ein heiliges Rätsel. O könnt' ich dir, liebliche Freundin,

Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort.


In diesen Versen deutet er das Hintergründige als etwas Heiliges

an und wendet sich wieder an die Freundin. So verdichtet

sich hier das Menschliche in der Bindung ans Du und in der

Verehrung des Heiligen. Die angedeutete Ahnung ewiger

Gesetze aber stellt das ganze Folgende unter ihre Erwartung

und erhöht damit die Bedeutsamkeit alles einzeln Gebotenen.

Diese doppelte Einfügung des Lehrhaften in eine menschliche

Bindung und in einen Aufblick zu den ewigen Gesetzen bildet

auch den Schluß des Ganzen:



Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe

Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf,

Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun

Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.


In diesem Schluß des Gedichts fassen wir nochmals ganz

deutlich, wie Lehrdichtung als reine Dichtung möglich ist:

Verdichtung höchster Sprachkunst mit Einsatz aller Stilkräfte

gestaltet eine innige Gemeinschaft des Sprechenden mit der

Geliebten, das Zeigen, das an sich schon aus tiefem Betrachten

herauswächst, wird so menschlich viel wärmer und eindringlicher.

Aus dieser Art des Zeigens wirkt der Aufbau der

Pflanzenwelt als schöner Vorgang und läßt immer mehr das

Höhere ahnen. In den Schlußversen klingt alles zusammen:

Freude, heilige Liebe, höchste Frucht, gleiche Gesinnungen,

harmonisches Anschauen und als letztes »die höhere Welt«.



Ähnlich vollkommen als Lehrdichtung erscheint Schillers

»Spaziergang«. Das Lehrhafte ist die Darstellung der Kulturentwicklung |#f0471 : 455|



der Menschheit. Aber diese Darstellung ist eingefügt

einem Vorgang von lyrischer Einprägsamkeit: das

Glück des Menschen in der ihn umfangenden Natur, sein

Eindringen in ihre Schönheiten und Tiefen. Diese Rahmung

hat aber einen tieferen Sinn. Sie stellt auch die ganze Kulturentwicklung,

das ganze Tun des Menschen in einen höheren

Zusammenhang, eben den der Natur, geborgen von ihr und

in Auseinandersetzung mit ihr geht die große Bewegung der

Kultur weiter. In der Verquickung von Natur und Kultur

wirkt sich eine Spannung aus, die das Weltall beherrscht:

Ruhe und Bewegung: Ruhig und immer gleich umgibt die

Natur die ewig fortrollende Bewegung menschlichen Schaffens

und Leistens. Aber im höchsten gesehen, wird auch diese

Bewegung nur Auswirkung des Dauernden und Ewigen. So

wird die Natur Sinnbild für das Dauernde und Ewige im

Menschlichen. Das ist der Schluß des »Spaziergangs«:



Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig

Wiederholter Gestalt wälzen die Taten sich um.

Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne

Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz,

Immer dieselbe, bewahrst du in treuen Händen dem Manne,

Was dir das gaukelnde Kind, was dir der Jüngling vertraut,

Nährest an gleicher Brust die vielfach wechselnden Alter;

Unter demselben Blau, über dem nämlichen Grün

Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter,

Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.


Dieser Schluß geht ganz ins Lyrische ein: der Dichter ist zutiefst

betroffen von der Einsicht in die ewige Gleichheit der

Schöpfung, in die eingebettet auch das fernste Menschliche

ganz in die Nähe rückt, da es unter denselben Naturgegebenheiten

lebte.



Trotz der mannigfachen Beziehungen zu den anderen

Gattungen, die in der Didaktik besonders groß und eng sind,

scheint es mir aber doch, daß sie aus Grundhaltung und dichterischen

Möglichkeiten eine Gattung für sich ist, zumindest es

unter bestimmten geschichtlichen und kulturellen Lagen sein

kann.

|#f0472 : E456|



IV

DIE EPIK


Das Erzählen



Wir wollen mit dem Worte »Epik« die Gesamtheit erzählender

Dichtung bezeichnen. In diesem Sinne kann »episch«

auch »erzählend« bedeuten. Es muß aber daran erinnert werden,

daß mit dem gleichen Wort im Sinne Staigers auch eine

menschlich-dichterische Grundhaltung gemeint ist, auf die

wir noch öfter hinweisen werden.



Alle epische Dichtung hat als Ursituation das Erzählen.

Daran sind deutlich zwei Seiten unterscheidbar: 1. Jedes

Erzählen ist Sprechen, damit an Sprache gebunden, damit an

ihr Wesen, ihre schöpferischen Kräfte und ihre geistigen

Leistungen. 2. Jedes Erzählen setzt immer einen Erzähler im

Kreise von Zuhörern voraus. Wenn das auch in der heutigen

Kulturlage nicht mehr deutlich ist, so bleibt diese Situation

doch immer noch spürbar, vor allem im Verhältnis Autor ─

Leser und in Möglichkeiten der Erzähltechnik. J. Joyce in

seinem »Ulysses« sucht allerdings diese Ursituation weitgehend

zu verdecken oder gar zu zerstören.



Die Ursituation des Erzählens besteht im Berichten. Wir

fassen im Augenblick dieses Wort in einem umfassenden Sinn,

nicht wie gleich später in einem engeren. Eine Welt von Begebenheiten

ist gleichsam die Energiequelle, sie wird im Sprechen

aufgebaut und zu einer Handlung zusammengezogen.

Die Grundform lautet ─ so hat schon Herder erkannt ─ »Es

ward«. Aber sofort muß man diesem »Es ward« noch hinzufügen:

»und dann«. Damit ist das ideale Grundgerüst alles

Erzählens festgelegt.



Die Entfaltung aus diesem Grundgerüst entspricht nun

genau der Entfaltung der Sprache. Wir haben erkannt, daß

in der Urform alles sprachlichen Gestaltens ein Erfahrungsstück

aus der Fülle des Erlebens sprachlich neu gebaut wird. |#f0473 : 457|



Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung entsteht die Richtung

der Ökonomisierung, in der die Sprache eine Zweckeinrichtung

zur Vermittlung von Gedanken, zur Verständigung

wird. Daneben bewahrt in anderen Sprachgestaltungen

die Sprache ihre Vollkraft, in der alle ihre Möglichkeiten

eingesetzt sind. Wir nannten das eine Sachdarstellung, das

andere Sprachkunst. Genau so entwickelten sich aus der Urform

des Berichtens zwei weitere Formen. Im Sinne des

Ökonomisierungsweges entstand der sachliche Bericht. Er ist

nüchtern, genau, klar, einfach und hat den eindeutigen

Zweck, einem anderen eine genaue Kenntnis von etwas Vorgefallenem

zu vermitteln: »Berichten Sie, was Sie soeben auf der

Straße beobachtet haben.« Im Sinne der Sprachkunst die zunächst

noch unbestimmte Vollform des Erzählens: »Erzähl einmal,

wie es war«.



Dieses Erzählen als Kunst kann man in dreifacher Weise

vom sachlichen Bericht abheben:



1. Das Erzählen geschieht immer in der Form der Sprachkunst,

nicht in der der Sachdarstellung (Einsprengsel von

Sachdarstellung spielen zunächst für uns keine Rolle). Alle

Kräfte der Sprache sind in solchem Erzählen eingesetzt, die

Sprache hat Stil.



2. Das Ergreifen des Erfahrungsstroms im Erzählen unterscheidet

sich in zweifacher Hinsicht von der Art des Berichts.

Im Bericht werden nur die Züge aus dem Erfahrungsstrom

herausgegriffen, die für die begriffliche Bezugstiftung nötig

sind. Die Abstraktion geschieht hier in rein rationaler Haltung.

Im Erzählen wird ein solches Erfahrungsstück entweder

isolierend in seiner ganzen Fülle erfaßt, oft geradezu in rein

individualisierenden Zügen, oder die Abstraktion geschieht

nicht in rationaler Zwecksetzung, sondern so, daß das Wesen

auch ohne rationale Ordnung erhellt wird. Der Anfang von

Kafkas »Schloß« lautet:



»Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee.

Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben

ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große

Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße

zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.«

|#f0474 : 458|



Diese scharf einsetzende Einführung ordnet ein Geschehen

nicht abstrahierend in ein Begriffssystem ein, sondern stellt

eine Situation bildhaft in sich dar. Dieses Bild und gleich

darauf der Übergang in ein anderes wird nicht durch sachliche

Mitteilungen an sich, sondern solche ausgefüllt, die eine

Atmosphäre schaffen, die also nicht bloß den Verstand ansprechen.

Weiter: dieses Ergreifen des Erfahrungsstroms geschieht

im echten Erzählen aus einem inneren Dabeisein des

Ergreifenden. Hier könnten allerdings manche Bedenken auftauchen,

nicht bloß an der eben zitierten Stelle. Denn es

scheint doch so, als ob hier der Schreiber ganz kühl und distanziert

feststellte. Auch in Schillers Epik scheint bewußt der

Erzähler nicht dabei sein zu wollen. In moderner Erzählkunst

tritt oft auch eine andere Person dazwischen, aus deren Dabeisein

gestaltet wird. Aber all das sind eben doch nur Formen,

in denen irgendwie das Innerste des Erzählenden mitgestaltet,

auch oft, wie hier, gerade durch betonte Kälte. Man denke an

den letzten Satz des »Werther«: »Kein Geistlicher hat ihn

begleitet.« Aus dem Gesamtzusammenhang des Schlusses zeigt

sich, daß gerade dieser Satz sehr wohl eine bestimmte innere

Einstellung des Erzählenden prägt, der sich hier noch dazu in

einen Berichtenden verbirgt.



3. Auch der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit ist

ein anderer. Wir berühren hier einen Punkt, den wir schon

bei der Frage nach dem Wirklichkeitsbezug jeder Dichtung

betrachtet haben. Die Sache wird aber hier beim Erzählen besonders

deutlich und wichtig. Wenn ich berichte, wie ein

Unglück geschehen ist, so beziehe ich mich mit meiner sprachlichen

Darstellung immer auf eine Realität außerhalb der

Sprachdarstellung, und so auch der Leser oder Hörer. Man

würde sonst den Sinn des Sachberichts völlig verfehlen. Wir

haben es mit einer außersprachlichen Intentionalität zu tun.

Beim Erzählen ist das anders. Nehmen wir an, jemand erzählt

ein »wirkliches« Ereignis. Hier wird nach dem Beginn sehr

bald eine Änderung eintreten, und zwar durch die besondere

sprachliche Gestaltung, die nicht rationale Zusammenhänge

herstellt und die ein Dabeisein des Erzählers verrät. Das wirkliche

Ereignis außerhalb der Gestaltung wird langsam in den |#f0475 : 459|



Hintergrund treten, der Hörer oder Leser wird sich allmählich

immer eindeutiger der in der Sprache geschaffenen Wirklichkeit

hingeben und damit vollkommen angefüllt sein.

Man kann Ereignisse erzählen, die wirklich stattgefunden

haben, und auch erfundene. Das ist aber für die Struktur des

Erzählens nicht das Maßgebende. Die Frage nach dem Bezug

zur außersprachlichen Wirklichkeit tritt zurück. Ob etwas

gut erzählt ist, hängt nicht davon ab, ob das »wirklich« geschehen

ist. Ein langweiliger Roman eines erfundenen Stoffes

ist eben schlecht erzählt, und der Verlauf einer Schlacht oder

eines politischen Kongresses kann wirkungsvoll und meisterhaft

erzählt werden. Aber dann werden wir in diesem Fall die

außersprachliche Intention aufgeben, wir werden ganz von

dem gebannt sein, was erzählt wird, das in der Sprache Gestaltete

wird uns zur Wirklichkeit. Ob also eine neue Wirklichkeit

im Erzählen entsteht und sie damit völlige Selbständigkeit

in ihrer Gesamtheit ─ nicht in ihren Elementen ─ gewinnt,

hängt ganz von der Art des Erzählens, genauer des sprachkünstlerischen

Gestaltens ab. Wenn es dem Dichter einmal

gelungen ist, diese dichterische Welt vor uns ablaufen zu

lassen, bleibt sie für uns eine eigene Wirklichkeit: die sprachgeschaffene,

dichterische.



Etwas trägt noch wesentlich dazu bei, diese dichterische

Wirklichkeit für sich zu erleben und nicht als Bericht über

eine außersprachliche. Nämlich daß in der Gestaltung einer

solchen Welt eine scharfe Auswahl gegenüber der tatsächlichen

außersprachlichen Wirklichkeit getroffen wird. Wenn

das Leben eines Menschen in einem Roman erzählt wird, so

spielt dessen Essen und Schlafen in der Erzählung normalerweise

kaum eine Rolle, während die Zeiten, die wir mit Essen

und Schlafen verbringen, »in Wirklichkeit« einen sehr großen

Teil unseres Lebens ausmachen. Der Ablauf eines Romanlebens

ist also schon in dieser Hinsicht ganz anders gebaut als

ein Leben der Realität. Aus der Tatsache, daß im Erzählen eine

Wirklichkeit in einer Weise gebaut wird, die sich vom Ablauf

der Vorgänge der außersprachlichen Wirklichkeit deutlich

abhebt, ergeben sich einige Begriffe, die für die Erzählkunst

wichtig sind. Eine Geschichte (story) ist in der sprachlichen |#f0476 : 460|



Darstellung ein einfacher Geschehnisablauf. Zum Beispiel

»Der König starb und dann starb die Königin«. Der

Ereignis- und Lebenszusammenhang ist ganz locker, sprachlich

kaum angedeutet. Sobald es aber heißt: »Der König starb

und dann starb die Königin aus Kummer darüber«, entsteht

ein Sinnzusammenhang: das zweite Ereignis steht in sinnvollem

Zusammenhang mit dem ersten. Es muß nicht notwendig

nur ein ursächlicher sein. Es kann ein höherer ahnbar

werden, eine Art Schicksalsfügung. Wir nennen eine solche

schon geschlossenere Darstellung, in der ein sinnvoller Zusammenhang

zwischen den Gliedern herausgearbeitet ist,

Fabel, der Engländer spricht von plot. Noch weiter entfernt

sich der Erzähler vom Alltagsleben und seinem Ablauf, wenn

er seiner Erzählung ein bestimmtes Schema, einen Model der

Gesamtanlage zugrundelegt, etwa Rahmenform, besondere

Zeitenschichtung. (Der Engländer spricht hier von pattern.)

Vom Standpunkt des realen Außenlebens kann das wie eine

Vergewaltigung ausschauen. Hier beginnt eben die selbständige

künstlerische Gestaltung. Sie kann noch weiter an Eigenart

gewinnen, wenn rational schwer faßbare, aber im ästhetischen

Erleben deutlich spürbare geheime Gestaltgesetze

wirksam werden.



So erscheint also das Erzählen als künstlerische Form genügend

vom bloßen Sachbericht abgehoben. Erst dadurch

kann ein solcher selber wieder Glied in einer Erzählung werden.

Ein weiterer wichtiger Zug des Erzählens, der sich aus

dem Vorangehenden eindeutig ergibt, ist der bestimmte Bezug

zwischen Erzähler und Hörer. Diese Lage war in frühen

Zeiten eindeutig. Die Homerischen Epen, die altgermanischen

Heldenlieder und die Ritterromane wurden wirklich in einem

Zuhörerkreis vorgetragen. Diese Situation ist so urtümlich,

daß sie später vielfach als Kunstform in die Erzählkunst eingebaut

wurde, besonders in der Rahmentechnik seit der altitalienischen

Novellendichtung. Heute allerdings ist die Lage

ganz anders: zwischen dem Autor eines Romans und dem

Leser, der zufällig ein Exemplar des Buches in die Hand bekommt,

besteht keine menschliche Beziehung mehr. Die

Autorenabende, wo ein Dichter aus seinen Werken selber vorliest, |#f0477 : 461|



sind nichts Natürliches mehr, sondern organisierte Einrichtungen.

Und doch ist ein Erzähler da. Er darf nicht mit

dem Autor gleichgesetzt werden. Der Leser erlebt ihn in

irgendeiner Weise mit. Wir werden von diesem im Kunstwerk

mitlebenden und wirkenden Erzähler noch Wichtiges

später hören. Hier seien nur einige Punkte herausgehoben,

die das Vorhandensein eines Erzählers im epischen Werk

deutlich machen. Das Erzählen wächst aus Erzählfreude heraus.

Ein Sachbericht kann erzwungen sein, zum Erzählen kann

man nicht gezwungen werden ─ oder es wird keine Erzählung.

Nur wenn man innerlich in irgendeiner Weise gestimmt ist,

wird man erzählen; dieser innere Antrieb zum Erzählen wird

in der Erzählung spürbar. Er kann verschiedene Formen annehmen.

Man fühlt beim Lesen, wie anders der Antrieb in

einer Kleistnovelle, in einer Erzählung Stifters oder Gottfried

Kellers ist. Auch daß der Erzähler zwischen vielen Möglichkeiten,

seine Erzählung zu gestalten, wählen kann, daß er

die Freiheit des Gestaltens hat, wirkt sich im Erleben der

Erzählung aus. Daß gerade so gestaltet und geordnet wird

und nicht anders, ist ein Zug am Werk, der den Erzähler vernehmbar

macht. Wie sich der Erzähler in der verschiedensten

Weise bemerkbar machen kann, werden wir noch später zu

betrachten haben. Der Versuch also, den Erzähler als eine

wirkende Kraft in einem epischen Werk auszuschalten,

dürfte nicht gelingen. Man hat auf die vielen Gesprächsszenen

in den homerischen Epen hingewiesen. Aber man darf

weder die vielen Stellen übersehen, in denen ein Erzähler da

ist, noch die immer sich wiederholenden Eingangsformeln zu

den Gesprächen verkennen, die von vornherein diese Gespräche

und Reden in ein Ganzes einformen. Auch im alltäglichen

Erzählen sind eingeschaltete Gespräche durchaus nicht

unnatürlich. Man horche einem schlichten Bauern zu, wenn

er erzählt: wie oft hört man die Formel: »hat er gesagt« o. ä.,

und dann bringt er die Worte einer Person in seiner Erzählung

wörtlich. Wenn man behauptet, Erzählen, Monolog,

Dialog, erlebte Rede seien in der epischen Kunst völlig gleichgeordnet,

dann muß man fragen, wo noch die Einheit des

erzählerischen Werkes bleibt. Sie liegt eben in der Tatsache, |#f0478 : 462|



daß hier erzählt wird, daß sich irgend jemand als Erzähler vernehmbar

macht. Daß der Erzähler auch scheinbar ganz zurücktreten

kann, werden wir noch prüfen; aber liegt nicht in

seinem Zurücktreten wieder eine Art zu erzählen?



Auch der Hörer oder Leser stellt sich zu etwas Erzähltem

anders ein als zu einem Bericht aus der außersprachlichen

Wirklichkeit. Ein Polizeibeamter hört einen protokollarischen

Bericht immer mit dem Blick auf das wirklich Geschehene an.

Wenn wir eine spannende Erzählung hören, versinkt die

Außenwelt, wir leben in einer, die eben der Erzähler durch

seine Kunst vor uns aufbaut. Den gleichen Unterschied beobachten

wir, wenn wir in der Zeitung einen politischen Bericht

lesen oder einen Fortsetzungsroman.



Das führt uns nochmals von anderer Seite auf den Wirklichkeitsbezug

und die Weltgestaltung im epischen Schaffen. Aus

allem, was wir bisher über die Sprachgestaltung gehört haben,

ergibt sich, daß für die epische Dichtung zwei scheinbar entgegengesetzte

Tatsachen nebeneinander bestehen. Die eine:

Die dichterische Welt hat einen Bezug zur außersprachlichen

Wirklichkeit. Denn da Dichtung in Sprache gestaltet und die

Sprache immer als Neuaufbau einer Wirklichkeit zu einer

außersprachlichen Bezug hat, am deutlichsten schon in der

sogenannten Bedeutung der Worte, muß auch Dichtung zur

außersprachlichen Wirklichkeit eine Beziehung haben. Auch

sind die Aufbauglieder der dichterischen Welt dieselben wie

die der außersprachlichen Wirklichkeit; es sind dieselben

Strukturkategorien, die einen außersprachlichen und einen

dichterisch gestalteten Vorgang bestimmen: ursächliche Zusammenhänge,

Einwirkung, Zusammenstoßen, Trennen, Miteinandersein,

innere Gegensätzlichkeit, besonders aber Raum

und Zeit. Auch in Märchen und Utopien kann das beobachtet

werden. Es treten hier Wirklichkeitsstücke zusammen, die

in Wirklichkeit nie beisammen sind. Aber die Glieder selbst

sind nach den angedeuteten Kategorien gebaut. Sprengungen

und Lockerungen dieser Gesetze geschehen immer nur in

bezug auf die Aufbaugesetzlichkeiten der realen Welt, sie

wirken nur auf dem Hintergrund solcher Gesetzlichkeiten.

Das Wunder im Märchen ist deshalb wirkungsvoll, weil es |#f0479 : 463|



eben im Widerspruch zu den Gesetzlichkeiten steht, unter

denen sich uns die reale Welt anbietet. Wo jeder Bezug fehlt,

da verliert ein episches Werk seinen Anspruch auf Gültigkeit.

Es ergibt sich: Durch die sprachliche Gestaltung wird eine in

ihrem Zusammenhang von der Wirklichkeit außerhalb der

Sprache unabhängige Welt geschaffen, deren Glieder und

Aufbaugesetze aber Wirklichkeitsbezüge haben.



Die andere Tatsache: die dichterische Welt ist eine Welt

für sich. Sie ist durch folgende, uns schon bekannte Züge gekennzeichnet:

eben durch diese Art des Wirklichkeitsbezugs,

die nur für Glieder und Elemente gilt. Die möglicherweise

zugrundeliegenden Wirklichkeiten, etwa die Voralpenlandschaft

mit bestimmten Orten im »Nachsommer«, sind für das

Erleben des Erzählwerks belanglos. Höchstens kann ein

Vergleich in die Eigenarten und Geheimnisse der Erzählkunst

einführen. Auch der Ereigniszusammenhang in einem epischen

Werk wird vom Erzähler gebildet und aufgebaut, durch diesen

Aufbau entsteht ein Weltausschnitt dichterischer Art. Der

nächste kennzeichnende Zug der dichterischen Wirklichkeit

ist die Verwesentlichung ─ wir haben davon schon gesprochen

(S. 71 ff.) ─ und der dritte endlich die Tatsache, daß es sich

um eine menschliche Schöpfung handelt, in der menschliche

Züge immer aufgehoben bleiben (S. 78 ff.).



Die Epik und die Dramatik heben sich in ihrer Gestaltung

einer Welt von der Lyrik ab (vgl. S. 355 ff.). Der Unterschied

besteht darin, daß die epische und die dramatische Welt eine

bestimmte Begebenheit eindeutig umrissener Art ist. Die

Lyrik hat das nicht nötig. Aber der Bezug zur außersprachlichen

Wirklichkeit ist in allen drei Gattungen belanglos. Es

scheint nicht nötig, für die Art der epischen und dramatischen

Welt den Ausdruck »Fiktion« zu gebrauchen, zumal in der

deutschen Sprache eben immer die Gefahr besteht, unter Fiktion

Erfundenes, Illusionen zu verstehen.



Man kann verschiedene Arten des Erzählens unterscheiden.

Scheinbar nur nach der äußeren Form sondern sich Prosa-

und Verserzählung. Doch bliebe es oberflächlich, nicht mehr

dahinter zu sehen. Verserzählungen im weitesten Sinn erreichen

entsprechend dem Wesen der Versgestaltung einen |#f0480 : 464|



höheren Grad reiner Kunst, daher auch eine höhere Stufe der

Verwesentlichung: sie dringen bewußter und eindeutiger in

die reine Wesenhaftigkeit dessen vor, was sie erzählen. Prosaerzählung

bleibt immer eher der unmittelbaren Wirklichkeit

verhaftet. Natürlich sind da feine Unterschiede zu machen,

die wir dann bei den einzelnen Arten epischer Dichtung beachten.





Einen weiteren Unterschied macht es, ob der Erzähler das

reine Geschehen, den Ablauf der Handlung herausarbeitet,

oder ob er die inneren Zustände und Entwicklungen von

Menschen darstellt. Vielfach ist dieser Unterschied schon an

der verschiedenen Art zu erkennen, wie das Märchen und wie

die Sage erzählt. Noch deutlicher sehen wir die Verschiedenheit,

wenn wir altisländische Bauernerzählungen mit ihrer

reinen und rücksichtslosen Handlungsgestaltung etwa den

Romanen Marcel Prousts gegenüberstellen, in denen der

äußere Ablauf des Geschehens nur einen schwachen Rahmen

um die Gestaltung des Seelenlebens bildet, das nun in aller Eindringlichkeit

und Ausführlichkeit lebendig gemacht wird.



Die für die künstlerische Form wichtigste Unterscheidung,

innerhalb deren erst die beiden bisher betrachteten Gesichtspunkte

wichtig und fruchtbar werden, ist aber eine andere,

die wir genauer beobachten müssen. Wir gehen von dem aus,

was Staiger als episch bezeichnet, also von einer menschlichen

Grundhaltung gegenüber der Welt, wie sie sich auch dichterisch

ausprägt. In solcher epischer Haltung wird ein Vorgang

vor uns hingestellt: er verläuft zwar in der Vergangenheit,

wird aber durch den Dichter festgehalten. Diese Haltung

sieht Staiger nur mit einem gewissen Gleichmut und Gleichmaß

verbunden. Nun aber ist nicht jeder Erzähler gleichmütig.

Man denke an die Art mancher Balladeneinsätze: »Erlkönig«,

»Kampf mit dem Drachen«, »Brücke am Tay«. Wenn man

diese Haltung des Gleichmuts im Zuschauen und Vorstellen

eines Vorgangs als episch bezeichnet, so trifft man damit eine

bestimmte Grundhaltung. Aber das Erzählen selbst, auch in

seinen einfachsten Erscheinungsweisen, läßt sich nicht bloß

auf diese menschliche Grundhaltung des Zuschauens zurückführen.

Staiger ist im Recht, wenn er nur eine Grundhaltung |#f0481 : 465|



an Homer herausarbeitet, aber es wäre einseitig, wenn man

die Möglichkeiten des Erzählens nur an Homer abläse. Denn

sicher sind auch Heldenlied, Ballade, Novelle auf die Grundform

des Erzählens zurückzuführen, aber nicht mit der Art

des zuschauenden Gleichmuts der großen Epen oder Romane

zusammenzubringen. Es scheinen sich also zwei Arten des

Erzählens abzuzeichnen.



Das legt schon der Umfang des Erzählten oder die Länge

der Erzählung nahe. Es gibt verschiedene Möglichkeiten,

einen großen Geschichtsumriß, also einen umfangreichen

Stoff, episch zu gestalten. Eine Langform dehnt das Ganze aus,

läßt es in der Zeit verlaufen, geht in die Tiefe des Seelischen,

so in vielen modernen Romanen, wo je in einem Augenblick

die ganzen Schichten des Bewußten und Unterbewußten

eines Menschen breit abgehoben werden, und liebt eine große

Episodenfülle. Eine Kurzform zeigt ein zerklüftetes Erzählgerüst.

Einzelne Phasen erscheinen nur als Hilfe und Brücke,

um zu etwas, was dem Erzähler viel wichtiger ist, rasch

hinüberzuführen. Mit der Episodenfülle aber ändert sich zugleich

das Grundgerüst des Erzählens. Die bloße Aufeinanderfolge

der einzelnen Phasen ist nicht mehr das alleinige gestaltende

Prinzip solchen Erzählens. Auch können große

Zeitspannen in einer Erzählung mehr leitmotivischen und

symbolischen Wert haben: sie sollen andeuten, daß mit dem

Geschehen ein großer Zeitraum ausgefüllt wird, sie sollen den

Eindruck der Fülle in der Zeit gewähren. Aber man darf dann

nicht mehr zu rechnen anfangen. Epenhelden altern nicht:

Odysseus, Nestor (er ist immer alt), Giselher, der immer der

Junge bleibt, auch Siegfried und teilweise Kriemhild. Die

einmal gewählte Größenordnung, die der Dichter einem

epischen Werk zugrundelegt, ist maßgebend für das, was

überhaupt in diesem gebracht oder nicht gebracht werden

kann.



So ist also schon Länge und Kürze einer Erzählung keine

bloße Äußerlichkeit, sondern bedingt Gestaltungsunterschiede.

Aber die Frage des Umfangs führt nur hin zu einer

ganz wesentlichen Unterscheidung zweier Erzählweisen.

Auch für sie können wir jederzeit Lagen im Alltagsleben |#f0482 : 466|



finden. Jemand kommt hereingestürmt und erzählt aufgeregt

von etwas Furchtbarem, dessen Zeuge er eben war. Er hat

keine Zeit, in Ruhe und Fülle alles anschaulich auszubreiten.

Erregt und heftig hebt er nur besondere Höhepunkte heraus

und bemüht sich schlagender Kürze. Die Wirkung auf den

Hörer ist Spannung: »Was werde ich da noch hören?« Die

Gestaltung solcher Erzählweise, wenn sie einmal in den Bereich

der reinen Erzählkunst übergeführt wird, ist affektisch.

Der Ablauf wird sprunghaft hingestellt, man hat keine Zeit,

weil man schon auf das Kommende eingestellt ist. Es ist ein

Erzählen von Höhe zu Höhe, die Höhen selbst aber sind eindringlich

und füllig herausgehoben. Solche Erzählweise ist

uns aus den geschichtlichen Arten des Heldenlieds, der Ballade,

der Novelle und der Anekdote bekannt, abgewandelt liegt

sie ihnen zugrunde. Wir nennen es das knappe Erzählen.



In einer anderen Ursituation setzt man sich gemütlich um

den Erzähler, er beginnt ruhig und ausführlich. Es tritt bei den

Hörern eine Entspannung ein, man hat Zeit, auf alles zu

achten, was während des Vorgangs noch neben dem Hauptweg

vor sich geht. Der Erzähler bietet eine Fülle von Einzelheiten.

Hier ist der Erzähler gleichmütig gestimmt. Das darf

nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden. Es heißt nur,

daß er in ziemlich gleichbleibender Stimmung, entweder

heiter oder ernst oder gehoben durcherzählt und nicht affektisch

unruhig wird. Er erzählt breit weiter, ohne Sprünge,

Phase an Phase reihend je nach dem Gestaltungsplan, der

zugrunde liegt. Die Höhen ragen daher nicht steil und plötzlich

auf, es sind eher breite Wellenberge. Auch solches Erzählen

ist uns aus geschichtlichen Ausformungen bekannt:

das Epos, der Roman. Wir nennen es das breite Erzählen.



Es kommt also nicht so sehr auf den Umfang an, dieser ist

vielmehr erst die Folge einer bestimmten Grundeinstellung.

Natürlich handelt es sich hier um rein idealisierte Typen, niemals

um tatsächliche geschichtliche Arten. In der Geschichte

verwirklichen sie sich in den mannigfachsten Ausformungen.

Auch treten da Verquickungen, Mischungen, Brechungen auf,

die aber gerade auf dem Hintergrund solcher Urtypen in ihrer

Eigenart erfaßt werden können. Gemeinsam ist aber beiden |#f0483 : 467|



Typen: 1. Die Ursituation des Erzählens: jemand berichtet

eindringlich einen Vorgang. 2. Die Unterscheidung vom

Sachbericht: es ist sprachkünstlerische Gestaltung mit intensivem

Ergreifen der Erfahrung und Zurücktreten der außersprachlichen

Wirklichkeit gegenüber der vom Dichter geschaffenen

Welt.



Das epische Werk



Wir betrachten nun das epische Werk als ein Kunstgebilde

für sich, ohne auf Entstehung, Psychologie des Schaffens und

Auswirkung einzugehen. Nur das Menschliche wird auch

hier seine Bedeutung zeigen, da ja auch das epische Werk ein

Menschenwerk ist. Dafür ist der Strukturbegriff wichtig. Wir

verstehen darunter ganz einfach den inneren Zusammenhang

von Gliedern zu einem sinnvollen Ganzen. Das heißt also,

daß alle Glieder und Teilsichten einen notwendigen Sinn im

Ganzen erfüllen (Funktionalität) und daß damit das Ganze selbst

wieder durch seine Glieder sinnbestimmt ist.



Der Fortgang und seine Gestaltung



Im epischen Werk wird ein Vorgang erzählt. Wie gestaltet

der Dichter den Fortgang dieses Geschehens? Um das verfolgen

zu können, müssen einige Begriffe geklärt werden.

Der Ausdruck Stoff ist uns schon bekannt: der Teil der außersprachlichen

Wirklichkeit, den der Epiker zu einer neuen

Welt gestaltet. Unter Motiv verstehen wir in der Poetik nicht

so sehr einen Beweggrund für eine menschliche Handlung,

sondern typische, sich wiederholende, menschlich bedeutungsvolle

Situationen, Einordnung des Stoffes unter allgemeinere

menschliche Züge. Wiederholt sich ein solches Motiv in einer

Dichtung aus Baugründen immer wieder, so nennen wir es

ein Leitmotiv. Vielfach kehren bei einem Dichter immer

gleiche Motive wieder und geben so schon einem Kunstwerk

eine gewisse Einheit, verbinden aber auch mehrere Werke

eines Dichters: das ist die Motivkonstanz. Das Entscheidende

ist der einmalige, eine Ganzheit bildende Vorgang. Er kann |#f0484 : 468|



nach den verschiedensten Gesichtspunkten in typische Grundformen

aufgegliedert werden. Nach dem Umriß können wir

zunächst einmal Vorgänge, in denen entscheidende Vorfälle

oder Situationen den Kern bilden, also Krisengeschichten

(z. B. Schwänke, Katastrophennovellen, aber auch Flauberts

»Madame Bovary«) solchen gegenüberstellen, in denen das

Leben einer Hauptfigur erzählt wird (etwa Kolbenheyers

»Paracelsus« oder Geschichten ganzer Geschlechterfolgen wie

die Josephsromane Th. Manns). Oder auch solche Vorgänge,

in denen das äußere Geschehen vorherrscht wie etwa in Freytags

»Soll und Haben«, und andere, in denen es verdeckt ist

durch Bewußtseinsvorgänge wie in Prousts Romanen. Nach

der Gruppierung, also nach der Anlage und Verkleidung des

Zeitgerüstes, gibt es auch verschiedene Möglichkeiten: das

plane Erzählen von Anfang bis Ende wie in Stifters »Witiko«;

das Umstellen in großen Blöcken, also auch nach anderen

Ordnungen als zeitlichen, wo mehrere Handlungsstränge

nebeneinander herlaufen, wo Früheres nachgeholt oder sogar

vom Ende her erzählt wird wie in Storms »Immensee«. Es

können auch die Schicksale mehrerer Hauptfiguren erzählt

werden, entweder abwechselnd wie in Jean Pauls »Flegeljahren«

oder in einem Bündel beinahe gleichgeordneter Geschichten

wie in Th. Wilders »Brücke von St. Luis Rey«. Die

Barockromane sind geradezu als mehrgleisig zu bezeichnen.

Endlich kann man unter diesem Gesichtspunkt beobachten,

wie manchmal Vorgänge in eine Art Kaleidoskop aufgesplittert

werden, so die panorama-artigen Milieuschilderungen

in Gutzkows »Rittern vom Geist« oder die Bewußtseinsassoziationen

in einem Roman Prousts oder gar ungesteuerte

Gedankenverbindungen wie etwa in Sternes »Tristam Shandy«.

Ein letzter Gesichtspunkt, der uns eine Übersicht über die

möglichen epischen Vorgänge gibt, ist der nach dem Gewicht

des Vorgangs selbst. Ist der eigentliche Vorgang die Hauptsache,

so liegt eine Geschehniserzählung vor wie in den

Romanen Scotts oder den Novellen Kleists. Es kann dann um

den Vorgang ein Bild der Welt und der Gesellschaft aufgerollt

werden wie in Tolstojs »Krieg und Frieden«. Endlich gibt der

äußere Vorgang nur mehr das Gerüst für die vorherrschenden |#f0485 : 469|



innerseelischen Vorgänge: es entsteht ein Seelenroman

wie Hesses »Glasperlenspiel« oder der Bewußtseinsstrom entbindet

sich an äußerem Geschehen wie in den Romanen von

Broch, Proust und V. Woolf, oder er steuert sogar die äußere

Handlung wie manchmal bei Faulkner.



Einen einmaligen, von Menschen gesteuerten Vorgang nennen

wir Handlung. Hier ist also die Entscheidungskraft des

Menschen der Anstoß, aber natürlich können auch andere Antriebe

hineinspielen. Bei der Handlung können wir den

Handlungsablauf und die Handlungsstränge unterscheiden.

Der Handlungsablauf ist zweifach gekennzeichnet: einmal

durch den Grundsatz der Reihung. Er ist gerade beim Epiker

sehr wichtig, der breit erzählt. Er schreitet dabei von einem

zum anderen fort, betrachtet aber zugleich alles aufmerksam.

Wenn in der Ilias ein neuer Held im Kampfgetümmel auftaucht,

reiht der Dichter trotz aller augenblicklichen Erregung

und allem Vorwärtsdrängen ruhig die Vorgeschichte und

frühere Geschichte des Helden an und setzt erst dann die

Kampfschilderung fort. Jedes Bild und jeder Vorgang wollen

da für sich betrachtet werden. So wird in dieser breiten Erzählform,

vor allem im Epos, die Fülle des Lebens durch Anreihung

der fülligen Worte und Bilder erreicht. Für jede

Epik, besonders aber für die knappe Erzählform, gilt noch ein

zweites Prinzip: die Spannung: vorangehende Glieder des

Handlungsablaufs spannen uns auf das Kommende. Dabei sind

Steigerungen möglich. Aber zwischen dramatischer und epischer

Spannung bestehen Unterschiede. Die dramatische

Spannung wächst aus der Urgespaltenheit der Welt, aus dem

Gegenüber der dargestellten Personen und aus dem Blick aufs

Ende. An Knotenpunkten verdichtet sich diese Spannung.

Ihr Gefühlston ist die Aufregung. Auch die Kurzepik (Ballade,

Novelle) kennt diese Möglichkeiten. Die rein epische Spannung

wächst aus der Aufeinanderfolge der Phasen, aus der

Erwartung der steigenden Fülle. Sie ist weniger heftig. Ihr

Gefühlston ist die Anregung.



Die Handlungsstränge sind vor allem für die Großepik

wichtig. Die einzelnen Handlungsstränge einer Gesamthandlung

unterscheiden sich durch die verschiedene Zeit, in der |#f0486 : 470|



sie ablaufen, durch den verschiedenen Raum und die verschiedenen

daran beteiligten Personen. Dabei besteht ein

deutliches Zeitverhältnis: die eingelagerte Handlung läuft vor

der übergeordneten ab: die Geschichte der fünf Körbe in

G. Kellers »Landvogt von Greifensee«, die der Landvogt

seiner Wirtschafterin erzählt, hat sich lange vor der Handlung

ereignet, die den Kern des Ganzen bildet: das Geburtstagsfest

mit der Einladung der fünf Schönen. Beiden ist dann in jeder

Erzählung wieder die Erzählergegenwart übergeordnet, so

daß schon hier die tiefe Schichtung der Zeit in der Epik sichtbar

wird. Die einzelnen Handlungsstränge können mannigfach

verknüpft werden: einfach aneinandergereiht ohne thematische

Verbindung wie in den Volksbüchern von den

Schildbürgern und vom Eulenspiegel, aber auch im »Don

Quijote«, oder es ist ein Handlungsstrang streng auf den

Hauptstrang abgestimmt, entweder durch allegorische Verkleidung

oder durch Parallelismus. Ein schönes Beispiel

bildet die Geschichte von den wunderlichen Nachbarskindern

in Goethes »Wahlverwandtschaften«. Oder es werden ursächliche

Zusammenhänge gebildet durch Nachholen einer Vorzeithandlung,

etwa in E. T. A. Hoffmanns »Elixieren des

Teufels«, oder dadurch, daß der Rahmen die Binnenhandlung

begründet wie in Grillparzers Novellen. Meist sind alle drei

Formen der Verknüpfung verbunden. Diese Verbindung läßt

schon das Weltbild der Erzählung deutlich werden, wenn etwa

überall strengste Ursächlichkeit durchgeführt wird; es ergeben

sich daraus auch verschiedene Erzählformen. Bei der ursächlichen

Verknüpfung herrscht strenge Einheit, bei der gegenseitigen

Bezüglichkeit wie in den »Wahlverwandtschaften«

entsteht breite Lebensfülle, während die bloße Aneinanderreihung

Lockerung der Struktur erzeugt.



Die Gesamthandlung gliedert sich in einzelne Phasen, das

sind relativ geringe Zeitstrecken mit relativ ausführlichem

Erzählen. So bauen sich etwa die Lebensepochen in einem

Roman aus einzelnen Phasen auf. Sie können verhältnismäßig

gleichmäßig verteilt sein wie in Eichendorffs »Taugenichts«

oder es kann sich die ganze Handlung aus einer einzelnen

Phase herausspinnen oder endlich, wie besonders bei der |#f0487 : 471|



Novelle, auf eine bedeutsame Schlußphase hinstreben. Nur

in solchen Phasen können die Personen in konkreten Lagen

gestaltet werden. Dabei stehen die Phasen in verschiedenem

Verhältnis zur äußeren Einteilung: beide können übereinstimmen

oder sich überschneiden. Die äußere Einteilung kann

den Phasenablauf auch verdecken.



Keine volle Klarheit herrscht in der Poetik über den Begriff

der Episoden. Wir verstehen darunter Handlungsteile von

einer gewissen Eigenständigkeit, die aber trotzdem mit der

Haupthandlung mannigfach verknüpft sind. Sie sind vielfach

auch zeichenhaft fürs Ganze. Da sie von kleinerem Umfang

sind, könnte man sie auch als Nebenstrang bezeichnen.



Wichtig für das Erfassen der künstlerischen Anlage eines

Erzählwerks ist die Spannung, die zwischen dem erzählten

Geschehen und seiner erzählerischen Bewältigung besteht.

Wir erkennen daran bestimmte Grundsätze des Erzählens.

Der Erzähler kann bei bestimmten Teilen verweilen, andere

raffen, andere endlich ganz weglassen. Zusammen mit der

Sichtweise aufs Ganze und der Grundstimmung, in der dieses

Verweilen, Raffen und Weglassen geschieht, erkennen wir

wieder, daß es sich im Erzählen immer um Neugestaltung

handelt. Die Spannung zwischen dem Geschehen und seiner

erzählerischen Gestaltung ist vor allem die zwischen erzählter

Zeit und Erzählzeit, die besonders G. Müller hervorgehoben

hat. Wir meinen mit der Erzählzeit die Dauer des Lesens, also

etwas äußerlich die Seitenzahl; mit der erzählten Zeit die

Dauer der erzählten Handlung. Daß hier künstlerische Fragen

liegen, zeigen folgende Angaben: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«:

Erzählzeit 24 Stunden, erzählte Zeit 8 Jahre; in derselben

Reihenfolge: V. Woolf, »Mrs. Dalloway«: 6 Stunden ─

12 Stunden; Bergengruen: »Am Himmel wie auf Erden«:

600 Seiten ─ 5 Wochen. Besonders eigenartig im »Jürg

Jenatsch«: die 200 Seiten erzählen von 18 Jahren oder 6570

Tagen. Davon fallen 14 Tage auf 170 Seiten.



Damit ergibt sich sofort das Problem der Raffung. Wie

entscheidend sie ist, erlebt man drastisch an der »Erzählkunst«

Sancho Pansas (»Don Quijote«, 1. Buch, 20. Kapitel). Er erzählt,

wie ein Schäfer dreihundert Ziegen über den Fluß zu bringen |#f0488 : 472|



sucht. Da er mit dem vorhandenen Kahn immer nur eine

Ziege hinüberschaffen kann, will er diese Überfahrt 300mal

erzählen, weil sie ja 300mal stattgefunden hat. Hier fehlt jede

Andeutung einer künstlerischen Gestaltung. Aber man erkennt

schon daran, daß es im Verhältnis von Erzählzeit und erzählter

Zeit grundsätzlich drei Möglichkeiten gibt. Die häufigste ist

eben die Raffung: die Erzählzeit ist kürzer als die erzählte. Der

Dichter erreicht das auf die verschiedenste Weise. Vor allem,

wie das Beispiel des »Jenatsch« gezeigt hat, werden nicht alle

Phasen und Teile in der gleichen Weise gerafft. Die Raffung

kann sukzessiv sein, d. h. nach dem Schema »und dann ...

und dann ... und dann«, oder es können ähnliche Ereignisse

einfach zusammengefaßt werden: »immer wieder in dieser

Zeit ...«, beides kann auch vermischt werden: »so geschah es

zum Beispiel ...«. Damit ergeben sich schon die später zu betrachtenden

Unterschiede zwischen sogenannten Szenen und

Berichtsteilen, ferner kann der Dichter so die Gewichtigkeit

der einzelnen Glieder herausheben. Die radikalste Form der

Raffung ist die Aussparung: etwas wird im Gesamtverlauf

einfach übergangen. Die Grade der Raffung sind verschieden,

wir sprechen von verschiedener Raffungsintensität. Sehr selten

ist die Zeitdeckung, also völlige Übereinstimmung von erzählter

Zeit und Erzählzeit. Auch Zeitdehnung kommt vor,

wenn also das Erzählte einen kürzeren Zeitraum umfaßt, also

die Zeit des Lesens. Bekannt ist da der »Ulysses« von J. Joyce.



Erst die neuere Theorie des Erzählens und der epischen

Kunst hat die Bedeutung des Erzählstandpunkts erkannt. Wir

beginnen dabei mit der Rolle des Erzählers im epischen Werk.

Sie zeigt sich schon in der Zeitschichtung. Es gibt in jedem

epischen Werk eine Erzählergegenwart, wenn man will,

einen eigenen Handlungsstrang, der allerdings meist in Teile

aufgesplittert ist. Besonders deutlich erkennt man ihn in

Fieldings »Tom Jones«, in Raabes »Akten des Vogelsangs«

und in Th. Manns »Dr. Faustus«: hier ist es die deutlich herausgearbeitete

Abfassung der Erinnerungen Zeitblooms in

der Zeit 1943─1945, die mitgestaltet wird. Dieser Strang ist

eigentlich handlungslos und besteht in den Darlegungen und

Zwischenbemerkungen des Erzählers. Manchmal allerdings |#f0489 : 473|



zeichnet sich beinahe so etwas wie eine Handlung ab, wenn

etwa eine Art Entwicklung des Erzählers während der Abfassung

zu beobachten ist. Das kann man an Hyperion spüren

im Ablauf seiner Briefe an Bellarmin. Diese Erzählergegenwart

darf nicht mit der Zeit verwechselt werden, in der der

Autor den Roman geschrieben hat, sondern es ist eine dichterisch

gestaltete, wenn man will fiktive Gegenwart. Nur bei

Zeitbloom im »Dr. Faustus« ist es in bezug auf die Darstellung

durch Zeitbloom der Fall, was aber wieder Erdichtung ist.

Der Erzähler, der auch von diesen Aufzeichnungen erzählt

und der hier kaum spürbar ist, steht gleichsam darüber in einer

anderen Zeitschicht. Im Verhältnis zur Erzählergegenwart ist

die erzählte Handlung vergangen.



Man hat ein sogenanntes subjektives und ein objektives

Erzählen unterschieden. Im objektiven Erzählen tritt der Erzähler

völlig zurück, ist so wenig als möglich spürbar. Das

forderte der Romanschriftsteller Friedrich Spielhagen in

seinen theoretischen Arbeiten. Im subjektiven Erzählen spürt

man deutlich an den verschiedensten Mitteln den Erzähler

als Menschen am Werk. Eine neuere Auffassung sucht darzulegen,

daß im Erzählen alles von einer Person der Erzählung

aus gestaltet werde; man spricht von der Ich-Origo

dieser Person. Sie zeigt sich besonders am Gehalt mancher

Vorgangswörter, der nur aus dem Inneren einer Person

der Erzählung geholt sein kann. Und trotzdem ist auch da

der Erzähler nicht ausgeschaltet, wie wir noch sehen werden.

Keiner der drei Standpunkte ist der einzig mögliche. Denn

der Erzähler vermittelt die darzustellende Welt. Die Grundsituation

ist also die Vermittlung. Diese kann auf die verschiedenste

Weise gestaltet werden. Freilich nützt der Autor

diese Möglichkeiten oft nicht aus, sondern erzählt in einer

Linie drauflos. Das ist vielfach das Zeichen gewöhnlicher

Unterhaltungsliteratur. Nochmals sei betont, daß die Gestalt

des Erzählers nie mit dem tatsächlichen Autor verwechselt

werden darf. Dem Erzähler fehlt das dem Autor entsprechende

Tatsächliche, er ist nicht mehr der ganze Autor und

ist oft doch wieder mehr. Freilich brechen Einstellungen des

Autors manchmal durch. Das Entscheidende ist, daß die |#f0490 : 474|



Grundhaltung des tatsächlichen Autors ein innerer Bestandteil

des epischen Werks wird. Aber wie stark der Erzähler als

Individuum hervortritt, ist wieder ganz verschieden: Im

Epos nicht so stark wie im Roman, bei Homer nicht so deutlich

wie in den Werken Sternes.



Von hier aus gewinnen wir Zugang zu den Erzählstandpunkten

selbst. Einführend sei auf einige Möglichkeiten hingewiesen.

Der Erzähler kann als der Beherrscher des Ganzen

auftreten: er überblickt von Anfang an alles, gruppiert nach

seinem Ermessen, kennt das geheimste Innere der von ihm

geschaffenen Personen und weiß sogar um die Zukunft. Er

kann sich aber auch einschränken: er erzählt nur das, was auch

den Personen jeweils bewußt sein kann, also nur ihre Wirklichkeit.

Er kann auch so tun, als ob ihm das Innere der Personen

verschlossen wäre, er schildert nur das äußere Gehaben,

aber so, daß man das Innere daraus erschließen kann. Das tut

z. B. Stifter im »Witiko«. Wenn er aber gleichsam ins Innere

einer Person hineinkriecht, dann wird die Außenwelt nicht

mehr in ihrer Tatsächlichkeit in bezug auf die Personen gestaltet,

sondern als von einer bestimmten Person erlebt und

daher gefärbt. Diese verschiedenen Möglichkeiten kann man

zunächst auf zwei Typen zurückführen: entweder liegt das

Wahrnehmungszentrum im Erzähler, er gestaltet so, wie er

das Ganze sieht, überschaut, wertet und erlebt. Oder das

Wahrnehmungszentrum liegt im Bewußtsein einer Person der

Erzählung. Dann gewinnen Vorgang, Weltsicht und die

anderen Personen eine bestimmte Färbung von dem Bewußtsein

dieser Person aus. Dabei läßt sich ein geschichtlicher Weg

beobachten. Die erste Art liegt entwicklungsgeschichtlich

vor der zweiten; aber sie hört natürlich mit dem Beginn der

zweiten nicht auf. Mit anderen Worten: die Möglichkeiten

erzählerischen Gestaltens sind heute reicher als früher. Auf

dem Weg von der ersten zur zweiten Art gibt es noch dazu

viele Übergänge. Faßt man diese Grenzmöglichkeiten und

eine besonders markante Übergangsstelle als isolierte Typen,

so ergeben sich drei ausgezeichnete Erzählstandpunkte als

besonders markierte Möglichkeiten. Ob sich noch andere

entwickeln können oder ob man auch anders gruppieren |#f0491 : 475|



könnte, bleibe dahingestellt. Wir bezeichnen die drei Standpunkte

mit F. Stanzel (»Die typischen Erzählsituationen im

Roman«).



1. Wenn das Jetzt und Hier des Erzählers der Ausgangspunkt

des Erzählens ist, wenn sich in der Gestalt der Erzählung alles

von hier aus fügt, orientiert und gruppiert, sprechen wir vom

auktorialen Erzählen. Solche Art blüht vor allem im 18. Jahrhundert.

Das zeigt sich schon, wenn der Erzähler am Anfang

berichtet, wie er sich um die richtige Quelle bemüht. Oft

kommen Einmengungen des Erzählers vor. Aber auch dadurch

wirkt er sich aus, daß er den Gang der Handlung in

bestimmter Weise bewertet und erlebt. Er spricht sogar eine

Person der Erzählung oder eine fingierte Gestalt an. Besonders

deutlich macht sich auch der Erzähler als greifbare Persönlichkeit

bemerkbar in der Art, wie die Personen der Erzählung

charakterisiert werden. Bei knappen Zusammenfassungen

kann er sich deutlich zu Wort melden. Auffällig und bekannt

ist der Anfang der »Wahlverwandtschaften«: »Eduard ─

so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter ─

...« Hier ist das Mitwirken des Erzählers von Anfang an

deutlich. Das ist keine Illusionsstörung. Denn ein episches

Kunstwerk baut das Erzählen selbst ins Gesamtgefüge ein.



2. Eine bedeutende und eigenartige Erzählweise ist die in

der Ich-Form. Sie steht nicht im reinen Gegensatz zum auktorialen

Erzählen, sondern ist im ganzen gesehen eine von vielen

Formen, ein Übergang zur dritten. Die Grundlage besteht

darin: die Seinsbereiche des Erzählers und der dargestellten

Wirklichkeit, die in der auktorialen Erzählweise getrennte

Welten sind, fallen hier in eins zusammen. Es ist neuerdings

versucht worden, das Ich als einen strukturellen Fremdling

im epischen Raum zu sehen. Das scheint schon angesichts der

vielen großen Ichromane der Weltliteratur bedenklich. Der

Ichroman sei die Gestaltung einer dokumentierbaren Wirklichkeit

und keine Fiktion. Aber die dichterische Eigenwelt

des Erzählten wird ja vor allem durch die Sprachkunst geschaffen,

und dann durch die Gesamtanlage. Man fragt, worin

der Unterschied zwischen einer Ich-Erzählung und einer

Selbstbiographie bestehe. Genau in dem, was eine Erzählung |#f0492 : 476|



von einem Sachbericht unterscheidet. Goethes Selbstbiographie

ist zwar sprachkünstlerisch durchgebildet, weist aber

im Gesamten und in den Einzelheiten immer deutlich und

bewußt auf eine außersprachliche Wirklichkeit. Die Lektüre

würde den Sinn verfehlen, wenn man diese nicht im Auge

hätte. Der »Nachsommer« aber ist in sich sprachgeschlossen.

Die Wirklichkeit haben wir nirgends anders als im Werk selber

zu sehen. Das erreicht der Dichter durch die sprachkünstlerische

Gestaltung, durch den kunstvollen Aufbau, der von

vornherein nicht außer sich weist, und auch dadurch, daß genaue

geographische und zeitliche Angaben fehlen. Aber auch

wenn diese da wären, könnten sie nichts gegen eine eindringliche

Sprachkunst ausrichten, die in sich eine Welt aufbaut.

Das Eigenartige der Ich-Erzählung gegenüber dem auktorialen

Erzählen liegt künstlerisch vor allem in der stilhaften

Wirkung des Ich: wo ein Ich vernehmbar wird, ist immer der

unmittelbarste menschliche Ausdruck erlebbar. Damit rückt

hier der Erzähler menschlich in ein helleres Licht, er wird

greifbarer, man erlebt immer wieder, daß ein Mensch hier

zu uns spricht. Die Verbindung einer sprachgestalteten Wirklichkeit

mit dem Eindruck eines erzählenden Menschen ist

wieder nur eine Form und ein Beweis für die Menschlichkeit

jedes dichterischen Kunstwerks. Innerhalb der Form der Ich-

Erzählung gibt es wieder verschiedene Schattierungen. In

einem Briefroman etwa erscheint das Ich als besonders greifbare

Gestalt. Im »Grünen Heinrich« wird der Held auch noch

als deutliche Person gefühlt. Anders ist es schon im Erzähler

in »Moby Dick« von H. Melville. Im »Dr. Faustus« wieder ist

Zeitbloom geradezu als eine Gegengestalt zu Leverkühn klar

umrissen. Man kann also wohl nicht sagen, daß das Ich hier

schon auf dem Wege sei, eine bloße Erzählfunktion zu werden.

Das Ich in »Moby Dick« aber führt uns auf eine besonders

eigenartige Struktur des Erzähler-Ich. Erstens einmal ist

der Erzähler nicht die Hauptgestalt, diese ist unstreitig der

Kapitän Ahab. Dann aber gliedert sich dieses Erzähler-Ich

streng genommen in zwei Personen auf: in eine erlebende,

eben Ismael auf der Fahrt mit Kapitän Ahab, und in eine erzählende,

den alten Ismael in der Rückschau. Diese Spaltung |#f0493 : 477|



ermöglicht es dem Dichter, den Erzähler über dem Standpunkt

des Erlebenden stehen zu lassen, schon die Zukunft

zu wissen und damit die Gestaltung entsprechend zu tönen,

zugleich ein viel höheres Maß an Lebenserfahrung und -reife

den Worten des Erzählers einzuverleiben. Trotzdem bleibt die

individuelle Bindung an den erlebenden Ismael auch künstlerisch

wirksam: vor allem in der viel größeren Intensität

der Darstellung. Diese eigenartige künstlerische Formung

des erzählenden Ich führt auf die vielen Möglichkeiten, wie

dieses Ich in den Bau der Erzählung eingefügt sein kann. Es

kann die Hauptgestalt des epischen Werkes sein, wie im

»David Copperfield«, im »Grünen Heinrich« und im »Nachsommer«.

Dabei zeigt sich allerdings etwas Eigenartiges: daß

dieses Ich oft etwas blaß bleibt. Es entfaltet aus seiner Schau

die Welt um sich in großer Fülle und Eindringlichkeit, bleibt

aber selber weniger ausgeprägt. Das ist bei David Copperfield

besonders deutlich. Es fragt sich aber, ob es dem Dichter

nicht doch gelingen kann, das Ich als Hauptgestalt eben in der

Spiegelung der Welt eindringlich als Persönlichkeit herauszuheben.

Der grüne Heinrich jedenfalls und auch Heinrich

im »Nachsommer« ─ natürlich im Rahmen der Stifterschen

Art der Menschengestaltung ─ sind doch individuell verhältnismäßig

lebendig und füllig. Vielfach ist aber das Ich eine

Nebengestalt, also wirklich mehr ein erlebender Zuschauer,

also die Person, von der aus das ganze Geschehen gestaltet

und gefärbt erscheint. Das ist im »Moby Dick« sehr deutlich,

aber ebenso in Stifters »Brigitta«: Das Erzähler-Ich bringt die

Möglichkeit des stimmungsvollen Rahmens nicht bloß in

der Wanderung, sondern auch im Zusammenleben mit den

beiden Hauptgestalten. Besonders die letzte Szene der Versöhnung

zwischen Murai und Brigitta bekommt dadurch,

daß sie sich im Gemüt eines mitlebenden Freundes spiegelt,

eine vornehme Dämpfung der sonst drohenden Grellheit, zugleich

aber eine menschliche Vertiefung durch die ergriffene

Teilnahme eines Dritten. Überdies aber vollzieht sich hier

mit der Nebengestalt des Erzählers selbst eine Wandlung:

er verläßt als anderer, tiefer, gereifter, zum Leben und seinem

Bestehen tüchtiger seine Freunde und will in seinem Vaterlande |#f0494 : 478|



auch ein gutes und starkes Leben in einer Familie aufbauen.

Daß es ihm gelingen wird, erfahren wir dadurch, daß

eben auch hier der Erzähler aus einer Rückschau darstellt,

damit Späteres einbauen kann. Durch solchen Einbau von

Späterem erhält die Erzählung selbst wieder mehr Fülle und

inneren menschlichen Reichtum. Auch die Zeitgestaltung

kann sich so in reicher Schichtung füllen und verdichten. Man

erkennt aus diesen wenigen Andeutungen, wie reich die

künstlerischen Möglichkeiten der Ich-Erzählung sind.



3. Wenn die ordnende Erzählkraft von einer Person der

Erzählung ausgeht, dann ist das das personale Erzählen. Hier

liegt wirklich, mit dem Ausdruck K. Hamburgers, die Ich-

Origo einer Person der Dichtung vor. Wenn man aber diesen

Standpunkt der Ich-Origo auch in epischen Werken finden

will, die auktorial erzählt sind, wäre man gezwungen, einen

ständigen Wechsel der Ich-Origo je zu der Person anzunehmen,

die gerade vom Erzähler in den Vordergrund gerückt

wird. Im personalen Erzählen aber beruht der gestalterische

Reiz darin, daß der ganze Vorgang von einer Person

her gesehen wird. Freilich kann der Dichter auch verschiedene

Erzählstandpunkte verbinden. Das beginnt ja schon bei

der Rededarstellung, besonders in der sogenannten erlebten

Rede. Jedenfalls darf man in diesem personalen Erzählen keine

Verfasserscheinung sehen. Große Erzähler der Gegenwart

schaffen vielfach in ihr: Steinbeck, Hemingway, V. Woolf.

Grundlegend für diese Darstellung ist die Neuentdeckung des

menschlichen Bewußtseins, seiner Schichtung, seines Reichtums

und seiner Möglichkeiten. Auch ergeben sich aus solcher

personalen Darstellung neue und wirkungsvolle Arten der

Raffung, indem eben aus dem Blickpunkt der betreffenden

Person Aussparungen vorgenommen werden. Auch neue

Formmöglichkeiten bilden sich so aus. Man hat darauf hingewiesen,

daß in solcher Erzählweise das Wort »scheinen«

oft statt des Wortes »sein« eintritt, eben um die subjektive

Auffassung der Person auszudrücken. Die Wahrnehmungen

werden oft ungenau, der Blick durch Türen, den übrigens

schon C. F. Meyer gern verwendet, gibt zu sehr geschlossenen

Szenen und Bildern Anlaß. Im Englischen tritt aus personaler |#f0495 : 479|



Erzählweise heraus auch die »progressive form« (he was

writing) mehr in den Vordergrund: der auktoriale Erzähler

kann die ganze Handlung von Anfang bis zu Ende überblicken,

die Person in der Erzählung aber möglicherweise nur eben

einen Ausschnitt.



Durch Vermischung und Wechsel der drei als typisch

herausgehobenen Erzählweisen kann der Erzählung eigenartig

vibrierendes Leben gegeben werden. Vor allem Joyce

in seinen Romanen versucht so zu neuen epischen Möglichkeiten

vorzudringen Auf alle Fälle aber ist immer ein Erzähler

im epischen Werk vernehmbar, auch im personalen

Erzählen. Denn gerade auch in der erlebten Rede, die ganz

personal gehalten ist, hört man ihn in der indirekten, verschwebenden

Darstellung. Personales Erzählen müßte, wenn

die Gestalt des Erzählers ausgeschaltet würde, zum Ich-

Monolog oder Ich-Bericht der betreffenden Person werden:

sie würde dann der Erzähler. Indem aber in der dritten Person

dargestellt wird, bleibt der Gestalter solcher Darstellungsweise

spürbar. Und nie ist dieser Erzähler bloße Funktion,

sondern ein menschliches Wesen, wenn auch nicht scharf umrissen.

Aber man erlebt ihn als den, der auf seine besondere

Weise sieht, gestaltet, die Personen einführt und die Handlung

gruppiert, oft auch als den, der selber von dem, was er

erzählt, ergriffen ist, oder auch als einen der betont Abstand

nehmen möchte und sich in distanzierende Kühle und nüchterne

Sachlichkeit verbirgt. Auch in der Kälte eines in Berichtshaltung

Erzählenden erleben wir einen Menschen ganz bebestimmter

Einstellung zu dem, was er uns vorführt.



Es gibt bestimmte Elementarformen des Erzählens. So wie

sich aus Elementen der Stil aufbaut, so auch die Erzählung

aus immer wiederkehrenden Formen. Man kann von zeitlosen

Teilen in der Erzählung solche abheben, in denen der

zeitliche Ablauf des Vorgangs greifbar wird. Man erkennt

Formen, die aus der Nahsicht des Erzählers entstehen, und

solche aus Fernsicht. Grundlegend sind natürlich die zeitgebundenen

Formen, denn sie sind unerläßlich für eine Erzählung.

Die Form, in der ein bestimmter Teil des Vorgangs

gleichsam aus der Nähe eindringlich gestaltet wird, nennt man |#f0496 : 480|



vielfach szenische Darstellung. Der Ausdruck bietet die kleine

Gefahr, solche Elementarformen zu nah ans Drama zu rücken.

Das Erzählen bleibt auch hier die Grundlage. Aber da es aus

der Nahsicht geschieht, wird nur ein kleiner Zeitausschnitt

eindringlich herausgestaltet, meist mit viel direkter Rede.

Das Erzählte wird da ganz nahe an das Erzählen herangerückt,

es wird lebendig und greifbar. Es können solche Szenen knapp

gehalten sein und hart nebeneinandergestellt werden. So entsteht

eine bestimmte Erzählstruktur stoßhafter, zerklüfteter

Art, wie wir sie in gewissen epischen Arten häufig antreffen.

Der Übergang von einer zur anderen Szene kann auch durch

Zeitsprünge oder häufigen Schauplatzwechsel erreicht werden,

so etwa in Immermanns »Epigonen« und in Fontanes

»Frau Jenny Treibel«. Konkrete Situationen des Vorgangs, in

denen die Personen besonders lebendig werden, sind einzig

in solcher Form zu bringen. Gestaltet der Erzähler aus einer

erhöhten Lage mit einer gewissen Überschau, so entsteht die

Form, die man Bericht nennt. Das ist wieder terminologisch

ungeschickt. Denn es ist keine Sachdarstellung, sondern auch

Erzählung in sprachkünstlerischer Durchformung. Und tatsächlich

können auch Sachberichte als bestimmte Glieder in

einer Erzählung vorkommen. Vielleicht träfe man mit dem

Ausdruck überschauende Darstellung das Wesen dieser

Elementarform besser. Solche Darstellung füllt meist den

weiten Spielraum zwischen zwei Teilen in szenischer Darstellung

aus. Sie hat als wirkliches Stück Erzählung die Aufgabe,

den Vorgang oder die Handlung in ununterbrochener

raffender Darstellung weiterzuführen oder eine Art panoramischer

Überschau zu geben, so etwa in chronikalischen

Erzählungen wie Storms »Aquis submersus«. Sie kann auch

manchmal wirklich nur Behelf sein, um mit hoher Raffungsintensität

und in knappster Gestaltung nun wirklich beinahe

berichthafter Haltung rasch weiterzuführen. Im »Jürg Jenatsch«

zeigt sich C. F. Meyer als Meister solcher Gestaltung.



Die Formen, die nicht dem zeitlichen Verlauf dienen, kann

man als sekundär bezeichnen. Wir sondern mehrere Arten.

Aus großer Distanz formt sich die Betrachtung. So etwa

Stifters Betrachtungen über das Schicksal im »Abdias« oder |#f0497 : 481|



über die menschliche Schönheit in »Brigitta«. Hier tritt der

Erzählfortschritt zurück, thematische Zusammenhänge drängen

vor. Aus großer Nahsicht entsteht bei Zeitlosigkeit die

Beschreibung. Bekannt sind Stifters Beschreibungen der Taukatastrophe

in der Studienmappe, des Sonnenuntergangs in

der »Brigitta«. Solche Beschreibungen können sich der Betrachtung,

aber auch der szenischen Darstellung nähern. Sie

haben vielfach symbolische Aufgaben. So etwa die Entgegensetzung

der ewigen Natur und der menschlichen Vergänglichkeit

in Stifters »Hochwald«. Naturstimmungen und Landschaftsbilder

sind neben Darstellungen von Innenräumen die

bevorzugten Bereiche der Beschreibung. Aber es muß immer

die Funktion beachtet werden, die solche Teile in der Erzählung

haben: Hintergründe, Andeutungen, Rahmungen,

Einstimmung, vor allem natürlich symbolische Vertiefung.

Werden Überlegungen, die sich aus dem Fortgang der Handlung

aufdrängen, in eine gedrängte, zeitlose Form gebracht,

so entstehen die Sentenzen. Von ihnen aus können wir einen

Blick auf das Geschehen von besonderer Höhe aus gewinnen,

beinahe sub specie aeternitatis.



Für die Anlage einer Erzählung ist es wichtig, wo solche

sekundäre Formen eingefügt sind. Es können ruckweise Einsprengungen

sein. Das bedeutet immer Verzögerung des Fortgangs,

und es führt dann zur Besinnung. Es kann durch solche

Einsprengungen sinnbildhafte Verdichtung erreicht werden,

ähnlich dem Chor in der Tragödie. Häufig sind solche Formen

Einleitung oder Schluß der ganzen Erzählung oder bestimmter

Teile. Damit erreicht der Dichter klare Gliederung des Gesamtbaus.





Eine weitere Frage aus der Struktur geht nach der Art, wie

solche Sekundärformen ins Ganze des Epischen eingefügt

sind. Sie können eine gleichnishafte Durchleuchtung gewisser

Teile bringen, als Symbole der Vertiefung oder auch der

Erwartung dienen, sie können einfach auch aus der Vorliebe

für Buntheit und Abwechslung oder auch aus bewußtem

Kontrast gesetzt sein. Landschaftsbilder stehen häufig in

engem Bezug zur Handlung, so die Gewitterstelle im »Werther«.

Das kann zur Schablone werden, wenn etwa immer |#f0498 : 482|



der Nebel oder der Regen einfallen muß, wenn etwas Trauriges

erzählt werden soll.



Weltbildung



Das epische Werk vermag um den Vorgang eine Atmosphäre

zu legen. So entsteht ein Raum in seiner Fülle, in dem

sich der Vorgang abspielt, in dem er sich ─ besonders im

großen Epos ─ auch ausbreiten kann. Damit wird ein Blick

in die Welt geöffnet, es entsteht ein Welt-Bild. Aber solche

Weltbildung kann verschieden stark sein. Hierin liegt schon

ein Unterschied zwischen Epos und Ballade, Roman und

Novelle. Aber auch Dramatik und Epik unterscheiden sich

dadurch. Das Drama stellt mehr die einzelnen Gestalten heraus,

es entstehen plastische Gruppen, weniger eine Atmosphäre.

Diese muß aber nicht fehlen. Man denke an den

»Agamemnon« des Aischylos und an die raffinierte Atmosphärengestaltung

im sogenannten Schicksalsdrama. Aber

dem Roman und dem Epos gelingt solche Atmosphärengestaltung

in besonderem Maße. Das bedingt keine Wertunterschiede.

Durch drei Kräfte entsteht ein solches Weltbild:

durch die Zeitgestaltung, die Raumgestaltung und durch die

dargestellten Personen.



Die Zeitgestaltung ist in einem Dichtwerk, das einen Vorgang

gestaltet, von besonderer Wichtigkeit. Jede Formung

eines Vorgangs muß zur Zeit überhaupt in Bezug stehen, da

wir aus unserer menschlichen Art heraus Vorgänge gar nicht

anders als zeitlich erfassen können. Zeitloses Erfassen von

Vorgängen ist also auch der Dichtung nicht möglich. Hier

stehen wir wieder an einem Punkt, wo die Dichtung unbedingte

Beziehungen zur außersprachlichen Wirklichkeit hat.

Zugleich ist gerade das Erfassen des Zeitlichen im Erleben

eines Geschehens ein Ansatzpunkt, die Verschiedenheiten

epischen Gestaltens zu überblicken. Gotthelf etwa erzählt

einsinnig, die »Odyssee« und die erste Fassung des »Grünen

Heinrich« bauen bestimmte Zeitabschnitte in andere hinein.

Im »Hyperion« beginnt der zeitliche Ablauf des brieflichen

Erzählens dort, wo das im Briefwerk erzählte Geschehen |#f0499 : 483|



gerade aufhört, und der zeitliche Ablauf des Briefschreibens

bedeutet selbst wieder einen Vorgang mit Entwicklung. Die

entscheidenden Zeiträume sind die Vergangenheit und die

Zukunft. Zwischen ihnen steht die Gegenwart als dehnbares

Gebilde, das oft von beiden etwas ansaugt. Nun ist Erzählen,

auch das von tatsächlichen Ereignissen der außersprachlichen

Wirklichkeit, nur möglich mit dem Blick auf etwas bereits

Abgelaufenes, also auf den Vergangenheitsraum. Der Erzähler

hat schon am Beginn die Überschau übers Ganze. Das

gilt auch fürs dichterische Erzählen, wenn auch da das Erzählte

erst im Erzählen wird. Das ist deshalb so, weil diese Form der

Erfassung, die auch das Erzählen ist, eben nicht anders vom

Menschen vollzogen werden kann. Damit aber erst setzen die

vielen künstlerischen Möglichkeiten ein, den Vergangenheitsraum

zu gestalten.



Sprachlich bestehen vor allem drei Möglichkeiten: die

Formen des Vorgangsworts, Adverbien und Fügungen. Für

den Gehalt der Zeitformen ist der Erzählstandpunkt grundlegend,

also der Abstand der Erzählzeit von der erzählten

Zeit. Nur im auktorialen Erzählen besteht ein Zeitabstand, bei

der Icherzählung ein Unterschied zwischen erlebendem und

erzählendem Ich. Der Abstand zwischen der Erzählzeit und

der erzählten Zeit ist sprachlich verschieden schattierbar. Dazu

dienen vor allem die sogenannten Aspekte, ob ein Vorgang

in seiner Ganzheit, also bereits in seiner Abgeschlossenheit,

oder ohne Entscheidung darüber, ob er schon abgeschlossen

ist, gestaltet wird. Das ist den romanischen Sprachen, dem

Russischen und dem Englischen ohne weiteres möglich, nicht

aber den deutschen Formen des Vorgangswortes. Die wichtigste

Form im Deutschen ist das Präteritum, dessen Stilwerte

wir schon betrachtet haben (S. 164 f.). In ihm wird das

Hineinschauen in einen vergangenen, also nicht mehr bestehenden

Raum gestaltet. Das Perfekt haben wir an der gleichen

Stelle auch schon betrachtet: es schaut auf das Vergangene

deutlich vom Standpunkt der Gegenwart aus. Durch die

Vorvergangenheit (»er hatte geschrieben«) ist die Möglichkeit

einer mehrfachen Schichtung der Vergangenheit gegeben.

Eigenartig wirkt das Präsens in einer epischen Dichtung. |#f0500 : 484|



Wir denken nicht an das Präsens, in dem über ein Erzählwerk

referiert wird. Diese Zeitform besteht zu Recht, da

ja das Erzählwerk immer gegenwärtig ist. Wir denken zunächst

an das sogenannte epische Präsens, wo also das ganze

Geschehen oder Teile davon im Präsens erzählt werden. Das

rückt solche Teile in besonders helle Beleuchtung, als ob sie

unmittelbar vor unseren Augen abliefen, oder am Schlusse

eines Erzählwerks kann damit der Übergang vom Vergangenen

in die dauernde Gegenwart angedeutet werden. Im personalen

Erzählen ist das epische Präsens durchaus möglich,

ungünstig wirkt es im auktorialen Erzählen, wenn das ganze

Werk in dieser Zeitform geschrieben ist. Anders ist das Präsens

an folgender Stelle der Letzten Mappe Stifters zu werten:



Das Geschick fährt in einem goldenen Wagen. Was durch die

Räder niedergedrückt wird, daran liegt nichts. Wenn auf einen

Mann ein Felsen fällt oder der Blitz ihn tötet, und wenn er nun

das Alles nicht mehr wirken kann, was er sonst gewirkt hätte,

so wird es ein andrer tun. Wenn ein Volk dahin geht und zerstreut

wird, und das nicht erreichen kann, was es sonst erreicht hätte,

so wird ein anderes Volk ein Mehreres erreichen. Und wenn ganze

Ströme von Völkern dahingegangen sind, die Unsägliches und

Unzähliges getragen haben, so werden wieder neue Ströme kommen,

und Unsägliches und Unzähliges tragen, und wieder neue,

und wieder neue, und kein sterblicher Mensch kann sagen, wann

das enden wird.



Diese Stelle führt über die Darstellung des Geschehens hinaus.

Das zeigt schon der feierliche Wortschatz. Diese Verwesentlichung

wird durch das Präsens noch unterstützt: hier hat es

seinen Wert, indem es ins Allgemeine, Außerzeitliche führt.

Auch daraus ist erkennbar, wie ungünstig das dauernde Präsens

einer Erzählung wirkt; denn dann heben sich solche ins

Wesenhafte gehende Betrachtungen nicht mehr ab (Werfels

»Lied von Bernadette«). Die Futura und Perfekta am Schluß

der gebrachten Stelle erzeugen die Gestaltung eines Zeitstroms

innerhalb des Bereiches des Überirdischen.



Auch die heute sehr beliebten, aber in ihrer Art weit in die

Vergangenheit zurückreichenden utopischen Romane sind

meist im Präteritum erzählt. Aber man darf daraus nicht

schließen, daß das Präteritum nicht die Vergangenheit, sondern |#f0501 : 485|



die Fiktion bedeute. Denn auch in solchen Romanen, deren

Handlung der Dichter in die Zukunft verlegt, nimmt er

einen Erzählstandpunkt nach dem Ablauf des Vorgangs ein.

Sonst müßte der Erzähler in die Zukunft hinein erzählen,

wenn er unseren heutigen Zeitpunkt als Standpunkt wählte,

oder im dauernden Präsens, wenn er als Erzähler die Handlung

in die Zukunft hinein begleiten wollte. Nur von solchem

Standpunkt am Ende des Vorgangs gewinnt der Erzähler die

Überschau des freien Erzählens. Aber von diesem Standpunkt

aus liegt für ihn der Vorgang in der Vergangenheit: er schaut

auf ihn zurück. Dabei entstehen dann ganz eigenartige Spannungen,

da zugleich der Leser in die Zukunft blickt.



Die Zeitadverbien (heute, gestern, morgen usw.) beziehen

sich in einer Erzählung natürlich nie auf die wirkliche Zeit

außerhalb des sprachlichen Werks, sondern stehen im Rahmen

des durch die Sprache geschaffenen Zeitraums, und innerhalb

dieses Zeitraums haben sie vollgültigen Verweisungscharakter.

Zum Beispiel »Heute ging er das erste Mal wieder

aus«: hier verweist das »heute« eindeutig auf die im Vorgang

eben erreichte Stufe.



Der Erzähler besitzt Freiheit der Zeitgestaltung und schafft

sich dadurch eigenartige und wirkungsvolle künstlerische

Möglichkeiten. Die Freiheiten ergeben sich daraus, daß der

Erzähler den Blick über das Ganze als Abgeschlossenes hat.

Nur so kann er Selbständigkeit gegenüber den Teilen wahren:

er kann Brennpunkte herausarbeiten, kann den Ablauf aus

dem Überblick über das Ganze gliedern. So vermag er auch

die Zeitteile frei zu ordnen, sie zu füllen oder leer zu lassen.

Die Freiheit gegenüber den Zeitteilen darf aber einen höheren

Zusammenhang nicht stören: die Zeitglieder müssen Glieder

des Ganzen sein. So entsteht eine bestimmte Zeitstruktur eines

epischen Werks. Wichtig dafür ist die Überlagerung der

einzelnen Zeitschichten. Wir haben schon von der Erzählergegenwart

gegenüber der Vergangenheit des Erzählten gesprochen,

die selbst wieder geschichtet ist, indem auch Ereignisse

einbezogen werden, die vor dem Vorgang liegen.

Auch diese Überlagerung ergibt künstlerische Möglichkeiten,

die weit über das Erzählen in gewöhnlicher Unterhaltungsliteratur |#f0502 : 486|



gehen. Neben diesen drei Schichten sind noch die

allgemeinen Betrachtungen zu beachten, die den Zeitstufen

gleich fern stehen, aber doch ins Gefüge des epischen Werks

eingebaut sind. Bei dieser Zeitgestaltung kommt es darauf

an, daß die Zeit nicht aufgelöst werde, sondern im Gesamt

der Zeitschichten eine »chorische Vereinigung von verschiedenen

Etappen des Geschehens im Augenblick des Erzählens«

(Lämmert) entsteht. So gelingt es dem Dichter, daß auf weite

Strecken alle Schichten, Etappen und Reflexionen zugleich

da sind. Diese Synchronisierung ist durch den Erzähler selbst

oder durch Aussagen einer Person möglich.



In diesen Zusammenhang gehören auch die Rückwendungen

und Vorausdeutungen. Gerade sie füllen die im epischen

Vorgang gestaltete Welt auf. Bei den Rückwendungen handelt

es sich nicht um Vorzeithandlungen wie das in Rahmenerzählungen

der Fall ist (»Schimmelreiter«, »Armer Spielmann«),

wo mehrere gesonderte Geschehnisabläufe verbunden

sind. Bei Rückwendungen verläßt der Erzähler den augenblicklichen

Ereignisstandpunkt nicht, sondern führt in ihn

ein Stück früherer Vergangenheit ein. Natürlich sind die

Grenzen nicht scharf. Häufig werden am Anfang einer Erzählung

nach kräftigem Einsatz der Handlung einige Vorgänge,

die zu diesem Anfang geführt haben, nachgeholt. So

deutlich in den »Lehrjahren«, im »Ofterdingen« und im

»Jenatsch«. Am Schluß können sich Spannungen lösen, und

wir erleben nun vergangene Vorgänge anders. Besonders

kunstvoll hat das Kleist im »Zweikampf« gestaltet. Aber auch

an verschiedenen Stellen während des ablaufenden Vorgangs,

besonders an Ruhepunkten, kann Vergangenes eingeschoben

werden. Der Erzähler kann da etwas nachholen und so den

zielstrebigen Aufbau abschweifend bereichern; oder er kann

etwas aus der Vergangenheit herbeiholen, um den erreichten

Augenblick in bestimmter Weise zu tönen oder zu unterstreichen.

Oder er gibt einen Rückblick, in dem die Gegenwart

als Erfüllung einer Vergangenheit oder als Kontrast zu

ihr erscheint. Besonders eindringlich ist das Rückblickskapitel

im »Nachsommer«: es steht als Gegengewicht zum Anfang,

der die Rosenhausgegenwart bringt, am Schluß des Romans |#f0503 : 487|



und füllt so die erreichte Gegenwart aus der erlebten Vergangenheit

auf; es entsteht eine bedeutsame Vertiefung.



Die Vorausdeutungen schaffen ein Gegengewicht gegen

Rückwendungen, wecken Spannung und zeigen die Zukunft

in besonderem Licht. Wenn der Erzähler nur bestimmte

Strecken des Vorgangs vorausdeutet, entsteht zugleich eine

klare Gliederung des Geschehens. Auch hier spielt der Erzählstandpunkt

eine Rolle. Denn wenn der Erzähler über dem

Ganzen steht, so haben seine Vorausdeutungen den Charakter

der Gewißheit. So wird oft im Anfangs-Rahmen die Person

im Endzustand der Binnenerzählung gebracht: wir lernen den

armen Spielmann als den ungeschickten Alten kennen, bevor

wir seine Lebensgeschichte erfahren. Durch diese Vorausnahme

aber wirkt die Mitteilung, mit der er selbst seine

Geschichte zu erzählen beginnt, daß er der Sohn eines bekannten

hohen Staatsmannes sei, um so erregender. Am Ende

einer Erzählung kann so die Endsituation oder ein späterer

Zustand vorausgedeutet werden, ohne daß er ausführlich dargestellt

wird. Meisterhaft macht das Hemingway im Roman

»Wem die Stunde schlägt«. Die Vorausdeutung kann auch

mehr andeutend-symbolisch sein. Eugenie in Mörikes Novelle

»Mozart auf der Reise nach Prag«, die schon von bangen

Ahnungen ergriffen wird, als Mozart den Schluß des »Don

Giovanni« vorspielt, findet nach dessen Abreise das Gedicht

»Ein Tännlein grünet, wer weiß wo ...«; es rührt sie zu

Tränen, und wir wissen so vom baldigen Ende Mozarts.

Wenn aber der Erzähler mit dem Geschehen geht, also auch,

wenn er vom Standpunkt einer Person aus erzählt, werden

die Vorausdeutungen zukunftsungewiß. Der Erzähler gestaltet

etwa Wünsche und Ängste der Personen und deutet

damit für den Leser wirkungsvoll Zukünftiges an. Solche

ungewisse Vorausdeutungen können auf die verschiedenste

Weise beglaubigt werden: in Legenden und Märchen erscheinen

sie als Offenbarung göttlicher Mächte. Eindringlich

und ahnungsvoll wirken dann wiederholte Prophezeiungen

desselben Ereignisses (z. B. der Sturmflut im »Schimmelreiter«),

regelmäßige Vorausdeutungen vor jedem Konflikt,

Erinnerungen der Personen an solche Voraussagen usw.

|#f0504 : 488|



Rückwendungen und Vorausdeutungen schaffen an der

Einheit und Umfassenheit des Weltbildes im epischen Werk:

die Rückwendungen ziehen die Vergangenheit herein, runden

und vertiefen dadurch die Gegenwart; Vorausdeutungen

spannen, richten die Gegenwart auf die Zukunft aus und beziehen

zugleich einen neuen Bereich ein. Erinnertes aus der

Vergangenheit, Vorausdeutungen in die Zukunft fließen so

mit dem jeweiligen erzählten Augenblick zu eigenartigen

Wirkungen zusammen.



Die Raumgestaltung im epischen Werk hat keine topographische

Bedeutung. Es ist sinnlos, Ereignisse der dichterischen

Welt geographisch festlegen zu wollen. Wenn der

Dichter wirklich Orte und Gegenden nennt, so sollen diese

in und aus ihrem Gesamtcharakter sofort eine Atmosphäre

schaffen: Nordsee, Hochalpen, Großstadt, Tropen, Mittelmeerraum

usw. Denn im echten epischen Kunstwerk sind

die Raumschilderungen nicht Schmuck oder Schablone,

sondern sie bilden die Sphäre und Atmosphäre, in der die

Personen leben und sich der Vorgang abspielt. Beim Blick

auf die möglichen Räume ─ Innenräume, Haus, Siedlungen,

Landschaften ─ ist die entscheidende künstlerische Frage:

welche Arten dieser Räume herrschen vor und wieviele? Es

macht einen Unterschied, ob ein Vorgang sich nur in Innenräumen

oder nur im Wald oder in verschiedenen Räumen abspielt.

Dabei ist die Stimmung entscheidend, die vom Raum

ausgeht; sie kann einheitlich oder polar sein, es kann ein reiches

Stimmungsgefüge oder Eintönigkeit entstehen.



Bei der künstlerischen Gestaltung des Raumes ist verschiedenes

zu beachten. Im Aufbau des einzelnen Raumes können

entweder alle Einzelheiten so klar dargestellt und geordnet

sein, daß ein plastisches Bild entsteht. Oder der Raum verschwimmt,

es fehlt das Gerüst, es ist alles mehr angedeutet,

wirkt aber dadurch stimmungsvoller, wie etwa in den ersten

Landschaftsschilderungen im »Ofterdingen«. Auch die Raumfolge

ist künstlerisch von Bedeutung. Wie das gemeint ist,

sei an einigen deutschen Bildungsromanen angedeutet: In

»Wilhelm Meisters Lehrjahren« verläßt Wilhelm das Vaterhaus,

reist durch die Welt und kehrt nie mehr zurück: das |#f0505 : 489|



Leben erscheint als Reise, so entsteht die Weite des Bildes.

Als Ziel erscheint die Landschaft des Grafengutes. Im »Ofterdingen«

herrscht die gleiche Struktur, aber hier greift der

Vorgang über das Irdische hinaus (im geplanten zweiten

Teil), ins Märchenhaft-Mythische, Unwirkliche, ins Reich

der Dichtung. Im »Grünen Heinrich« verläßt Heinrich das

Vaterhaus, erlebt den Heimatraum, dann fährt er in die Welt

hinaus und scheitert; er kehrt in die Heimat zurück und gewinnt

an ihr neuen Halt: der Kreis ist geschlossen. Im »Nachsommer«

gewinnt Heinrich nach einigem Suchen einen Mittelpunkt:

das Rosenhaus. Von hier aus gehen nun seine Bildungsausgriffe

als Reisen, Fahrten, sogar zu den Eltern in die

Großstadt, am weitesten in der Bildungsfahrt durch Europa;

auch der Verkehr mit Risach ist ein solcher Ausgriff im geistigen

Sinn. Hier erscheint eine Mitte als Bewahrendes und

Sammelndes. In Raabes Romanen sehen wir auch ein Suchen

und Erreichen eines Raumes, in dem die Sicherheit vor der

Welt möglich ist: Grunzenow, die Katzenmühle, die Rote

Schanze. Aber von hier gibt es keine Bildungsausgriffe mehr,

das Gemüt als Innerstes ist sich genug.



Der Raum ist nicht bloß notwendiger Rahmen und

Schmuck, sondern deutet in seiner Art Tieferes an: er ist

Symbol. Die Möglichkeiten dazu sind mannigfaltig. Die

Einleitungslandschaft im »Jürg Jenatsch« ist in ihrer Herbheit

und Größe ein Symbol des Ernstes, der Größe der Handlung.

Die Art der Landschaft wirkt symbolisch: das Hochgebirge

versinnbildet anderes Menschliches als Heide und Ebene.

Eigenartig erwächst das Meer in den Erzählungen Storms

langsam zum Symbol des Großen, Überirdischen, Gewaltigen,

Unheimlichen. Diese Entfaltung erreicht ihren Höhepunkt

im »Schimmelreiter«. Das Haus kann selbst als Ort der

Geborgenheit gelten, so besonders deutlich in Raabes »Stopfkuchen«

die Rote Schanze: sie ist der Ort der Sicherheit, wo

der Held ganz seinem Inneren leben kann. Der Blick in die

Stadt hinunter wird zum Blick ins Wertlose, der in die

Weite erfaßt das Hohe und zugleich Ferne. Ebenso große

Bedeutung gewinnt das Haus bei Stifter; daher die liebevolle

Ausmalung der Innenräume. Durch die Raumgestaltung wird |#f0506 : 490|



aber auch das Verhältnis des Menschen zu seinem Lebensraum

lebendig, damit auf diese Weise wieder ein Stück Menschen-

und Weltbild. Man hat bei Eichendorff zweierlei

Menschen unterschieden: die Stubenhocker sind die Pedanten

und Philister, der gesunde Mensch wandert ins Weite, und

wenn er einmal in eine Stube gebannt ist, reißt er die Fenster

auf. In Stifters »Condor« erlebt der Mensch in der Unheimlichkeit

des Weltallraums seine Kleinheit. Am Schluß des

»Hochwald« stellt Stifter eindringlich den Gegensatz zwischen

der Ewigkeit der Natur und der Vergänglichkeit der Menschen

heraus, im »Bergkristall« die Geborgenheit des einfachen

Menschen in der gewaltigen Größe der Bergwelt.

Später werden dann die Menschen Stifters zu Raumgestaltern,

zu Menschen, die erst dem Raum Wert, Sinn und Ordnung

geben: Brigitta und der Baron Risach. Das Durchwandern

vieler Räume bedeutet Unruhe oder auch ein Symbol für

das Leben als Wandern, besonders eindrucksvoll etwa in

»Moby Dick«.



Erst das Zusammenwirken von Raum und Zeit in der Epik

gibt den Weltbild-Rahmen und schafft Umfassenheit: in

der Zeitgestaltung liegt Ablauf, Strömen, Vergänglichkeit

und Ewigkeit, alles, was mit dem Leben als Fließen, Kommen

und Vergehen zusammenhängt, nicht bloß Vergänglichkeit,

sondern auch Zukunft, Erneuerung und Ewigkeit. Im Raum

erleben wir das Ruhende und Bleibende; das kann dem Menschen

in verschiedenster Weise entgegentreten: beengend,

bedrohend, bergend, dehnend, treibend.



Ausgefüllt werden diese beiden Bereiche mit den Personen,

die sich im epischen Werk bewegen. Man spricht

heute oft von Figuren, aber es darf, gerade in der Epik, nicht

der Eindruck entstehen, als ob es ihnen an Leben fehlte. Der

mögliche innere Reichtum eines Menschen muß hier immer

mit bedacht sein.



Man hat den epischen Personen gewisse Eigenarten zugewiesen.

Man hat zu erkennen geglaubt, daß den Personen

der großen Epik oft menschliche Größe fehle, und führt als

Beleg Wilhelm Meister, den Grünen Heinrich und Hans

Castorp im »Zauberberg« an. Aber wenn man dagegen Gestalten |#f0507 : 491|



wie Paracelsus, Witiko und Leverkühn oder gar die

der großen Epen stellt, verliert diese Behauptung an Wert.

Oder man sieht als Kennzeichen epischer Figuren das Insichruhen

der Persönlichkeit, die Fülle der Erscheinungen und das

Fehlen einer Entwicklung. Aber das paßt nur fürs alte Epos,

nicht für die Ballade und Novelle und vor allem nicht für den

modernen Roman. Das sind also keine allgemeinen epischen

Eigenarten, sondern zeitgeschichtlich bedingte. Die Wandlung

der epischen Kunstform hängt mit dem Wandel des Menschenbildes

zusammen, und die Züge unseres neuen Menschenbildes

kehren in der epischen Kunst unserer Zeit wieder. Es bedingt

also nicht die epische Kunstform das Menschenbild, sondern

umgekehrt: Die Epik schafft für sich keine besondere Menschenart,

sondern formt das jeweilige Menschenbild der Zeit

in ihre Gestaltung ein. Wie reich allerdings die einzelne Figur

mit Zügen ausgestattet ist und wie diese Züge strukturiert

sind, das hängt von der epischen Art und vom einzelnen Dichter

ab.



Die Welt eines epischen Werks entsteht vor allem durch

die mannigfachen Beziehungen der Personen der Dichtung

untereinander. Gerade hier bietet der Grundsatz des Erzählstandpunkts

reiche Möglichkeiten. So können Personen sogar

durch einen Akt des Erzählers wieder gelöscht werden, wie

das etwa der Erzähler Dante in C. F. Meyers »Hochzeit des

Mönchs« tut. Dem Drama sind solche Möglichkeiten kaum

gegeben. Die Gruppierung der epischen Figuren kann nach

drei Richtungen hin beobachtet werden. 1. Die Gruppierung

nach dem Lebensbezug. Gerade sie ist in der Epik reich ausgestaltbar,

da oft kleinste Winke genügen. Hier nur einige

Andeutungen. Es gibt einen Unterschied zwischen aktiven

und passiven Gestalten. Schon das Zahlenverhältnis zwischen

beiden bestimmt den Charakter der gestalteten Welt. Man

denke an eine Welt mit lauter Aktiven und an eine mit

lauter Passiven. Aber auch Art und Richtung dieser Haltungen

sind wichtig: der Aktive kann tyrannisch, als Charakter

führend, durch Leistung mitreißend sein usw. Der Passive

kann liebend hingegeben, ruhig dienend, unselbständig,

ängstlich, geschlagen, apathisch sein. Ein anderer Unterschied |#f0508 : 492|



ist der von Rationalen und Vitalen, also solchen, die

mehr aus klar erfassendem Bewußtsein handeln, und anderen,

die aus innersten Bereichen gesteuert werden. Man denke an

den Unterschied zwischen dem Hauptmann und Charlotte

gegenüber Eduard und Ottilie in den »Wahlverwandtschaften«.

Auch die Verteilung von männlichen und weiblichen

Gestalten wirkt sich aus. Der Reiz von G. Hauptmanns

»Insel der großen Mutter« beruht nicht zum wenigsten auf

der Tatsache, daß mit einer Ausnahme nur weibliche Figuren

diese Menschenwelt bilden. Auch das Verhältnis der einzelnen

Lebensformen im Sinne Sprangers oder der einzelnen

Lebensstände wirkt sich aus. Man denke an das reiche Zusammenspiel

der Bürger, Bauern, Künstler und religiösen

Sonderlinge im »Grünen Heinrich«, vor allem an die reiche

Menschenwelt der »Lehrjahre«.



2. Die Gruppierung in Haupt- und Nebenpersonen. Zunächst

ist die Unterscheidung von Haupt- und Nebenpersonen

überhaupt wichtig. Sie bedeutet nicht so sehr Unterschied

im Reichtum der Einzelzüge; denn auch Nebenfiguren

können in strichartiger Knappheit oft sehr lebendig sein, wie

etwa die verschiedenen unheimlichen Gestalten um Aschenbach

im »Tod in Venedig« oder die Fülle der Figuren im

»David Copperfield«, wo gerade die Hauptgestalt eher blaß

ist. Es kommt vielmehr vor allem darauf an, welche Bedeutung

die einzelnen Personen im Vorgang haben. Dann ist

auch der Bezug zwischen den Haupt- und Nebengestalten

zu beachten. Gerade die Nebenfiguren können mannigfachen

Sinn haben: sie sind Vertraute, bloße Füller, symbolhaft wie

die eben erwähnten im »Tod in Venedig«. Sie können die

Hauptgestalt von verschiedenen Seiten beleuchten, die Handlung

antreiben oder hemmen. Wichtig ist vor allem die Zahl

der Hauptgestalten. Steht eine Hauptgestalt eindeutig in der

Mitte, wie im »Werther«, im »Hyperion«, im »Schimmelreiter«

und im »Tod in Venedig«, so entsteht eine sehr geschlossene

Welt, meist unter einem bestimmten Blick. In

vollendeter Form ist das deutlich im »Werther«. Sind es mehrere

Hauptgestalten, so gibt es verschiedene Möglichkeiten.

Sie können eine Einheit bilden, in der extremsten Form als |#f0509 : 493|



ungegliederte Masse. Sie können nach der Art des Charakters

und des Handelns gestuft sein. Sehr wichtig ist die Polarität:

wenn zwei Gegenspieler im Vordergrund stehenwie im »Kohlhaas«

oder wenn die Personen einfach durch ihre Art scharf

unterschieden sind. Im »Don Quijote« stehen sich als solche

entgegengesetzte Charaktere Don Quijote und Sancho Pansa

gegenüber. In ihnen werden zwei Welterfassungen lebendig,

die ständig nebeneinander hergehen und alles Geschehen

ständig auf zweifache Weise spiegeln. Im »Nachsommer«

können wir die verschiedensten Zweiergruppen beobachten,

die eben in dieser Art der Verbundenheit das persönliche Du-

Verhältnis als Grundlage jeder Gemeinschaft offenbaren. Auch

Vierergruppen können vorkommen, am bekanntesten die in

den »Wahlverwandtschaften«, deren Vorgang ganz im Mit-

und Gegeneinander der vier Gestalten beruht. Die Beziehungen

innerhalb einer Familie können in der Gleichzeitigkeit

wie in den »Brüdern Karamasow« oder in der Aufeinanderfolge

wie in den »Thibaults« gründen. Auch der Geschichtsroman

stellt die Hauptgestalten in den mannigfachsten Beziehungen

dar. Aus diesen Beziehungen ergibt sich auch die

epische Bewegung: die Liebe in ihren Stufen und Wandlungen,

ebenso Haß, Gegensätze der Charaktere; ich erwähne

den Gegensatz von Walt und Vult in Jean Pauls

»Flegeljahren«, den von Albano und Roquairol im »Titan«

von Jean Paul, besonders aber die Zusammenhänge von Parzival

und Gawan, von Tristan, Isolde und Marke. Die epische

Bewegung wird noch verwickelter und fülliger durch

die verschiedenen Beziehungen der Nebenpersonen zu den

Hauptgestalten, wenn diese selbst schon in ihrer Bewegung

mannigfaltig sind. Beispiele böten »Titan«, »Madame Bovary«,

»Ulysses« und Doderers »Strudlhofstiege«: hier entsteht eine

verwickelte und durcheinander wirbelnde Welt von Gestalten,

die dann in ihrer Gesamtheit die Handlung bestimmen,

ein Bild des Gesellschaftslebens, das kaum mehr von einzelnen

Personen getragen wird; damit allerdings ein Ausfluß des

modernen Menschen- und Gesellschaftsbildes.



3. Die Gruppierung nach dem Erzählstandpunkt. Beim

auktorialen Erzählen ist der Erzähler zugleich Schöpfer und |#f0510 : 494|



Ausformer des ganzen Personenkosmos und seiner ständigen

Verschiebungen und Bewegungen. In Erzählungen in der

Ich-Form ergibt sich eine doppelte Perspektive: das erlebende

Ich steht in mannigfachen Bezügen zu den Personen, so etwa

der Grüne Heinrich zu Anna und Judith. Das erzählende Ich

formt diese ehemals erlebten Beziehungen zu einem Ganzen

bestimmter Art, etwa im »Grünen Heinrich« dieses Verhältnis

zu Anna und Judith in bezug auf die Zukunft: der Tod

Annas, Judith und ihre spätere Funktion. Im personalen Erzählen

ist die Gruppierung je bestimmt durch die Person, von

der aus alles betrachtet wird. Dabei kann diese Person wechseln,

auch auktoriale Teile können eingefügt sein. Besonders lehrreich

ist hier Joyces »Ulysses«: das erste personale Medium

ist Stephan Dedalus, erst später Bloom, im Schlußmonolog

Frau Bloom. So wird also die erlebte Welt schon von drei

verschiedenen Blickpunkten aus gestaltet, dazu kommen

auktoriale Teile. Gerade diese mannigfachen Möglichkeiten

ergeben die Fülle der wirklichen Lebensbeziehungen, die die

Erzählkunst gestaltet. Man kann auch sagen, daß die große

Zahl der Standpunkte, von denen aus die Gruppierung der

Personen betrachtet werden kann, geradezu ein Symbol der

Lebensmannigfaltigkeit ist. Durch die Arten des Erzählens

sind diese Möglichkeiten wirklich größer als im Drama, das

hier strenger auswählt und formt.



Der Unterschied zum Drama eröffnet auch wichtige Einsichten

in die epische Darstellung der Personen. Im Drama

werden die Personen in einer Art Selbstdarstellung herausgestellt,

freilich geschieht diese Selbstdarstellung in der vom

Dichter gewollten Beleuchtung. In der Epik schafft der Erzähler

durch sein Erzählen eine Atmosphäre, eine Umwelt

in der verschiedensten Form. Als Beispiel ein Hinweis auf den

Anfang des 11. Gesangs der »Ilias«: Eos steht auf und bringt

den Menschen und Göttern das Licht. Als Zeus sich erhebt,

sendet er Eris, die Göttin des Streites, zu den Schiffen mit

dem Zeichen des Streites und Krieges. Sie stellt sich auf das

Schiff des Odysseus, in der Mitte zwischen denen des Aias und

Achilleus. Dann weckt sie mit lauter Stimme die Achaier. Der

Dichter hat hier also die Menschen in einen ganz bestimmten |#f0511 : 495|



weltweiten Zusammenhang eingeordnet: Naturablauf und

Götterwelt. Der Erzähler selbst gestaltet gleichsam vor den

Augen des Lesers oder Hörers die Personen, sie werden durch

das Erzählen. Das gelingt ihm durch den Gang der Handlung,

durch Schildern und durch die Reden der Personen. Personendarstellung

durch den Gang der Handlung braucht keine

weitere Erläuterung. Bei der Schilderung einer Person durch

den Erzähler kommt es wesentlich darauf an, ob er diese Art

häufig anwendet oder selten und sich damit der Art des dramatischen

Gestaltens nähert. Auch die Ausführlichkeit der

Schilderung spielt eine Rolle. Neben der verhaltenen Art, mit

der etwa einige Andeutungen bei Storm oder in Hans Grimms

Südafrikanischen Novellen genügen, um in die Tiefe des

Menschen hinabzuleuchten, stehen die ausführlichen Schilderungen,

die Th. Mann dem Schriftsteller Aschenbach widmet.

Nebenpersonen können nur skizziert sein neben der vollen

Ausführung bei Hauptpersonen. Besonders aber gibt die Art

der Schilderung Einblick in die Kunst des Erzählers. Hier

spielt etwa der Anteil der Wortarten eine Rolle: mit dem

Gegenstandswort wird die Person und ihr Charakter als umgrenzbares

Gebilde von der Umwelt abgehoben, in der Gestaltung

durchs Eindruckswort wird die Person erlebt, wie

sie Eindrücke und Wirkungen ausstrahlt, das Vorgangswort

gestaltet sie als lebendes Wesen, als etwas Handelndes, und so

wird sie in den Vorgang maßgeblich eingebaut. Anders

wirkt die Schilderung durch andere Personen, besonders das

Räsonnieren über sie.



Am unmittelbarsten lassen sich die Personen einer Erzählung

durch ihr Reden gestalten. Aber dieses Reden kann verschieden

in die epische Gestaltung eingeformt werden. Die

übliche Einteilung in direkte, indirekte und erlebte Rede gibt

nur die Hauptpfeiler einer Reihe. Denn dazu tritt noch die

Briefform und der innere Monolog. In der direkten Rede

werden die Worte eines anderen wortwörtlich wiedergegeben,

so daß also die Ich-Origo scheinbar scharf umgestellt

wird. Die direkte Rede hat nur in der szenischen Darstellung

ihren Platz, nicht in den Berichtsteilen. Aber sie nähert sich

nicht dem Dramatischen, da dieses noch andere Wurzeln als |#f0512 : 496|



das Reden der Personen hat. Durch die direkte Rede nähert

sich die Erzählung dem wirklichen Zeitgefälle. Aber nicht

ganz: es gibt Gespräche, die länger als die Erzählzeit sind, etwa

oft bei kurzen Gesprächen in Romanen Fontanes; aber auch

solche, die kürzer sind als die Dauer, die es zu ihrer Erzählung

braucht (oft in Stifters »Witiko«).



Das Erzählen und die Personenrede sind zwei Dimensionen

der Aussage. Zwischen ihnen gibt es mannigfache Bezüge,

auch die Art des Einbaus der Rede in die Erzählung kann verschieden

sein. Der Erzähler kann in der Sprachgebung auf eine

Rede vorbereiten, indem er sich ihrer Darstellungsweise annähert,

oder er kann sie nachher in seiner Erzählung wieder

ausklingen lassen. Er wirkt in seiner Gestaltung und Gestimmtheit

in leisen Schattierungen auf die Redeform ein. So

entsteht eine Spannung zwischen Erzähler und Rede. In der

Rede einer Person ─ das gleiche gilt immer auch für Gesprächesind

oft zwei Zeitabläufe zu unterscheiden: die Rede ist ein

Stück des epischen Vorgangs und gliedert sich also in ihn zeitlich

ein, zugleich aber kann das, was in der Rede gesagt, berichtet

oder gar erzählt wird, diesen Vorgangsablauf überspielen

und eigene Zeitbereiche öffnen.



Der Sinn der direkten Rede ist vor allem die Charakterisierung

der redenden Person, und zwar nicht so sehr durch das,

was sie sagt, als durch die Art, wie sie es sagt. Sie ist aber zugleich

Ordnungsmittel im Aufbau: sie verdichtet das Vergangene

und dehnt es zugleich in die Gegenwart herein, sie

gibt Erzählgegenstände und ist zugleich gegenwärtiges Geschehen.

Sie dient dem äußeren und dem inneren Aufbau.

Die häufigste Form der direkten Rede ist das Gespräch. Auch

da bieten sich dem Dichter die verschiedensten Möglichkeiten.

Er kann das Gespräch oder die einzelnen Teile ankündigen

oder auch nicht. Die Gespräche können gleichgewogen

sein, also mit gleichem Anteil der Partner; in einem Überredungsgespräch

wird diese Gleichgewogenheit immer mehr

durch das Vorherrschen des einen Partners verdrängt. So und

auch auf viele andere Arten können große Steigerungen in

Gespräche gebracht werden. Gespräche führen entweder die

Handlung selbst weiter, oder sie begleiten sie. Das Gespräch |#f0513 : 497|



kann die Sprunghaftigkeit der übrigen, nicht im Gespräch gestalteten

Handlung mildern, indem es durch Vergangenheits-

und Zukunftsblicke Brücken schlägt. Im Gespräch wird die

Erzählerperspektive durch die Perspektiven der Sprecher ersetzt

und damit das Gesamtbild der gestalteten Welt weiter

aufgefüllt.



In der Brieferzählung kommt es nicht auf den äußeren Vorgang

des Briefschreibens und die Zeit, die es braucht, an,

sondern auf den Inhalt der Briefe. Und hier hat der Erzähler

die Möglichkeit, die geschlossenste Darstellung innerer Vorgänge

zu geben, ohne jemals den Allwissenden spielen zu

müssen. Zwei Formen sind wichtig: 1. Der Briefwechsel.

Damit wird ein wirklicher Gesprächscharakter erreicht.

Der epische Vorgang ist dadurch zweischichtig: der in den

Briefen erzählte Vorgang, der selbst wieder stückweise auf

beide Schreiber aufgeteilt sein kann, und das Briefschreiben

als Gesprächsaustausch. Das verwickelt sich, wenn mehrere

Briefwechsel ineinandergefügt sind; da kann dasselbe Ereignis

von vielen Seiten beleuchtet werden, oder mehrere Handlungen

verflechten sich so. Der Erzähler selbst macht sich entweder

in Zwischenbemerkungen oder in der kunstvoll berechneten

Anordnung des Briefwechsels bemerkbar. 2. Es ist

nur ein Briefschreiber da (»Werther«, »Hyperion«). Das ermöglicht

größere Einheit und Geschlossenheit des Erzählvorgangs.

Zugleich wirkt hier immer auch die Wendung des

Schreibers zum Du des Empfängers stilhaft mit. Aber auch

hier wieder: der Erzähler kann als Ordner, Herausgeber, Gestalter

in mannigfacher Weise mit eingeformt werden in das

epische Ganze, so daß im Innersten auch hier die Erzählhaltung

erhalten ist und durchklingt.



Die indirekte Rede wird durch die Form ─ Konjunktiv der

Abhängigkeit im Deutschen, deutliche Einleitepartikel und

strenge Zeitenfolge in anderen Sprachen ─ in ihrer Eigenart

geprägt: die Abhängigkeit der Rede von der Einleitung, also

der Satzführung der Personen von der des Erzählers. Die Personenaussage

wird hier in den Erzählvorgang hineingehoben.

Damit gelingt eine stärkere Raffung und eine eindringlichere

Lösung vom Zeitablauf. Die Berichtshaltung drängt vor. |#f0514 : 498|



Wenn gar über Rede oder Gespräch nur mehr ein Bericht gegeben

wird, verliert sich das Reden der Personen vollkommen,

zugleich aber tritt eine starke Versachlichung ein, die wieder

von stilhafter Bedeutung für die Gesamterzählung sein kann.



Eine besonders eigenartige Kunstform hat sich in der sogenannten

erlebten Rede ausgebildet. Ob der Ausdruck gut ist,

darüber hat man sich schon oft gestritten. Uns interessiert hier

ihr Wesen und ihre Bedeutung. »Gegen Mitternacht stand er

auf dem Fischmarkt und sah am Hause empor. Es war spät,

niemand mehr würde wach sein, wahrscheinlich würde er die

Nacht draußen bleiben müssen« (H. Hesse, Narziß und Goldmund).

In der Form fehlt jede Andeutung, daß es Rede ist. Es

steht die dritte Person, sehr häufig das unpersönliche »man«,

als ob hier irgendwie die Entpersönlichung und Kollektivierung

unseres Zeitalters spürbar wäre. Aber es finden sich Ausrufe,

und innere Vorgänge werden gestaltet, die nur der Redende

kennt. Konjunktive wirken auch mit. Das Eigenartige

ist, daß hier der Erzähler zwar noch von der Person wie von

einem Objekt seines Erzählens spricht, sie aber doch zum Subjekt

macht, von dem aus die Sicht gestaltet wird. Der Erzähler

tritt zurück, aber er bleibt deutlich mitteilendes Organ. Es

tritt eine Verschmelzung zweier Blickpunkte ein, damit eine

perspektivische Verschiebung und etwas Zwielichtiges. Es ist

weder Rede einer Person noch fortlaufende epische Darstellung,

sondern beides zugleich. In der Lautbildung, im Wortschatz,

in Rhythmus, Satzbau und im Inhalt des Gesprochenen

läßt der Erzähler die Person durchklingen, durch die

dritte Person und durch die leise Deutung des Gesprochenen

macht er sich selbst vernehmbar. Sicher wird durch zu ausgedehnte

erlebte Rede der Erzähler verschwommen, ein

essayartiges oder ein lyrisches Bekenntnis wird so gefügt, als

ob es eine Erzählung wäre.



Die erlebte Rede ist gerade in moderner Erzählkunst so

stark eingesetzt, daß man schon mehrere Arten unterscheiden

kann. Da können einmal die objektiven Bestände ins menschliche

Erleben hereingezogen werden und also in der erlebten

Rede in subjektiver Spiegelung dargestellt sein, wie das besonders

bei Kafka zu sehen ist. Oder es können innere Vorgänge |#f0515 : 499|



an Äußerungen über Objektives ausgestaltet werden,

wie man das bei Musil beobachtet hat. Während die zweite

Form eher eine spielerische Verbindung des Autors mit der

Figur ist, erleben wir in der ersten den Durchbruch der persönlichen

Eigenart einer epischen Figur. Diese Art nähert sich

schon dem inneren Monolog, bei dem nun der Erzähler völlig

verschwindet und doch nicht die Form der direkten Rede

gewählt wird, also gerade dadurch ein Erzählen immer noch

spürbar bleibt. In solchen inneren Monologen wird der Vorgang

selbst stark überdehnt. Das Eigenartige ist dabei, daß

ein bestimmter Gedankenkanal beinahe übertrieben ausgefahren

wird. Ein großes Beispiel sind die langen Auslassungen

der Frau Bloom, die den »Ulysses« abschließen.



Am Schluß sei nochmals darauf hingewiesen, daß immer

auch der Erzähler als geheime Person vorhanden ist, wenn er

sich nicht geradezu als der Ich-Erzähler einführt. Er ist nicht

eine deutlich greifbare Individualität, aber ein Mensch, der im

Erzählen spürbar bleibt.



Die epische Sprachkunst



Schon oft ist im Vorangehenden gezeigt worden, wie gerade

durch die Sprachkunst viele Eigenheiten und Möglichkeiten

der epischen Dichtung bedingt sind. Wir können uns hier

ergänzend kurz fassen.



Von den Stilkräften liegt der Ausruf dem Epischen fern,

außer in den Reden der Personen und in der erlebten Rede,

wo er gerade das Reden einer Person deutlich spürbar macht.

Sollte der Erzähler selber zu Ausrufen greifen, so zeigt das

seinen Anteil am Erzählten, und damit tritt er selbst besonders

deutlich hervor. Ganz eigenartige Möglichkeiten bietet der

Anruf, nicht in Gesprächen, sondern im Darstellen des Erzählers.

Das eine ist die Anrede an den Hörer oder Leser. Sie

findet sich besonders in frühen Formen, wo eben noch eine

unmittelbare Beziehung zwischen dem Erzähler und dem

Hörer bestand. In den Epen der Ritterzeit ist diese Anrede

noch durchaus wörtlich zu nehmen. In der ersten Strophe

des Nibelungenliedes wirkt sich das schon aus. Das erste |#f0516 : 500|



Wort ist »uns«: da entsteht schon eine Gemeinschaft des Erzählenden

mit den Hörern, die dann im vierten Vers nochmals

persönlich angesprochen werden: »muget ir nu wunder

hoeren sagen«. Solche Anreden an den Leser lassen sich sehr

häufig bis ins 18. Jahrhundert hinein verfolgen: so deutlich

im »Don Quijote«. Besonders beliebt ist die Anrede an den

Leser beim Bericht über die Quellen, auf denen der Dichter

angeblich aufbaut. In solchen Anreden ist die Funktion des

Erzählers im epischen Werk sehr deutlich. Anders ist es mit

der Anrede an die Muse, mit der vor allem die alten Epen

eröffnet wurden: »Ilias«, »Odyssee«, »Aeneis«, aber auch

Klopstocks »Messias« ruft als Muse die unsterbliche Seele an,

und Goethe, nun schon als Formel, im 9. Gesang von »Hermann

und Dorothea« nochmals die Musen. Solche Anrufe

wirken als feierliche Enthebung des Erzählten über den Alltag,

sie sind also eine Kraft, die sofort die Verwesentlichung zeigt.

Anders wieder wirkt die Anrede des Er-Erzählers an eine

Person seiner Dichtung. Damit entsteht eine menschliche

Atmosphäre, das Menschliche in der Dichtung wird damit

besonders berührt. In epischen Werken kann auch die Sachdarstellung

vorkommen. Das ist ohne weiteres in Gesprächen

möglich, aber neuerdings findet man solche Sachdarstellungen

als essayartige Betrachtungen oft in Romane eingefügt.

Wie sie sich hier als Glieder eines Kunstwerkes auswirken,

werden wir später noch darlegen. Das Schaffen einer rationalen

Atmosphäre in einem größeren epischen Werk kann

auch der Abwechslung dienen, als Gegengewicht gegen zu

starke Gefühlserregungen.



Natürlich ist im epischen Werk das sprachliche Bild die

Grundlage aller stilhaften Gestaltung. Vor allem spielen in

großen Epen die Gleichnisse, zu denen die Vergleichsform oft

ausgebildet wird, eine Rolle. Dadurch baut der Dichter eine

Welt um die Menschen auf. Welcher Art die Vergleichsbereiche

sind, ist für diese Welt wichtig. Die Menschen werden

so zu anderen als zu den augenblicklichen Weltbereichen

in Bezug gestellt. Auch die Symbole sind für die Epik bedeutsam.

Eindringliche, sich wiederholende Bilder wirken als

Symbole besonders an hervorgehobenen Stellen.

|#f0517 : 501|



Während das sprachliche Bild bis zu einem gewissen Grad

die epische Fortbewegung aufhebt, wird sie durch die Satzbewegung

besonders gefördert. Gerade hier können sich die

beiden Formen des breiten und des knappen Erzählens auswirken.

Wie entscheidend die Rededynamik für die epische

Gestaltung ist, erkennt man, wenn man besonders ausgeprägte

epische Kunstwerke vergleicht: so Homers Epen neben der

Art des altgermanischen Heldenliedes, oder die epische Art

Kleists neben der Stifters. Goethe ist als Epiker gekennzeichnet

durch die Ruhe trotz der Füllung des Vorgangs, G. Keller

dagegen füllt die große Bewegung mit kleinen und bewegten

Gliedern an, und während Goethe Meister des ruhigen Fortströmens

ist, konstruiert Th. Mann vielfach mit immer neuen

Ansätzen und aus immer neuen Gliedern einen Ablauf.



Entscheidend ist die Sprachkunst an den Schritten beteiligt,

die zu immer weiter gesteigerter Verwesentlichung führen.

Schon die Bilder, in denen die Wirklichkeit eingefangen

wird, und die Satzbewegung des stoßhaften immer wieder

ansetzenden Packens der Wirklichkeit oder der aus einer

errungenen geistigen Haltung enthobenen Gestaltung spielen

hier eine Rolle. Am deutlichsten ist aber der stilistische

Weg von der Prosa zu den Versen erkennbar. Der

Sinn des Weges von Prosa, natürlich sprachkünstlerischer

Prägung, zu den strengsten Versgebilden ist eindeutig die

Verwesentlichung: immer stärkeres Abheben von Alltagsbezug,

immer deutlicheres Emporheben in die allgemeinmenschlichen,

ewigen, gültigen Bereiche. Freilich gibt es da

verschiedene Möglichkeiten. Ein »Hyperion« steht auf dieser

Leiter viel höher als das Hexameterepos von Wildgans »Der

Kirbisch«. Die Prosa des Hyperion schafft einen starken

menschlichen, persönlichen Ton, aber Wortschatz und Satzbewegung

führen in hohe Bereiche hinauf: es ist eine Fülle der

Welt vom Allerpersönlichsten, das kaum die erhöhte Form

der Verse verträgt, bis zu den Höhen des Heiligen, Ewigen und

Gültigen, zu denen dieses Werk emporführt. Im »Kirbisch«

wird das unmittelbarste und alltäglichste Leben des kleinen

Mannes, des Dorfes gepackt, man bleibt in dieser Sphäre,

aber durch den Vers, und noch dazu durch den Hexameter, |#f0518 : 502|



wird diese Alltagswelt in ihrer Eigenart als wesenhaft gezeigt,

wird sie gleichsam ins Gültige, weil Dauernde gehoben.

Die Spannung ist größer zwischen den Tiefen des Gestalteten

und den Höhen des Gestaltens. Während im »Hyperion« ein

ständiger Übergang bis in die höchsten Höhen herrscht, liegt

im »Kirbisch«, der nur als Beispiel dient, ein Sprung vor, in

dem die niederen Bereiche sofort als solche in ihrer Wesenhaftigkeit

gestaltet sind.



Die beiden Formen des Erzählens, das breite und das

knappe, haben auch besonders vollkommene Versgestaltungen

ausgebildet: der Hexameter in der künstlerischen Eigenart,

die wir herausgearbeitet haben, ist wie geschaffen fürs breite

Erzählen (S. 199). Der altgermanische Stabreimvers in seiner

Verbindung von zwei Kurzversen, mit den vier starken Hebungen,

von denen drei noch durch den Stabreim gebunden

sind, die die Sinnträger besonders betonen, und mit der freien

Senkungsfüllung, ist besonders geeignet für das Schreiten von

Höhe zu Höhe, für das Sprunghafte, also für das knappe Erzählen.

Zwischen ihnen als den Grenzformen stehen der Alexandriner,

der Blankvers, die Stanze, der Viertakter der ritterlichen

Epen und die Nibelungenstrophe als die bekanntesten

epischen Versmaße. Die rhythmischen und metrischen Eigenarten

solcher Formen müßten erst noch mit den epischen Aufbaugesetzlichkeiten

der einzelnen Dichtungen verglichen

werden. Eine weitere Frage wäre die: ist das moderne Menschenbild

noch mit den großepischen Versformen zu gestalten

oder bestehen hier schon unerträgliche Spannungen?

Wären also auch diese Spannungen ein Grund für das Zurücktreten

des Epos und das Vorherrschen des Romans?



Verwesentlichung



Schon die Versgestaltung hebt das Erzählte in höhere Bereiche,

ins Wesenhafte und Gültige. Aber auch die Symbole

tragen dazu bei. Das Entscheidende über den Sinn und die

Bedeutung der Symbolik in der Dichtung ist schon gesagt

worden (S. 268─273). Hier ist mit Bezug auf die Epik nochmals

zu betonen, daß Symbole vielfach hinter dem erzählten |#f0519 : 503|



Vorgang einen tieferen Sinn eröffnen, so daß er dadurch auf

höhere Ebene gehoben, in wesenhaftere Beleuchtung gerückt

wird; daß ferner Symbole gerade im Fortlauf des Erzählens

der Gliederung dienen können, indem sie bedeutsame Stellen

herausheben. Zugleich wirken sich die Symbole im breiten

und im knappen Erzählen verschieden aus. In den breiten

Formen verbinden sie die Teile und erzeugen so den Eindruck

des Zusammenhangs und einer Gesamtbewegung, so die

vielen Bildungssymbole im »Nachsommer« und die Waldrose

im »Witiko«. In der knappen Epik ermöglichen Symbole die

Verdichtung in knappste Gestaltung, die doch das Tiefere, das

Hintergründige ahnen läßt: das Spiel des armen Spielmanns

bei Grillparzer, die fremden Gestalten im »Tod in Venedig«,

der Schleier in der Novelle von E. Strauß.



Auch die dichterische Weltauffassung gibt der erzählenden

Dichtung die Vertiefung auf letzte und höchste Gehalte. Im

Ernst oder in der Heiterkeit solcher Weltauffassung erhält das

Weltbild der Epik das Menschliche, zugleich aber die Lebensbedeutsamkeit.

Damit sind die Fragen von Tragik, Komik

und Humor in der Epik angeschnitten. Ursprünglich liegt

breitem epischem Weltgestalten durchgehende Tragik nicht,

was tragische Einzelepisoden nicht ausschließt. Aber das

Weltbild breiter Epik ist zu umfassend, als daß es zu reinen

Erschütterungen endgültiger Art kommen könnte. Erst im

19. Jahrhundert bricht auch in solcher Epik tragische Grundhaltung

durch. Aber sie unterscheidet sich von der im Drama.

Denn gemäß der epischen Grundhaltung und dem breiten

Erzählen kommt es hier auf die Erschütterung an, die durch

die gesamten Seinsmächte, in die menschliches Handeln eingefügt

ist, erstehen, am eindrucksvollsten in Goethes »Wahlverwandtschaften«.

Hier erscheint uns die absolute Widersprüchlichkeit

der Welt unauflösbar: die Unbedingtheit der

Liebe als einer Naturmacht und die Unbedingtheit menschlicher

Sittlichkeit als Grundlage jeglicher Menschengemeinschaft,

die damit selber wieder in den höheren Naturbereich

steigt, führen zu einer höchsten Gegensätzlichkeit, die nicht

mehr überwölbbar ist. Auch in der ersten Fassung des

»Grünen Heinrich« und im »Dr. Faustus« haben wir es mit |#f0520 : 504|



solchen tragischen Dichtungen großen Ausmaßes zu tun.

Aber es bleibt doch die Frage, ob gerade die Großepik nicht

gemäß ihrer Art immer auch Bereiche öffnet, durch die eine

Lösung der Tragik, ein Hindurchschreiten zu höheren Ebenen

möglich wird. Anders in der knappen Epik. Hier zeigen vor

allem das altgermanische Heldenlied, die Ballade und die

Novelle, vor allem die Kleists, echte Tragik: das Herausarbeiten

von Vorgängen und Situationen, in denen sich ein

Abgrund auftut, der tiefste und echte Erschütterung auslöst.

Damit öffnen auch sie Blicke ins Wesenhafte, hier von der

düsteren Seite.



Das geistreiche Bewältigen der widersprüchlichen Welt in

der Komik und in der Gestaltung des Grotesken ist als Gesamthaltung

der breiten Epik selten anzutreffen. Denn beide

Haltungen wirken sich mehr in scharf umgrenzten Lagen und

Handlungen aus, weniger in breiten Entfaltungen, die ihnen

sofort etwas von ihrer Schärfe nehmen müßten. Daher sind

sie wohl in Teilen, in Episoden großepischer Werke durchaus

möglich. Aber eine ganze große, in allen Bereichen entfaltete

Welt als lächerlich oder grotesk zu erleben und zu gestalten,

geht wohl über menschliche Möglichkeit hinaus ─ oder: man

verzichtet auf großepische Gestaltung. In der knappen Erzählung

dagegen sind gerade solche Haltungen besonders

möglich und wirksam. Man denke an Boccaccios Novellen,

an die von E. T. A. Hoffmann und endlich daran, daß das

Groteske besonders in der modernen Kurzgeschichte sich auswirken

kann. Dagegen ist nun der Humor eine menschliche

Grundhaltung, die der breiten Epik besonders liegt. Denn im

Humor erkennt der Mensch zwar die Bedingtheit alles Endlichen

durch das Unendliche, und damit die Unzulänglichkeit

des Menschen, aber er erhebt sich eben durch den Glauben an

etwas Höheres über diese Unzulänglichkeiten, duldet und belächelt

sie, gerade auch dann, wenn der Mensch einmal durch

alle Tiefen der Erschütterung hat durchgehen müssen. So

kommt es zum freien, umfassenden und großen Weltbild.

Die großen Humoristen der Weltliteratur sind Epiker, die

besonders die breite Form des Erzählens pflegen: Cervantes,

Fielding, Dickens, Jean Paul, Raabe, Kurt Kluge.

|#f0521 : 505|



Auch das epische Werk muß als Dichtung eine Ganzheit

bilden. Diese Ganzheit ist schon durch das Weltbild gegeben,

vor allem aber durch die künstlerische Gestaltung. Hier

ergeben sich allerhand Fragen besonders für die breite Epik

und vor allem für den modernen Roman. Die allgemeinen

Grundlagen für die Ganzheit des dichterischen Werks sind

bereits ausführlich besprochen worden. Die Einzelheiten, soweit

sie die epische Dichtung betreffen, werden besser bei den

einzelnen epischen Arten betrachtet.



Die epischen Arten



Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung zeigt eine

Fülle epischer Arten. Wir fassen sie alle unter dem Namen

Epik zusammen, müssen aber daran erinnern, daß das Wort

»episch« auch ─ mit Staiger ─ eine Grundhaltung des dichterisch

schaffenden Menschen bezeichnet, nämlich das Zuschauen:

vom Ufer der Gegenwart auf den Strom des Vergänglichen.

Die sprachgebundene Tätigkeit, die aller epischen

Dichtung zugrunde liegt, ist das Erzählen als eine Urform

sprachkünstlerischen Schaffens mit den drei notwendigen

Seiten des Erzählers, des Zuhörers und des »erzählten«

Gegenstandes.



Es ist eine Tatsache, daß sich die epischen Arten in der geschichtlichen

Wirklichkeit entfalten. Man denke an die Wirkung

der homerischen Epen, an die Vorbildhaftigkeit Vergils

im ganzen Mittelalter, an den Weg vom altgermanischen

Heldenlied zum mittelalterlichen Buchepos, an die Entwicklung

der deutschen Ballade seit Bürger und Herder, der europäischen

Novelle seit Boccaccio, an ihre deutsche Sonderform

im 19. Jahrhundert und an die Rückbesinnung auf die

strenge Form im 20. Jahrhundert, endlich an die Geschichte

des Romans, besonders seine Ausbildung im England des

18. Jahrhunderts und an die neuen Versuche des 20. Jahrhunderts.





Antriebe zu einer geschichtlichen Entfaltung sind: 1. Die

Polarität zwischen persönlichem Schöpfertum und Tradition. |#f0522 : 506|



Daraus zum Beispiel hat sich die Eigenform des Goetheschen

»Werther« ergeben. 2. Dichterische Hochleistungen schaffen

eine neue Tradition, wie man besonders an der Bedeutung der

italienischen Renaissance-Novelle erkennt. 3. Die Entfaltung

der kulturellen Möglichkeiten, die Ausdifferenzierung des

Gefühlslebens durch die vielen Reaktionen auf die Mannigfaltigkeit

der Technik, der Politik wirkt sich auch auf die

dichterischen Formen aus. 4. Die Verschiebungen in der

Kulturstruktur erwirken z. B. auch den Übergang vom Epos

zum Roman. Dieser hängt mit dem Überhandnehmen des

Individualismus zusammen: das führte zu einer Wandlung

des menschlichen Bewußtseins im Zusammenhang mit der

Verwandlung unserer Realität und damit zu einer fortschreitenden

Verinnerung: das Schwergewicht des Erzählten verlagert

sich immer mehr aus einem Außenraum in einen

Innenraum. Während so im 19. Jahrhundert die Arten eher

fest werden und dann erstarren, zerbrechen sie im 20. Jahrhundert

unter dem sich immer rascher ändernden Verhältnis

von Mensch und Welt; dieses Zerbrechen führt dann zu

einem Suchen nach neuen Formen.



So bleiben im großen und ganzen die Gattungen in der geschichtlichen

Entwicklung erhalten, die Arten aber ändern

sich sehr: alte sterben ab, neue entwickeln sich. Die dichterischen

Grundhaltungen und die sich daraus in der geschichtlichen

Wirklichkeit herausbildenden Typen bleiben als grundlegende

Formen und Züge erhalten, aber die einen können im

Lauf der Entwicklung zurücktreten, andere vordrängen,

manche Zeiten sind der einen Haltung und dem einen Typus

günstig, manche wieder anderen.



Wenn im folgenden Überblick eine Art Einteilung der

epischen Arten zugleich vorgelegt wird, so bedeutet solche

Einteilung nie eine Norm, sondern sie soll Grundlagen schaffen

für allgemeine Einsichten ins Dichterische, Sicherheit und

Klarheit im Betrachten einzelner Dichtungen und im Blick

auf die geschichtlichen Wandlungen geben. Die Grundsätze,

nach denen man solche Einteilungen treffen kann, sind genau

wie bei der Lyrik und der Dramatik verschieden. Man muß

sich auf alle Fälle hüten, die Grenzen zwischen den einzelnen |#f0523 : 507|



Arten zu scharf zu ziehen, da man sonst geschichtliche Entwicklungen

und Differenzierungen vergewaltigt. Man sollte

mehr an Mittelpunkte mit Ausstrahlungen und Überschneidungen

denken. Die künstlerische Gestaltung muß dabei

als Einteilungsgrund vorherrschen, inhaltliche Einteilungen

(Abenteuerroman, Gespensterballade usw.) sind uferlos und

künstlerisch unwesentlich. Am umfassendsten scheint die Einteilung

in Kurzepik und Großepik zu sein. Sie fußt auf den

beiden Formen des knappen und des breiten Erzählens und

wirkt sich vom Sprachgebilde bis zu den letzten Zusammenhängen

des Aufbaus aus, scheidet also auch verschieden gestaltete

Weltbilder.



Kurzepik



Sie erwächst aus dem knappen, aufgeregten Erzählen. Die

Ereignisse ballen sich, man kann geradezu von Schicksalsballung

sprechen. Solches Erzählen springt von Höhe zu

Höhe oder führt über starke Steigerungen. Daher arbeitet es

mit Spannung. Darin ruhen auch die vielfach engen Beziehungen

zur dramatischen Kunst, zumal ja solche Ballung

Klüfte und Spaltungen eher aufreißt als breites Erzählen.

Doch kann man innerhalb der Kurzepik neben strengen Formen

auch lockerere finden, die freier in der Anlage sind und

die Gefahren schroffer Gestaltung glätten. Die Scheidung von

Vers- und Prosadichtung innerhalb der Kurzepik ist sekundär.

In früheren Zeiten herrschte die Versdichtung, heute die

Prosadichtung vor. Die Strukturgrundsätze sind innerhalb des

knappen Erzählens durchaus ähnlich, nur gestaltet Versdichtung

noch mehr über den Alltag hinaus ins Wesenhafte. Zu

den strengen Formen der Kurzepik zählen wir im Rahmen der

Versdichtung das altgermanische Heldenlied, die Ballade, im

Rahmen der Prosadichtung die Novelle, die Anekdote und

die Kurzgeschichte.



Das altgermanische Heldenlied ist ein geschichtliches Gebilde.

Aber so einzigartig, daß es einen Typus für sich darstellt. Es

ist aber durchaus möglich, daß wir in ihm nur einen geschichtlichen

Vertreter greifen, andere Erscheinungsformen uns

nicht erhalten sind. Geschichtliches gibt dem Heldenlied |#f0524 : 508|



ebenso wie Mythos und Religion zwar Anregung, tritt selbst

aber zurück: einzelmenschliches Schicksal steht im Vordergrund.

Der Held bleibt im Untergang aufrecht. Es ist Adelsdichtung,

nicht Volksdichtung. Das knappe Erzählen, das von

Höhepunkt zu Höhepunkt schreitet, führt zur Verdichtung

in einzelne Szenen mit wenig Personen. In den Szenen herrscht

Gespräch vor, das aber die Handlung nicht untermalt, sondern

geradezu vorwärtstreibt; das Gespräch ist eine Art der

Handlungsdarstellung. So entstehen oft Redelieder, in denen

Erzählzeit und erzählte Zeit beinahe zusammenfallen. Der

Langvers, aus zwei Kurzversen verbunden, ist durch vier

Haupthebungen gegliedert, die auf die Sinnträger fallen. Drei

davon sind durch Stabreim verbunden. Die Senkungen sind

frei, so daß eine scharfe, heftige und reiche rhythmische Bewegung

entsteht. Ursprünglich fallen Zeile und Satz zusammen,

später greifen die Sätze oft über das Versende noch hinaus,

es entsteht der sogenannte Hakenstil. Manchmal, so besonders

in den nordgermanischen Heldenliedern, kommt es zu

Strophenbildung: meist schließen sich zwei Langverse da

enger zusammen. Der sprachliche Schmuck besteht aus ganz

bestimmten Zügen: feste Beiworte, kühne Bilder, die jeweils

den Menschen oder Gegenstand in einen ganz anderen Bereich

einordnen, etwa »Kampfbaum« für Held, und Abwandlungen

der Bilder, indem der Sachverhalt eben zweimal in ein

Bild verdichtet wird, damit um so eindringlicher wirkt. So

im Hildebrandslied: »die Rüstung gewinnen, Raub erringen«.



Manche Heldenlieder könnte man geradezu als Balladen

bezeichnen. Das Wort stammt aus dem Romanischen, wo es

ein Tanzlied meint. In England aber wendet man den Namen

auf volkstümlich-epische Lieder an. Berühmt und anregend

wurde Percys Sammlung »Relics of Ancient English Poetry«

(1763). Aber heute wissen wir, daß es schon im Mittelalter

Balladen gab, und zwar in Fortbildung der altgermanischen

Heldenlieder. Von der englischen Ballade geht einmal die

Volksballade aus, die durch die Sammlungen Herders und

der Romantiker wieder verbreitet wurde. Sie heißt so aus demselben

Grund, aus dem wir in der Lyrik von Volksliedern

sprachen. Dann auch die Kunstballade, eine bewußte künstlerische |#f0525 : 509|



Schöpfung; Bürger ist der erste deutsche Dichter,

dann folgen rasch Goethe, Schiller und die Romantiker. Sie ist

bis heute lebendig, wie die Namen Lulu von Strauß und

Torney, Börries von Münchhausen, Ginzkey und Agnes

Miegel beweisen. Die Ballade ist also noch nicht museal. Sie

beweist geradezu die Lebendigkeit und die Lebensmöglichkeit

der versepischen Dichtung.



Auch sie ist trotz der Weite der Möglichkeiten ─ man

vergleiche Schillers Balladen mit Goethes frühen Balladen

»Der Erlkönig« und »Der Fischer« ─ durch die Merkmale des

knappen Erzählens gekennzeichnet: es ist eine ausgesprochen

strenge, bewußte Kunst; die Verse schließen sich zu Strophen

zusammen, es werden Höhen zu Szenen mit viel Gespräch

verdichtet, alle Füllung wird aufs knappste zusammengedrängt.

Im »Erlkönig« genügt nach einer kurzen, aber wirkungsvollen

Einführung das bloße Reden der Personen in

Schlag und Gegenschlag und mit banger Steigerung. Am

Schluß führt der Dichter in wenigen Strichen zu Ende. Aus

dieser Form wohl ergibt es sich, daß der Gehalt erregend ist,

besser wohl, daß das Geschehen eben zu einem erregenden

geformt wird. Diese Erregung liegt besonders dem Düsteren,

Tragischen oder dem Grotesken und dann auch dem Komischen.

Humor, Heiterkeit, Idyllisches sind solcher Gestaltung

fern.



Mit der fest umrissenen Form hängt auch der Bezug der

Ballade zu Dramatik und Lyrik zusammen. Man findet sie

sowohl unter die eine als auch unter die andere Gattung eingereiht.

Der typische Balladenaufbau läßt Urgespaltenheit und

Spannung auf ein Ende hin heraustreten. Damit gewinnt die

Ballade dramatisches Leben; in der Gesprächsführung werden

die Einzelpersonen greifbar, sie stellen sich beinahe wie im

Drama dar. Vielfach spürt man der Ballade die ausgesprochene

Ergriffenheit des Dichters, besser des epischen Erzählers

an. So deutlich im »Erlkönig« und im »Fischer«, und man

könnte vielleicht manchmal zweifeln, ob es dem Dichter

darauf ankam, die innere Ergriffenheit an einem Geschehen

herauszustellen oder das Geschehen ergriffen und erregt zu

erzählen. Im ersten Fall liegt der Weg zur Lyrik frei. Aber die |#f0526 : 510|



Ballade ist weder Verrat an der Lyrik noch an der Fiktion, sie

ist keine dekadente Mischform. Denn Mischformen müssen

auf keinen Fall Entartung sein. Nur wenn man das Geschehen

als Erlebnisfeld des Dichters sieht, und zwar als Zusammenhang

mit der außerdichterischen Wirklichkeit, und nicht als

nur im dichterischen Raum sich vollziehenden Vorgang, tritt

eine scharfe Trennung ein. Wir haben aber bereits erkannt,

daß auch Lyrik eine Welt im Sprachraum aufbaut und alle

außersprachliche Wirklichkeit unwesentlich wird. Gerade

an der Ballade spüren wir die Freiheit des dichterischen

Schöpfers, ein Geschehen entweder ergriffen zu erzählen oder

zum Anlaß dichterischen Ausdrucks persönlicher Ergriffenheit

zu machen. Danach würden wir Lyrik von Epik trennen.

Die Ballade bleibt am besten als wenn auch noch so miterlebendes

Erzählen doch im Raum des Epischen, zumal wenn wir sie

als ein typisches dichterisches Gebilde herausstellen.



Vielfach nennen Dichter ihre Balladen auch Romanzen. Vom

Typischen der Erzählhaltung her gesehen kann man heute

keinen Unterschied mehr feststellen. Auch der, daß die

Romanze nicht so düster sei, ist nicht stichhaltig, weil die

Bezeichnungen, die Dichter ihren strengen versepischen

Gedichten geben, dem oft widersprechen. Bürger, Goethe,

Schiller, Uhland und Fontane machen keinen Unterschied.

Geschichtlich allerdings führt die Romanze unmittelbar in den

spanischen Bereich zurück. Dort heißen so die kurzen, sprunghaften,

volksliedmäßigen Erzähllieder vom 14. bis 17. Jahrhundert.

Es entfalten sich daraus zwei Sproßformen: die Veredlung

des Bänkelsangs durch Gleim, während B. Brecht bewußt

wieder zu dieser Form des Bänkelsangs zurückkehrt.

Das ist eine Frage der inneren Haltung des Dichters. Die andere

Sproßform ist der Rückgriff auf die echte spanische Romanze

durch Herder. Daraus entfaltet sich dann die Art des Romanzenzyklus,

von dem wir später sprechen.



Manche von den englischen Dramatic Monologues und

entsprechenden Gedichten C. F. Meyers, von denen wir schon

bei der Lyrik (S. 422─424) gesprochen haben, könnten auch zu

den Balladen gerechnet werden. Es ist ja immer in solchen Gedichten

ein Ereignis in der Seele und Darstellung der sprechenden |#f0527 : 511|



Person gespiegelt. Herrscht nun nicht die Spiegelung, die

persönliche Ergriffenheit in der Gestaltung vor, sondern rollt

vor uns in dieser Darstellung durch die redende Person das

Geschehen, allerdings geformt und bestimmt durch deren

Ergriffenheit davon, mit aller Eindrücklichkeit ab, so rückt

damit das Gedicht ins Epische herüber, ordnet sich ein in den

Typus der Ballade. Vielfach sind ja diese »Monologe« eigentlich

aus Zwiegesprächen hervorgegangen; ein (morphologischer,

nicht historischer) Rest ist ja die Tatsache, daß die Personen

in solchen Gedichten immer zu jemandem Bestimmten

sprechen, der nur vor Mitgerissenheit nicht zu Worte kommt.

Das ist besonders deutlich in Brownings Gedicht »My last

duchess«.



Im Bereich der Prosa ist die bedeutendste Art der strengen

Kurzepik die Novelle. Freilich ist ihr Wesen schwer zu bestimmen,

weil hier geschichtliche Entwicklungen stark

hereinspielen. Aber gerade dadurch ist die Novelle zu einer

der bedeutendsten und interessantesten epischen Arten geworden.

Das Wort hatte ursprünglich eine juristische Bedeutung:

Änderungen an Gesetzen. Erst in der Renaissance

wird es zu einem literarischen Begriff. Von vornherein steht

kein fester Typus am Anfang der Novellengeschichte; so

konnten sich die Novellen in reichster Weise entfalten, vielfach

scheint ein Gemeinsames kaum vorhanden zu sein, aber

es ist doch merkwürdig, daß der Name mit ziemlicher Sicherheit

jeweils gesetzt wird. Nur die Theorie hat früh schon,

nämlich zu Zeiten Boccaccios, Forderungen an Novellendichter

gestellt. In Deutschland bemühen sich dann neben

Goethe die Brüder Schlegel um die Theorie. Bekannt wurde

weiter auch Heyses Falkentheorie nach der Falkennovelle

Boccaccios: daß die Novelle in einem einzigen Kreise einen

einzigen Konflikt zu gestalten habe. Heute kann man zwei

theoretische Richtungen beobachten: Dichter vor allem

suchen wieder zur strengen Kunstform vorzustoßen: so Paul

Ernst und Thomas Mann. Theoretiker und Historiker lehnen

eine Art oder einen Typus »Novelle« manchmal ab (W. Pabst)

und betonen, es gebe keine Novelle, nur Novellen. Andere

verwässern den Begriff völlig, wenn sie sagen, Novellen seien |#f0528 : 512|



einfach kürzere Erzählungen. Man spürt aber doch, daß irgendein

Idealtypus zugrunde liegt. Wenn man ihn von einem bestimmten

geschichtlichen Bestand aus bestimmen will, wird

das einseitig. Nur so ist es möglich, daß man auch behauptet,

im 20. Jahrhundert sei die Novelle von anderen Arten abgelöst

worden. Solche können sich neu gebildet haben, können

hinzugetreten sein.



Man kommt dem Wesen, so vorsichtig es umgriffen sein

muß, näher, wenn man es mit anderen Arten vergleicht. Man

kann sagen, daß der Roman eine große Entwicklung darstellt,

reich entfaltete Vorgänge gestaltet und formal eine große

Mannigfaltigkeit aufweist, während die Novelle ein bestimmtes

Geschehnis in geschlossener Form gestaltet. Genauer

müßte man sagen: daß sie einen Vorgang, der an sich breit

und lang sein könnte, in der Darstellung zu einem dichten

Geschehnis zusammenzieht. Darum ist der »Grüne Heinrich«

ein Roman, obwohl er nicht das ganze Leben der Hauptfigur

darstellt, und ist der »Schimmelreiter« eine Novelle, obwohl

das ganze Leben Hauke Haiens erzählt wird, aber als ein

geschlossenes Geschehnis, als eine bestimmt umgrenzbare

Phase des menschlichen Kampfes mit dem Meer, erwachsen

aus einem Aperçu, wie Goethe sagen würde, nämlich der

neuen Deichform und dem Willensakt, sie zu verwirklichen.

Mit dem Drama hat die Novelle die strenge Form, damit die

Herausarbeitung des Wesentlichen gemeinsam. Wir erkennen

hier wieder den Zusammenhang der Kurzepik mit dem Drama:

Knappe Formung gestaltet Vorgänge immer wieder in

bestimmter Weise: sprunghaft, szenisch; damit treten Gegensätze

hervor, denn gerade sie lassen sich in solcher Gestalt

besonders einprägsam herausarbeiten. Spannung wird wach.

Damit nähern wir uns einem Weltbild, das vor allem die

Polarität und Gespanntheit der Welt hervorkehrt. All das sind

Züge, die auch dem Dramatischen eignen.



So lösen sich aus dieser Besinnung schon gewisse Züge

heraus: Konzentration der Geschehnisdarstellung, Herausarbeitung

von entscheidenden Situationen, Gruppierung des

Ganzen um ein zentrales Ereignis. Es gibt ein novellistisches

Erzählen: Verdichtung einer einzelnen Begebenheit in einer |#f0529 : 513|



strengen Form. Schon in der Renaissance spricht man von

Novellieren, wenn es auch ursprünglich tief eingestuft wurde.

Man verstand darunter unterhaltendes und pointenhaftes Erzählen.

Aber gerade darin liegt ein Merkmal, das Novellen

von anderen Erzählungen eben doch unterscheidet: es muß

gut und geistreich erzählt werden. Damit ist angedeutet,

daß die Novelle bewußte künstlerische Gestaltung zeigen soll,

daß sie sich, um eben eine Pointe zu ermöglichen, auf knappe

Ereignisse, auffällige Situationen und Geschehnisse einzustellen

hat. Faßt man das alles zusammen, so kann man doch

allgemeine Züge dieser Erzählart festlegen, die nicht bloß

historisch bedingt, und damit begrenzt sind, sondern die eine

bestimmte Art des Erzählens umreißen. So ergeben sich zwei

Kennzeichen: die bewußte und betonte künstlerische Gestaltung

und die Steigerung auf eine Höhe hin. Das knappe

Erzählen ist damit von selbst gegeben. Natürlich darf der

Begriff »knapp« im Laufe der Novellenentwicklung und in

bezug auf den Novellentypus nur relativ genommen werden.

Hier kommt es auf die Art des Dichters an. Kleist und C. F.

Meyer haben an sich eine knappere künstlerische Darstellungsweise

als G. Keller, Stifter und Th. Mann. Daher werden

Novellen dieser drei im Vergleich zu denen der anderen viel

breiter sein. Aber im Vergleich zu ihren Romanen wird man

erkennen, daß auch sie in ihren Novellen künstlerisch geschlossene,

auf eine Höhe sich hinsteigernde Gebilde schaffen,

die etwas als einmaliges Ereignis herausarbeiten. In den »Drei

gerechten Kammachern« ist die Geschlossenheit durch die

Doppelgängerei erreicht und durch den Vorschlag des Meisters

zum Wettlauf, der denn auch die Höhe der Novelle

bildet, das, worauf es ankommt. Stifter stellt »Brigitta« in

einen klaren Rahmen, schafft durch die Erzählweise eine geschlossene,

ineinander geschichtete Einheit, die im langsamen

seelischen Reifwerden zu neuer und dauernder Verbundenheit

das Einmalige herausstellt und in der Versöhnung die

Höhe erreicht, auf die die ganze Bewegung hinzielt. Im

»Tonio Kröger« hat Th. Mann scheinbar ein Leben gestaltet.

Aber es ist als Ereignis gesehen: als das Reifen zu einem entsagungsvollen

Entschluß aus anfänglichem Schwanken und |#f0530 : 514|



Ausweichen. Die Höhe bildet der Heimatbesuch, der selber

wieder novellistisch aufgebaut ist mit der Schlußsteigerung

im dänischen Badeort. Der Brief an Lisaweta ist der deutliche

Abschluß, der Durchbruch zum Opfer des Künstlerdaseins.

Das sind nur angedeutete Beispiele, die zeigen sollen, daß

nicht die äußere Länge maßgebend ist, sondern die bewußt

geschlossene und einheitliche Gestaltung mit einer Steigerung

zu einer Höhe, in der sich der tiefere Sinn des Ganzen,

das erzählt wird, offenbart.



Zu der betonten künstlerischen Gestaltung gehört vielfach

der Rahmen. Er ist kein allgemeiner Zug der Novellenkunst,

aber er findet sich sehr häufig. Formen und Funktionen des

Rahmens sind sehr mannigfaltig. Die Formen lassen sich im

allgemeinen auf vier Arten zurückführen: entweder wird nur

eine Art Einführung oder Einstimmung gegeben, so daß mehr

ein stimmungsmäßiger Untergrund entsteht. Oder es wird

um mehrere Novellen ein Rahmen gelegt, wie das am bekanntesten

in Boccaccios »Decamerone« der Fall ist. Oder es erhält

nur eine Novelle einen Rahmen, wie häufig bei C. F. Meyer

oder Th. Storm. Endlich gibt es eine Zwiebeltechnik, wo

mehrere Novellen ineinandergelegt sind und je die äußere

zugleich den Rahmen für die innere bildet. E. T. A. Hoffmanns

»Fräulein von Scudéri« wird von Sebastian den Serapionsbrüdern

erzählt; eingebaut ist der lange Lebensbericht

Olivier Brussons, der an einer Stelle Cardillacs Dasein mit

dessen eigenen Worten einschaltet. Wesentlich ist aber der

Bezug, in dem der Rahmen zu der Binnenerzählung steht.

Handelt es sich nur um eine Novelle, um die ein Rahmen gelegt

ist, so ist der Bezug meist einfach: eine Person, die im

Rahmen vorkommt, erzählt in der Binnennovelle eine Geschichte.

Viel mannigfaltiger ist der Bezug, wenn der Rahmen

mehrere Novellen umfaßt. Man kann da die Möglichkeiten

an der Rahmenkunst G. Kellers geschlossen überblikken.

Es wird nur eine einstimmende Einführung gegeben,

wie Keller das in der Einleitung zu den »Leuten von Seldwyla«

tut: er beschreibt die Stadt und ihre Einwohner und schafft

somit den Lebensraum für die Binnenerzählungen. Es braucht

keinen Abschluß. Der Rahmen selber gibt den Anlaß für die |#f0531 : 515|



Binnenerzählungen, so bei Boccaccio, bei Margarete von

Navarra, bei Goethe. Dabei kann er selbst schon eine kleine

Geschichte werden: die ersten drei »Zürcher Novellen« Kellers

werden in einen Rahmen gebracht, der selbst eine Novelle

sein könnte: wie ein alter Onkel seinen Neffen von der

Originalitätssucht durch Darbietung wirklicher Originale

heilt. Die vollendetste Form bieten »Der Landvogt von Greifensee«

und »Das Sinngedicht«: Hier ist der Rahmen die

Novelle, auf die es ankommt; in sie werden die anderen sinnvoll

eingefügt.



Damit ergibt sich nun die Frage, welchen Sinn solche Rahmung

hat. Der Rahmen kann am einfachsten und äußerlichsten

nur den Zweck angeben, warum eine Binnennovelle erzählt

wird. Er kann aber auch die Binnenerzählung begründen: im

»Schimmelreiter« hat der Reiter am Anfang die unheimliche

Erscheinung gehabt, und sie begründet, warum ihm nun ein

anderer die Geschichte dieser Erscheinung erzählt. Der Rahmen

kann in einem bestimmten Bezug zur dichterischen oder

außerdichterischen Wirklichkeit stehen. Es kann sein, daß

der Dichter gleichsam aus dem Rahmen hinaus zu einem Kreis

von Zuhörern spricht, tatsächlich zu den Lesern der Dichtung.

Das wird deutlich in den »Novelas ejemplares« des Cervantes.

Man kann das auch eine offene Form oder einen Dialog nach

außen nennen (Pabst). Wenn aber der Rahmen eine rein in

dieser Dichtung bestehende Gesellschaft gestaltet, innerhalb

deren erzählt wird, wie bei Boccaccio, Goethe, in den »Serapionsbrüdern«

oder in den beiden vollendeten Rahmenerzählungen

Kellers, dann bleibt der Kreis geschlossen, es wird

nach innen erzählt. Daß dann doch wieder Leser diese Dichtung

zu lesen oder hören bekommen, daß sie ihnen also doch

wieder vorerzählt wird, erhöht den Reiz solcher Gestaltung.

Der Rahmen kann der Distanzierung dienen: man rückt die

Binnenerzählung von der Außenwelt ab und fügt sie in

einen eigenen Raum ein. Man kann diese Distanzierung auch

als eine Art Erinnerung bezeichnen. Viele der Binnenerzählungen

werden aus der Erinnerung früherer Erlebnisse erzählt.

Eine Erzählschicht wird da neu in eine andere eingefügt.

Diese Erzählungen aus früheren Zeitschichten können aber |#f0532 : 516|



auch unmittelbar in das Geschehen der umrahmenden Handlung

eingreifen, wie das besonders deutlich im »Sinngedicht«

der Fall ist; hier handelt es sich weder um Distanzierung noch

um Erinnerung, sondern um die Beleuchtung eines Zusammenhangs

von anderer Seite, um Motivenverdichtung. Der

Rahmen kann aber auch der Ernüchterung dienen: wenn

etwa märchenhafte und phantastische Binnenerzählungen in

einen ganz alltäglichen Zusammenhang eingebaut werden,

wie das Cervantes mit seinen »Novelas ejemplares« tut. Damit

wird eine Weltspannung lebendig, solche Formung dient

also der Beleuchtung eines besonderen Weltbildes, das im

Hintergrund sichtbar wird. Man hat auch versucht, dieses

Weltbildhafte noch stärker aus der Rahmentechnik herauszulesen.

In den Rahmenerzählungen Boccaccios und Goethes

soll im Rahmen das Chaos, die Ungeordnetheit und Rätselhaftigkeit

der Welt gestaltet sein, während die Binnenerzählungen

die Ordnung schaffen (Lockemann). Diese Formel

geht aber nicht überall auf oder wirkt oft gezwungen. Manchmal

kann auch gerade das Gegenteil gestaltet sein, wie vor

allem eindringlich in der »Schwarzen Spinne«, wo die Rahmenerzählung

die ruhige und sichere Ordnung einer gottvertrauenden

und frommen Gemeinschaft gestaltet, die Binnenerzählung

aber den Durchbruch unheimlicher und dämonischer

Kräfte lebendig macht. Der eigentliche künstlerische Sinn des

Rahmens ist die Geschlossenheit und Verdichtung des Kunstwerks.

Er schließt die Binnennovelle als Gebilde für sich deutlich

von allen anderen Bezügen ab und gibt ihr so die vollkommene

innere Ganzheit. Er kann aber auch dadurch, daß

frühere Vorgänge nicht einfach vorangestellt werden, sondern

in ein Ganzes eingefügt sind, diese Vorgänge gegenseitig

spiegeln; durch diese Spiegelung und durch die Einfügung

einer Zeitschicht in eine andere verdichtet sich das Kunstwerk

zu unerhörter Geschlossenheit. So werden die ineinander geschobenen

Schichten in ihrer Eigenart und Bedeutsamkeit

erst recht lebendig. Der Rahmen ist also ein rein künstlerisches

Prinzip, der der Novelle vor allem ihre bewußte, kunstvolle

Form gibt. Er scheint auch nicht unbedingt aus der Gesellschaftskultur

der frühen Renaissance entstanden zu sein.

|#f0533 : 517|



Die vielfachen Möglichkeiten novellenhaften Gestaltens

erklären auch die reiche Entfaltung dieser Art. Ursprünglich

mehr der Belehrung dienend, wird sie bald reine Unterhaltungskunst

allerdings geistiger und vornehmer Prägung. Dann

wirken in der weiteren Entwicklung auch immer wieder

andere Erzählformen herein, das Märchen, die Sage, die Legende,

die Anekdote usw. Mit ihnen hat sich das »Novellieren«

künstlerisch immer wieder auseinanderzusetzen. In

den romanischen Ländern wird die Novelle zunächst ein

pointierter Erzählbericht mit überraschender Wendung als

Höhe. Während in den romanischen Ländern im 19. Jahrhundert

die Novelle stark ins Psychologische geht, entwickelt

sie sich in gleicher Zeit in Deutschland in anderer Richtung:

sie wird in ihren Umrissen erweitert und des gesellschaftlichen

Charakters entkleidet. Die strenge Form bleibt, aber die

seelische Problematik wird vertieft, es entsteht die Persönlichkeitsnovelle,

die im einmaligen und auffälligen Vorgang

zugleich in die Tiefen eines Menschen lotet.



Neben der Novelle entwickeln sich im Lauf der Zeit noch

andere Formen knappen Erzählens mit strengem oder mindestens

betontem Aufbau. Die Anekdote stellt im Wesen beinahe

eine einfache Form dar: eine Äußerung wird sprachlich

geformt, die eine Persönlichkeit scharf charakterisiert. Wird

diese Äußerung erzählerisch gestaltet, so haben wir die Kunstform,

die uns geläufig ist. Sie begegnet uns als besonders

pointierte, witzige Kurzgeschichte, in der italienischen Renaissance

als Facetie, von Poggio in die Weltliteratur eingeführt.

Der Humanismus pflegt diese Form besonders. Zur

hohen Kunst entfaltet dann Kleist die Form der Anekdote, nach

ihm Wilhelm Schäfer, wenngleich viele seiner Anekdoten

eher als Novellen zu bezeichnen sind. Diese Erzählart ist also

immer um den Kern einer bedeutenden und bekannten Persönlichkeit

gelegt. Es wird erzählerisch ein spannungsvoller

Augenblick gestaltet, in dem sich ein Charakter plötzlich

hell in seiner Eigenart enthüllt. Ein unwahrscheinlicher oder

oft sogar beinahe unmöglicher Vorgang wird erzählerisch als

selbstverständlich hingestellt, und so kommt es zu stoßweisen

Überraschungen.

|#f0534 : 518|



Anders ist die Kalendergeschichte geformt. Ihre Meister sind

Hebel, dann Gotthelf, wieder Wilhelm Schäfer und auch

B. Brecht, der einen deutlichen Propagandahintergrund

schafft. Sie gibt sich harmlos und schlicht, es scheint zunächst

vor allem auf das liebenswürdige, unterhaltsame Erzählen

anzukommen. Aber in dieser Einfalt offenbart sich die Seele

einer ganzen Sprachgemeinschaft und zugleich die Ehrfurcht

vor allen Geheimnissen und allen Geschehnissen in der Welt.



Ein Erzeugnis unserer modernen Zivilisation ist die Kurzgeschichte.

Das Wort, so deutsch es klingt, ist eine Lehnübersetzung

aus dem angloamerikanischen »short story«. Dort bezeichnet

das Wort ursprünglich die Novelle, seit Poe dann

auch diese neue Form knappen Erzählens, so daß das Wort

dort zweideutig ist. Dagegen bezeichnen wir mit dem deutschen

Wort eindeutig eine bestimmte Art knappen und strengen

Prosaerzählens, und auch das englische Wort wird zusehends

immer mehr dafür eingesetzt. Die Erzählart war zuerst

künstlerisch belastet, weil man vielfach auch üble Magazingeschichten

so nannte. In den dreißiger Jahren unseres

Jahrhunderts ist sie außer in Deutschland Mode geworden.

Das äußere Werden hängt mit dem Anwachsen des Zeitungs-

und Magazinkonsums zusammen, mit der Gehetztheit unseres

Lebens, mit dem Lesehunger auf der Fahrt in die Arbeit.

Für die künstlerische Ausbildung ist die Tatsache wichtig, daß

im Naturalismus die strenge Novellenform verfällt und an

ihre Stelle die Skizze tritt: sie gibt nur Stimmung, keine

Handlung. Die Kurzgeschichte ist durch ganz bestimmte

Merkmale deutlich umschrieben. Sie ist kürzer als die Novelle,

nach amerikanischer Weise schränkt man sie sogar genau auf

Wortzahlen ein: zwischen 1000 und 20 000 Worten liegt ihr

Gebiet. Solche Schranken haben auch für Inhalt und Gestaltung

Bedeutung. Der Kurzgeschichte fehlt jegliche Einleitung,

sie erzählt linear, nicht in verschiedenen Schichten, denn sie

greift nur ein Charakteristikum heraus und steuert auf dieses

zu. Sie gibt nur Wesentliches. Sie ist also ein deutliches Kunstprodukt,

das nach ganz bestimmten strengen Gesetzen zu

gestalten ist. Von der Anekdote unterscheidet sich die Kurzgeschichte

durch das Fehlen einer Pointe, die die Art einer |#f0535 : 519|



Persönlichkeit scharf erleuchtet. Sie ist erzählerisch reiner als

die Anekdote, die eine erzählerische Absicht hat: einen Charakter

blitzartig zu erleuchten. Damit wird der Schluß wichtig:

während die Anekdote mehr auf Verblüffung abzielt,

tritt bei der Kurzgeschichte am Schluß meist eine plötzliche

Erschütterung ein. Der Schluß ist unerwartet, er bleibt offen.

Es ist keine Lösung, sondern ein bloßes Aufhorchen. Leiden

und Grauen bewirken einen Schock. So erscheint die Kurzgeschichte

vom Schluß her gebaut und bereitet im Ablauf

stimmungsmäßig auf ihn vor. Ein schicksalhaltiger Augenblick

verdichtet sich im scheinbar Zufälligen. Neuerlich bahnt

sich eine Form an, die das Grauen vor dem Rätselhaften unserer

modernen Zivilisationslage doch wieder in Daseinszusammenhänge

einordnen möchte: Gerd Gaisers Sammlung

»Einmal und oft« (1956). Natürlich gibt es auch Mischformen,

besonders weist die Kurzgeschichte eben Beziehungen zur

Novelle, zur Anekdote, zur Parabel und zur Erzählung

überhaupt auf.



Nicht alles knappe Erzählen ist streng gebaut, es kann sich

freier, ungezwungener geben, ohne ins Breite zu geraten. Die

freieren Formen der Kurzepik sind die einfache Erzählung, das

Märchen, die Sage, die Legende, die Fabel und die Parabel.

Alle diese Arten können in Versen oder in Prosa gedichtet

sein. In den letzten beiden Formen taucht im Erzählten etwas

Lehrhaftes auf, die übrigen sind reine Erzählgebilde.



Der Ausdruck »Erzählung« ist in diesem Rahmen beinahe

ein Verlegenheitsausdruck: denn er umfaßt eigentlich alles,

was nicht in eine der anderen Arten zwanglos sich einordnen

läßt. Vor allem gehört hier herein alles, was volkstümlich

ohne künstlerischen Anspruch erzählt wird, schlichte Erzählungen

etwa Roseggers, Adolf Pichlers, aber auch harmlose

Verserzählungen.



Viel wichtiger und künstlerisch geprägt ist das Märchen.

Auch hier unterscheidet man Volksmärchen und Kunstmärchen.

Und auch hier wieder ist wesentlich für das Volksmärchen,

daß es in bestimmten Lagen und Gemeinschaften

wirklich lebt, indem es bei bestimmten Gelegenheiten tatsächlich

erzählt wird. Das Kunstmärchen greift die Züge, die |#f0536 : 520|



das Volksmärchen als Erzählart kennzeichnen, bewußt auf,

steigert sie zu klarer Form und schafft so ein betontes Kunstgebilde.

So sind auch die Kinder- und Hausmärchen der

Brüder Grimm zwar inhaltlich Volksmärchen, im bewußten

volkstümlichen Erzählen aber ausgesprochene Kunstwerke.

Es genügt nicht, wenn man phantastisches Erzählen außerhalb

der Naturgesetze und solches Erzählen, in dem alles ausgeht,

wie man sichs wünscht, als Wesenszüge feststellt. Neuere

Forschung hat tiefer gesehen und uns die künstlerischen Züge

dieser reinen Erzählkunst herausgearbeitet (Lüthi). Das Märchen

erzählt eindimensional. Das Diesseits und das Jenseits

sind zwar äußerlich voneinander entfernt, aber im Inneren

besteht kein Unterschied: das Jenseits wird so gesehen wie das

Diesseits. Das Märchen erzählt flächenhaft, es bohrt nicht in

Tiefen der Seele, die Hauptsache ist die reine Handlung, die

Menschen sind Figuren ohne Atmosphäre um sich. Alle

Dinge und Menschen stehen im Märchen für sich, auch die

Episoden bleiben isoliert. Man erkennt das daran, daß Märchenfiguren

keine Erfahrungen machen, nichts hinzulernen.

Daraus aber ergibt sich die Leichtigkeit, alles mit allem zu verknüpfen.

So erscheint alles im geheimen einander zugeordnet,

wenn es auch äußerlich wie Zufall aussehen mag. Mithin

formt sich ein ganz bestimmter Erzählstil: die Figuren werden

nicht beschrieben, sondern nur genannt, die Gegenstände

haben klare Umrißlinien, solche, die sie an sich schon haben,

sind besonders beliebt: Steine und Metalle. Auch die Handlungslinie

ist deutlich und scharf gezogen. Dadurch entsteht

größte Wirklichkeitsschärfe; die Wunderdinge sind dafür

notwendige Hilfsmittel, alles Krasse gibt eben scharfe Konturierung.

Dazu die Vorliebe für starre Formeln, formelhafte

Anfänge und Schlüsse. Solcher Stil ist hell und bestimmt, er

sieht von allem ab, was die Figuren, die Dinge und die Handlung

verunklären könnte: abstrakter Stil in diesem Sinn. Hier

dürften sich beim Kunstmärchen, besonders etwa bei Novalis,

erhebliche Abweichungen finden. Alles Geheimnisvolle verliert

im Volksmärchen so das Numinose, es ist einfach da;

die Menschen sind als reine Figuren völlig schwerelos. Das

alles bedeutet Verlust an Konkretheit, Erlebnistiefe, an Inhaltsschwere |#f0537 : 521|



und Differenzierung. Aber zugleich ist solche

Kunstform auch Gewinn: Formbestimmtheit und Formenhelligkeit.

Alle Motive werden rein, hell und durchscheinend.

Und dabei ist das Märchen durch solche Züge auch welthaltig:

es nimmt die ganze Welt in sich hinein und gestaltet

sie nach dem inneren Gesetz seiner Art. In ihm spiegeln sich

alle wesentlichen Elemente des menschlichen Daseins. Es vereinigt

auch die entscheidenden Pole des menschlichen Seins:

Enge und Weite, Ruhe und Bewegung in der strengen klaren

Form und der weiten Bewegung der Handlung, Gesetz und

Freiheit, Einheit und Vielheit. So ist das Märchen eine reine

und geschlossene Bewältigung der Welt in dichterischer,

genauer: erzählerischer Weise. Es entsteht in ihm eine Welt,

in der alles an seiner Stelle, alles in Ordnung ist. Und dadurch

eben befriedigt es tiefste Wünsche des Menschen. Diese urepische

Schau ist nicht etwas Primitives, sondern hohe

Kunst, allerdings die Kunst früher, jugendfrischer Kulturen.



Die Sage ist in wesenhaften Zügen anders als das Märchen.

Sie erzählt Ereignisse, die irgendwie bestimmte Örtlichkeiten

oder Gegenstände erklären sollen, die zeigen sollen, wie es

dazu gekommen ist. Aber das bleibt an der Oberfläche. Besser

erfaßt man das Wesen der Sage als künstlerischer Erzählform

in ihrem Unterschied zum Märchen. Das Jenseitige, Außermenschliche

ist für die Sage das ganz andere, ein erschreckendes

Geheimnis. Wenn es auch ins Menschenleben hereingreift,

so bleibt es im Wesen doch scharf von ihm getrennt. Die

Sage gestaltet tiefenhaft in reich gestaffelter Verflechtung des

Menschen mit dem Leben und dem Raum um ihn, die Menschen

haben ein Seelenleben, sie bilden eine Atmosphäre um

sich. In der Sage sind Menschen und Dinge eng und mannigfach

miteinander verflochten. Auch die Sage ist aus Freude

am Erzählen geboren. Sie stellt ein erregendes Erlebnis ins

Zentrum. Da sie zugleich durch die Erzählung einen Sachverhalt

erklären will, zeigen will, wie es dazu gekommen ist,

vertritt sie in Frühzeiten teilweise die Wissenschaft, bleibt

aber durch ihre Darstellung im Bereich des Dichterischen.



Die Legende unterscheidet sich vom Märchen durch den Anspruch

auf Echtheit, von der Sage durch den Ton, der alles |#f0538 : 522|



Grauenhafte und Unheimliche vermeidet. Es ist eine schlichte

Erzählung aus dem Leben von Heiligen, wobei allerdings auch

zu beobachten ist, daß sich die Darstellung auf ein besonderes

Ereignis hinlenkt. Damit ist die Möglichkeit novellenhafter

Form gegeben, wie wir sie an G. Kellers »Sieben Legenden«

erkennen.



Die beiden lehrhaften Erzählformen dieser Gruppe sind die

Fabel und die Parabel. Die Fabel ist meist äußerlich eine Geschichte

aus der Tierwelt, allenfalls auch aus anderen nichtmenschlichen

Bereichen der Natur. Aber sie ist von der Tierdichtung

zu unterscheiden. Tierdichtung im weiteren Sinn

will dichterisch, meist erzählerisch, die Tiere in ihrem Wesen

erfassen. Man denke an Svend Fleuron und an J. Wenter. In

der Fabel aber erscheint das Tier gar nicht in seinem Wesen,

es ist kein Stück göttlicher Natur, sondern bereits entgöttert.

In einem unmerkbaren Ruck erfassen wir plötzlich, daß hinter

dem Gehaben des Tieres eigentlich der Mensch gemeint

ist: damit setzt die Lehrhaftigkeit ein. Sie wird dadurch noch

besonders deutlich, daß sie auch auf ein auffälliges Ende hin

strebt; man erwartet etwas Besonderes, eine Pointe muß den

Schluß bilden. In ihr wird die moralische Lehre greifbar, es ist

eigentlich nicht nötig, sie eigens noch hinzuzufügen. Fabeln

erwachsen aus einer bestimmten geschichtlichen Lage. Sie sind

überschaubar, unheroisch, gestalten menschliche Schwächen.



Die Parabel ist eine selbständige Erzählung, sie hat nur

einen Bezugspunkt zur Lehre: nur in einem kleinen Zug

öffnet sich der lehrhafte Sinn, der dann am Schluß gleichsam

wie eine reife Frucht vom Baume fällt. Aber obwohl man

die Lehre erwartet, freut man sich doch zugleich am reinen

Erzählen. Durch die Schlußlehre erhält die parabelhafte Erzählung

eine abstrakte Form: nur das wird erzählt, was auf

den Schluß hinarbeiten kann, nur die Züge werden gebracht,

die für den Schlußsinn wichtig sind. Daher kann man auch

sagen, daß in gewissen modernen Romanen, besonders denen

Kafkas, ein parabelhafter Zug vorhanden ist.



Es gibt noch andere Formen knappen Erzählens, die ihren

Namen durch die Stimmungen erhalten haben, die in solchen

Erzählungen grundlegend sind. Zunächst eine Gruppe, die |#f0539 : 523|



durch Heiterkeit gekennzeichnet sind. Sind es nur kurze Erzählungen,

in denen sich kein humorvolles Weltbild entfalten

kann, so spricht man von Humoreske. Sie ist gemütlich,

liebenswürdig frisch, versöhnlich und weist eben in diesen

Zügen Humor auf. Wird sie derber, fester zugreifend, übermütig-lustig,

so nennt man sie wohl Schwank. Die Schwänke

können schon in die komische Haltung hinübergehen, sie

machen sich in geistig-freiem Spiel über etwas lustig. Tritt

dazu noch der deutliche Spott, so nennen wir solche Erzählungen

Satiren. Durch eine weiche Stimmung sind zwei

andere Erzählarten gekennzeichnet. Die Idylle hat eine sehr

reiche Entfaltung in der Weltliteratur, besonders in der Antike

(Theokrit, Vergil), im europäischen 17. Jahrhundert und dann

in anderer Weise im 18. Jahrhundert. Demgemäß ist sie auch

sehr reich in der äußeren Erscheinung: Verse und Prosa, kurz

und lang ausgedehnt. Sogar dramatische Form kann vorkommen,

etwa als Singspiel oder als Operette. Und trotzdem

geht ein deutlicher Grundzug durch, der sie zu einer sehr

klar umrissenen Art macht. Es ist ein »Bildchen« (eidyllion)

aus dem Leben bescheidener, aber glücklicher Leute. Das

Bildchen entfaltet sich immer in einem Vorgang, einem Geschehen.

Aber ihm fehlen die Kanten und Sprünge, die

Spannungen und Erregungen, alles Furchtbare bleibt fern.

Und wenn schon einmal Spannungen auftreten, so lösen sie

sich in friedlichster Weise. Bauern, Hirten, Fischer, später

dann Pastoren in ländlicher Umwelt sind die beliebten Gestalten.

Die Gestaltungsform kann idealistisch oder realistisch

sein. Wenn man die Elegie nicht als ein Distichengedicht

nimmt, so bleibt für diesen Namen eine Erzählung von stiller

Trauer, milder Wehmut. Nicht heftige und ergreifende Klage,

sondern ruhige Ergebung in weicher Erinnerung. Alles Pathetische,

Wilde, Tragische und Erhabene bleibt aus dieser Art ausgeschlossen.

Sie ist weniger klar umgrenzbar als die Idylle.



Großepik



Sie erwächst aus dem breiten Erzählen, in dem großen,

umfangreiche Vorgänge in voller Entfaltung vorgeführt

werden oder in dem verhältnismäßig begrenzte Geschehnisse |#f0540 : 524|



in verschiedener Weise bereichert und aufgefüllt werden.

Denn immer kommt es darauf an, was der Erzähler aus dem

Stoff macht. Also nicht dieser, sondern das Erzählen ist maßgebend.

Diese Entfaltung in die Breite ergibt von selber ein

Einbeziehen weiter Weltbereiche. Das in der Großepik entfaltete

Weltbild ist umfassend, es wird immer eine Lebensganzheit

gestaltet. Im groben kann man zwei Arten unterscheiden:

Epos und Roman. Sicher ist es meistens so, daß die

Epen in Versen, die Romane in Prosa geschrieben sind, aber

das ist nicht das Ausschlaggebende und erleidet auch beachtliche

Ausnahmen. Auch ist diese Scheidung nicht vollständig,

denn der Romanzenzyklus tritt noch hinzu.



Wenn man von Epos spricht, so denkt man immer zuerst

an die beiden Homerischen Dichtungen »Ilias« und »Odyssee«.

Sie sind dichterisch so bedeutsam und geschichtlich so wichtig,

daß man oft die ganze Epentheorie nur von ihnen ableitet.

Die homerischen Epen dienten durchs ganze Altertum

als Vorbild, bis der größte Angeregte, Vergil, sie dann bis ins

18. Jahrhundert in den Hintergrund drängte. Aber es gibt

auch andere epische Großdichtungen, die als Epen bezeichnet

werden müssen: neben Vergils »Aeneis« vor allem alte indische

und persische Dichtungen, das Nibelungenlied, wohl

auch Wolframs »Parzival«, während man bei anderen ritterlichen

Verserzählungen schwanken könnte, ob sie nicht auch

Versromane genannt werden sollten. Weiter, um bei den

bekannten zu bleiben, Miltons »Verlorenes Paradies«, Klopstocks

»Messias«, der aber schon wieder ein Grenzfall ist,

ebenso wie Goethes »Hermann und Dorothea«, eine Dichtung,

die schon ins Idyllische hinüberdrängt. Große Epen sind auch

noch nach Goethe versucht worden: von Spitteler, Paul

Ernst, Gerhart Hauptmann. Aber die Wertschätzung des

Epos war nicht immer gleich. Während man diesen modernen

Versuchen, schon seit Milton, etwas bedenklich gegenübersteht,

wertet man heute die alten Epen immer noch sehr hoch,

und in der Kunsttheorie wurde das Epos neben dem Drama

bis weit ins 18. Jahrhundert als die große und echte Dichtung

angesehen.



Das Weltbild des Epos entfaltet eine Gesamtheit, einen |#f0541 : 525|



Kosmos, der eine volle Sinneinheit darstellt. Die Antriebe für

eine solche umfassende Weltbildgestaltung erwachsen dem

Epos aus der jeweiligen Weltanschauung der Gemeinschaft.

Das ist zunächst der Mythos für die ältesten Zeiten. Er liegt

dem Dichterischen schon sehr nahe, denn er formt das Weltbild

in menschlichen und übermenschlichen Gestalten, ihren

Schicksalen und Handlungen aus. Die Epen bauen daran vielfach

weiter, aber eben auf dem Grund des in der Gemeinschaft

schon Gewachsenen. Mit dem Beginn der christlichen Zeit

in unseren Kulturbereichen werden die alten Mythen verdrängt

und durch die christliche Heilslehre in ihrer Gesamtheit

ersetzt. Aus diesem christlichen Weltbild wachsen dann

Epen wie Dantes »Divina Commedia«, Miltons und Klopstocks

Werke. Mit dem Beginn der Säkularisierung im 18.

Jahrhundert ist auch das christliche Weltbild nicht mehr

allein maßgebend, an seine Stelle treten solche, die durch ein

philosophisches System errichtet sind. Da nur der Mythos an

sich schon ein Weltbild ästhetischer Schau umfassendster Art

gibt, das christliche Weltbild aber religiös, ethisch ausgerichtet

ist und die Weltbilder philosophischer Systeme aus rationaler

Arbeit entspringen und daher vor allem theoretisch

bestimmt sind, versteht man, daß große Epen vor allem in

Zeiten entstehen, die durch einen Mythos ausgerichtet sind.

Nur ganz großen schöpferischen Leistungen auf dem Gebiet

des Epos wird es gelingen, die religiösen oder philosophischen

Weltbilder so umzuformen oder einzubauen, daß umfassende

kosmische Sinneinheiten ästhetisch im Epos lebendig

und wirksam werden. So ist es verständlich, daß man auch

Meinungen hört, mit dem Ende alter Mythologien als lebenformender

und -bestimmender Kräfte in Gemeinschaften sei

das Ende des Epos gekommen. Vor allem sagt man, daß das

Christentum den Menschen einem übergeordneten Heilsplan

einfüge und ihm daher die gerundete, in sich ruhende

Selbständigkeit nehme, die der Mensch des großen Epos

haben müsse. Deshalb sei auch einem Dante episch die Hölle

am besten gelungen. Nur die Tierdichtung erlaube nachher

noch solche in sich gerundete Geschöpfe, und die Klassik

weiche im Epos ins Idyllische aus, da im idyllischen Bereich |#f0542 : 526|



der Mensch aus seinen Funktionen herausgehoben sei und an

sich sein könne. Es bleibt aber doch die Frage, ob hier nicht

ein zu eng begrenzter Begriff des Epos zugrunde liegt. Das

Entscheidende ist die dichterische Leistung, der epische Bau

einer sinnhaften Weltganzheit. Warum sollte dem großen

epischen Dichter nicht die Gestaltung und Entfaltung eines

umfangreichen und umfassenden Vorgangs möglich sein, in

dem zugleich ein Weltbild in seiner Geordnetheit und Ganzheit

lebendig wird? Fragwürdig wird allerdings die Gestaltung

eines Epos, wenn das Menschenbild sich stark ändert

und der Glaube an eine sinnvolle Welteinheit verlorengeht.



Die Stellung des Menschen ist im Epos genau festgelegt: er

ist als innerlich reich entfaltetes Glied dem Kosmos eingefügt,

die Menschen bilden im Epos eine Lebensgemeinschaft von

Persönlichkeiten, nicht eine Masse, keine Nummern in einem

Kollektiv. Die Menschen eines Epos sind gekennzeichnet

durch innere Fülle des Daseins. Sie sind ein in sich gerundeter

und vollendeter Organismus.



Auch der Erzähler eines Epos hat eine ganz bestimmte Haltung,

die ihn vom Romanerzähler unterscheidet und damit

auch das Epos selbst vom Roman. Der Erzähler des Epos ist

auch in das kosmische Weltgefüge eingebaut, das im Epos

entfaltet wird. Er verehrt es als höchste Gegebenheit. Zugleich

aber ist er, gerade wegen dieses Hinnehmens der Welt

als solchen Kosmos, im Erzählen fähig, sich von ihm zu distanzieren,

ihn ehrfürchtig als großes Gebilde vollkommen

objektiv zu sehen. Diese objektive Haltung bedeutet nicht

Kühle; schon in der Ehrfurcht liegt Ergriffenheit, die aber

nicht so weit geht, die einzelnen Phasen und Episoden in

wechselnder Stimmung mitzuerleben. Es bleibt bei einer

durchgehenden Haltung, die man deshalb auch Gleichmut

nennen kann. Damit ist zugleich gegeben, daß im Epos der

Erzählstandpunkt nicht wechselt. Trotzdem aber macht sich

auch hier ein Erzähler bemerkbar. Wir erkennen ihn daran, daß

ohne Zweifel in der Art des Erzählens und im Weltbild zwischen

Homer, Vergil, Dante, Milton und Klopstock wesentliche

Unterschiede bestehen. Sie gehen nicht bloß auf die

großen Unterschiede der geistesgeschichtlichen und weltanschaulichen |#f0543 : 527|



Lage zurück. Es bleibt ein Rest, der eben die Erzählerpersönlichkeit

ist.



Das im Epos erzählte Geschehen ist durch ganz bestimmte

Merkmale gekennzeichnet. Vor allem: dieses Geschehen

wird in reinster Form erzählt. Auch dort, wo der Dichter

Gespräche bringt, sind sie durch die Einleitung und die Überleitung

immer in den Erzählvorgang eingefügt. Die ständigen

homerischen Formeln der Redeeinleitung sind eindeutige

Zeichen des fortlaufenden Erzählens. Das Geschehen vollzieht

sich in einem deutlichen Zeitablauf: die Sonne geht auf

und unter, die Nacht bricht herein, es vergehen Tage, Monate,

Jahre. Meist könnte man den Inhalt als Fahrt des Helden durch

die Welt bezeichnen. Aber dabei entwickelt sich der Held

selbst nicht. Er wird nicht älter und macht auch keine innere

seelische Entwicklung mit. Achilles, Nestor, Odysseus, Aeneas

sind in sich ruhende Persönlichkeiten, die sich im Epos einfach

in ihrem Dasein entfalten. In Dantes Werk allerdings macht

der Ich-Held reiche Erfahrungen, aber hier tritt er als Persönlichkeit

stark zurück, er ist mehr der Beobachtende. Im

Nibelungenlied bleiben sich Hagen, Siegfried, Gunther, Giselher

(das Kind) immer gleich, nur bei Kriemhild ist eine Wandlung

gestaltet. Ganz anders wieder Parzival, der deutlich seelisch

geformt wird. Es scheint also, daß hier verschiedene

Möglichkeiten des Epos vorliegen, wohl entsprechend der

Kulturstufe, in der es entstanden ist. Aber die Fahrt des Helden

hat eine besondere Bedeutung: das Weltbild entfaltet sich

ununterbrochen in immer größere Weite, der sinnvolle Kosmos,

in dem sich der großepische Vorgang abspielt, wird immer

reicher, vollständiger und bedeutsamer. Diese Weltweitung

ist ein besonders vordringliches Anliegen des Epikers:

deshalb vermag er auch leicht, den Vorgang oft an einer sehr

erregenden Stelle abzubrechen und einen Blick zurück oder

ins Weite einzuschalten. Wenn in den Kämpfen der »Ilias«

ein neuer Held auftritt, so wird mitten in der spannenden

Handlung die Geschichte des Helden und meist auch seiner

Vorfahren erzählt. Wenn im 15. Gesang Poseidon von Zeus

den Befehl bekommt, sich vom Kampf zurückzuziehen, so

erzählt der Meergott trotz aller Empörung die Geschichte der |#f0544 : 528|



Weltteilung zwischen den drei Göttern Zeus, Hades und

Poseidon und öffnet damit einen neuen Blick in den Bau der

Welt und in ihre Lenkung. Ständige Weltweitung ist also das

Strukturprinzip, nach dem das Geschehen des Epos angelegt

ist. Das gilt auch für Milton, Klopstock und Wolfram. Was

dabei mit dem Helden oder den Figuren geschieht, ist eher

sekundär. Vielleicht haben wir hier eine Gesetzlichkeit, die

dem Epos ein schärferes Gesicht gibt. Es kommt also bei den

großepischen Dichtungen darauf an, ob ihr Geschehen eine

fortschreitende Weltweitung erzeugt oder den Helden in

bestimmter Weise entfaltet.



Trotz diesen gleichbleibenden Zügen kann man verschiedene

Bauformen in den Epen unterscheiden. Es wäre wohl

auch da einseitig, nur eine als wesentlich anzusehen. Eine

Form könnte man die anreihende Geschehnisdarstellung nennen.

In der »Ilias« ist zwar ein Ausgangspunkt gegeben: der

Groll des Achilleus über Agamemnons Handlungsweise.

Aber es kommt doch darauf hinaus, daß im Laufe der Kämpfe

um Troja durch die Gestalten und Ereignisse, durch den

dauernden Wechsel des Schlachtglücks, durch das Eingreifen

und die Haltung der Götter ein immer volleres Bild dieser

Menschen- und Götterwelt sich vor uns entfaltet. Es ist eine

ständige Anreicherung von verhältnismäßig selbständigen

Episoden. Ein wirklicher Abschluß des Vorgangs fehlt, das

Gedicht hört einfach auf. Ganz anders ist die Anlage, wenn

ein Ziel erscheint. In der »Odyssee« wird gleich zu Anfang

klar, daß Odysseus wieder in die Heimat kommen wird.

Damit ist ein Zielpunkt gegeben, aber innerhalb dieser Bewegung

entfalten sich nun die Episoden wieder in größter

Fülle, daß man oft das Ende aus dem Auge verliert. Ähnlich

ist es in der »Äneis«, die ja von vornherein vom Dichter

planmäßig auf die Gründung Roms hin angelegt ist. Aber

auch hier begegnet die reiche Entfaltung von verhältnismäßig

selbständigen Teilvorgängen. Wieder anders ist das Nibelungenlied

aufgebaut. Es handelt sich nicht um die Tatsache,

daß es aus zwei Sagenkreisen entstanden ist, sondern wie der

Dichter diese Zweiteiligkeit doch zu einer großen Einheit

verschmilzt. Es ist ein großes Geschehen, in dem sich eins aus |#f0545 : 529|



dem anderen ergibt, aber doch durch Träume und Formeln

schon ganz zu Anfang aufs Ende hingewiesen wird. Siegfrieds

Besuch in Worms führt zur Liebe zu Kriemhild, zum

Vertrag wegen der Erwerbung Brünhilds, das Dunkle dieser

Erwerbung löst den Streit der Königinnen aus, daraus folgt

der Tod Siegfrieds und endlich der große Racheplan Kriemhilds,

der erst mit dem Untergang aller Burgunden sein

furchtbares Ende findet: ein unheimlicher Ablauf eng verketteter

Ereignisse bis zu einem Ende, hinter dem, zum Unterschied

von den antiken Epen, nichts mehr kommen kann.

Frei sich entfaltende Nebenepisoden treten hier zurück. Aber

es enthüllt sich in diesem unaufhaltsamen Ablauf immer mehr

ein Weltbild reichster Art: von Treue und Rache, von Verstricktheit

und Schuld und vor allem von kühnem Aufrechtstehen

in den ärgsten Schicksalsschlägen: ein tragisches

Weltbild. Die »Odyssee« entwickelt aber neben einer gewissen

Zielgerichtetheit eine neue Kunstform: die Rahmung.

Damit entsteht ein kunstvoller, bewußter Aufbau. Die Binnenerzählung

des Odysseus bei den Phäaken umfaßt fünf Gesänge,

sie ist mehr in die Mitte gerückt als die nur zwei Gesänge

umfassende des Äneas bei Dido, die gleich im zweiten

Gesang beginnt und schon mit dem dritten endet. Bei Vergil

ist das wirklich nur Episode, bei Homer breiterer Binnenteil,

der sich aber doch organisch ins Ganze einfügt und deutlich

der Weltbildweitung dient: wir bekommen nun nach den anfänglichen

Gesängen, die die Heimkehr des Odysseus klar

machen, den breiten und mannigfaltigen Hintergrund einer

Welt, der ein Mensch in seinem Leben begegnen muß. Ganz

anders wird der Aufbau im christlichen Epos. Gemäß der

hierarchischen Anlage der ganzen Welt, ihrer Ausrichtung

auf Gott, der Geborgenheit des Ganzen in einem großen

Heilsplan und doch der Spannung zwischen Diesseits und

Jenseits wird auch der Bau des Epos verwickelter, durchdachter,

die Glieder haben bestimmte Funktionen im Ganzen,

es ist eine große Architektur, die sich hier offenbart und die

schon durch ihre Art eben das Weltbild gestaltet. Bei Dante

entsteht so ein dreiteiliger Großaufbau, der doch nur die

Jenseitsreiche gestaltet, aber erlebt von einem noch im Diesseits |#f0546 : 530|



verhafteten Menschen. Der Weltweg des Wandernden

erhebt sich hier in immer höhere Bereiche und schließt mit

dem Anblick des unendlichen Lichtes der Gottheit. Sehr

kunstvoll ist in dieser Hinsicht der Aufbau des »Parzival«,

weil die möglichen Beziehungen zwischen Gott und Mensch

selbst schon zwei deutliche Richtungen zeigen: der Drang des

Menschen zum Göttlichen und das Entgegenkommen der

göttlichen Gnade. Dazu aber tritt die Gefahr und Trostlosigkeit

der Gottferne in Verzweiflung und Bitterkeit oder in

betonter, selbstgenügsamer Weltlichkeit, wie in den Gawanteilen.

Daß diese Gawanteile sich gerade äußerlich über die

verbitterte Gottferne Parzivals breiten, verdichtet diese Architektur

noch mehr. Damit wird noch ein Prinzip der Ritterepik

verbunden: der zweiteilige Aufbau, der zunächst in einem

kürzeren Teil den raschen und äußerlichen Aufstieg zum Ziel

gestaltet, dann nach einem Zusammenbruch, in dem dieses

Ziel wieder verlorengeht, in einem zweiten, längeren Teil

den Helden wieder, nun vertieft und verinnerlicht zum Ziel

führt, das nun als fester innerer Besitz gewonnen wird. So

zeigt auch hier der kunstvoll verschlungene Aufbau selbst

schon die Struktur der christlichen Welt, er wird selber Analogie

und Symbol des Weltgebäudes. Das Menschenschicksal

tritt zwar stärker hervor, aber immer nur ausgerichtet aufs

Jenseits, auf Gott. Damit erhält das Werk die Weite des Epos,

zugleich aber eine neue religiöse Tiefe. Das scheint eine Bereicherung

der großepischen Form. Wir müssen es uns versagen,

den Zusammenhang zwischen Weltbild und epischem

Bau bei Milton und Klopstock zu verfolgen. Aber hingewiesen

sei doch, daß man Stifters »Witiko« mit einigem Recht als

Prosaepos bezeichnet hat. Und da zeigt sich, daß das Werk

in dieser Hinsicht auch einen reichen Aufbau hat, in dem sich

auch in der mannigfaltigsten Weise ein Weltbild eröffnet,

die Geschichte selbst in ihrem Werden sich vor uns entfaltet.

Abgesehen von der kunstvollen Gliederung um einen breiten

Mittelteil, der wie im »Nachsommer« eine Verdichtung aller

Motive bringt, abgesehen von dem immer weiter sich erschließenden

Symbol der Waldrose ist die eine große Linie

besonders hervorzuheben: vom einsamen Reiter durch den |#f0547 : 531|



Bayerischen Wald bis zu den gewaltigen Vorgängen vor Mailand

und am Mainzer Pfingstfest: ein immer breiter werdender

Strom, der die ganze damalige abendländische Lage und

Geschichte in sich aufnimmt: eine Welt- und Geschichtsbild-

Ausweitung ohnegleichen.



Für die Breite und die ins Weltweite gehende Struktur des

Epos ist auch die Sprache eine entscheidende Kraft. Sie ermöglicht,

bis ins Kleinste und umgekehrt vom Kleinsten aus

den großepischen Ton zu prägen. Dem ehrfurchtsvollen

Gegenüberstehn des Erzählers, der in voller innerer Ruhe und

doch tiefer Gestimmtheit das Ganze sieht und aus dieser Haltung

gestaltet, geziemt sprachliche Ausgewogenheit, das

gleichbleibende und harmonisch verteilte Bildformen aller

Gestalten, Teile und Episoden. So kommt es zu den immer

wiederkehrenden Eindrucksworten, die eben das dauernde

Dasein der Menschen und Dinge, ihre Insichgeschlossenheit

dadurch gestalten, daß immer die gleichen Eindrücke von

ihnen ausgehen, daß sie immer in derselben Weise da sind

und wirken. Aber auch die bekannten epischen Formeln sind

nur Ausdruck dafür, daß diese Menschenwelt nach ewigen

gleichbleibenden Gesetzen da ist und lebt. Die Wiederholungen

der Eindruckswörter und der Formeln machen das

Gleichbleiben, das Dauernde und Ewige bis in die kleinsten

künstlerischen Glieder hinein lebendig. Ewige Grundformen

des Daseins, des Verhaltens und des Tuns ziehen sich durch

alles Geschehen. Dazu gehören dann auch die Wiederholungen

ganzer Teile; wenn etwa Zeus einem Boten ausführlich

mitteilt, was er einem Menschen zu verkünden habe,

und der Bote dann mit denselben Worten das alles dem Menschen

wiederholt. Dadurch entsteht nicht nur die behäbige

Breite des Erzählens, das in Gleichmut alles anschaut, treten

nicht nur auch so wieder ewige Grundformen des Sagens und

Verkündens heraus, sondern es gewinnen die Aussagen durch

die Wiederholung mehr Eindringlichkeit. Wir erleben, daß

sie wichtig sind, daß es auf sie ankommt. Die Gleichnisse, die

in großen Epen besonders am Platz sind, haben denselben

künstlerischen Sinn wie die weiteren handlungshaften Episoden.

Sie weiten zunächst das Weltbild: sie richten unsere |#f0548 : 532|



Blicke auf andere Weltbereiche, und beide werden durch ihre

Bezugstiftung im Gleichnis in besonderer Sicht gegeben, der

eine je vom anderen her beleuchtet und gefärbt. Im Zusammenschauen

beider ahnen wir Zusammenhänge alles Weltgeschehens.

Zugleich ordnen sich dadurch beide Bereiche in

höhere Zusammenhänge ein. Es ist, als ob sie beide nur Ausstrahlungen

gleicher Grundbestimmtheiten wären, durch den

Bezug zum Höheren auch zueinander stimmend. Endlich

geben solche Gleichnisse immer epische Fülle und offenbaren

so in jedem Einzelzug den Reichtum der Welt.



Eine andere Form großepischer Gestaltung in Versen sind

die Romanzenzyklen. Wir denken vor allem an Herders »Cid«

und an die »Romanzen vom Rosenkranz« von Clemens Brentano.

Gewiß erscheint auf den ersten Blick der Aufbau

lockerer. Es werden einzelne, in sich ziemlich geschlossene

und für sich bestehende Romanzen miteinander verbunden.

Es ergibt sich ein Zusammenhang der einzelnen Gebilde, ohne

daß ein durchgehender Zug vorhanden sein müßte. Es kann

so sein, daß der großepische Charakter stark zurücktritt.

Aber gerade Brentanos »Romanzen« zeigen, wie kunstvoll

der geheime Zusammenhang sein kann. Schon dadurch, daß

die ganze, weit zurückliegende Vorgeschichte nur nachholend

an bestimmten Stellen langsam eingefügt wird, entsteht Geschlossenheit,

die verschlungenen Beziehungen zwischen den

einzelnen Gestalten können in einzelnen Romanzen leichter

für sich heraustreten und doch wieder ständig zusammenwachsen.

So wäre in Brentanos Werk ein besonders kunstvolles

Gebilde gelungen, wenn der Dichter das Werk vollendet

hätte.



Der Roman ist heute die umfassendste Form erzählender

Dichtung nicht nur, was die Zahl der Produktion in allen

Ländern, sondern auch was den Wert anlangt. Von den üblichen

Reißern der Detektivromane und der Massenware der

Kolportagebücher und billigen Unterhaltungsware, von den

sittlich durchaus bedenklichen Serien über gute Durchschnittsware

und anspruchsvollere Unterhaltungsromane bis zu den

ernstzunehmenden, aber schlichten und einfachen Gebilden

und endlich zu den großen Leistungen der Weltliteratur: eine |#f0549 : 533|



unheimliche Menge, der gegenüber immer wieder die Frage

berechtigt ist, ob da noch von Dichtung die Rede sein könne.

Bei den unscheinbaren Übergängen und dem anspruchsvollen

Auftreten der unteren Ware ist hier die Bedeutung der literarischen

Wertung besonders klar. Auch in der geschichtlichen

Folge eine beängstigende Mannigfaltigkeit: von den

Liebesgeschichten des spätgriechischen Romans bis zur Gegenwart

lösen sich ab: der Abenteuerroman des Mittelalters, die

Ritterromane, die Volksbücher, der Schelmenroman, der

Schäferroman, der höfisch-politische Barockroman, die Robinsonaden,

die Staatsromane, die Familienromane psychologischer

Art, die Wertherromane, dann die reiche Entfaltung

des Bildungsromans, des Künstlerromans, des Geschichtsromans,

endlich die aktuellen Zeitromane, die Problemromane,

die Zukunftsromane. Wobei mit diesen Etiketten

die künstlerisch bedeutsamen Leistungen der Gegenwart gar

nicht greifbar sind: Th. Mann, Hesse, Kafka, Broch, Musil,

V. Woolf, Th. Wolfe, Hemingway, Faulkner, Gide, Proust,

Hamsun, um nur ein paar Namen zu nennen. Und während

man im Anblick dieser Flut oft hören kann, der Roman sei

heute die einzig mögliche dichterische Gestaltungsform,

alles andere antiquiert, museal, ohne Zukunft, hat es sehr

lange gebraucht, bis sich der Roman überhaupt den Rang

einer Dichtung sichern konnte. Noch Schiller nennt ihn eine

halbpoetische Gattung. Und gerade weil im Gebiet des Romans

der Übergang zur unbedingt undichterischen Schreiberei

am unauffälligsten ist, ist besondere Achtsamkeit und

Verantwortlichkeit am Platz.



Dazu tritt ein weiteres: im künstlerisch gewichtigen Roman

der unmittelbaren Gegenwart tauchen so neue Züge

auf, daß man vielfach von etwas ganz Neuem gesprochen hat,

daß man oft meint, der übliche Roman sei zu Ende, jetzt

werde etwas ganz anderes geschaffen: Untergang und Übergang

der epischen Kunstform, wie Kahler gesagt hat. Sicher

weisen viele bedeutende Gegenwartsromane ganz neue künstlerische

Merkmale auf, scheinen mit der ganzen Vergangenheit

künstlerischer Art auf dem Gebiet der epischen Kunst

zu brechen. Wir werden diese neuen Züge herausheben müssen. |#f0550 : 534|



Aber dreierlei ist dabei zu beachten. 1. Neben diesen

Romanen, die scheinbar die bisherige Form zerbrechen oder

langsam auflösen, gibt es auch andere in unserer Zeit, die die

Tradition aufrechterhalten. Das sind nicht nur die Unmenge

der Unterhaltungsromane, die kaum einmal neue künstlerische

Wagnisse des Erzählens aufweisen, sondern auch bedeutende

dichterische Leistungen. Ihnen gegenüber zeigt

dann die Kritik eine doppelte Haltung: entweder tut sie sie

mit den Worten »veraltet«, problemlos, seicht, oder gar mit

politischer Diffamierung ab, oder sie sucht krampfhaft nach

Zügen, die sie nun auch zur einzig möglichen modernen

Kunst stempeln. Entscheidungen sind hier oft sehr schwer:

der Kampf zwischen Revolution und Tradition ist sehr scharf,

und es muß beachtet werden, daß Traditionsgebundenheit

sicher auch unschöpferisches, plattes Epigonentum sein kann,

daß aber Revolution auch unkünstlerisches Experimentieren,

freches Auftrumpfen und Zerstörung um der Zerstörung

willen bedeuten kann. 2. Viele Züge des modernen Romans

sind gar nicht modern. Wir finden sie früher schon. Wir sind

bei tieferer geschichtlicher Betrachtung erstaunt, daß manches,

was uns heute als das künstlerisch Neue hingestellt

wird, schon im Barockroman oder in den Romanen der deutschen

Romantik zu finden ist. Theoretische Forderungen der

Brüder Schlegel und Hardenbergs und Versuche E. T. A.

Hoffmanns, besonders sein »Kater Murr« werden vom modernen

Roman wieder aufgenommen und weitergeführt. Der

Roman der früheren Goethezeit und des 19. Jahrhunderts

würde dann mit dem der Aufklärungszeit eine engere Einheit

gegenüber dem Zusammenhang Barock-Romantik-Moderne

bilden. Ein solcher geschichtlicher Blick schränkt den Ruhm

der Neuheit doch wesentlich ein. 3. Wir müssen immer beachten,

daß die letzten 30─40 Jahre des Romanschaffens einem,

das vom späten Altertum bis Ende des 19. Jahrhunderts reicht,

gegenübersteht. Das zwingt zur Bescheidenheit, vor allem

in den Prognosen. Und selbstverständlich versuchen wir hier,

ein Gesamtbild der Kunstform des Romans zu geben. Doch

sollen immerhin die Züge des modernen Romans beachtet

werden. Auf alle Fälle kann man noch nicht sagen, daß der |#f0551 : 535|



moderne Roman im großen gesehen die Erzählhaltung aufgegeben

hat, er gehört also immer noch zur Erzählkunst. Freilich

bringen manche der gewagtesten Versuche auch die Gefahr

mit sich, das eigentliche Wesen des Erzählens einzubüßen.

Wie das weitergehen wird, kann man nicht sagen.

Wenn wertvolles Neues im Rahmen der Dichtkunst errungen

werden soll und kann, muß man auch zu Opfern bereit sein,

aber nur dann.



Von vielen Blickpunkten aus kann und muß der Roman betrachtet

werden, um einen annähernd vollständigen Überblick

über seine Möglichkeiten und künstlerischen Formen zu gewähren.

Die Beispiele dürfen nicht bloß aus unserem Jahrhundert

stammen, sondern der Blick muß weitergehen.

Trotzdem ist es in diesem Rahmen unmöglich, Vollständigkeit

der Darstellung zu gewinnen. Der Vergleich mit dem

Epos oder mit den kurzepischen Formen kann vielfach klären

und helfen. Wir betrachten zuerst Mensch und Welt im

Roman, dann die Formprobleme und versuchen danach eine

Übersicht vom inhaltlichen Gesichtspunkt.



1. Epos und Roman erwachsen aus verschiedenen Kulturlagen.

Das Epos ist die Frucht einer Frühstufe. Das heißt

weder primitiv noch ganz ursprünglich, denn vor den homerischen

Epen liegen andere Erzählformen, kann sein, daß sie mit

dem altgermanischen Heldenlied im künstlerischen Sinn verwandt

sind. Der Roman ist ein Erzeugnis einer reich entfalteten,

teilweise einer Spätkultur. Das ist schon der Fall mit

dem spätantiken Roman. Die Epen des Mittelalters kann man

als die einer neuen Frühstufe ansehen, als die des christlichen

Abendlandes. Wenn seither Epen versucht worden sind, so

erkennt man, daß auch sie eine »Frühe« geistiger Art wieder zu

gewinnen suchen: sie wollen zu neu errungener Einfalt, das

heißt zu einer überwölbenden und rückläufigen Überwindung

der kulturellen und geistigen Aufsplitterung vordringen.

Das ist Rückbindung und Vorschreiten zu neuer Synthese

in einem.



In der Differenziertheit der Welt für uns liegt auch der entscheidende

Unterschied zwischen dem Weltbild des Epos und

dem des Romans. Die im Menschengeist aufgebaute Welt des |#f0552 : 536|



Epos ist eine geschlossene Totalität ohne Anfang und Ende,

man steht in einem umfassenden Kosmos, von ihm völlig umfangen.

Der Kosmos ist vom Mythos vorausgeschöpft und

wird im Sinne des Mythos vom Epos künstlerisch ausgestaltet.

Der Roman macht die Welt lebendig, wie sie sich in der Entfaltung

der Geschichte, durch die ständige Anreicherung und

innere Ausgliederung und unsere menschlichen Reaktionen

darauf ausgebildet hat. Die Welt unserer Zeit droht immer

mehr die Übersichtlichkeit und den Zusammenhang zu verlieren,

neue rätsel- und grauenhafte, aber auch überwältigende

Seiten und Bereiche enthüllen sich uns und differenzieren

auch unser Inneres in der Auseinandersetzung mit dieser

Wirklichkeitsfülle immer reicher aus. Nur größte schöpferische

Kraft vermag unsere Welt als Ganzheit zu sehen und zu

gestalten, ohne sie zu verharmlosen und zu verärmlichen.

»Die Epopöe gestaltet eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität,

der Roman sucht gestaltend die verborgene Totalität

des Lebens aufzudecken und aufzubauen ... So objektiviert

sich die formbestimmende Grundgesinnung des Romans

als Psychologie des Romanhelden: sie sind Suchende« (Lukàcs).

Zugleich muß überdacht werden, daß die dichterische Weltgestaltung

gerade in unserer Zeit, wo Wandel und dauernde

Umbildung zum Wesen der Welt gehören, auch das Fließen

des Lebens in den Roman hineinformen, Bewegung und

dauerndes Anderswerden in künstlerische Gestalt bändigen soll.



Diese Wandlungen führen auch zu einer ganz anderen Art

des Welterlebens; der Mensch steht im Epos anders zur Welt

als im Roman. Im Epos ist sie gegeben, der Mensch ist in sie

hineingestellt und findet dieses Umhülltsein als selbstverständlich.

Zugleich erlebt er die Welt als Totalität und als Harmonie.

Sie ist von vornherein da, und er übernimmt sie so in

seinen Geist. Der Mensch des Romans steht der ihn umgebenden

Wirklichkeit und der Wirklichkeit seines eigenen Inneren

kritisch gegenüber. Sie erscheint ihm zunächst als ein Chaos,

ein Labyrinth, er ist von der Fülle und Disparatheit des ihm

Entgegentretenden zunächst erdrückt und beängstigt. Und

nun geht er auf die Suche nach der Ganzheit und Einheit

dieser Vielheit. Ein geistiger Abenteurerweg. Diese Auseinandersetzung |#f0553 : 537|



kann in zweifacher Bewegung vor sich gehen.

Als ein allmähliches Ringen mit dem Weltstoff auf der einen

Seite: dabei gelingt es dem Menschen, den Weltstoff zu

ordnen, als Ganzheit zu erfassen, und er bereichert dadurch

sein Inneres und entfaltet alle seine inneren Kräfte zugleich, in

einer im großen gesehen stetigen Entwicklung erbaut sich der

Mensch die Welt zu einer totalen Harmonie und sich selbst zu

einem Mikrokosmos, zu einer Persönlichkeit. Das ist der

große Weg der Bildungsromane. Scheitert er in diesem Versuch,

so kommt es zu tragischen Romanen: Werther, Wahlverwandtschaften,

Maler Nolten, erste Fassung des Grünen

Heinrich. Als katastrophenartige Einbrüche der Welt auf der

anderen Seite: die Welt oder auch das Jenseitige, die Überwelt

bricht plötzlich ins Menschliche herein. Der Mensch ist damit

vor unvorhergesehene sittliche und existentielle Entscheidungen

gestellt, die Überfälle führen zu Wiedergeburten und

entscheidenden inneren Wandlungen. Aber auch hier sind

tragische Ausgänge möglich: der Einbruch der Welt führt

zum Zusammenbruch des Menschen.



Damit ergibt sich, daß der Mensch selbst im Roman ein

anderer ist als im Epos. Im Epos steht er ganz eingehüllt in

eine Lebensgemeinschaft, als ein Glied in ihr. Trotzdem aber

ist er eine Persönlichkeit. Er zeigt sich in seiner ganzen gerundeten

Fülle, in einer Vitalität ohnegleichen. Weiter sind

die Menschen in den großen Epen Adelsmenschen in jedem

Sinne des Wortes. Nicht ein ganzes Volk lebt im Epos, sondern

ein Adelsmenschentum: Helden, Begeisterte, Abenteurer,

auch große Verbrecher, auf alle Fälle Menschen über dem

Durchschnitt. Der Roman macht in seiner Menschengestaltung

keine Einschränkung: alle Schichten werden gestaltet.

Die Selbständigkeit ist hier eine andere als im Epos. Dort

innere Fülle und Lebenskraft im Rahmen einer Lebensgemeinschaft,

die ihm selbstverständlich ist, hier ausgebildete

Individuen, jeweilige menschliche Sonderformen; damit

aber lockert sich zugleich die natürliche Bindung zur Lebensgemeinschaft,

es bilden sich Gesellschaften, in denen Menschen

aus rationalen Beweggründen zusammengeschlossen werden.



So wird im Roman das Problem der Subjektivität brennend, |#f0554 : 538|



und zwar in dreifacher Hinsicht. Zunächst schon werden die

Teile eines Romans wegen der Ausdifferenziertheit der in ihm

gestalteten Welt in sich selbständiger, sie werden zu Gebilden

für sich, gleichsam eigene Individualitäten. Dann entfaltet

sich die Innerlichkeit der Romanfiguren in stärkster Weise,

besonders eben dadurch, daß sie einer zunächst fremden

Welt gegenüberstehen. Nur in der ausgebildeten Individualität

finden sie da in sich einen Halt. Und endlich wird im

Roman diese Spannung zwischen menschlicher Subjektivität

und gegenüberstehender fremder Welt von einem ganz bestimmten

Blickpunkt aus gesehen: die Subjektivität des Erzählers

tritt hinzu.



Für die Gestaltung des Romans ist dann, wie wir schon bei

den allgemeinen Betrachtungen zur Epik gesehen haben, das

Menschenbild, das in ihm lebendig wird, von großer Bedeutung.

Das Menschenbild im Roman wandelt sich entsprechend

der geschichtlichen Entwicklung, und dadurch ist auch mancher

entscheidende Formwandel bedingt. Im Barockzeitalter

zeigt das Bild der Menschen immer eine bestimmte Normiertheit:

der Mensch ist entweder tugendhaft oder ein Bösewicht.

Die Tugendhaften sind immer durch ihre feste und klare

innere Haltung gegenüber allen Anstürmen der bösen Welt

gekennzeichnet. Die Bösen sind die Gewaltsamen, die Bewegung

ins Ganze bringen, die selbst starke innere Umbrüche

erleben. Damit ergibt sich schon eine bestimmte Struktur des

Romans, sie wird aber noch weiterhin dadurch festgelegt, daß

jeder einzelne Schritt der Handlung, jede Episode, jeder neue

Umschwung, der durch einen Gewaltmenschen erzwungen

wird und den die tugendhafte Gestalt mit gleicher Würde

trägt, nie so sehr ein Glied in einer fortlaufenden Kette ist, als

vielmehr eine neue Situation, die unmittelbar zu Gott, zum

Überirdischen steht. So stellt ein Barockroman eine Reihe

von Stationen dar, in denen sich der Mensch bewähren muß,

die für ihn gottgeschickt sind ─ darin ruht die symbolische

Funktion des Bösewichts. Eine Entwicklung des Menschen,

besonders des tugendhaften, ist dadurch nicht gegeben. So hat

der Barockroman auch kein zielhaftes Ende, auch die einzelnen

Situationen sind nicht aus einem Gesamtorganismus |#f0555 : 539|



heraus an eine bestimmte Stelle im Roman sinnhaft gebunden,

man könnte sie auch vertauschen.



Mit der Säkularisierung der Aufklärungszeit, mit der fortschreitenden

Psychologisierung des Menschenbildes wandelt

sich auch die Romanform. Der Mensch ist jetzt ein in sich geschlossenes,

selbständiges Wesen, in sich determiniert. Die

Außenwelt, nicht mehr die Überwelt, ruft eine Entwicklung

im Inneren des Menschen hervor, indem er sich mit ihr ständig

auseinandersetzt und dabei seine Art ausbildet. Die

höchste Form erreicht in dieser Hinsicht der Bildungsroman,

der das Heranwachsen einer Persönlichkeit in der Auseinandersetzung

mit der Welt gestaltet. Der Liberalismus des

19. Jahrhunderts übersteigert noch die Selbstbestimmtheit des

Individuums. Aus solchem Menschenbild entsteht eine durchgehende,

klare Linie des Geschehnisablaufes, der nur selten

und in verhältnismäßig kurzen Teilen zu Rahmungen, Rückgriffen

und Umschichtungen greift. Vielleicht ist die Umwandlung

der ersten in die zweite Fassung von Kellers

»Grünem Heinrich« bezeichnend für dieses Menschenbild,

auch in der Form des Romanablaufs. Nur in der Romantik

sind Ausnahmen zu beobachten; aber zugleich ist da auch

das Menschenbild durch die Ausrichtung alles Seins auf ein

Höheres, Hintergründiges wesentlich anders.



Die moderne Welt unseres Jahrhunderts hat auch ein

anderes Menschenbild geschaffen. Ganz allgemein ist es gekennzeichnet

durch die Fragwürdigkeit alles Kreatürlichen,

der Welt und des Menschen im Anblick der furchtbaren

Katastrophen der Zeit. Die Psychologisierung, die den Entwicklungsroman

des 19. Jahrhunderts immer mehr bestimmt

hat, tritt jetzt gänzlich zurück. Denn diese Psychologie war

geschaffen für ein Einzelwesen, dessen Eigentliches sich in

seinem klaren Bewußtsein abspielte. Nun aber wandelte sich

das Menschenbild entscheidend in zweifacher Richtung. Einmal

wurde der Mensch immer deutlicher in die mannigfachsten

Kollektive eingespannt. Man überlege, zu wie vielen

Gemeinschaften, Gesellschaften, Genossenschaften, Vereinen

und Verbänden ein normaler Mensch unserer Zeit gehört und

teilweise gehören muß. Der Mensch wird immer mehr ein |#f0556 : 540|



Stücklein in einer kaum überblickbaren Masse. Die Technisierung

und die Bürokratisierung sind nur Zeichen dafür.

Daneben aber ─ gleichsam als Gegengewicht ─ erfaßt man nun

Untergründe, Tiefenschichten im Menschen, die der Psychologie

des 19. Jahrhunderts unbekannt waren. Dreifach ist der

Vorstoß in die Seelengründe, durch die das moderne Menschenbild

geprägt ist. Das eine sind die Bereiche, die die Tiefenpsychologie

erschließt. Sie leuchtet als Psychoanalyse oder

als Tiefenpsychologie Jungscher Prägung in die Bereiche des

Unter- und des Unbewußten, in die Bereiche auch, wo ältestes

Erbgut der Menschheit ruht und wirkt. Man erlebt nun, wie

aus solchen Gründen Regungen, Anstöße und Handlungsweisen

erwachsen und daß manchmal in bestimmten Leistungen

des Menschen urmenschliche Züge spürbar werden. Man

spricht vom Archetypischen in menschlichen Verhaltensweisen.

Das andere ist der Existentialismus. Der Mensch

fühlt sich angeekelt von der Welt, erschüttert von allem

Chaotischen, das keinen Halt mehr gibt, er fühlt alle Rationalität

diesen Lagen gegenüber sinnlos und sucht nach letztem

Halt, nach dem Eigentlichen des Daseins. Alle Weltoberfläche

der Um- und Mitwelt entfremdet sich ihm, er sucht

nur mehr im innersten Sein den festen Grund. Aus solcher

Haltung kann der Weltekel erfließen, Sartres »Nausée«, der

Mensch hat sich am atomistischen Positivismus übersättigt.

Und nun zerschlägt er alle Sinnreste in Futurismus und Surrealismus.

Allerdings ist das nur eine Seite existentieller Haltung;

es kann dieses Bohren zum Daseinsgrund auch Ansatz eines

Neuaufbaus aus dem Innersten werden. Das dritte endlich ist

der Versuch, aus allem Positivismus und aller drohenden

Sinnlosigkeit heraus vom Innersten der menschlichen Möglichkeiten

her zu einer Sinngebung vorzudringen, die die

kahle Wirklichkeit in und um uns wieder zurückläßt, man

erreicht eine gewisse innerweltliche Transzendenz (Kahler),

vor allem sucht das Broch im »Tod des Vergil«, besonders in

den letzten großen Partien zu gestalten.



Daß dieses völlig umgebaute Menschenbild auch die

Romanform der früheren Zeit fragwürdig macht, ist klar.

Das Kollektiv führt dazu, das Einzelindividuum zurückzudrängen, |#f0557 : 541|



es hineinzustellen in die Fülle menschlicher und

dinglicher Bezüge des Alltags, es wirbelt in modernen Romanen

vielfach nur mehr eine Gesellschaftswelt vor uns

vorüber. Meisterhaft ist das Doderer in der »Strudlhofstiege«

gelungen. Der Blick in die Seelengründe aber, der nun Geheimstes

ans Tageslicht zieht, führt der künstlerischen Gestaltung

ganz neue Bereiche zu: die Bewußtseinsbewegungen,

das Unterbewußte, den Durchstoß zu außerzeitlichen Daseinsgründen.

Das ergibt neue Möglichkeiten des Aufbaus,

der Zeitschichtung und der Perspektiven.



2. Wir sind damit schon zu den Fragen der künstlerischen

Gestaltung des Romans gekommen. Wieder ergibt schon der

Vergleich mit dem Epos manches. Während das Epos breit

dahinströmt und in die breite, ausgewogene Gestaltung auch

die einzelnen Episoden hineinzieht, so daß sie sich gar nicht

scharf gegeneinander abheben, gewinnen die Teile des Romans

mehr Selbständigkeit, die Gliederung wird deutlicher, mannigfaltiger,

und so kann es auch zu Steigerungen, Spannungen,

Lösungen, zu Absinken und Wiederanstieg kommen. Der

Bau des Romans ist viel differenzierter, viel artikulierter.



Dabei ist die Frage, ob Vers oder Prosa, zwar wichtig, aber

nicht entscheidend. Das Entscheidende ist die allgemeine

durchgehende stilhafte Gestaltung der Sprache überhaupt.

Und aus dem, was wir über den Sprachstil des Epos gesagt

haben, ergibt sich: der Vers ist zwar keine unbedingte Voraussetzung

eines Epos, wohl aber ein Anzeichen der Kunst

eines Epos. Er schafft die Erhebung über den Alltag, die Verwesentlichung,

damit auch die Distanz vom Geschehen,

fördert also das epische Zuschauen. Im durchgehenden

Rhythmus kommt eine innerste Haltung des Menschen zum

Ausdruck, zugleich aber wird die ganze dargestellte Welt in

diesen weiten Dauerrhythmus eingefangen und beginnt als

Kosmos sich rhythmisch zu bewegen. Die Feierlichkeit entspricht

der Größe und Welthaltigkeit. Auch gewährt der

Vers mit der Enthebung Beseligung, Leichtigkeit, Lockerung

der Bande, die uns an den Alltag fesseln und das Leben unwürdig

umschlingen. Dem Epos liegt also grundsätzlich die

Versgestaltung nahe, dem Roman die Prosa, da sie die Mannigfaltigkeit |#f0558 : 542|



der Menschen und der Welt, die der Romandichter

zu bewältigen hat, leichter in dieser ungeordneten Vielgestalt

formen kann. Aber man spricht vielleicht mit Recht von ritterlichen

Versromanen wie dem »Iwein« und dem »Tristan«,

weil hier die Welt doch schon sehr von einem ganz persönlichen

Schicksal eines Einzelwesens gesehen wird und es auf

diesen Einzelmenschen ankommt. Und man hat ebenso mit

Recht von manchen neueren Werken gsagt, sie seien eine Art

Prosa-Epos. Am meisten wohl gilt das für Stifters »Witiko«.

Die Sprachgestaltung ist trotz der Prosa rhythmisch ganz

eigenartig und unverkennbar durchgebildet, die Bilder und

die Formeln arbeiten auf das Dauernde und Gegründete hin.



Da die künstlerische Gestaltung des Romans so eng mit der

Art des Weltergreifens zusammenhängt, ergibt sich, daß mit

der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Welt auch neue

Formmöglichkeiten im Roman ausgebildet werden. Besonders

heute sucht man im Roman immer neue Formen der

künstlerischen Darstellung, Einbau verschiedenster Sprachdarstellungen

und neue rhythmisch-klangliche Gebilde. Auch

die Tatsache, daß heute der Autor dem Leser nur mehr über

das bedruckte Papier begegnet, ist formal nicht ohne Bedeutung.

So herrscht vielfach ein kühnes Experimentieren, und

die Rationalisierung macht sich auch hier schon bemerkbar.

Freilich ist es falsch, wenn man bewußtes und durch Denken

geleitetes künstlerisches Schaffen nur der heutigen Zeit zubilligt

und meint, früher habe man »unbewußt« geschaffen.

Auch Dichter früherer Zeiten haben denkend gebaut, aber

es sind dann trotzdem geschlossene Kunstwerke entstanden.

Heute besteht die Gefahr bloßer Konstruktion im Romanschaffen.





Für die Gestaltungsmöglichkeiten des Romans als einer

großepischen Art ist natürlich der Ausgangspunkt, daß auch

er eine erzählte Geschichte ist. In ihm wird ein freilich oft sehr

ausgedehnter und reich entfalteter Vorgang von einem

Menschen erzählt. Dazu gehört vor allem ein innerer Zusammenhang

des Erzählten. Der Vorgang muß im großen

gesehen eine höhere Einheit bilden, er muß durch Einmaligkeit

gekennzeichnet sein. Der Positivismus des 19. Jahrhunderts, |#f0559 : 543|



aber auch der Rationalismus, der schon im Barockzeitalter

zu beobachten ist, gestalten diesen Zusammenhang

meist rein ursächlich, d. h. alle Teilvorgänge stehen im engsten

ursächlichen Verhältnis, strengste Motivierung jedes einzelnen

Zuges ergibt sich aus solcher Auffassung des inneren Zusammenhangs.

Dem großen Dichter wird dabei ein Werk eindrucksvoller

Geschlossenheit gelingen, in den Barockromanen

verbirgt sich diese vollkommene Verzahnung und gegenseitige

Ursächlichkeit hinter einem prächtigen Mantel rauschender

Bewegung und erregender Vorgänge, dem Bildungsroman

verschafft solche Bauweise die wirkungsvolle Bewegung

in der Entfaltung und inneren Formung eines Menschen.

Dabei müssen die ursächlichen Zusammenhänge nicht von

vornherein aufgedeckt werden. Im Gegenteil, je mehr das

Rätselhafte und Geheimnisvolle sich erst gegen Ende immer

mehr lichtet und auflöst, desto spannungsreicher erscheint

ein solcher Roman erzählt. Man denke vor allem an die Gestalten

Mignons und des Harfners und an die Gesellschaft vom

Turm in den »Lehrjahren«. Aber diese kausale Schließung des

Gesamtvorgangs zu einer höheren Ganzheit ist nicht die

einzige Möglichkeit, den Roman zu einer Totalität zu formen.

Der Dichter kann auch jeweils einzelne Szenen mit eindringlicher

Kraft gestalten, gleichsam je einzelne Stücke der dichterischen

Wirklichkeit ganz greifbar vor uns hinstellen; sie

stehen dann einfach in ihrer Unmittelbarkeit selbstverständlich

vor uns, jede Frage nach der Motivierung, nach Ursache

und Wirkung wird überflüssig. Und so folgt eine Szene nach

der anderen, scheinbar sprunghaft, auch zeitlich und räumlich

ohne jede Kontinuität. Gerade da aber bewährt sich die

bauende Kraft des Dichters. Alle diese für sich bestehenden

Stücke werden doch zu Gliedern eines höheren Ganzen. Sie

schließen sich entweder um eine oder mehrere Personen zusammen,

oder sie bilden in der Stimmungsabfolge einen

tieferen Zusammenhang, oder sie ergänzen sich zu einem

immer reicheren Weltbild.



So wie alles Geschehen auch in der dichterischen Welt

räumlich eingeordnet ist, so muß es auch in bezug zur Zeit

gestaltet sein. Denn anders können wir Menschen Vorgänge |#f0560 : 544|



gar nicht erfassen, auch nicht »erfundene«. Freilich kann der

Dichter Zeitschichten mannigfach gruppieren und verflechten,

er kann das zeitliche Kontinuum scheinbar zerbrechen

und auflösen, aber doch eben nur auf dem Hintergrund eines

durchgehenden Zeiterlebens. Wenn etwa in Elisabeth Langgässers

»Unauslöschlichem Siegel« ein Abschnitt beginnt:

»Zwölf Jahre später ...« oder »viele Jahre früher ...«, so

zeigen gerade diese Zeitbestimmungen die Einordnung der

einzelnen Komplexe in einen zeitlichen Ablauf, der dem

Leser eine Ordnung ermöglicht.



Vom Erzählstandpunkt aus ist es nach dem früher Gesagten

(S. 474 ff.) sogar möglich, Typen von Romanen aufzustellen.

Solche Typen sind ideale Formen, die in der Wirklichkeit

kaum jemals rein vorkommen. Auf der einen Seite

stehen die Er-Formen. Das kann zunächst der sogenannte

auktoriale Roman sein, wo deutlich ein Erzähler am Werk ist

und erzählerisch das Ganze durchgestaltet. Er kann dabei mehr

eine olympische Überschau geben oder einzelne Szenen wirkungsvoll

herausgestalten. Dann der personale Roman. Hier

steht zwar auch ein Erzähler im Hintergrund, aber genauer

genommen kriecht er in das Innere einer Romanfigur hinein

und sieht und erlebt alles von diesem Standpunkt aus und

gestaltet es auch so: eine Möglichkeit, die besonders der moderne

Roman vielfach ausnützt. Zwischen diesen beiden trotz

der Er-Form sehr verschiedenen Typen schalten sich die Ich-

Romane ein. Aber auch hier gibt es zwei Spielarten. Das eine

Mal steht mehr das erlebende Ich im Vordergrund, ganz deutlich,

wenn etwa ein Roman in Tagebuchform geschrieben

wäre, auch die Briefromane gehören dazu. Doch kann man

auch in Stifters »Nachsommer« eher diese Art durchscheinen

sehen. Das andere Mal steht mehr das erzählende Ich im Vordergund,

also entweder eine Nebenfigur, oder der Erzähler hat

den Vorgang selbst erlebt, erzählt ihn aber später, so daß er

ganz anders den Geschehnissen gegenübersteht, da er zurückblicken

kann und schon reifer geworden ist. Besonders deutlich

ist das in Melvilles »Moby Dick«, aber auch in der Anlage

des »Hyperion« können wir solche Gestaltzüge beobachten.

Diese vier Typen lassen sich aber nie scharf trennen, es gibt |#f0561 : 545|



zahlreiche unmerkliche Übergänge von einer zur anderen

Form. Zugleich wird es kaum einen Roman geben, der eine

dieser Formen ausschließlich einsetzt. Es werden sich immer

irgendwie alle vier, wenigstens in verschiedenen Teilen,

finden. Aber entscheidend ist nun, wie der Dichter diese vier

Möglichkeiten zusammenfügt, welche im allgemeinen und

welche an einzelnen Stellen, in einzelnen Phasen und Episoden

vorherrschen. Man erkennt daran, welche reiche künstlerische

Möglichkeiten der Romandichter hat, um gerade dieses

Erzählerische wirksam zu machen, um den Erzählstandpunkt

in verschiedener Weise zu wechseln oder zu ändern und damit

der Darstellung des Gesamtvorgangs immer neue Seiten abzugewinnen

und gleichsam durch solche Verquickungen auch

die Fülle des Welterlebens lebendig zu machen.



Gerade von der Sicht auf den Erzählstandpunkt aus können

nun neuere Versuche überblickt und geordnet werden. Ein

Zug des modernen Romans ist die Lockerung des äußeren

Geschehens. Im »Simplizissimus«, im »Don Quijote«, aber

auch im »Wilhelm Meister« und im »Kater Murr« stehen die

tatsächlichen Vorgänge deutlich im Vordergrund: in den

einzelnen Ereignissen vollzieht sich der Vorgang und wird das

Tiefere greifbar. So ist es ja auch bei der Überzahl moderner

Unterhaltungsromane. Man denke aber an Romane von

Proust, V. Woolf, auch an den »Ulysses« von Joyce: hier

treten die greifbaren Vorgänge, die man leicht in einer Inhaltsangabe

bringen kann, stark gegenüber anderem zurück.

Die Fabel im Sinne des als Erzählung gesehenen Vorgangs

verschwindet oft nahezu und macht einer übertriebenen Zergliederung

seelischer Vorgänge Platz. Das Konkrete verliert

an Bedeutung gegenüber dem Ungreifbaren. Oft hat man den

Eindruck, daß es dem Romandichter gar nicht mehr darauf

ankomme, eine Welt dichterisch vor uns aufzubauen, sondern

darauf, in alle Falten und Geheimnisse unserer Welt

hineinzuleuchten und damit deren Gefüge zu durchleuchten.



Ein weiterer Zug ist der häufige und auffällige Wechsel des

Erzählstandpunkts. Das Orientierungszentrum ist nicht immer

die gleiche Person, sondern es kann von Szene zu Szene

wechseln. Immer wieder werden die einzelnen Personen und |#f0562 : 546|



Vorgänge von anderen Standpunkten angeleuchtet, so daß

durch solche »vielpersonige Bewußtseinsdarstellung« (Auerbach)

die Menschen und Vorgänge mit der Zeit gegenseitig

immer heller in ihrer Art heraustreten. Der Erzähler macht

sich hier nicht mehr persönlich bemerkbar, sondern das

Tiefere enthüllt sich gerade im Bau und in solcher mannigfaltigen

Anlage. Es kann soweit kommen, daß, etwa im

»Ulysses«, die einheitstiftende Erzählsituation überhaupt

fehlt. Man könnte sie höchstens noch im Bewußtseinsstrom

des Autors im Augenblick des Konzeptionsvorgangs sehen,

wie man das beim »Ulysses« getan hat. Damit aber würde

wieder der Erzähler, allerdings selbst in einer ganz konkreten

Situation außerhalb des Romangeschehens, durchdringen.

Sicherlich tritt in gewissen modernen Romanen, und gewiß

gerade in künstlerisch bedeutenden, der Erzähler als menschliches

Wesen zurück. Man darf das aber nicht verallgemeinern

und zu einem Zug aller Epik machen. Denn demgegenüber

steht eine auffällige andere Tatsache: daß man im modernen

Theater dafür den Autor als den Einrichter, Ordner und Gestalter

der dramatischen Handlung auf der Bühne und im

Ablauf des Dramas deutlich spürbar machen will: das sogenannte

epische Theater. So erhebt sich hier eine deutliche

künstlerische Frage an den modernen Roman: wie können

Überhandnehmen der Gespräche zugleich mit dem Zurücktreten

des Erzählers und ausgebreitete Analyse einzelner innerer

Vorgänge noch mit Gestaltung eines fortlaufenden, erzählbaren

Geschehens verbunden werden?



Die Menschengestaltung im Roman folgt im allgemeinen

den Grundsätzen, die für epische Dichtung überhaupt gelten.

Es brauchen also hier nur Züge herausgegriffen zu werden, die

besonders dem modernen Roman eignen. Mit dem stärkeren

Zurücktreten des Erzählers drängen die Personen des Romans

selber deutlicher vor. Das zeigt sich in einer starken Zunahme

der Gespräche in modernen Romanen, weiterhin aber vor

allem in der Häufigkeit der erlebten Rede. Mit der Betonung

des personalen Standpunkts ergibt sich das von selbst. Wir

erkennen hier deutlich den Zusammenhang einer geistesgeschichtlichen

Entwicklung mit einer künstlerischen: je |#f0563 : 547|



mehr man den Geheimnissen und inneren Vorgängen des

Menschen auf den Grund geht, desto mehr auch drängen

künstlerische Gestaltungen vor, die eben diese Tiefenschichten

des Menschen herausformen können. Nur ein personaler

Erzählstandpunkt vermag ganz die innersten seelischen Bewegnisse

eines Menschen herauszustellen, und das wiederum

treibt die Form der erlebten Rede immer mehr heraus und

hilft sie künstlerisch immer weiter auszugestalten. Denn sie

gerade macht es vor allem möglich, die inneren Vorgänge

künstlerisch darzustellen, ohne daß man zur reinen Ich-Form

greifen müßte. Mit andern Worten: in der erlebten Rede

bleibt immer noch der Erzähler spürbar, denn durch die

dritte Person der Romanfiguren wird deutlich, daß sie immer

noch sein »Objekt« bleiben, aber zugleich vermag diese Kunstform

sie zu »Subjekten« ihrer eigenen Aussagen zu machen.

Gewiß entsteht so eine Verunklärung des Standpunkts, etwas

Schwebendes, das zu Unsicherheit und Verschwommenheit

des künstlerischen Gebildes führen kann, wenn es überhand

nimmt und die gestalterische Kraft des Erzählers ganz versinkt.





Wir sind damit bei den künstlerischen Formen angelangt,

die die heutige Erzählkunst ausgebildet hat, um die inneren

seelischen Vorgänge der Menschen zu gestalten. Man kann

drei Möglichkeiten unterscheiden. Die eine ist altbekannt und

schon immer geübt: der Erzähler selbst ist der Allwissende und

kennt die geheimsten Regungen seiner Geschöpfe; daher

analysiert er sie persönlich. Damit kann er sie zugleich deuten.

Der Erzähler selbst also spricht in jedem Satz, er selbst führt

den Leser in das Innere seiner Gestalten. Gewiß kann das oft

aufdringlich wirken. Daher haben manche große Erzähler

versucht, einen festen Standpunkt außerhalb der Person einzunehmen,

so daß aus dem äußeren Bild und den beschriebenen

Gebärden auf das Innere zu schließen ist. Besonders

Stifter hat diese Darstellungsart im »Witiko« mit stärkster

Folgerichtigkeit durchgeführt. Die zweite Möglichkeit ist der

sogenannte innere Monolog. Hier formuliert der Dichter den

inneren Vorgang aus den Gedanken und mit den Worten der

betreffenden Person; sie selbst gestaltet sprachlich für sich und |#f0564 : 548|



dadurch für uns, was sie innerlich bewegt. Es wird also nicht

das, was in ihr vorgeht, unmittelbar dargestellt, sondern

schon in der Spiegelung und Formung durch die Person. Die

dritte Möglichkeit bezeichnet man heute als die Technik des

Bewußtseinsstroms (stream of consciousness technique). Die

Vorgänge der Seele, Gefühle, Strebungen, Willensimpulse,

Gedanken, Urteile, Wahrnehmungen, Vorstellungen usw.

werden in der Fülle, Verquicktheit und oft scheinbaren Verworrenheit,

so wie sie miteinander und nacheinander ablaufen,

auf längere Strecken oder durch ein ganzes Buch beinahe

peinlich genau registriert und sprachlich dargestellt. Man behauptet

dabei, daß hier jede Deutung durch den Erzähler

fehle. Natürlich kann in einem Buch die Person wechseln,

deren Bewußtseinsstrom dargestellt wird. Als Beispiel kann

etwa vor allem V. Woolfs »Mrs. Dalloway« dienen, aber auch

andere Romane dieser Dichterin und bis zu einem gewissen

Grad auch »Der Tod des Vergil« von Hermann Broch. Man

hat nun zu fragen, worin die künstlerische Eigenart und Möglichkeit

solcher Gestaltung besteht, worin also solche Technik

sich von psychologischer Registrierung unterscheidet. Zunächst

vermag der echte Sprachkünstler solche Darstellungen

in den Bereich der reinen Sprachkunst zu heben. Er vermag

durch den Rhythmus, den Satzablauf, durch die Aufeinanderfolge

von Ausrufen, Anrufen und Bildern sogleich eine seelische

Lage in ihrer Fülle zu formen und in ihrem Ablauf fühlbar

zu machen. Vor allem aber sind die sprachlichen Bilder

imstande, solche Vorgänge kraftvoll herauszuformen und

damit dem Innersten zugänglich zu machen. Es ist eine Darstellung,

die wirklich das Innerste eines Menschen gestaltet

und damit zugleich durch die Eigentümlichkeit der Sprache

überhaupt verwesentlicht. Solche Darstellung ist aber zugleich

künstlerische Gestaltung im Großen. Zunächst liegt trotz

allem doch eine Deutung durch den Erzähler vor, denn die

Auswahl dessen, was er da im Bewußtsein der von ihm geschaffenen

Personen ablaufen läßt, ist seine Gestaltung, und

zugleich wird dadurch die Art dieser Person deutlich. Ferner

hängt es nun vom Dichter ab, wie er diese Abläufe folgen

läßt, wie er sie in eine bestimmte Bewegung mit Wellenbergen |#f0565 : 549|



und -tälern einfügt, wie er dabei Spannungen erregt und

löst; wie er ferner die mannigfachsten Beziehungen zwischen

diesen Bewußtseinsabläufen der verschiedenen Personen herstellt

und dadurch schon an einer umfassenden Ganzheit baut.

Vor allem aber kommt es darauf an, wie ein solcher Gesamtvorgang

aufgebaut wird. Gewiß kann der Dichter durch

scheinbare Zusammenhangslosigkeit der einzelnen Abläufe

und innerhalb jedes einzelnen Ablaufs gerade die Sinnlosigkeit

der Welt herausarbeiten, aber als Kunstwerk muß das

Ganze doch eben zu einer höheren und greifbaren Einheit

kommen, und wenn es auch nur die Einheit der Disparatheit

ist, die aber doch wieder als künstlerische Ganzheit wirksam

werden muß. Es ist natürlich durchaus möglich, daß der Vorgang,

den der Dichter gestalten will, ein Bewußtseinsstrom

selbst ist. Jedenfalls hat der Dichter durch solche Gestaltungsweisen

neue Möglichkeiten der Menschendarstellung gewonnen,

aber sicher auch künstlerischen Gefahren zu begegnen.

Denn die Gefahr der Auflösung besteht gewiß. Es kann

sein, daß dem Leser alles zwischen den Fingern zerrinnt.

Gerade diese neuen Möglichkeiten verlangen vom Dichter

besondere Gestaltungskraft.



Diese Betrachtung hat uns zugleich darauf geführt, wie der

Dichter im Roman ein Weltbild gestaltet, wie eben auch hier

als einer großepischen Form eine Welttotalität ersteht. Es ist

aus allem Bisherigen ohne weiteres klar, daß die Weltgestaltung

im Laufe der Romangeschichte sich wandelt. Im Großen

läßt sich etwa sagen: Früher wurde das Weltbild aus einem

ablaufenden Großvorgang, aus einer Geschehnisfolge langsam

herausgeformt. Im Leben des Simplex, in den Abenteuerfahrten

des Don Quijote, in der Lebenswanderung des Wilhelm

Meister, in den Schicksalen eines David Copperfield

wird zugleich ihre Welt, und zwar in der Deutung durch den

Dichter, lebendig in ihrer Fülle, Fragwürdigkeit, Schönheit,

Sinnlosigkeit oder Sinntiefe. Heute treten im Roman diese

äußeren Abläufe zurück. Die Welt wird uns vielmehr greifbar

in den Spiegelungen im Inneren einzelner Personen. Zugleich

aber greift der Dichter zu ganz neuen Mitteln, um daneben

doch noch Weltstoff einzubauen. Diese Mittel sind allerdings |#f0566 : 550|



manchmal künstlerisch durchaus bedenklich. Wir werden

davon noch beim Bau des Romans reden.



Im Hinblick auf die Weltgestaltung des Romans kann man

nun verschiedene Typen unterscheiden, je nachdem, welchen

Gesichtspunkt man an die Betrachtung anlegt. Ein erster ist der

auf die Art der gestalteten Welt. Man kann etwa mit Muir

Romane unterscheiden, in denen die Handlung, der Ablauf

der Ereignisse, das Entscheidende ist, andere, in denen das

Verhalten der Menschen in bestimmten Lagen besonders

herausgeformt wird, und endlich solche, in denen ein ganzer

Zeitabschnitt, Handlungen und Menschen in ihrer Art miteinander

verflochten, unter einem höheren Gesetz entfaltet

wird. Der Engländer nennt das novel of action, novel of

character, chronicle. Damit verwandt ist die Einteilung, die

Kayser gibt. Im Handlungsroman kommt es vor allem auf den

Ablauf der Handlung an, der Vorgang steht auch an Tiefenbedeutsamkeit

im Vordergrund. Das ist schon in der Formel

deutlich, auf die man vielfach die Barockromane bringen

kann: ein Paar findet sich, wird durch widrige Umstände

getrennt, muß eine Fülle schwerster Bewährungen durchhalten

und kann sich am Schluß endlich vereinigen. Im Trivial-

und Unterhaltungsroman ist das bis heute die beinahe ausschließliche

Form. Die höchste Kunst erreicht diese Form

vielleicht in Goethes »Wahlverwandtschaften«. Mit gewisser

Vorsicht kann man eine andere Art von Romanen als Raumroman

bezeichnen, wenn man das Wort Raum nur weit genug

faßt. Es sind Romane, in denen die Fülle der Welt unmittelbar

lebendig werden soll. Fieldings »Tom Jones«, Wielands

»Abderiten« und Goethes »Wilhelm Meister« sind die großen

Vorbilder, denen im 19. Jahrhundert Immermanns »Epigonen«,

sein »Münchhausen« und Gotthelfs »Zeitgeist und

Bernergeist« beispielshalber angereiht seien. Solche Romane

haben immer eine gewisse Unabgeschlossenheit, denn es

kommt ja nicht so sehr auf den klaren und deutlichen Schluß

einer Handlung an. Sie können daher zu Fortsetzungen anregen;

und endlich wächst aus solcher Art der Bau von großen

zyklischen Romanen, besonders in Frankreich (Zola, Martin

du Gard). Es kann sich aber die Welt auch in einer einzelnen |#f0567 : 551|



Seele spiegeln. In ihrer Entfaltung, in ihrem Schicksal, die

Kern der ganzen Darstellung sind, wird die Welt um sie

herum greifbar. Man kann das Figurenroman nennen. Zum

erstenmal erscheint diese Art in besonderer Deutlichkeit im

»Werther«. Man kann hier herein den Bildungsroman stellen,

auch den Schelmenroman, in dem sich Abenteuer an Abenteuer

reiht. Wenn man aber die »Lehrjahre« hier ausschaltet,

zeigt sich, daß auch diese Typologie keine eindeutige Zuordnung

und Aufteilung gestattet, sondern eben nur Gesichtspunkte,

nach denen der Gehalt und vor allem der künstlerische

Bau betrachtet werden können.



Eine andere Sicht ergibt sich, wenn man fragt, wie sich das

Verhältnis des Menscheninneren zur Welt im Roman entfaltet

(Lukàcs). Meist wird sich dabei zeigen, daß Seele und

Welt einander unangemessen sind, daß Spannungen zwischen

ihnen bestehen, deren Beschaffenheit Einteilungsmöglichkeiten

ergibt. Ist die Seele schmäler als die ihr zugeordnete

Welt, so lebt sie an ihr vorbei, will ein Ideal verwirklichen,

dem die Welt nicht genügt; die Seele entzaubert also die

Welt von ihrem Standpunkt aus. Das Innere des Menschen

bleibt hier unverändert, es ist reine Aktivität, aber nicht im

Kampf gegen die Welt, sondern im Vorbeigehen an ihr. In

reiner Form kann man diesen abstrakten Idealismus im »Don

Quijote« sehen. Man fragt sich allerdings, ob da überhaupt

ein Verhältnis zwischen beiden vorhanden ist und nicht bloß

ein reines Nebeneinander. Die Seele kann aber auch breiter

angelegt sein als das Schicksal, das ihr die Welt zu bieten vermag.

Hier wird eine reiche, in sich vollendete innere Wirklichkeit

aufgebaut. Die innere Fülle und Selbstsicherheit führt

zum Ausweichen vor der Welt, zu einer gewissen Passivität.

Desillusion der Welt, Maßlosigkeit und Einsamkeit sind die

Folge. Sicherlich gehen nicht alle Romane in diesen beiden

Formen auf, weil ja einleuchtenderweise das nicht die einzigen

Möglichkeiten sind, wie sich Seele und Welt begegnen.

Man hat daher behauptet, daß der »Wilhelm Meister« eine

Vereinigung beider Typen sei.



Die immer größer werdende Weltfülle und die innere

Widersprüchlichkeit dieser Fülle stellen an den Roman, wenn |#f0568 : 552|



er wirklich als großepische Form ein Weltbild geben will,

immer größere Anforderungen. Der moderne Roman versucht

daher vielfach neue Wege. Man schreitet zu einer Art

Abkürzungsverfahren, indem man gewisse Züge und Verhältnisse

der Welt nur mehr in einfachen Zeichen andeutet.

Man spricht von Chiffren, sollte aber den Ausdruck Symbol

dafür vermeiden, denn ein Symbol ist eben mehr als ein abkürzendes

Zeichen. Der gleiche Weg führt auch zu weitgehender

Auflösung des Konkreten und damit zur Abstraktheit, zur

willkürlichen Kombination. Hier liegen die Bereiche des

Surrealismus. Es sind Versuche, schnell, gleichsam im Sprunge

über die nun einmal notwendige Wirklichkeitsverbundenheit

in wesenhafte Bereiche hinüberzukommen. Das Wesenhafte

verliert aber so seine Tiefe und Bedeutsamkeit, seine Kraft, die

Welt zu beleuchten, es verkrampft sich in Zeichen, Andeutungen,

Rätselhaftigkeiten. Auch auf diesem Wege nähert

man sich dem Grotesken, durch das mannigfache Ineinander

von Chiffren aber auch dem Modellmäßigen. Daraus erwächst

der Parabelcharakter moderner Romane, wie man ihn besonders

bei Kafka sehen will. Damit entsteht eine Art Zusammenarbeit

von Kunst und Wissenschaft in der Weltdarstellung

und -deutung. Immer wieder erkennt man, wie gerade der

Roman durch die ihm zugewiesene Aufgabe ständig an

Grenzen dichterischen Gestaltens und damit in dauernde Gefahrenzonen

für die Kunst gerät. In solchen Bereichen ist der

Versuch zu Hause. Aber nicht jeder darf schon als Kunst angesprochen

werden, wenn auch große, echte Dichtungen daraus

hervorwachsen können. Auch an den Sprachstil stellt die neue

Situation erhöhte Ansprüche. Vielseitigkeit, Verflochtenheit

und Fülle der gestalteten Welt sollen auch sprachlich lebendig

werden. Man greift ungestört zu überlieferten Formen, allerdings

vielfach in parodistischem Geist, um zugleich die Veraltetheit

anzudeuten und, wie wir es selbst so herrlich weit

gebracht haben. Vor allem aber spielt die Aktualisierung der

Wortgehalte gerade da eine Rolle: man will die Worte aus

der Verblaßtheit des Alltagsverkehrs herausreißen und mit

ihnen wieder Tieferes andeuten. Durch die möglichen Erfassungsweisen,

die Worte in verschiedenen Zusammenhängen |#f0569 : 553|



haben können, entsteht eine gewisse Vieldeutigkeit.

Diese nützt der moderne Dichter wieder aus, um Fülle,

Bezugsreichtum und Gespanntheit lebendig zu machen. Man

will so viel als möglich zugleich sagen. Joyce ist in diesen Versuchen,

besonders durch wortbildnerische Möglichkeiten, besonders

kühn. Solchem Experimentieren liegt die grundlegende

geistige Haltung der Ironie besonders nahe: als Sicherung

gegenüber dem Leser und, um sich auf alle Fälle die

geistige Freiheit des Spiels mit solchen Versuchen zu wahren.



Die Fülle der Möglichkeiten und Aufgaben, in der dichterischen

Kunst eine Welt aufzubauen, zeigt sich auch im Bau

der Romane. Wir haben schon in der Betrachtung der Ganzheit

und Einheit des dichterischen Werkes darauf hingewiesen.

Es gibt kaum eine Möglichkeit, die nicht schon versucht

worden ist. Und wieder ergeben sich hier verschiedene

Typen von Romanarchitektur. Vielfach wirken Aufbaumuster

lange nach. Das Schema, der Handlung eine Reise unterzulegen,

also die Form des Reiseromans, ist besonders wirksam

und zählebig: »Lehrjahre«, »Wanderjahre«, »Ofterdingen«; ja

noch im »Grünen Heinrich« und im »Zauberberg« scheint es

durch. Auch das Motiv der geheimen Gesellschaften ist langlebig

und kompositorisch wichtig. Es seien im folgenden

einige Typen von Romanaufbau herausgehoben.



Man kann fragen, von welchem Ausgangspunkt der Romanvorgang

ausgeht. Er kann aus einem Einzelmenschen, seiner

Art und seinem Schicksal hervorgehen. Die Erzählweise ist

stark persönlich gefaßt, die Geschehnisse sind als Erlebnisse

eines Einzelmenschen gestaltet, alles Räumliche, Geschichtliche

und Dämonische zentriert sich um einzelne Menschen.

Der Bau eines solchen Romans zeigt eine starke Engführung.

Man kann aber auch vom Weltganzen ausgehen. Die Harmonie

oder Gespanntheit der Welt, die Fülle des Kosmos, die

Verflochtenheit der Vorgänge und Schicksale: das ist der

Baugrundsatz. Überpersönliche Mächte wie Liebe, Zorn,

Leidenschaft bestimmen die Anlage. Der große Barockroman,

aber auch romantische Romane oder Tolstojs »Krieg und

Frieden« sind so angelegt.



Andere Typen ergeben sich, wenn wir fragen, wie der |#f0570 : 554|



Vorgang entfaltet wird. Man kann etwa ein ganzes Leben in

der Fülle seiner Ereignisse schon lange vor der Geburt bis

zum Tode oder weiter ablaufen lassen. So ist es im »Simplizissimus«,

aber auch in Kolbenheyers »Paracelsus«. Vielfach

aber konzentriert der Dichter auch einen solchen Lebenslauf

auf eine gewisse wichtige Entwicklungsstufe, wie man das in

vielen Bildungs- und Entwicklungsromanen sehen kann, die

meist dort beginnen, wo die deutliche Auseinandersetzung

mit der Welt einsetzt, und mit der abgeschlossenen inneren

Formung enden. Oder es wird überhaupt ein Roman nur um

ein Ereignis verdichtet, wie in den »Wahlverwandtschaften«.



Wichtig ist auch die Art, wie der Vorgang durchgeführt ist.

Am üblichsten, besonders im Unterhaltungsroman, aber auch

im Realismus des 19. Jahrhunderts, ist die Einlinigkeit. Es wird

eine Lebensbahn oder ein Ereignis in der Entwicklung, in der

es abläuft, schlicht nacheinander erzählt. In dieser Form wird

das epische Strömen, die Haltung des ruhigen Zuschauens am

deutlichsten und wirksamsten. Kurze Rückblicke und Einschübe

nachholender Art sind dabei durchaus möglich, ohne

den architektonischen Gesamtcharakter zu ändern. Sowohl die

»Lehrjahre« als auch der »Nachsommer« gehören dieser Art an,

trotz der Rückblicke am Anfang dort, am Ende hier. Der

»Simplizissimus«, die zweite Fassung des »Grünen Heinrich«,

der »David Copperfield«, »Paracelsus«, aber auch die Romane

Thomas Manns und Hermann Hesses sind große Beispiele.

Doch finden wir häufig, daß diese Einlinigkeit zerschlagen

oder aufgelöst wird, daß andere Aufbaugrundsätze an deren

Stelle treten und ein verwickeltes Gefüge entsteht. Es zeichnen

sich drei Möglichkeiten einer solchen Zerschlagung ab:

1. Wichtige Teile einer Entwicklung, die durchaus inneren

Selbstwert haben, werden nachgeholt und eingebaut. Das

Vorbild ist Homers »Odyssee«, ein großes Beispiel die erste

Fassung des »Grünen Heinrich«, wo der Dichter die Kindheit

und frühe Jugend des Helden in der Ich-Form an einer bestimmten

Stelle des Ablaufs einbaut. So kann ein starker

Bezugsreichtum entstehen, indem der Binnenteil aus der

Rahmenperspektive gesehen wird. 2. Von einem Augenblick

des Innenlebens werden die verschiedensten Zeiträume abgeleuchtet |#f0571 : 555|



und in die Darstellung hereingezogen. Die Darstellung

des Bewußtseinsstromes führt dazu, das, was eben im

Bewußtsein als Erinnerung auftaucht, in die Erzählung einzuflechten.

Besonders deutlich finden wir das in Romanen von

V. Woolf, Faulkner, James Joyce und Broch. Die Zeitlinie

wird hier aufgelöst, denn die Zeitkontinuität ist nicht das

Maßgebende, sondern die vergangenen Vorgänge werden in

einen inneren Raum der Bedeutsamkeit eingefügt. Dieses

Menscheninnere und sein Ablauf ist jetzt das Maßgebende;

wie die Welt sich in einem solchen Bewußtseinsstrom spiegelt

und wieder aufbaut, das wird gestaltet. 3. Das Zeitkontinuum

wird zerschlagen, um den Wert der irdischen Zeit fragwürdig

zu machen und Ewiges, Dauerndes ahnen zu lassen. Ansätze

dazu finden wir schon im Barockroman. Dann sind hier die

Josephsromane von Thomas Mann zu erwähnen mit ihrer

sogenannten mythischen Vergegenwärtigung und Wiederholung

der Figuren: Jakob, Israel, Abraham-Isaak. Auch

E. Langgässers »Unauslöschliches Siegel« zerstört aus diesem

Grunde den einlinigen Zeitverlauf. Eine andere Art der Abweichung

von der Einlinigkeit einer Vorgangsdarstellung

liegt vor, wenn die Fülle der Welt in einzelne Handlungsstränge

und Vorgangsgruppen auseinandergelegt wird, die

zeitlich nebeneinander liegen. So wird die Fülle der Welt in

einem solchen Nebeneinander versinnbildet. Beispiele dafür

bieten wieder viele Barockromane, dann Gutzkows Romane

des Nebeneinander und die »Brüder Karamasow«.



Moderne Romane weisen noch weitere Züge auf, die für die

Architektonik wesentlich sind. Gerade die Fülle des zu gestaltenden

Weltstoffes zwingt zu einem sorgfältigen Bau, der

bewußt konstruiert wird und dessen Sorgfalt und Konstruiertheit

auch den Lesern deutlich gemacht werden soll. Es werden

ganze Essays eingeschoben, um alle möglichen Bereiche einzubeziehen.

Damit ist freilich die Gefahr einer überhandnehmenden

Intellektualität gegeben, statt des künstlerischen

Bildes entstehen Aussagen intellektueller Art, denen es auf

ihre Richtigkeit, nie auf die Schönheit ankommt. Zu solchen

bedenklichen Versuchen gehört auch das Montieren von

Wirklichkeitsstücken, so wie man aus Zeitungsfetzen und |#f0572 : 556|



Drahtgitterstücken plastische »Kunstwerke« zusammenstükkelt.

Also etwa das Einschalten von Zeitungsinseraten ─ oft

auch durch Kleindruck vom übrigen abgehoben! ─, das Übernehmen

von Tatsachen der Außenwelt mit genauen Namens-

und Zeitangaben, wie es auch Th. Mann in seinem »Doktor

Faustus« tut. Hier tritt nun die brennende Frage auf: zerstören

solche unverarbeiteten Fetzen außersprachlicher Wirklichkeit

nicht die Dichtung? Wie kann der Dichter trotzdem versuchen,

eine künstlerische Ganzheit zu gestalten, wie schmilzt

er diese Teile ins dichterische Werk ein? Man spricht vom

Problem der Integration. Wie solche überwölbende Ganzheit

bei der Technik, nur Bewußtseinsströme darzustellen, möglich

ist, haben wir schon angedeutet. Aber auch die erwähnten

Montagen und die Einschaltung von essayartigen Gebilden

stellen den Künstler vor solche entscheidende Fragen. Ob er

sich bemüht, sie zu lösen, zeigt seinen Künstlerernst. Lange

sachliche oder wissenschaftliche Gespräche, wie sie z. B.

Naphta und Settembrini in Th. Manns »Zauberberg« führen,

können vor allem durch drei Mittel in die Ganzheit des Kunstwerks

eingefügt werden: die Gespanntheit der Gesprächssituation

wird mitgestaltet, diese Gespanntheit ist der im

Vordergrund stehende Vorgang, der erzählt wird. Das Ziel

des Gesprächs ist nicht der besprochene Inhalt, sondern die

Gewinnung des Gegners oder eines Dritten. Durch die

Sprachkunst, vor allem durch die rhythmische Gestaltung und

die Verteilung von direkter, indirekter und erlebter Rede,

durch die Dynamik des Redeablaufs und durch die sprachlichen

Bilder können auch solche Gespräche zumindest zu

Sprachkunstwerken gemacht werden, und als solche lassen sie

sich nun schon wieder leichter ins Gefüge der Dichtung einordnen.

Reflektierende Stellen haben sich immer schon im

Roman gefunden. Sie hatten früher vor allem die Aufgabe,

Gefühlsanteil zu wecken, allgemeine Sentenzen auf den besonderen

Fall anzuwenden, oder sie dienten als eine Art

Regiebemerkungen bei Raumwechsel. Heute können solche

Ausführungen eine markante Stelle im Bau des Romans

herausheben, so etwa vielfach die Exkurse über die Zeit an

wichtigen Stellen des »Zauberberges«, sie können in engem |#f0573 : 557|



Zusammenhang mit dem Gehalt des Romans stehen; gerade

im »Zauberberg« ist ja der Zeitfluß, das Vergehen von besonderer

Wichtigkeit und Eindringlichkeit.



Wie jede andere Dichtung muß auch der Roman hinter der

Fläche der erzählten Vorgänge den Blick auf Tieferes, auf

Ewiges, Wesenhaftes eröffnen. Das gelingt der Phantasiekraft

des Dichters, der Art der Gestalten und dem rhythmischen

Ablaufsgesetz des Werkes. Man hat immer wieder darauf

hingewiesen, wie Mignon und der Harfner dem Roman

Goethes eine gemüthafte und menschliche Tiefe geben. In

modernen Romanen kann man an der Personengestaltung,

etwa der Belfontaines in Langgässers »Unauslöschlichem

Siegel«, den Verlust der absoluten, in sich ruhenden Individualität

des Menschen erleben. Der Ablaufrhythmus zeitlich

so nahe nebeneinander liegender Romane, wie es die »Lehrjahre«,

der »Titan«, der »Hyperion« und der »Ofterdingen«

sind, unterscheidet diese Dichtungen sehr stark voneinander.

In diesem Schwingen und dieser epischen Ablaufsbewegung

wird zugleich die Welt, die im Roman gestaltet wird, lebendig,

jeder Roman öffnet so auf seine ganz besondere Weise

den Blick in die Wesensgründe. Nur wenn es dem Dichter

gelingt, trotz aller Disparatheit der Glieder ein Ganzes zu

schaffen, in dem alles im Tiefen zusammenhängt, wenn man

über allem die ordnende Kraft einer Erzählerpersönlichkeit

spürt und vor allem, wenn das Erzählte des Erzählens wert ist,

also eben Wesenhaftes erleben läßt, kann der Roman als echte

Dichtung bezeichnet werden.



3. Im Vorangehenden haben wir schon unter verschiedenen

Gesichtspunkten Möglichkeiten aufgezeigt, wie man der

Vielzahl der Romane eine gewisse Ordnung unterlegen könne.

Es wird auch hier, wie bei den anderen Arten und Gattungen,

nie gelingen, eine einzige und alle Fragen umfassende Einteilung

vorzunehmen. Entscheidende Gesichtspunkte zu übersichtlichen

Typen des Romans waren die des Menschen- und

Weltbildes, vor allem aber solche der künstlerischen Gestaltung.

Eine dritte Möglichkeit ist die Einteilung nach dem dargestellten

Inhalt. Es ist die äußerlichste und daher am wenigsten

ergiebig. Es ist auch nicht unsere Absicht, die Unzahl von |#f0574 : 558|



Gruppen hier aufzuzählen oder gar zu besprechen: Abenteuerroman,

Bauernroman, Großstadtroman, Seeromane,

Robinsonaden, Liebesromane, Reiseromane, Detektivromane,

Kriminalromane usw. Das Entscheidende bleiben in der Dichtung

immer die Gestaltungsfragen und innerhalb ihrer dann

die Fragen nach dem tieferen Gehalt, eben nach Menschen und

Welt. Aber es gibt nun bei der Frage nach dem Inhalt des

Romans doch ganz große Gruppen und einige Sonderfälle,

die geschichtlich eine besondere Bedeutung erlangt haben.

Diese sind hier kurz zu betrachten. Dabei muß beachtet werden,

daß manche Inhalte zugleich eine besondere Gestaltungsweise

bedingen, daß wir also schon unter diesem Gesichtspunkt

einiges erwähnt haben; das ist besonders bei der Unterscheidung

von Handlungs-, Figuren- und Raumromanen, bei der

Betrachtung des Baues vom Einzelmenschen oder vom Weltbild

aus und bei der Unterscheidung von Breite und Konzentration

geschehen. Daß nun ähnliche Einteilungen hier wiederkehren,

ist wieder ein Beweis für die im Kunstwerk selbst

vollkommene Einheit der beiden Seiten, die man in theoretischer

Schau immer als Gehalt und Form auseinanderhalten

muß. Auch unter dem Gesichtspunkt des gestalteten

Inhalts wird es keine scharfe und restlos aufgehende Gliederung

geben.



Ein erster Typus von Romanen dem Inhalt nach ist der,

dem das Leben eines Menschen oder ein Teil davon als Hauptvorgang

zugrunde liegt. Wir können solche Romane Lebensromane

nennen. Es ist sofort deutlich, daß unter diesen weiten

Rahmen eine Fülle der üblichen Gruppen einzuordnen ist.

Je mehr in einer solchen Romangestaltung die innere,

seelische Entwicklung der Hauptgestalt im Vordergrund steht,

desto eher wird man von Entwicklungsroman sprechen

können. Eine wichtige Gruppe unter diesen ist der sogenannte

Bildungsroman. Er spielt besonders in der deutschen Literatur

eine große Rolle und ist der deutsche Beitrag zum großen

Romanschaffen der Weltliteratur. Aber man muß den Begriff

streng fassen. Dann wird man weder die mittelhochdeutschen

höfischen Epen, vorab den »Parzival«, noch etwa den »Simplizissimus«

als Entwicklungsromane oder gar als Bildungsromane |#f0575 : 559|



ansprechen können. Denn das Menschen- und Weltbild

dieser Werke ist zu umfassend und vor allem nicht rein

auf das ausgerichtet, was man seelische Entwicklung nennt.

Wir haben über dieses Menschen- und Weltbild schon früher

gesprochen. Auch tritt der Bildungsroman in unserem Jahrhundert

deshalb zurück, weil das Menschenbild unserer Zeit

eine solche Wandlung erfahren hat, daß man es nur unter dem

Begriff der Bildung kaum mehr fassen kann, wie das Menschentum

seit der Goethezeit. So sind der »Zauberberg«,

der »Paracelsus« und das »Glasperlenspiel« schon eher Randformen

des eigentlichen Bildungsromans. Um ihn genau zu

umgrenzen, muß der Begriff der Bildung, und zwar als eines

Vorgangs, umrissen werden. Der Bildungsvorgang ist die Auseinandersetzung

eines sich entfaltenden Menschen mit der

Welt, die ihm begegnet. In dieser fortlaufenden Auseinandersetzung,

die bald in Form von sich deutlich abhebenden

großen Erlebnissen, bald in ruhigem Wachsen, bald in heftigen

und scharf abgesetzten Stößen und Katastrophen sich vollzieht,

formt sich der Geist des Menschen zu einem Mikrokosmos,

zu einer Welt im Kleinen aus: er zieht die Weltbereiche,

die ihn fördern, in sich hinein, er stößt andere ab, wobei

wieder sein Inneres geformt wird, und er entfaltet sich so zu

innerem Reichtum, gewinnt aber doch eine eigene geschlossene

Form. Wie diese am Ende aussieht, ist nach verschiedenen

Menschen und Epochen verschieden: es kann die allumfassende

harmonische Persönlichkeit, es kann ein eigenwilliger Künstler,

es kann ein Mensch eines praktischen Berufs innerhalb der

Gemeinschaft sein. Wo nun ein solcher Lebensweg innerer

Formung durch Auseinandersetzung mit und Einbau von

Kulturgütern im weitesten Sinn dichterisch gestaltet wird, da

sprechen wir vom Bildungsroman. Der Blick eines solchen

Romans mag enger beschränkt sein als der eines großen Gesellschaftsromans;

er gewinnt aber an Tiefe und Innensicht.

Bewußter Bildungsvorgang scheint nicht unbedingt notwendige

Voraussetzung für den Titel Bildungsroman zu sein.

Die Formen des Bildungsromans sind mannigfaltig, das

Menschenbild in ihm ebenso. Man denke an den »Agathon«

Wielands, an die »Lehrjahre«, an die Künstlerromane der Romantik, |#f0576 : 560|



an den »Grünen Heinrich« und an den »Nachsommer«.

Nochmals sei betont, daß unter anderen Gesichtspunkten

dieselben Romane nochmals als besondere Belege auftauchen

können. Das ist besonders mit den »Lehrjahren« der

Fall.



In Romanen, in denen es nicht um den Lebensgang eines

einzelnen Menschen geht, steht meist ein großes, bedeutungsvolles

Ereignis im Mittelpunkt des Vorgangs. Man kann von

Ereignisromanen sprechen. Es handelt sich hier um Vorgänge,

die schicksalhaft und tief in die Seele wirken und über den

Augenblick hinaus ihre entscheidenden Spuren hinterlassen

oder gar das Endschicksal des Menschen bedeuten. Solche

Vertiefung und Verinnerlichung kann auch dem Abenteuerlichen

werden. Wir könnten das am Weg von der Abenteuererzählung

zum höfischen Ritterroman beobachten. Beispiele

sind etwa Gellerts »Schwedische Gräfin von O.«, der »Werther«,

»Madame Bovary« und »Die toten Seelen«.



Beide Arten, der Bildungsroman und der Ereignisroman,

können ein so umfassendes Weltbild aufbauen, daß sie gleichsam

über dieses Besondere der Bildung oder eines Ereignisses

hinausgehen; sie sind dann immer noch Bildungsromane und

Ereignisromane, aber zugleich mehr, so daß das Wesen einer

solchen Dichtung mit diesen Bezeichnungen nicht mehr getroffen

wäre. Das gilt besonders von den ganz großen Dichtungen

dieser Art, gerade auch in der Gegenwart.



Unter solchem Blickpunkt ist endlich eine Art zu betrachten,

die in der Romangeschichte und in der Theorie Staub aufgewirbelt

hat: der Geschichtsroman. Grundsätzlich gilt für

ihn alles, was wir schon verschiedentlich über Geschichtsdichtung

im allgemeinen gesagt haben (vgl. besonders S. 130 f.).

Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war die Berufung auf

die Geschichte und bestimmte Quellen für den Romandichter

beinahe notwendig, um sich vor dem Vorwurf der Lügenhaftigkeit

zu schützen. Erst als man langsam den Wert, den

inneren Sinn und die Echtheit einer dichterischen Wirklichkeit

ohne Blick auf eine außersprachliche Wirklichkeit

schätzen lernte, kam solche Übung ab. Aber natürlich steht

der Geschichtsroman besonderen künstlerischen Fragen gegenüber. |#f0577 : 561|



Wir wollen unter einem solchen einen Roman verstehen,

in dem eine bekannte Persönlichkeit der Geschichte

oder ein bekanntes geschichtliches Ereignis oder eine ganze

Epoche dichterisch gestaltet wird. Da taucht sofort eine erste

Schwierigkeit auf. Solche geschichtliche Persönlichkeiten

oder Ereignisse oder Epochen sind uns nicht mehr unmittelbar

zugänglich wie Vorgänge in unserer Mitwelt, in der Natur,

in uns selbst. Sie werden uns übermittelt und vor allem

nach verschiedenen Gesichtspunkten zubereitet und beleuchtet

durch die Geschichtsforschung. Sie sind also keine unmittelbaren

Gegebenheiten mehr, sondern bereits menschliche

Geistesgebilde, allerdings geistige Gestaltung eines Ereignisses,

das tatsächlich einmal stattgefunden hat, einer Person, die

wirklich gelebt hat. Der Dichter greift also einen bereits

geistig geformten Stoff auf ─ um ihn, nun auf seine Weise,

nochmals zu gestalten. Damit ist der Dichter schon etwas eingeengt,

so wie der Dichter, der ein anderes Kunstwerk dichterisch

»nach«-gestalten will. Zugleich gerät er, nicht bloß

in den Vorarbeiten, oft nahe an Geschichtsschreibung heran,

manchmal in sie hinein, und damit verwirren sich die Grenzen

zur Wissenschaft. Von der Geschichtswissenschaft her ist

das weniger bedenklich. Ein stilistisch glänzend geschriebenes

Geschichtswerk kann ein Sprachkunstwerk sein und ist in

seiner inneren Anlage, seiner Grundlegung, seiner Vorbereitung

und in seinen Urteilen, ihren Begründungen und Folgerungen

doch eine wissenschaftliche Leistung. Viele Geschichtsromane

sind aber populärwissenschaftliche Darstellungen,

wirkungsvoll verbrämt und eingekleidet, ausstaffiert

mit erfundenen Personen, die zur Zeit des Ereignisses gelebt

haben könnten, aber eben nicht dichterisch tief und wahr

geschaffen und gestaltet. Solche Belletristik kann ihren Wert

haben, der außerhalb echter Dichtung liegt, der in eine menschliche

Bildungsgeschichte hineingehört. Im Augenblick aber,

wo man sich wieder der strengen Eigengesetze der Dichtung

erinnert und ihre Eigenart wieder besonders betont, rückt

man sehr deutlich vom Geschichtsroman ab. So kann man

das Urteil hören, daß er heute veraltet sei.



Aber auf keinen Fall kann man dem Dichter verbieten, |#f0578 : 562|



solchen Geschichtsstoff, also von der Geschichtswissenschaft

bereits geistig verarbeiteten Stoff zum Ausgangspunkt seiner

Schöpfung zu machen. Wir müssen also betrachten, wie er

sich in seinem dichterischen Schaffen dazu stellen kann.



Der Dichter kann zum Geschichtsstoff verschieden stehen.

Er kann die einzelnen berichteten Vorgänge einfach schlicht

erzählen, es entsteht eine chronikartige Erzählung. Sie geht

kaum in die Tiefe, aber erreicht durch die sprachkünstlerische

Gestaltung Lebendigkeit, die erzählten Ereignisse gewinnen

dichterisches Eigenleben. Der Dichter kann aber die

Ereignisse auch unter eine höhere Idee stellen und damit in

der Darstellung des geschichtlichen Ereignisses zu Weltbildgestaltung

aufsteigen. Damit formt er aber das geschichtliche

Ereignis neuerlich um ─ in eine dichterische Wirklichkeit.

Und es bleibt nun eine Frage des ästhetischen Geschmacks,

wieweit er sich im Tatsächlichen der erzählten Ereignisse an

die Geschichtswissenschaft hält. In diese Umformung gehören

auch die sogenannten dichterischen Modernisierungen

geschichtlicher Ereignisse, die man dadurch den heutigen

Menschen wieder näherbringen möchte.



Eine weitere Frage ist die nach der Art, wie der geschichtliche

Stoff in die Dichtung eingebaut wird. Er kann bloß

Anlaß zu einem eigenen Weltgebäude werden, das dichterisch

belangvoll ist, aber mit der Geschichte kaum mehr etwas zu

tun hat. Das ist der Fall mit der barocken Geschichtsdichtung,

vor allem mit den Romanen. Nur weil man sie stofflich

in eine bestimmte Zeit stellen kann (die Syrerin Aramena,

Arminius und Thusnelda), haben sie noch einen Bezug zur

wissenschaftlich überlieferten Geschichte. Natürlich wird man

dabei berücksichtigen müssen, wie das damalige Geschichtsbild

aussah. Das Geschichtliche kann als Stimmungszauber

den dichterischen Vorgang in eine bestimmte Atmosphäre

tauchen. Das geschieht etwa in Tiecks »Sternbald« und im

»Heinrich von Ofterdingen«. Breiter wirkt es sich schon aus,

wenn es einen kulturhistorisch bestimmten Raum ausformt

wie in Arnims »Kronenwächtern«. Hier finden wir dann schon

die erste symbolische Vertiefung des gebotenen Stoffes. Endlich

versucht der Dichter, mit voller realistischer Anschaulichkeit |#f0579 : 563|



die Vergangenheit lebendig zu machen, wie das Scott

in seinen Romanen vor allem getan hat.



Aus diesen Überlegungen kann man dann wirklich zu einer

Art Typologie des Geschichtsromans kommen. Voraussetzung

ist: auch der Geschichtsroman ist Roman, ist Dichtung.

Er ist nach allen Gesichtspunkten und Wertmaßstäben zu

beurteilen, die für jede Dichtung und jeden Roman wesentlich

sind. Eine erste Stufe im dichterischen Rang stellt die

Belletristik dar. Geschichtlicher Stoff wird in angenehmer,

unterhaltender und spannender Weise erzählt. Die zweite

Stufe bilden die Romane, die durch den erzählten Vorgang

und um ihn herum ein Kulturbild entwerfen. Dichterisch

am höchsten stehen die Romane, die die Geschichte selbst als

einen Lebensprozeß, nun aber einer Gemeinschaft, eines Volkes,

erleben und gestalten. Der an sich bedeutsame Vorgang

wird nun künstlerisch verdichtet und durch die sprachkünstlerische

Formung und den Aufbau zu einer dichterischen

Wirklichkeit erhöht, von der aus eine außersprachliche

Wirklichkeit ihre Bedeutung als Folie verliert. Am höchsten

in die dichterischen Bereiche gehören diese letzte Art von

Romanen dann, wenn sie zugleich ein Weltbild mitformen,

wenn die erzählerisch gestalteten Vorgänge geradezu religiös

durchleuchtet werden. So wird in C. F. Meyers »Jürg Jenatsch«

ein Weltbild dichterisch wirkungsvoll, das vor allem

die Tragik und Ausweglosigkeit, die dauernde Gefährdung

des inneren menschlichen Wertes in der Geschichte herausformt.

In Stifters »Witiko« wird der Geschichtsvorgang selbst

als das Tiefere hinter all den Ereignissen erzählt, und in ihm

offenbart sich eine ganz andere Weltsicht: die immer wieder

zu erringende und errungene Herstellung einer hohen Menschheitsordnung

als Widerschein göttlichen Wollens. Hier erreicht

der Geschichtsdichter höchste Verwesentlichung innerhalb

einer rein dichterisch gestalteten Welt.



Von demselben Gesichtspunkt aus haben wir auch die sogenannten

utopischen Romane zu werten, die nicht erst

unser Jahrhundert geschaffen hat. In ihnen wird immer dichterisch

ein Zukunftsbild entworfen, als geschlossener und

bereits beendeter Vorgang gestaltet und daher meistens in der |#f0580 : 564|



Vergangenheitsform erzählt: der Erzähler hat eben bereits

den Überblick über das Ganze, für ihn ist es bereits geschehen.

Der Antrieb kann die Sehnsucht nach einer besseren Welt

sein oder die Erschütterung darüber, wohin es noch kommen

könnte, wenn die Entwicklung so weiter ginge. Die Erfolge

und Wirkungen hängen mit besonderen Lagen zusammen,

der dichterische Wert ist unabhängig davon zu beurteilen.



Der Roman hat sich langsam durch größte Entfaltung aller

Möglichkeiten zu der umfassendsten Dichtungsart entwickelt.

Er reicht von den übelsten Schundheften schon gänzlich

außerhalb jedes dichterischen Bereiches bis zu höchsten dichterischen

Leistungen der Weltliteratur. Er nimmt infolge

seiner Art jeglichen Lebensstoff zur Anregung, kann alle

Bereiche des Lebens der Menschen und der Welt überhaupt

formen und hat einen Reichtum an künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten

entfaltet, in dem er jede andere Dichtungsart

übertrifft. In der Gegenwart beherrscht er geradezu das literarische

Gebiet. Damit aber sind zugleich seine Gefahren angedeutet:

durch diese Umfassenheit stößt er überall an Grenzen.

Wenn er sie übertritt, verläßt er den Bereich der Dichtung.

Nirgends so wie hier kann also immer wieder das dichterische

Gewissen geprüft und dauernd scharf erhalten werden.

Das gilt für den Dichter, den Kritiker und den wissenschaftlichen

Erforscher der Dichtung.



V

DIE DRAMATIK



Das Drama nimmt im Gesamten der Kunst eine eigenartige

Stellung ein. Es ist auf der einen Seite höchste Dichtung,

wenn man etwa an Goethes »Tasso« denkt, auf der anderen

Seite reicht es in ein anderes Kunstgebiet hinüber, in das des

Theaters mit seinen Bühnenmöglichkeiten. Zugleich breitet

sich auf dem Theater auch manches aus, was kaum mehr etwas

mit Kunst zu tun hat, besonders alles Geschäftliche, das

mit dem Theaterbetrieb zusammenhängt. Dann ist das Drama |#f0581 : 565|



auch ein soziales Gebilde. Bei keiner anderen Dichtungsgattung

sind die Beziehungen zum Publikum so eng und mannigfaltig

wie im Drama. Damit wird deutlich, daß gerade das

Drama engste Zusammenhänge mit der Geschichte und der

Tradition hat. Die Spannungen zwischen geschichtlicher Bindung

und Ewigkeitswert der Dichtung sind hier also besonders

groß. Um das Drama kümmert sich auch sehr eingehend

die Theaterwissenschaft. Wir betrachten es hier vor allem als

Dichtung und ziehen das Theater nur so weit heran, als es für

das Verständnis dieser dichterischen Form notwendig ist.



Das Wort Drama kommt aus dem griechischen Verbum

dran, das handeln heißt. Ob die Entwicklung des Wortes zum

heutigen Sinn ein Zufall ist (A. Pfeiffer) oder einen tieferen

Sinn offenbart, nämlich das Handeln aus eigener Entscheidung

in gespannter Lage (Snell) oder auch unfaßbares, frevelhaftes

Tun mit einschließt (Volkmann-Schluck), bleibt für

uns ohne Bedeutung. Im Deutschen ist es ein sehr umfassender

Ausdruck geworden, der jede echt dramatische Art umfaßt.

Im Französischen ist der Gebrauch enger. Das Wort

»Tragödie« weist in seinem Ursprung auf die Dionysos-Feste

hin, es bedeutet Bocksgesang im Hinblick auf das Bocksopfer

oder auf die verkleideten Sänger. Der deutsche Ausdruck

Trauerspiel wird von vielen in seiner Bedeutung von Tragödie

abgetrennt, es meine mehr das traurige, nicht das tragische

Drama. Wir brauchen den Unterschied nicht zu beachten.

Wohl aber hat vor allem die deutsche Poetik einen Unterschied

zwischen Komödie und Lustspiel herausgearbeitet, den

wir noch betrachten werden. Schauspiel ist im deutschen

Sprachgebrauch ganz allgemein ein ernstes Stück, dessen

Ende aber nicht tragisch ist: »Iphigenie«, »Wilhelm Tell«. Der

Franzose, besonders im Rahmen seiner klassischen Poetik,

würde solche Stücke auch als Tragödien bezeichnen.



Wurzeln des Dramas und Grundlegung



Schon die Betrachtung der geschichtlichen Stufen zum

Drama führt uns zum ersten Grundmerkmal der Dramatik.

Diese Stufen sind aber zugleich ewige Formen, die immer da |#f0582 : 566|



sein können. Es sind der Mimus, der sprachliche Weg vom

Dialog zum gesprochenen Spiel, der Kultus mit dem Chor.



Die ursprünglichste Form des Mimus ist das szenische Spiel

eines Possenreißers. Aus ihm entwickelt sich das Spielen auf

der Bühne. Der Mimus erwächst aus dem Spieltrieb des Menschen;

in diesem Trieb liegt auch der Drang zur Nachahmung

und zum Rollentausch, der für den Kultus sehr wichtig war.

Der Mimus gestaltet Auftritte, wie sie ja auch im täglichen

Leben vorkommen (»wir haben einen bösen Auftritt mit ihm

gehabt«), und er liebt das Maskentragen. Masken bedeuten

nicht nur Verwandlung, sondern auch Überhöhung. Der

Mimus hat sich auf anderen Wegen selbständig entwickelt:

zur Pantomime und zum Ballett. Aber auch für das Drama

hat er große Bedeutung. Noch der »Tasso« hat mimische

Auftritte: das Degenziehen und die Umarmung. Wird aber

im Drama alles auf den Mimus und das Spiel hingelenkt, entsteht

die Gefahr, daß das Dichterische zurückgedrängt wird.



Denn die sprachliche Seite ist unbedingt der andere Pol für

die Entstehung des Dramas. Ohne die künstlerischen Möglichkeiten

der Sprache gibt es kein Drama, denn nur so wird

es ins rein Dichterische gehoben. Von der Sprache her entwickelt

sich das Gespräch, das eine Vorform des dramatischen

Dialogs ist. Eine erzählbare Handlung muß den Kern des

Dramas bilden. Aus der Verbindung von Mimus und Gespräch

entwickelt sich das Spiel, dem noch manches Wesentliche

zum echten Drama fehlt. Es arbeitet bloß auf Theatereffekte,

Belehrung und Unterhaltung hin: Hans Sachs, manches

bei Goldoni, Molière, Shakespeare und Raimund.

Neuere Theaterstücke bilden eine Art Kümmerform davon:

Stücke von Iffland, Kotzebue, Sudermann. Gerade in der

Verbindung von Mimus und Gespräch zeigt sich schon die

Bedeutung des Schauspielers. In ihm vollzieht sich die Vereinigung

von Spiel und Sprache, er macht eine Bühne notwendig

und trennt damit durch sein Dasein alles Gesprochene

vom Wesen der Epik.



Eine weitere Wurzel des Dramas sind Kultus und Chor. Ursprünglich

begleitet ein Kultlied eine Kulthandlung, es soll

sie in ihrem Sinn erklären. Aber die kultischen Chöre führen |#f0583 : 567|



auch zum Drama: Die ursprünglichen Chöre stellen eine Art

Urdichtung dar mit Keimen für alle späteren Gattungen. Die

Sache ändert sich, wenn solchem Chor ein Sprecher gegenübertritt,

der an sich noch keine Rolle hat. Wenn aber dem

Chor zunächst ein, dann zwei Gegenspieler gegenübergestellt

werden, vollzieht sich etwas Neues: der Darstellende wird

selbst das Dargestellte. Es kommt zu einer Ekstasis der Selbstüberhebung,

der Spieler tritt aus sich hinaus, besser über sich

hinaus, und zwar in stärkster Unmittelbarkeit und Ergriffenheit.

Man spricht von Transfiguration oder Substitution. In

solchem Hinauswachsen über sich selbst in ein anderes sind

nun auch schon Gefahren und Abgründe des Menschen unmittelbar

erlebbar. Wir nennen solche dichterische Gestaltung:

Darstellung. Sie ist grundsätzlich vom Singen und vom

Erzählen unterschieden, wir haben sie als eine der künstlerischen

Urgestaltungen durch Sprache bezeichnet. Durch das

Gegenüberstellen von zwei Personen und das dadurch bedingte

Zurücktreten des Erzählers, der immer durch das Erzählen

eine überwölbende Einheit bildet, ist die ursprünglichste

Form des Gegensatzes, des Kampfes, der Spannung

unmittelbar gegeben: die Personen handeln. Das ist die Voraussetzung

für den Ursprung des Dramas: das Darstellen

allein bedingt noch nicht die Dramatik. Aber es ist das erste

Grundmerkmal jeder dramatischen Dichtung: das Hinüberschreiten

des Darstellers in eine Rolle. Aus der sakralen Schau

hat sich durch das Prinzip des Darstellens ein Kunstgebilde

herausgeformt, aus der sakralen wird ästhetische Schau.



Bekanntlich ist das Wort »dramatisch« nicht bloß auf bestimmte

dichterische Arten anwendbar, sondern wird aus

der Dichtung heraus auf Erscheinungen des Lebens überhaupt

übertragen. Welche Haltung liegt dem zugrunde? Wir

sprechen von der Gespanntheit. Wir haben sie bereits bei den

Grundhaltungen im dichterischen Gestalten betrachtet und

dort von der Hingerissenheit gesprochen. Die Haltung weist

zwei Seiten auf: gehobenes, Leidenschaft erregendes Sprechen,

das einem Gegenüber etwas einhämmern will; und dann

die gespannte Zielgerichtetheit auf etwas, was erst bevorsteht.

Beides verschmilzt zur Angespanntheit. Gerade für solche |#f0584 : 568|



Haltung ist das Theater besonders geeignet. Von der Bühne

her kann man eindringlich auf andere wirken, hat pathetisches

Sprechen besonderen Sinn. Und auf der Bühne ist Angespanntheit

auf etwas Kommendes besonders wirksam zu gestalten,

Bühnengeschehen ist meist zukunftgeladen. Damit ist ein

zweites Grundmerkmal der Dramatik gewonnen: die Haltung

des Angespanntseins auf etwas zu Erreichendes, ganz

allgemein Spannung.



Wir haben bei der Erarbeitung der verschiedenen Arten

sprachkünstlerisch geformter Wirklichkeit (S. 356 ff.) neben der

Gestaltung eines persönlich erlebten Bereiches, vor allem in

der Lyrik, von der Ausprägung eines Vorgangs durch die

Sprachkunst in der epischen und dramatischen Dichtung gesprochen.

Damit ist ein Gemeinsames zwischen Epik und Dramatik

berührt: daß in beiden Gattungen ein Vorgang als

dichterische Wirklichkeit entfaltet wird. Schon damals aber

sprachen wir auch vom Unterschied gerade in bezug auf

diesen Vorgang. Und hier müssen wir nochmals einsetzen,

um auch das dritte Grundmerkmal dramatischer Dichtung zu

erkennen. Wir stoßen darauf, wenn wir an das Entstehen des

Dramas bei Aischylos denken. Das weltanschauliche Auseinandertreten

von Mutterland und Kolonien, das Erleben

der Perserkriege (verwesentlicht als Gegensatz von Masse und

Geist), Leidenschaften und Hemmungen, wie sie die entstehenden

Städtespannungen herbeiführen, erzeugen einen Wirbel

von Fragen und seelischen Qualen. Das Drama des Aischylos

zieht die künstlerischen Folgen und hebt dies vielfältige Erleben

in das überalltägliche Erleben von Urgegensätzlichkeiten

hinauf, der Alltag wird zum Symbol des Ewigen, im

Drama werden die Urgegensätzlichkeiten ästhetisch greifbar.

Das ist aber nicht bloß ein historischer Vorgang, sondern auch

ein immer wieder möglicher Sprung in ein neues Kunstgebilde,

ein jederzeit mögliches neues Dasein auf Grund bestimmter

Voraussetzungen. Die dramatische Dichtung gestaltet

die Welt als von Anfang her in Gegensätze gespalten. Es

ist eine wesentliche Gegebenheit, anders ist die Welt im

echten Drama nicht. Wir sprechen von der Urgespaltenheit

der Welt in dramatischer Sicht. Das ist das dritte Grundmerkmal |#f0585 : 569|



der Dramatik. Wir erkennen sie schon im dramatischen

Menschen. Er erlebt eben die Welt als Widerspruch der verschiedensten

Tiefe und Dimension und springt in solche Gespaltenheit

gleichsam hinein. Daraus ergibt sich, daß in solcher

Welt gewaltige Energien miteinander ringen. Das kann für

den Bau die Folge haben, daß Sich-Festbohren in eine Situation

und Vorwärtsdrängen schon Spannungen des Ablaufs mit

sich bringen. Der dramatische Mensch zeigt sich im Rahmen

der dramatischen Dichtung in dreierlei Form: als Figur des

Dramas, als der Dichter, der eben die Welt als gespaltenen

erlebt und gestaltet, und als Zuschauer, der in diese Spannungen

hineingerissen wird. Die Welt wird im Drama als

Geflecht von Polaritäten gesehen, und der Dramatiker hat

den Mut, diese Tatsache bis ins letzte durchzuverfolgen und

durchzugestalten. Man spürt, solcher Polarität kann nichts entrinnen,

es ist unser Schicksal. So werden wir ständig zu Entscheidungen

aufgerufen, die aber immer wieder fraglich

werden. Hiervon muß deutlich die Haltung der sogenannten

Ambivalenz unterschieden werden. Ambivalenz ist Unentschiedenheit,

Unsicherheit, ewiges Sowohl-Als auch, ist der

mittelalterliche »zwivel«, der dem Menschen so gefährlich

ist. Wertunsicherheit und endlich Gleichgültigkeit ist die

Folge. Aber der Mensch, der in der Weltpolarität steht, muß

nicht unsicher sein; er nimmt die Polarität auf sich als Antrieb

dauernder Entscheidungen, er hat so die Haltung des Entweder-Oder.

Freilich kann der dramatische Dichter auch

ambivalente Charaktere gestalten. Nicht bloß auf die Menschen

kommt es an, sondern auf das Weltbild. Dabei werden

die widersprüchlichen Züge in der dramatisch-dichterischen

Welterfassung gesteigert, und so jeder einzelne Zug und das

Ganze zum Symbol des widersprüchlichen Lebens und der

Gespaltenheit der Welt. Eine solche Widersprüchlichkeit

kann sich schon in einer konkreten Situation ergeben, wie

etwa in Goethes »Iphigenie« im vierten Aufzug, wo die

Heldin zwischen den beiden gleich furchtbaren Möglichkeiten

steht: zu lügen und damit ihr inneres reines Wesen zu

verlieren oder die Wahrheit zu sagen und damit den Bruder

zu morden; und in dieser Lage hat sie eine Entscheidung zu |#f0586 : 570|



treffen. Die Widersprüchlichkeit kann auch im Menschen

liegen, so etwa in Schillers Jungfrau von Orleans, in der ein

Spalt aufgerissen wird zwischen dem Weibtum, das ihr als

Mädchen auf diesen Lebensweg mitgegeben ist, und der göttlichen

Sendung, die dieses gerade auszulöschen verlangt.

Endlich kann die ganze Wirklichkeit, in der ein Mensch steht,

solche Gespaltenheit aufweisen, wie im »Faust« und im »Tasso«.

Solche Urgespaltenheit ist die Voraussetzung tiefster Art für

jede dramatische Spannung, und sie ist unauflösbar: sie besteht

nach dem Ende der Handlung, nach der Katastrophe

weiter: immer wieder droht die Möglichkeit eines Gewissenskonfliktes,

wie ihn Iphigenie oder Jeanne d'Arc durchzuhalten

haben, und nach dem Untergang Tassos hat sich nichts an

der Weltstruktur geändert. Hier sind wir zugleich an den

metaphysischen Wurzeln, aus denen sich immer wieder

dramatische Gestaltung bis in alle Einzelheiten speist.



Die Aufdeckung der drei Grundmerkmale dramatischer

Dichtung, nämlich Darstellung als Form, Gespanntheit als

Haltung und Urgespaltenheit als Weltbild, gestattet nun

einen zusammenfassenden Blick. Die drei Merkmale stehen

in bestimmter Beziehung zueinander: am tiefsten hinab führt

die Urgespaltenheit, sie ist der metaphysische Grund der

dramatischen Dichtung. Aus ihr ergibt sich die Angespanntheit

des Menschen in solcher Welt. Die wirkungsvollste Art

künstlerischer Gestaltung solcher Verhältnisse ist die Darstellung.

Es zeigt sich also, daß nicht jede darstellende Dichtung

schon als Drama zu bezeichnen ist. Wir können darstellende

Dichtungen Spiele nennen, aber erst wenn die Seinsgespanntheit

dazu kommt, sprechen wir von Dramen. Umgekehrt

ist solche Seinsgespanntheit deshalb am wirkungsvollsten

darstellerisch zu bewältigen, weil hier eben Figuren

einander sprechend und handelnd gegenübertreten, ohne daß

ein erzählendes Medium ihre Gegensätzlichkeit durch sein

Erzählen überwölbte. In konkreten Dichtungen können diese

drei Merkmale dramatischer Dichtung auch mit lyrischen

und epischen Einsprengseln durchsetzt sein, ohne daß damit

schon ein Werturteil gefällt wäre. Aber es muß bei Einsprengseln

bleiben, Lyrisches und Episches muß sich in die dramatische |#f0587 : 571|



Struktur einfügen, es darf sie nicht sprengen. Wir könnten

also etwa folgende Wesensbestimmung des Dramas geben:

es ist die Art darstellender, also erst im Spiel voll sich auswirkender

Dichtung, die die Urgespaltenheit der Welt zur

Grundlage hat und aus der Haltung der Gespanntheit wächst.



Von hier aus kann ein Vergleich mit Lyrik und Epik noch

klären. Gemeinsam ist dem Drama mit der Lyrik, daß die

dramatischen Personen oft unmittelbar ihr Erleben aussprechen,

also lyrisch sprechen können. Die Unterschiede liegen

ganz äußerlich schon in der Gestaltung eines ablaufenden

Vorgangs. Mit der Epik sind die Ähnlichkeiten schon deutlicher.

Beides sind dichterische Formungen eines Vorgangs

mit den Kräften der Sprachkunst. Die Unterschiede aber beginnen

schon in der Art der dichterischen Begabung. Der

dramatische Dichter wird von der Urgespaltenheit, in der die

Welt sich ihm darstellt, unmittelbar ergriffen, durch dieses

Hineingerissenwerden kommt es zur inneren Angespanntheit

auch in ihm, und so erwächst ihm am unmittelbarsten die

darstellende Form für seine dichterische Gestaltung. Selten

finden wir daher die Verbindung von echt epischer und echt

dramatischer Begabung in einem Dichter: der geborene Dramatiker

ist niemals großer Epiker und meist auch umgekehrt.

Man denke an die drei griechischen Tragiker, an Shakespeare,

Calderon und Schiller. Kleist ist Dramatiker, daher greift er

als Erzähler nur zur Novellenform. Goethe ist doch vor allem

Epiker trotz aller Höhe seiner Dramatik. Auch in der Wirkungsgestaltung

bestehen zwischen Epik und Dramatik wesentliche

Unterschiede. Der Erzähler hat Zuhörer, der Spieler

Zuschauer. Die Epik lebt von der Zweipoligkeit des Erzählers

und Zuhörers. Das dramatische Spiel läuft eigentlich mehr für

sich ab, Durchbrechungen der völligen Trennung von Spieler

und Zuschauer sind besondere künstlerische Fragen. Vor allem

besteht im Drama ein ganz besonderes Wirklichkeitsverhältnis.

In der Epik, Lyrik und in der gelesenen Dramatik baut

sich eine dichterische Wirklichkeit rein aus den Sprachbeständen

auf; wir sind, abgesehen vom reinen Verstehen der Worte

und Sätze, auf eine außersprachliche Wirklichkeit nicht mehr

angewiesen. Im aufgeführten Drama aber entfaltet sich vor |#f0588 : 572|



uns eine außersprachliche Wirklichkeit auf der Bühne: die

Bühne, ihre Gegenstände, die Personen auf ihr sind genau

solche außersprachliche Wirklichkeiten wie die Gegenstände

und Menschen des Alltags, sie sind ganz einfach Realitäten.

Aber sie sind als solche nicht von Bedeutung, sondern nur

insofern, als sie durch ihr Dasein die dichterische Wirklichkeit

aufbauen helfen, die beim gelesenen Drama in der Phantasie

des Lesers ersteht. Eine außersprachliche Wirklichkeit wird

hier Mittel und Zeichen für eine dichterische, außerhalb der

Realität stehende Wirklichkeit. Nur wenn wir das Bühnenbild

und -geschehen als Zeichen für eine dichterische Wirklichkeit

nehmen und von seiner Tatsächlichkeit absehen, erfassen

wir es in diesem Zusammenhang richtig. Die Lage

wird deutlich, wenn Ungewohnte Schauspieler, die Bösewichte

darstellen, mit faulen Eiern und Äpfeln bewerfen.

Das Verschieben des Bühnenbildes vom außersprachlichen

Wirklichkeitsfeld in das dichterische ist ein besonders eigenartiger

Vorgang im Erleben von Dichtung. Plötzliche Bezüge

zur außerdichterischen Wirklichkeit, wenn etwa ein Schauspieler

unerwartet aus dem Zuschauerraum spricht oder auf

die Bühne geht, wirken deshalb so verblüffend, weil hier zwei

Wirklichkeitssphären zusammenstoßen. Die dichterische

Weltgestaltung ist gerade deshalb im Drama, natürlich vor

allem im aufgeführten, so verschieden von der epischen, weil

im Drama die außersprachliche Wirklichkeit eine Funktion

zur Gestaltung der dichterischen Welt ausübt. Endlich ist

auch das Weltbild in der Epik anders als in der Dramatik:

dort ist es ein geschlossener Kosmos, in den der Mensch eingefügt

ist, hier ist es eine gespaltene, von Gegensätzen zerrissene

Welt voller Daseinsabgründe.



Das dramatische Werk



Wir betrachten nun das Drama als geschlossenes, für sich

bestehendes Kunstgebilde. Dabei wiederholen sich manche

Begriffe, die wir schon im Rahmen der Epik geklärt haben.

Wir können diese Klärungen nun voraussetzen. Auch hier |#f0589 : 573|



zeigt sich wieder, daß die künstlerische Anlage den inneren

Gesetzlichkeiten und Möglichkeiten entspricht, die für die

Ganzheit und Einheit jeder Dichtung gelten, daß aber zugleich

besondere technische Mittel gekonnt sein müssen, um

ein wirkungsvolles Drama zu bauen. Diese Mittel sind entweder

aus der Überlieferung übernommen oder im Kampf

gegen sie neu errungen worden. Die neu errungenen werden

dann wieder weiter überliefert. Wir schneiden zuerst aus dem

Ganzen eines Dramas gewisse Schichten heraus, die sich bieten,

wenn man das Werk von bestimmten Standpunkten aus betrachtet:

Vorgang, Handlung, Raum und Zeit, Personen.

Dann betrachten wir die einzelnen künstlerischen Gestaltungskräfte,

und endlich schauen wir auf das Ganze als eine wirkende

Gestalt.



Schichten des Dramas



Für den Ansatzpunkt des dramatischen Vorgangs sind drei

Begriffe wichtig: die Situation, der Konflikt und das Schicksal.

Jedes Drama ist die letzte Folgerung aus einer bestimmten

Lage. Man denke an die Spannung und Stimmung am Anfang

des »Ödipus«: die Pest ist ausgebrochen, und man erfährt,

sie werde dauern, bis ein Verbrecher, den die Stadt

berge, aus ihr vertrieben sei. Der König setzt sich nun mit

voller Kraft für die Aufdeckung ein. Diese Ausgangslage ist

durch den Konflikt gekennzeichnet. In ihm verwirklicht sich

die Urgespaltenheit der Welt in einer ganz bestimmten Weise.

So weist jeder Konflikt auf diese Urgespaltenheit hin. Wenn

er ganz klar umgrenzt wird, wirkt er also symbolisch für diese

Weltstruktur. Der Konflikt selbst entfaltet sich im Vorgang.

Gemäß dem dramatischen Weltbild vollzieht er sich anders

als der epische. Er ist eher heftig, überhöht, und weist deutliche

Umschläge auf. In solchem Vorgang stößt dem Menschen

Glück oder Unglück zu, er steht unter ihrer Macht.

Da das Drama verwesentlicht, erfahren wir in solchem Glück

und Unglück das, was einem Menschen überhaupt grundsätzlich

zugeteilt werden kann. Aber dieses Glück und Unglück

ist meist nichts Kleinliches, sondern etwas Großes, Unerwartetes,

Unheimliches, in dem sich die Welt-Widersprüchlichkeit |#f0590 : 574|



auftut. Wir nennen es Schicksal. In ihm trifft das, was

dem Menschen geschickt ist, mit dem Inneren des Menschen

zusammen: das Geschickte wird vom Menschen in irgendeiner

Weise aufgenommen. Nur wenn ein tieferer Hintergrund

zu fehlen scheint, nennen wir es Zufall oder Verhängnis.

Die Antike sah im Schicksal die letzte Macht hinter allem,

auch hinter den Göttern, der Christ denkt dabei an die Unfaßbarkeit

der göttlichen Vorsehung, die anerkannt sein muß,

wenn man sie auch nicht begreift. Die deutsche Klassik drängt

die Macht des Schicksals stark aus ihrem Weltbild zurück, da

sie die menschliche Persönlichkeit hochschätzt. So ergeben

sich bestimmte Ausformungen der Schicksalsdramatik, die wir

noch berühren werden.



Die Entfaltung des dramatischen Konflikts im Vorgang

ist nicht einlinig, sondern geht nach mehreren Richtungen,

der Vorgang ist geschichtet. Es gibt Motive, die in letzte

weltanschauliche Zusammenhänge weisen, solche, die vor

allem eine dichterische Wirklichkeit schaffen, endlich solche,

die Teile des Geschehens sinnvoll verknüpfen. Zu den ersten

gehört etwa Wallensteins Sternenglaube, zu den zweiten

alles, was den Bruch zwischen Wallenstein und dem Kaiser gestaltet,

zu den dritten etwa der Brief, den Wallenstein über

Butler an den Kaiser schrieb. So entsteht eine Art Organismus

von flächenhafter und tiefenhafter Ausdehnung. Es

können auch zwei Vorgänge zu einer Ganzheit verflochten

werden. In Goethes »Faust« spielt sich einmal eine menschliche

Tragödie ab, ein Auf und Ab von Aufschwüngen und Niederbrüchen,

darüber wölbt sich ein mannigfach geschichteter

übermenschlicher Vorgang, eine Art Mysterienspiel, das

Fausts Leben in einen höheren Zusammenhang einordnet.

So bilden beide Vorgänge ein höheres Ganzes.



Der dramatische Vorgang verläuft zeitlich und weist dabei

bestimmte Merkmale auf. Bekanntlich hat G. Freytag dafür

Normen aufgestellt. Man kann sie allgemein etwa so formulieren:

der Vorgang hat einen deutlichen Ansatzpunkt,

ein erregendes Moment; eine Stelle, wo sich in starker Verdichtung

eine Wende anbahnt; einen deutlichen Schluß mit

letzter Spannung und Katastrophe. Das gilt für viele Dramen, |#f0591 : 575|



aber lange nicht für alle. Wir stellen besser fest: der Vorgang

entfaltet sich in bestimmter Weise: Man hat neuerdings zwei

allgemeinste Wege dafür erkannt: ein Vorgang vollzieht sich

in Form einer allmählichen Aufdeckung. Das berühmteste Beispiel

bleibt immer der »Ödipus«. Hier ist keine strenge Geschehnisverknüpfung

nötig. Ein anderer Vorgang bildet eine

Entfaltung. Man denkt an »Lear«, aus dessen Reichsteilung die

ganze Tragödie erfließt. Hier verknüpfen sich alle Schritte

genau. Natürlich gibt es Zwischenformen.



Im Ablauf des Vorgangs kann man bestimmte Kraftpunkte

erkennen, wo man spürt, wie der Vorgang einen deutlichen

Ruck nach vorwärts macht. Drei sind vor allem wichtig:

1. Der Anfang. Selten setzt die Handlung sofort deutlich ein.

Sie greift ja eigentlich mitten aus einem Dauervorgang einen

bestimmten Abschnitt heraus. Was vorher geschah und zum

Einsatz führt, kann entweder durch einen Prolog ganz schlicht,

aber undramatisch mitgeteilt werden oder wird in künstlerischer

Weise in die ersten Phasen des Vorgangs hineinverflochten.

Man nennt das die Exposition, die sich auf mehrere Akte

verteilen kann. Sie kann auch darin bestehen, daß eine Anfangslage

noch unklarer wird, so in der »Penthesilea«. Dabei

gibt es Dramen, die gleichsam nur mehr den Schluß eines

großen Vorgangs geben und alles andere als Vorfabel in geeigneter

Weise in Dialogen oder Berichten einbauen. Man

spricht da auch von analytischen Dramen, die nur mehr den

Schluß aus einer Entwicklung ziehen: »Ödipus«, »Maria

Stuart«, »Gespenster«. Man kann den Teil bis zum deutlichen

Einsatz der Handlung als Eingang bezeichnen. Dieser Einsatz

ist der erste deutliche Kraftpunkt. 2. In einem Vorgangsablauf

gibt es dann meist mehrere Gipfel und Wenden. Vier solcher

Wenden stellen wir in Goethes »Iphigenie« fest: sie muß

wieder opfern, zugleich sind Fremde da. ─ Iphigenie erfährt

das Schicksal ihres Hauses. ─ Iphigenie erkennt Orest und sieht

ihn leiden. ─ Iphigenie zweifelt an den Göttern. Diese vier

Stufen vertiefenden Leids sind begleitet von versöhnenden

Wirkungen Iphigeniens. In der gegenseitigen Verschlungenheit

und Steigerung dieser Motive besteht der Aufbau. 3. Die

Katastrophe ist die endgültige Wendung. Vor der letzten |#f0592 : 576|



Wendung dringen vielfach vordergründige Ereignisse vor,

z. B. die kämpferischen Auseinandersetzungen und die Aufregungen

des Arkas und des Königs am Beginn des letzten

Aufzugs der »Iphigenie«, die Umarmung der Prinzessin im

»Tasso«. Aber sie haben meist symbolische Bedeutung für

den Tiefengrund.



Wichtig ist auch die Ausbreitung des Vorgangs auf immer

weitere Gebiete. Dadurch wird erst die ganze Seinsgespanntheit

der Welt offenbar. Man denke an die Bühnenräume des

»Faust« oder wie aus dem Konflikt Tasso─Antonio die ganze

unheilvolle Spannung Dichter-Welt in einer Fülle kleiner

Spannungen offenbar wird. Solche Ausbreitung schafft auch

eine durchgehende Stimmung. Im Lauf des Hamletvorgangs

wird langsam die ganze Atmosphäre am Dänenhof vergiftet.



Die Einheit des Vorgangs beruht in seiner symbolischen Bedeutsamkeit.

Er ist ein typischer Fall, in dem letztes Menschliches

anklingt. Dabei ist es wichtiger, daß er nach höheren

Gesichtspunkten wahrscheinlich ist als nach denen der reinen

Kausalität. So ist die Kausalität der Handlungsweise Jagos in

seiner Beziehung zu Cassio und anderen in Shakespeares

»Othello« durchaus lückenhaft, die innere Dramatik aber

lückenlos: das Wachsen der ganzen inneren Vergiftung

Othellos und wie ihn das Unheil immer mehr in die Vernichtung

hineinreißt.



Es ist nicht einfach, den Vorgang von der Handlung zu

unterscheiden. Die Handlung ist der erzählbare, äußerliche

Inhalt. Der Vorgang muß mit einer bestimmten Technik

durchgeführt werden. Es ist am besten, diese Technik der

Durchführung als Handlung zu bezeichnen.



Für die Durchführung sind die Motive wichtig. Sie können

schon in einfachster Form Hintergründiges aufschließen. Etwa

das Motiv »ein Bruder tötet den anderen«. Man kann Inhaltsmotive

(Königsmord) und Richtungsmotive unterscheiden,

die den Fortlauf der Handlung in Richtung und

Tempo bestimmen. Entscheidend für den Ablauf des Vorgangs

ist es, wie der Dichter die Handlung gliedert. Die Grundlage

bildet das Geflecht der Gegensätze, die den Vorgang bestimmen.

Sie wirken sich in der dramatischen Spannung aus. |#f0593 : 577|



Man ist in die Konfliktlage eingespannt, wird bald auf diese,

bald auf die andere Seite gezogen, so etwa im Verhältnis von

Wallenstein, Max und Wrangel. Es kommt nicht auf die

Neuheit des Stoffes an, sondern auf das ständige Mitgerissensein.

Die Handlung kann sich in die Tiefe gliedern: neben der

Haupthandlung formen sich Nebenhandlungen aus, die die

Haupthandlung oft symbolisch beleuchten; besonders tun

das die Dienerhandlungen, so etwa die Merkur-Sosias-Handlung

im »Amphitryon«, die Werner-Franziska-Handlung in

der »Minna von Barnhelm«. Stärker wirken Gegenhandlungen,

die meist brutaler, niederer sind als die Haupthandlung.

So stellen die Gegenhandlungen bei Schiller dem Helden oft

Fallen, die über sein Menschentum entscheiden: etwa die

Kabale in Schillers »Kabale und Liebe«. Die Gegenhandlung

kann aufgespalten sein und so noch mehr die widersprüchliche

Struktur der dramatisch gestalteten Welt anschaulich

machen. Meisterhaft tut das Grillparzer im »Bruderzwist in

Habsburg«. Dichter wird die Handlung dadurch, daß bestimmte

Motivreihen sich durch ein ganzes Drama ziehen,

etwa die Ringgeschichte in Lessings Lustspiel, das Kranzmotiv

im »Tasso«.



Wichtig ist für den Aufbau der Handlung die Ablaufsgliederung

in Auftritte, Szenen und Aufzüge (Akte). Mit

Szene bezeichnet man meistens das einzelne Bühnenbild innerhalb

eines Aktes, mit Auftritt eine Einheit, die durch Personenwechsel

begrenzt wird. Solche Unterglieder eines Aktes

können Keimzellen dramatischer Handlung sein. Es sind

kleinste Einheiten dramatischen Lebens. In solchen Szenen

ballt sich und gipfelt zugleich ein Drama. Man denke an die

Apfelschußszene, an die Begegnung Marias und Elisabeths in

»Maria Stuart«, an das Auftreten des Geistes Banquos im

»Macbeth«. Die Einteilung in Akte hat sich erst langsam entwickelt.

Wir finden den Namen mit dem heutigen Sinn zuerst

bei Horaz. Aber es gibt auch Dramen ohne Akteinteilung.

Hier aber sind verschiedene Arten zu scheiden. Zunächst

die sogenannten Einakter. Bekannt sind etwa Lessings »Philotas«

und Goethes »Geschwister«. Die Handlung ist eben so

knapp oder unausgedehnt, daß sie in einem abläuft. Anders |#f0594 : 578|



ist es mit dem Stationendrama, das nach den einzelnen Bühnenbildern

gegliedert wird: Stück in 8 Bildern. Im expressionistischen

Historienstück wird das Mode. Entweder sind die

Bilder wirklich Akte, oder wir stehen vor der Auflösung der

echt dramatischen Form, statt Einfügung und Innengliederung

epische Anreihung. Manche Dramen verhüllen die

Gliederung, so die »Braut von Messina«, die in Wirklichkeit

streng gegliedert ist, aber in Bildern: 1. und 5. Bild die Säulenhalle,

2. und 4. Bild der Garten, das Mittelbild ein Innenraum.

Noch dazu sind die gleichen Bilder von ungefähr der

gleichen Länge und inhaltlicher Ähnlichkeit. Der erste Teil

des »Faust« ist eine einmalige, aber durchaus organisch entfaltete

Form, wobei besonders wieder die Gretchentragödie

wundervoll gegliedert und damit gebaut ist. Echte aktlose

Dramen sind solche, die trotzdem die volle Länge eines

großen Werkes haben: »Der zerbrochene Krug«, »Penthesilea«.

Es ist bei Kleist die reinste Gestaltung der Urwidersprüchlichkeit

mit rücksichtsloser Konsequenz: atemloses

Weiterstürmen, höchstens kurze Ruhestellen.



Beim mehraktigen Drama können wir zwei Grundtypen

unterscheiden: dreiaktige und fünfaktige. Andere sind selten.

Die Akteinteilung ist keine Äußerlichkeit. Sie gibt dem

Drama ein klares architektonisches Gerüst, oder sie schafft

Stimmungseinheiten, die voneinander abgehoben sind, ähnlich

den Sätzen einer Symphonie: Kleist, Gautiers »Symphonie

en blanc major«. Dreiakter sind vor allem in Spanien und

Portugal verbreitet, sie werden bis zu R. Wagner auch theoretisch

begründet, am bekanntesten als protasis ─ epitasis ─

katastrophe (Donatus). Der Fünfakter ist in Frankreich, England

und Deutschland als geradezu klassische Norm üblich

geworden. Mit einem Schema nach Freytags Muster kommt

man aber dem inneren Aufbau eines Dramas nicht bei. Die

Fünfaktigkeit läßt die verschiedensten Möglichkeiten zu.

Bald erreicht das Drama in der Mitte eine entscheidende Höhe,

oder aber es kann sich gerade in der Mitte der Ablauf stauen,

wie oft bei Grillparzer. Das ist sogar weltbildmäßig begründet:

der Held gerät in eine Entscheidungslage, er soll sich

entscheiden, aber er will ausweichen. Da Akte also immer |#f0595 : 579|



gewisse Einheiten im Ablauf darstellen, sind auch ihre Schlüsse

meist in irgendeiner Weise herausgehoben: als mächtige

Steigerungen, in unglaublicher Knappheit. Die Aktpausen

spielen in praktischer, gesellschaftlicher und ästhetischer Hinsicht

eine Rolle.



Hier fügt man am besten die mehrteiligen Dramen an. Der

Titel Trilogie verdeckt wesenhafte Unterschiede zwischen

ihnen. Man unterscheidet am besten zwei geschichtliche Formen,

die zugleich architektonisch bedeutsam sind. Die erste

ist die griechische Trilogie. So hießen ursprünglich die drei

Tragödien eines Dichters, die bei den Wettspielen hintereinander

aufgeführt wurden und von einem Satyrspiel gefolgt

waren. Obwohl jedes Werk für sich geschlossen war, bestand

doch ursprünglich ein enger inhaltlicher Zusammenhang,

wie die einzig erhaltene Orestie des Aischylos zeigt.

Später waren die drei Stücke meist aus demselben Sagenkreis

genommen, aber auch das war nicht verpflichtend. Architektonisch-künstlerisch

besteht also zwischen den Stücken

einer altgriechischen Trilogie kein Zusammenhang. Das zweite

sind die neuzeitlichen Formen. Hier gibt es grundsätzlich

zwei Möglichkeiten: entweder zwingt die Größe des Vorgangs

zur Teilung, oder ein innerer Zusammenhang zwischen

selbständigen Dramen bedingt die Form. Ein Beispiel für das

erste ist der »Wallenstein«. Die Teilung war bekanntlich bei

der ersten Aufführung anders als im Erstdruck. Man wird der

Gesamtanlage nur gerecht, wenn man es als Riesendrama aus

einem Vorspiel und fünf großen Akten faßt. Der Name

Trilogie ist also ganz äußerlich. In den »Nibelungen« Hebbels,

bestehend aus einem Vorspiel und einem zweiteiligen Drama,

ist jedes Stück selbständiger, aber keines für sich möglich.

Lockerer ist der Zusammenhang in Grillparzers »Goldenem

Vließ«: es folgen ein Vorspiel, ein unselbständiges Zwischenstück

und ein selbständiges Drama; verbindend wirken das

Vließ und vor allem die Gestalt Medeas. Gerhart Hauptmanns

Atridentetralogie stellt eine durchgehende Einheit dar, aber

das erste und vierte Drama sind architektonisch selbständig,

während die zwei mittleren ─ beides Einakter ─ durch den

gleichen Schauplatz schon gebunden sind. So viele Beispiele ─ |#f0596 : 580|



so viele Aufbauformen. Es ist auch möglich, noch mehr

Dramen zu einer umfassenderen Einheit zu binden; man kann

dann an die zyklische Anlage moderner Romane denken.

So kann man in den Königsdramen Shakespeares eine große

innere Einheit sehen. Goethe und Schiller haben diese Einheit

schon erkannt und Dingelstedt sie in den Aufführungen 1864

hervorgehoben. Die Reihung der inneren Einheit stimmt

nicht mit der Entstehungszeit überein. »Richard II.« bringt als

erste Höhe ein Ahnen des Ganzen. Die beiden Teile »Heinrichs

IV.« und »Heinrich V.« bilden mehr eine epische Füllung,

die drei Teile »Heinrichs VI.« die nächste Höhe,

»Richard III.« als dritte Höhe Absturz und Ausblick. Die

Gliederung mehrteiliger Dramen erfolgt nicht nach einem

Schema, sondern nach der Rhythmik der Umschläge. Auch

Überraschungen und scheinbare Abwege lassen sich aus dem

Wesen des Dramatischen und aus dem Grundsatz der Gespanntheit

erklären.



Wie für die epische Vorgangsgestaltung sind auch für die

dramatische Zeit und Raum wichtig. Schon aus der sprachlichen

Struktur ergibt sich das: alle Sprachgestaltung läuft zeitlich

ab, und Dialoge sind raumbedingt, oft aber auch durch die

Kunst des Dichters geradezu raumschaffend. Der Zeitablauf

verschafft dem Vorgang die Tendenz auf das Kommende und

macht Spannungen und Gegensätze fühlbar. Der Raum bietet

besondere Möglichkeiten, die Urgespaltenheit eindrucksvoll

zu betonen. Vor allem aber sind gerade diese beiden Kategorien

imstande, die scharfe und meist abstrahierende Durchführung

eines Vorgangs in eine Atmosphäre, eine erlebbare

Umwelt, eine besondere Gestimmtheit zu tauchen. Die Gefahr,

nur bruchstückhafte Handlungsteile zu geben, wird dadurch

stark vermindert.



Verwesentlichung und Verdichtung verlangen Einschränkung

des Zeitraums. Durch solche Raffung kann auch das

Zeitliche symbolisch werden. Zur Beleuchtung der künstlerischen

Möglichkeiten unterscheidet man am besten Zeiterstreckung

Zeitdauer und Zeitbewältigung. 1. Die Zeiterstreckung

meint die Meßbarkeit des Handlungsablaufs. Hier

wird gefragt: wann beginnt die Handlung, wie lange dauert |#f0597 : 581|



sie? Rational durchgeführte Rechnungen können hier genaue

Ergebnisse erzielen. Das Verhältnis der Spieldauer zu dieser

Zeiterstreckung ist verschieden. Völlige Gleichheit ist selten.

Sie wirkt prall gefüllt im »Zerbrochenen Krug«, langweilig

aus dem Eindruck der leeren Länge in der »Familie Selicke«.

Oft wird durch Vorereignisse, die in die eigentliche Handlung

eingefügt sind, der Eindruck längerer Dauer erweckt. So entsteht

in den »vier Tagen« des »Wallenstein« eine gewaltige

Zeitfülle. Auch die Pausen zwischen den Akten sind wichtig,

sie wirken oft wie weiterer Ablauf. Es gibt da den Eindruck

ständigen Zeitablaufs wie in der »Iphigenie«, aber auch den

zeitfüllender Zwischenräume wie in Raimunds »Verschwender«.

2. Unter Zeitdauer verstehen wir die Wirkung des Vorgangs

auf uns: wie wir zeitlich den Vorgang erleben. Der

Zeitablauf muß nicht immer eine Rolle spielen, so nicht in den

Jenseitsszenen des »Faust«. Er kann aber auch sehr intensiv

wirken, wie etwa im »Ottokar« Grillparzers. Neben einfachen

Eindrücken des Ablaufs gibt es auch komplexes Zeiterleben.

Manche Szenen sind von Zeitdrang erfüllt, die Zeit erhält da

dramatisch-metaphysische Bedeutsamkeit. Im ersten Akt von

»Wallensteins Tod« erfährt Wallenstein zu Anfang die Nachricht

von Sesins Gefangennahme, es folgt der Monolog. Zu

gleicher Zeit wollen ihn Wrangel, Terzky und Max sprechen.

Alles drängt sich zusammen, die Zeit scheint stille zu stehen,

und doch geht sie weiter und macht mit jeder Minute Wallensteins

Handeln zwanghafter. Die Zeitdauer kann verschiedenen

Charakter haben: das Drama führt uns über große Zeitstrecken

(»Hamlet«) oder eine knappe Spanne (»Zerbrochener

Krug«); sie verläuft ruhig (»Iphigenie«) oder ist gehetzt

(»Emilia Galotti«). Auch kann sie ein Doppelantlitz tragen,

weil sie von verschiedenen Personen des Dramas verschieden

erlebt wird: in »Faust« ist Gretchen in eine drängende Zeit

hineingestellt und wir bangen mit ihr; Mephisto will kein

Drängen, er wünscht, daß Faust in dieser Lage verharre.

3. Mit der Zeitbewältigung meinen wir die Gestaltung des

Zeitlichen im Drama. Die Zeit erscheint als Ordnungskraft

der im Raum ablaufenden Handlung. Der Dichter kann schon

durch das Raumerlebnis das Zeiterleben fördern. Äußerliche |#f0598 : 582|



Mittel sind Wandelbühnen oder das Ticken und Schlagen von

Uhren. Wichtiger sind folgende Möglichkeiten: die Kontinuität

und ein vorwärtsschreitender Gesamtrhythmus;

Stauungen wie eben der erste Akt von »Wallensteins Tod«;

plötzliche Entscheidungen in kürzester Zeit wie das Auftreten

der alten Brigitte im »Zerbrochenen Krug«; Gleichzeitigkeit

hintereinander liegender Szenen wie die Ottokar-

und Rudolf-Teile im letzten Akt des »Ottokar«; umgekehrt

wirken Zwischenräume zwischen den einzelnen Akten; wirkungsvoll

ist auch die Spannung zwischen Szenenzeit und

seelischer Zeit: der 3. Akt des »Tasso« fördert weit über den

Streit zwischen Tasso und Antonio die ganze Hofgesellschaft

und ihre Einstellung: alles soll wieder eingerenkt werden,

Tasso erscheint kaum mehr als schuldig, beinahe mehr Antonio;

im 4. Akt steht Tasso noch immer in der seelischen Lage

nach dem Streit mit Antonio, dadurch wird die Spannung

mit dem Hof um so deutlicher.



Der Raum durchsetzt in seiner Bedeutung den ganzen Vorgangsablauf.

Im »Agamemnon« des Aischylos erwirkt der

Wächter auf dem Dach zu Beginn Weite des Raums, Ausschau

und Erwartung. Die Weihe und Gottnähe des Raumes

bestimmt die ganze »Iphigenie«. Jedes Drama hat eine natürliche

Ortsbasis, von der die Handlung ohne Schaden nicht

getrennt werden kann: man kann sich ein höfisches Drama

nicht im wilden Wald, den »Tell« nicht in vornehmen Zimmern

vorstellen. Aber diese Basis kann der Dichter nach zwei

Richtungen ausgestalten: entweder durch einen Zug zur

Wirklichkeit des Lebens; das kann ein Bemühen um den

»Originalschauplatz« eines Ereignisses sein (Schillers »Tell«),

aber auch eine Gestaltung von einem bestimmten Punkt aus:

Gretchens Kerker als Doppelraum; oder durch Abhebung von

der Wirklichkeit in nur allgemein bestimmte Räume, aber

auch Verdichtung in eine Art Sammelräume: im »Agamemnon«

hört man auf dem Vorhof, der den Raum darstellt, aus

dem Baderaum die Weherufe des von Klytämnestra erschlagenen

Agamemnon; Macbeth ermordet den König hinter der

Szene, man hört ihn rufen, er kommt mit blutigen Händen

zurück. Am bekanntesten sind hier die Mauerschauen: weite, |#f0599 : 583|



unsichtbare Räume können durch das Miterleben der Personen

auf der Bühne in den Handlungsraum hereingezogen

werden. Solche Enthebung von der Wirklichkeit kann zur

Entdinglichung führen: der Raum kann so die Idee herausstellen

oder symbolisch werden: die Enge eines Zimmers, die

Weite einer Landschaft schaffen eine grundlegende und sinnvolle

Stimmung. Der Raum kann sich zusehends verengen

und damit die tragische Ausweglosigkeit andeuten, so besonders

im Wallensteindrama vom »Lager« an, bis Wallenstein

in Eger ist, das von Butler geradezu als Falle bezeichnet wird.

Das Gegenteil sehen wir im »Fidelio« und im Tellschluß.

Sehr wichtig für die Gesamtanlage eines Dramas ist die Frage,

ob der Dichter die Handlung auf einen Raum konzentriert

oder sie durch viele Räume sich hindurchbewegen läßt:

Einortdrama ─ Bewegungsdrama.



Im Einortdrama, das seine reinsten Ausprägungen in der

Antike, in der französischen tragédie classique und im naturalistischen

Drama findet, bleibt der Zuschauer immer in eine

Richtung gezwungen; das schafft dauernde Konzentration

ausschließlich auf den Vorgang. Dabei kann der Raum als

bloßer Rahmen gedacht sein für die Reden und Bewegungen

der Personen, oder er ist realistisch reich ausgestattet. Man

könnte alle Wirkungen solcher Anlage an Max Mells Versuch

beobachten, die beiden Teile seines Nibelungendramas je auf

einen Raum zu verdichten. Im Einortdrama sind die Figuren

streng in einen Raum gebannt, alle ihre Bewegungen richten

sich danach ein. Da man dem gleichen Raum nicht entkommt,

verdichtet sich so auch der Zeitablauf. In der Handlung zeigt

sich die deutlichste Auswirkung dieses Stilprinzips: die Konzentration

erzwingt Vollständigkeit, drückt aber auch Unentrinnbarkeit

aus, wie besonders in Ibsens »Gespenstern«. Aber

sie ermöglicht auch die Einbeziehung des Inneren in hohem

Grade: man denke an »Iphigenie«, »Tasso«, »Antigone«. Die

Handlung erreicht so große Unmittelbarkeit: obwohl in

Goethes »Iphigenie« der Vorgang weit in die Vergangenheit

und in andere Räume und endlich in die Zukunft von Individuen,

Familien und Völkern ausgreift, konzentriert sich

diese Fülle doch auf den einen heiligen Raum und damit auf |#f0600 : 584|



die innere Bedrohung Iphigenies und ihren seelischen Sieg.

Durch die ständige Gegenwärtigkeit des Vorgangs in einem

Raum kann der Dichter auch auf vielfache Weise die Dauerhaftigkeit

des Konflikts herausheben, damit das dramatische

Weltprinzip der Urgespaltenheit. Man denke, um nur ein

Beispiel herauszugreifen, wie im »Ödipus« durch diese Konzentration

der König ununterbrochen in seiner Doppeldeutigkeit

lebendig vor uns steht: als der Herrscher, der die Pflicht

hat, den Untäter zu finden, und als der Untäter selbst; als der,

der nicht glaubt, der Sohn seiner Eltern zu sein, und doch als

dieser Sohn: er ist nie der, der er zu sein glaubt. So wird auch

die dramatische Funktion des Botenberichts deutlich, der im

Einortdrama nötig wird. Er kann immer neue Lagen schaffen,

damit die Dauerhaftigkeit des Konflikts ermöglichen, er bindet

die Außenwelt an diesen einen Ort und macht ihn zur

Mitte einer Welt. Er ist nie rein episch, denn mit dem Bericht

wird zugleich die Einstellung der Zuhörer im dramatischen

Raum gegeben. Das Einortdrama erzeugt durch seine Struktur

ganz deutliche Stimmungen: Beklemmung, Belastung,

Pathetik. Die Spannung eines solchen Dramas besteht vor

allem im Eingespanntsein des Erlebenden.



Im Bewegungsdrama setzt sich der Zuschauer selbst in

Bewegung und fühlt sich in die anderer ein. Zeitdehnung und

Stoffhäufung führt zum Wechsel der Raumvorstellung. Die

Bewegung von Ort zu Ort ermöglicht auch große Figurenfülle.

Sie kann sich im Gang eines einzelnen durch die Handlung

entfalten wie etwa in den ständig wechselnden Räumen

und Menschen im »Peer Gynt« oder in Claudels »Seidenem

Schuh«. Sie kann durch Parallelhandlungen gegeben sein wie

im »Lear« oder endlich in Gruppen und Massenentwicklungen

wie etwa in Grabbes »Napoleon oder die hundert Tage«. Bewegung

durch viele Räume erfüllt innerlich auch die Zeitabläufe,

sie werden so überschätzt, wie etwa die vier Tage des

Wallensteindramas. Vor allem aber ermöglicht das Bewegungsdrama

die Gestaltung der Lebensfülle. Es weitet den Blick

auf die Fülle der Lebensgegensätzlichkeiten und -zusammenhänge.

Erst aus dem Zusammenfließen der sich ergebenden

Eindrücke erhebt sich dann die Bedeutsamkeit, wird die |#f0601 : 585|



Verwesentlichung erreicht. So ist Stoffausweitung möglich:

der Held greift in die Welt hinein wie Faust und Macbeth,

der immer weiter sein Ziel spannt und endlich spannen muß,

will er bestehen. Die Handlung des Bewegungsdramas kann

sich weiter auseinanderfalten als die des Einortdramas: durch

Schichtenbildungen, Verzweigungen wie die Gegenhandlung

in Grillparzers »Bruderzwist« oder Verschachtelungen wie im

»Kaufmann von Venedig«. Oder sie wird reich durch Parallelhandlungen

wie die Glosterhandlung im »Lear«, durch Gleichnishandlungen

oder dadurch, daß die Person in verschiedene

Daseinsstufen gezwungen wird wie Sigismund in Calderóns

»Leben ist Traum« oder in Hofmannsthals »Turm«. Das Bewegungsdrama

läßt sich in seinem Aufbau aus den Normen

des Einortdramas nicht verstehen und muß so als regelwidrig

gelten. Es hat seine eigenen Gesetze. Als Grundsätze seiner

Struktur können gelten: es ist eine werdende Einheit wie der

»Faust«; markante Einzelszenen wie etwa Shakespeares Narrenszenen

haben zwar einen Sinn im Ganzen, behalten aber

doch ihren deutlichen Eigencharakter; im Bewegungsdrama

erkennen wir eine fortschreitende Entfaltung der Urgespaltenheit

in Breite, Zahl und Tiefe wie etwa im »Julius Cäsar«, im

»Götz« und im »Bruderzwist«. Die Spannung des Bewegungsdramas

besteht vor allem in der Erwartung.



Die Frage nach Raum und Zeit im Drama führt auf die

berüchtigten drei Einheiten. Aristoteles spricht nirgends von

der Ortseinheit, die Zeitbegrenzung beobachtet er nur als

häufige Bemühung der Dichter. Ausgebildet hat diese Regeln

des gleichen Ortes, der Zeitbeschränkung auf 12, 24 oder gar

36 Stunden und der einheitlichen Handlung der Aristoteleskommentator

Castelvetro 1576. In der Theorie sind sie im

allgemeinen wichtiger genommen worden als im wirklichen

Schaffen. Bei den Italienern erstarren die aristotelischen Gedanken

durch die Erklärer, in Frankreich aber erwachsen aus

den erstarrenden Regeln neue schöpferische Antriebe für die

Dramenform: Corneille ringt noch, für Racine bedeuten die

Regeln gar keine Hemmung mehr. Das alte bunte französische

Theater ist über den Kampf um die Regeln zu einer neuen, in

sich geschlossenen und selbstverständlichen Seelentragödie |#f0602 : 586|



gelangt. Lessing betont, daß die Einheiten nicht die Hauptsache

seien, er arbeitet aber, auf anderem Weg als Racine, auf

eine Verinnerlichung des Dramas hin. Übrigens spielen für die

Ausbildung dieser Regeln neben ästhetischen Gedanken auch

gesellschaftliche Beweggründe und rationalistische Welthaltung

eine Rolle. Im allgemeinen richten sich die Bestimmungen

der Theoretiker nur auf das Einortdrama, das Bewegungsdrama

gilt für sie als Entgleisung; es hat mit diesen Regeln

nichts zu tun, besteht aber als künstlerisches Gebilde zu Recht.

Die Zeiteinheit ist ein völlig unklarer Begriff, was in der

lächerlichen Konvention von 36 Stunden deutlich wird;

hinter ihr steht der Gedanke an die Entscheidungskraft kurzer

Zeiträume oder die Überzeitlichkeit gewisser Vorgänge, wie

etwa in der »Iphigenie«. Auch die Ortseinheit ist mehr eine

französisch-höfische Konvention gewesen; richtig gesehen,

weist diese Forderung auf die Symbolik der Beengtheit und

des Schicksalraumes. Bei der Einheit der Handlung stehen

wir einfach vor der Frage, wie der Dichter aus Fülle eine geschlossene

Ganzheit schafft.



Die Personen sind im Drama wichtiger als in der Epik, denn

hier tritt der Dichter ganz hinter den Gestalten zurück. Sie

sind die Träger der Handlung und die Stützen des Vorgangs.

Aber in ihrer Struktur weisen die Personen eines Dramas eine

Spannung auf: sie sind auf der einen Seite Individuen, die der

Dichter unter Umständen bis zu großen Persönlichkeiten ausgestalten

kann; sie sind aber zugleich Glieder im dramatischen

Vorgang, künstlerische Gebilde mit einer Funktion im Vorgangsablauf.

Was der Dichter in ihnen herausarbeitet, ist

immer neben weltanschaulichen Hintergründen vor allem

durch die künstlerische Gestalt des ganzen Werkes bedingt.

In den Personen schafft sich der Dichter ein weiteres Mittel zur

Verwesentlichung: sie bleiben nicht platt im Rahmen der

Handlung, sie ragen in ihrer Art in letzte Schichten empor und

gewinnen so symbolische Bedeutung. Sie können aber auch

auf höhere Zusammenhänge nur knapp hinweisen und bekommen

dann leicht allegorischen Charakter. Übrigens ist erst in

neueren Zeiten der Zug zur Individualisierung der Gestalten

zu beobachten. Früher waren sie noch stark sozial bedingt: |#f0603 : 587|



der Dichter schuf Bürger, Höflinge, Soldaten, Fürsten usw.



In der Darstellung der Personen bestehen deutliche Unterschiede

zwischen Epik und Dramatik. Während die epischen

Gestalten mehr in ihrer Fülle vor uns treten, sind die dramatischen

schärfer umrissen, auf den Charakterkern verdichtet.

Dagegen ist es nicht unbedingt richtig, daß die epischen mehr

passiv, die dramatischen mehr aktiv sind. Man hat von den

dramatischen Gestalten gesagt, sie hätten keine Atmosphäre

um sich, seien also plastisch umgrenzt und insofern fragmentarisch,

als nur das deutlich werde, was sie sagen. Das alles

steht im Gegensatz zu den Gestalten der Epik, genauer allerdings

nur der großepischen Dichtung. Aber das bedingt noch

keine Abwertung des Dramas gegenüber der Epik, so wie man

auch nicht die Plastik gegenüber der Malerei abwerten darf.

Denn gerade die scharfe Umrissenheit und Begrenztheit

dramatischer Personen kann leichter dazu führen, die tieferen

Zusammenhänge und Hintergründe erlebbar zu machen.

Übrigens kann auch um die dramatischen Figuren eine Atmosphäre

gelegt werden. Man denke an den Stimmungsrahmen

des »Egmont«, der »Maria Magdalena«, der »Weber« und

mancher Stücke Schönherrs. Auch kann in der Sprache der

dramatischen Personen eine Fülle inneren Lebens lebendig

werden. Im Gespräch werden die feinsten und dichtesten Beziehungen

der Menschen untereinander spürbar, sie schaffen

sich da ihre eigene Atmosphäre, die sie als Gesprächsgemeinschaft

umhüllt. Auch das Schweigen kann charakterisieren.

Man denke an die Wirkung Rudolfs II. im »Bruderzwist«;

im Gegensatz zu den wilden, oft unbeherrschten und dann

wieder leidenschaftlichen oder kalten Reden seiner Umgebung

wirkt seine Wortkargheit, seine bloße Gebärde ohne

Sprache eindringlich. Oder: im Gegensatz zum »Urfaust«, wo

Faust selbst in Auerbachs Keller die Zaubereien ausführt,

übernimmt sie im »Faust« Mephistopheles, Faust selbst spricht

zwei ganze Verse, einen zu Anfang und dann gegen Schluß:

»Ich hätte Lust, nun abzufahren!« Nicht ausdrucksvoller

könnte Fausts Haltung heraustreten.



Auch kann der Dichter im Drama die verschiedensten

Typen von Personen zusammenbringen. Neben mehr skizzenhaften |#f0604 : 588|



und freskoartig hingestellten, wie oft bei Calderón oder

in der Antike, stehen so füllige Wesen wie Hamlet, Homburg,

Danton, Götz, Kari Bühl in Hofmannsthals »Schwierigem«.

Die einen wirken in ihrer Greifbarkeit, die anderen in ihrer

Funktion im Drama. Die einen sind verschwommen und fein

nuanciert wie Lear, Alkmene und der Glockengießer Heinrich

(»Versunkene Glocke«), wobei natürlich »verschwommen«

keine Abwertung bedeutet; die anderen sind klar und

scharf umrissen wie Franz Moor, Luise in »Kabale und

Liebe« und der Jedermann. Neben der direkten Darstellung, wo

etwa im Prolog oder gar im Personenverzeichnis (Schillers

»Fiesko«) der Charakter kurz angedeutet wird, oder wo in

Dialogen über dritte und ihre Art ausführlich gesprochen

wird, ist im Drama vor allem das Handeln und Reden der

Personen charakterisierend. Die einen reden in wohlgesetzten

tradierten Phrasen, die anderen frisch von der Leber weg wie

im Alltag, andere endlich enthüllen in ihrem wesenhaften

Sprechen höchste Bereiche, so vor allem in den großen klassischen

Dramen Goethes und Schillers. In Hofmannsthals Lustspiel

»Der Schwierige« beruht gerade auf der Verschiedenartigkeit

des Redens der Humor und die Dramatik zugleich.

Auch die Umwelt trägt zur Charakterisierung der Gestalten

bei, etwa die Atmosphäre, die gewisse Gestalten ausstrahlen:

Alba in »Carlos«, Elisabeth in »Maria Stuart«.



Die Gestaltenwelt eines Dramas steht in mannigfachstem

gegenseitigem Bezug: Zunächst hebt sich vielfach eine Hauptgestalt

von den anderen ab. Man nennt sie oft »Held«, was

aber in diesem Zusammenhang nicht unbedingt heldisch bedeuten

muß; sondern in und um sie konzentriert sich der

ganze dramatische Vorgang. Sie ist die lebendige Verkörperung

des Hauptmotivs. Dabei hängt es ganz von der dichterischen

Gestaltung ab, wer aus einem Personenkreis die Hauptgestalt

wird. Die großen griechischen Tragiker haben oft dieselben

Sagen behandelt, aber vielfach sind ihre Dichtungen

dadurch unterschieden, daß sie eine andere Hauptgestalt haben,

daher den ganzen dramatischen Vorgang von einer anderen

Seite her beleuchten. Dabei kann die Hauptgestalt aktiv wie

Macbeth oder auch passiv sein. Man übersieht oft, wie häufig |#f0605 : 589|



und wichtig diese Passivität im echten Drama ist. Die Urgespaltenheit,

verwirklicht im Konflikt, überfällt die Hauptgestalt

wie ein großes Unglück, sie steht im Wirbel des Furchtbaren

und muß es irgendwie überstehen. Passivität, d. h. nicht

selbst durch Handeln Ereignisse, Unglücksfälle schaffen, sondern

in ihnen stehen und sie durchhalten, ist durchaus nicht

undramatisch. Alle drei Kernmerkmale der Dramatik können

auch hier sehr stark ausgeprägt sein. Ja, es gibt mehr passive

Züge in Hauptgestalten als man so obenhin meint: Wallenstein,

Maria Stuart, Demetrius, Homburg, Woyzeck usw. Die Passivität

kann verschieden sein. In Rudolf II. im »Bruderzwist« ist es

ein bewußtes Beharren, ein Nichthandeln aus Grundsatz und

Weltanschauung. Bei Johannes Vockerat ist es ein Zurückweichen;

am wichtigsten ist das Durchhalten, das man am

eindrucksvollsten in den barocken Märtyrerdramen erlebt,

z. B. im »Standhaften Prinzen« oder im »Papinianus« des

Gryphius; ganz anders nimmt sich diese Passivität im »Woyzeck«

aus. Der Vorgang ereignet sich um die Selbstbehauptung

oder den Untergang der Hauptgestalt. In ihr ist dem Dichter

die reichste Möglichkeit gegeben, einen vollen Menschen in

all seinen Zügen und Schichten herauszustellen. Im Zusammenstoß

der personellen Art und der Gegenwirkung des

Schicksals entfaltet sich der innere Reichtum des Helden. Die

Dramatik kann sogar der Ich-Spaltung der Hauptgestalt entspringen.

Wir finden diese Art der Dramatik besonders im

modernen grotesken Spiel, etwa bei L. Pirandello. Die Urgespaltenheit

bricht hier in einem Individuum auf und zeigt

so aufs neue die Gefährlichkeit menschlichen Daseins, hier

auf ganz neuer Ebene.



Die Hauptgestalt kann auch durch eine ganze Menschengruppe

gebildet sein: in »Wallensteins Lager«, im »Tell«, in

den »Webern«. Die Fülle dieses Gruppenindividuums bricht

der Dichter dann in einzelnen Gestalten, die je bestimmte

Züge des Ganzen herauskehren; im »Tell« gliedert sich das

Volk in die Stände, Alter, Geschlechter, in Einzelgänger,

Werdende, Feste und endlich nach dem Wohnraum. Damit

spaltet sich die Handlung in einzelne Bewegungen auf, aber sie

treffen an wesentlichen Punkten zusammen. Ein anderes Baugesetz |#f0606 : 590|



liegt vor, wenn zwei Hauptgestalten auftreten. Es handelt

sich nicht um den Gegner des Helden, denn der ist ihm

aus der Struktur des Dramas immer funktionell untergeordnet:

Octavio gegen Wallenstein, Elisabeth gegen Maria.

Aber es gibt Dramen mit scheinbarem Doppelgipfel. Bei

genauerem Betrachten wird sich doch das Überwiegen einer

Hauptgestalt zeigen: Das hängt teils vom Willen des Dichters

ab, teils von der Bedeutsamkeit der Gestalt oder auch vom

Gehalt. Man wird Tasso über Antonio, Iphigenie über Orest,

Romeo über Julia stellen. Es kann auch zu Verschiebungen

während des Dramas kommen, wenn eine Gestalt erst langsam

im Lauf der Handlung an die entscheidende Stelle vordringt;

so ist es wohl mit Don Carlos der Fall, der erst gegen

Ende eindeutige Hauptgestalt wird. Das ist wieder eine besondere

Art der künstlerischen Durchführung des dramatischen

Vorgangs. Aber es sind auch wirkliche Doppelgipfel

künstlerisch möglich. Denn die Urgespaltenheit kann entweder

in der Art eines Menschen liegen (Hamlet, Alkmene)

oder im Kampf zweier, wobei eine Hauptgestalt doch heraustritt

(Tasso), oder im Zusammenstoß zweier gleichgewerteter

Menschen. So scheint in den früheren Teilen des »Carlos« ein

Doppelgipfel Philipp ─ Posa zu bestehen, eigenartig ist die

Häufigkeit solcher Form bei Hebbel: Genoveva ─ Golo,

Albrecht ─ Ernst, besonders aber Herodes und Marianne:

zwei Menschen suchen Halt am höchsten Wert der Liebe

gegenüber der drohenden irdischen Welt, sie versagen beide

an diesem Wert, aber jeder auf andere Weise, sie müssen sich

dadurch zerstören und sind doch gerade durch diese Liebe

aneinander gebunden.



Die Nebenfiguren reizen oder hemmen die Hauptgestalt,

sie beleuchten den Vorgang wie etwa die Glosterhandlung im

»Lear«, oder sie parodieren und untermalen die Haupthandlung

wie die vielen Dienerhandlungen. Die stärkste Nebenfigur

ist der Gegner. Er kann oft geradezu eine aus dem Helden

hinausgestaltete Eigenart sein, wie teilweise Mephisto Züge

Fausts individualisiert. Das Gegenspiel kann durch eine ganze

Gruppe von Gegnern vertreten sein. In der »Phèdre« verteilt

sich das Gegenspiel im Lauf des Vorgangs auf Hippolyt, auf |#f0607 : 591|



Theseus, auf Oenone und auf Aricie. Im »Wallenstein« und im

»Bruderzwist« ist das Gegenspiel reich aufgegliedert. Je unbedeutender

die Nebenfiguren im Bau des dramatischen Vorgangs

sind, desto weniger sind sie als Individuen entfaltet. Mit

der Zeit haben sich bestimmte Funktionen solcher Nebenfiguren

gebildet: vor allem der Vertraute, der die Monologe

zu empfangen, Botengänge zu verrichten hat oder auch Intrigen

einfädeln muß. Die sogenannten Chargierten haben dick

und stereotyp aufgetragene Züge: der dumme Diener, der

schwatzhafte Alte. Am wichtigsten unter ihnen ist die lustige

oder die komische Person. Wir sprechen später von ihr. Für

die Vorgangsgestaltung ist die Gruppierung dieser Nebengestalten

wichtig. Zwei künstlerische Gefahren drohen dabei:

die Schematisierung oder das Chaos, je nachdem, ob der

Dichter vor allem die reine Kunstgestalt oder die Fülle des

wirbelnden Lebens vor Augen hat. Es können die einzelnen

Personen gegenseitig aufeinander wirken, so daß eine Art

Ring entsteht wie in Hebbels »Agnes Bernauer«. Oder die

Nebengestalten stehen um eine andere Gestalt herum, es entstehen

Sterngruppen, besonders deutlich die beiden Gruppen

um Maria und Elisabeth; durch solche Gruppierung kann

dann auch eine Person in ihrer dramatischen Bedeutung besonders

heraustreten, wenn sie eben keinem dieser Sterne eindeutig

angehört: Graf Leicester.



Eine besondere Form sind die Menschenmengen im Drama.

Geschichtlich und künstlerisch sind zwei Arten zu unterscheiden:

1. Eine Gruppe, die gleichsam nach oben aus der

Handlung herausgehoben ist und durch Sprache und Gebärde

den Vorgang der bloßen Wirklichkeit enthebt, zur Verwesentlichung

führt. Das ist der Chor. In formaler und gehaltlicher

Hinsicht bietet er reiche Möglichkeiten: die Gebilde des

griechischen Chores in den wunderbaren Versreihen, die

Präfigurationen der Passionsspiele (etwa Abrahams Opfer),

die Allegorien und Reihen der Barockspiele. In modernen

Dramen herrscht mehr das Stimmungsmäßig-Lyrische vor,

etwa die Engelchöre im »Faust« oder in »Hanneles Himmelfahrt«.

Das Wesentliche ist in diesen Formen das Herausheben

des Inhalts in höhere Sphären, das Durchscheinenlassen der |#f0608 : 592|



Hintergründe. Aus den alten Chören und ihren Funktionen

haben sich Sproßformen gebildet: die Vertrautenrollen, die

Monologe, die verschiedenen lyrischen Einlagen. 2. Eine

Gruppe, die gleichsam unter den Vorgang hinuntergebaut ist,

das Untere bildet: die Masse. In sie kann das Unedle und Gemeine

abreagiert werden. Die Masse gestaltet damit auch das

Milieu, in dem die Handlung abläuft, wie in Goethes »Egmont«;

in ihr spiegelt sich teilweise der Held, so Florian

Geyer; sie kann auch an der Handlung teilnehmen oder

wesentliches Glied der Handlung sein und sich dabei veredeln

(»Tell«). Sie hat also mannigfache Aufgaben.



Die Rolle der Figuren im Gesamtbau des Dramas kann verschieden

sein. Man kann zunächst grobschlächtig ein Handlungs-

und ein Charakterdrama unterscheiden, jenes vor allem

in der Antike, dieses bei Shakespeare sehen. Verschiedene

Zeiten haben die beiden Möglichkeiten verschieden gewertet.

Aber die Grundfrage, die auch hier zu stellen ist, läßt drei

Arten zu, und damit auch eine dreifache Rolle der Figuren.

Diese Frage ist: worin wurzelt das Dramatische? Worin

offenbart sich im dramatischen Vorgang vor allem die Urgespaltenheit?

Die drei Arten sind natürlich idealisierte Reinformen.

Das Dramatische kann zunächst im Wesen bestimmter

Menschen ruhen: Hamlet, Macbeth, Lear, Othello, aber

auch Gestalten Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns. In diesem

Wesen oder in seiner Auseinandersetzung mit der Mitwelt

enthüllt sich die ewige Seinsgespanntheit. Dann in einer bestimmten

Handlung: so in »Antigone«, »Ödipus«, in Shakespeares

»Cäsar«, in »Maria Stuart«. Die Menschen werden

in eine bestimmte Konstellation hineingerissen, sie müssen

darauf reagieren, und daraus enthüllt sich wieder das Urdramatische.

Endlich offenbaren die irdische Handlung und

die in ihr sich auswirkenden Gestalten über das Einmalige der

Handlung und das Dasein der Personen hinaus die Weltstruktur,

Handlung und Personen werden zu dichterischen

Symbolen für den Bau der Welt. Erst in dieser Enthüllung

eines Transzendenten oder Metaphysischen haben wir den

eigentlichen Sinn des Dramas. Die Urgespaltenheit liegt entweder

in der Weltstruktur oder in der Spannung Diesseits ─ |#f0609 : 593|



Jenseits. Wir finden solche Art in den Dramen Calderóns, im

späten Shakespeare (»Sturm«), aber auch bei Anouilh, Sartre,

T. S. Eliot, Claudel.



Gestaltungskräfte



Im großen Unterschied zur Epik gibt es in der Dramatik

Teile, die nicht sprachlich gestaltet sind. Dafür tritt das Spiel

auf der Bühne ein. Mit dieser Tatsache betreten wir das Gebiet,

das teilweise über die Dichtung hinausführt. Die Bühne

ist heute tatsächlich für die Form eines großen Teils aller

dramatischen Dichtung wesentlich. Aber eine völlige Deckung

zwischen Dramatischem und Bühnendarstellung besteht nicht.

Vor allem ist wichtig, daß die Bühne auch in der Vorstellung

des Lesers wirkt, ohne daß es zur Realisierung kommt. Die

einfachste Bühnenanweisung schafft eine Raumvorstellung.

Die Bühnenanweisung zum Raum ruft in Dramen wie »Iphigenie«,

»Tasso« und »Wallenstein« je ganz andere Raumbilder

und damit verbundene Stimmungen hervor. Aus der geschichtlichen

Wurzel und aus dem Wesen ergeben sich zwei

Gruppen von Gestaltungskräften: das Schaubare und das

Hörbare, hier vor allem die Sprache.



1. Da wir hier das Drama als Dichtung betrachten, seien die

Kräfte des Schaubaren nur kurz gestreift. Zunächst spielt schon

der feststehende Rahmen eine Rolle. Der Bühnenraum, wie

ihn der Dichter andeutet und wie er dem Drama eine bestimmte

Färbung gibt, kann eine offene Landschaft im allgemeinen

darstellen. Aber auch hier verschiedene Formen:

weihevolle Haine, weite Architektonik, reichgegliederte

Naturbilder usw. Der Bühnenraum kann auch geschlossen

sein, meist ein Zimmer. Das verengt den Raum und wirkt sich

aufs Dramatische aus. Freilich können Blicke aus dem Raum

ins Freie wirksam werden, so etwa besonders in der »Erde«

Karl Schönherrs, wo durch die Fenster der Wandel der Jahreszeiten

in den engen Bauernraum hineinwirkt. Sowohl offene

als auch geschlossene Räume können eng und weit sein: eine

ärmliche Stube neben einem Festsaal, eine Schlucht neben

einer weiten Ebene. Im klassischen Drama konzentrieren sich

alle sprachlichen Angaben nur auf den einen Raum, er wird |#f0610 : 594|



daher in seiner Gesamtbedeutsamkeit besonders hervorgehoben;

er schafft eine bestimmte Atmosphäre, die durch Entdinglichung,

d. h. durch Absehen von allen konkreten Gegenständen,

ins Wesenhafte hinaufreicht.



Es gibt auch die Möglichkeit von Doppelräumen auf der

Bühne, wodurch das Dramatische unmittelbar greifbar wird.

Die einfachste Form finden wir im Theaterspiel im »Hamlet«,

wo die Gespaltenheit eines Menschen ─ Claudius ist zuschauender

König und dargestellter Verbrecher ─ markant versinnbildlicht

wird. Im Barockfestspiel wird auch noch der

Zuschauerraum in das Ganze einbezogen, die ganze Welt als

Spiel vor Gott dem Herrn wird erlebbar. Im romantischen

Spiel (Tiecks »Gestiefelter Kater«) taucht die Frage auf: was

ist Schein? was ist Sein? Gleichzeitig neben- oder übereinander

gebaute Bühnenräume ermöglichen schärfste dramatische

Entgegensetzung.



Von den sichtbaren Vorgängen sind besonders zwei wichtig:

zunächst große Veränderungen im Bühnenbild, also etwa das

Zusammenstürzen von Gebäuden, plötzliche Verwandlungen

wie im Barockstück und im Zauberstück und Geistererscheinungen;

dann die Bedeutung des Lichts. Schon die Farbensymbolik

spielt hier herein, etwa die grellroten Tapeten im

Palast des Hasses in Raimunds »Der Bauer als Millionär«. Die

Gesamtwirkung von Licht und Dunkel gehört auch hierher;

entweder durchwegs Licht oder durchwegs Dunkel oder

Wechsel, entweder allmählicher ins Helle oder Dunkle oder

plötzlicher. Licht hat stärkste symbolische Wirkungen.



Auch die Schauspieler wirken als Schaubares. Mit ihnen

tritt das Menschliche in den Sehraum ein und wird die Darstellung

vollkommen. Ihre Maske oder ihre Mimik, durch

Bühnenanweisungen knapp gekennzeichnet, schafft schon im

Lesen eine Untermalung; besonders wirkungsvoll kann das

Gebärdenspiel sein, es wird leicht symbolisch wie das Knien

Ottokars oder das Händewaschen der Lady Macbeth. Es kann

die Sprache ganz verdrängen und im stummen Spiel das

Dramatische weiterführen. Grillparzer ist Meister der Darstellung

durch Gebärden. Von größter Einprägsamkeit ist es,

wenn der alte Grutz in Schönherrs »Erde« am Schluß des |#f0611 : 595|



Stücks den Sarg, den er sich in schwerer Krankheit hat

zimmern lassen, zu Brennholz zerhackt und damit seine

wiedererwachte Lebenskraft ausdrückt, zugleich den Sieg des

weitergehenden Lebens. Bedeutungsvoll sind auch die Verschiebungen

der Personengruppen, so etwa das Ansteigen der

Personenzahl von den zwei einsamen Wächtern bis zur Volksmasse

in der Apfelschußszene oder die Wirkung von Monologen

nach bewegten Szenen. In der Prosafassung der »Iphigenie«

treten am Schluß nochmals alle Personen des Stückes

auf, wenn sie auch stumm bleiben, in der endgültigen bleibt

es bei den drei Hauptgestalten: auf sie und ihre Worte konzentriert

sich alles, Äußeres könnte nur zerstreuen.



2. Im Bereich des Hörbaren gibt es außer der Sprache noch

zwei Kräfte: Geräusche der verschiedensten Art können die

Handlung antreiben oder unterstreichen oder gar ein Stück

der Handlung selbst sein: so der Tod Maria Stuarts, der nur

durch das plötzliche Schweigen und dann das dumpfe Gemurmel

dargestellt wird. Viel umfangreicher ist die Wirkung

der Musik. Damit aber betreten wir ein anderes Gebiet der

Ästhetik. Wir können hier nur Andeutungen geben. Die Musik

ermöglicht unter bestimmten Umständen ganz allgemein

im Rahmen der Dichtung die Steigerung der Ausdruckskraft

ins Gefühlsmäßige, ob sie nun, wie bis ins 18. Jahrhundert, das

in feststehenden Formen für bestimmte Gefühlsbereiche

macht oder ganz konkrete individuelle Seelenregungen

herausarbeitet. Beim Drama ist die entscheidende Frage, ob

sie das spezifisch Dramatische verstärken kann. Morphologisch

lassen sich zwei Entwicklungstendenzen aus einem Uransatz

erkennen. Darin können wir alle tatsächlich vorkommenden

Formen einordnen.



Äußerlich setzt die Entwicklung des Dramas tatsächlich mit

der Musik ein: aus den Chorliedern bei den Griechen, aus den

liturgischen Gesängen im mittelalterlichen Spiel. Das eigentlich

Dramatische aber beginnt mit der Sprache. Das Dramatische

ist je nur erfaßbar in besonderen Vorgängen, die sich

wieder in Handlungen konkretisieren; dazu sind deutlich umgrenzbare

Gehalte notwendig. Das ist ein rationaler Zug im

Dramatischen, und hier ist allein die Sprache dauerprägend. |#f0612 : 596|



So setzt in Dialog und Rede überhaupt zugleich die Handlung

ein. Daher ergibt sich eine deutliche Zweiheit von

Sprache und Musik an der Wurzel des Dramas. Von hier aus

geht die eine Richtung auf Zurückdrängung der Musik und

auf ihre Beschränkung auf Einlagen: der Chor wird im Augenblick,

wo der Dialog die Möglichkeit unmittelbarer Gestaltung

des Dramatischen geschaffen hat, auf bestimmte Stellen

eingeschränkt und ihm ein besonderer Sinn gegeben: Erhebung,

lyrische Reflexion, Blick aufs Allgemeine. Daraus entstehen

bei weiterer Zurückdrängung des Chores die späteren

Liedeinlagen, die die Stimmungen einzelner Personen ausdrücken

(Thekla im »Wallenstein«) oder die Zwischenaktmusik,

wie sie etwa Schiller am Schluß der Rütliszene verlangt.

Solche musikalische Untermalungen sind bis ins moderne

Drama durchaus häufig. Höchste künstlerische Form ist

im Zusammentreffen Goethes und Beethovens im »Egmont«

erreicht worden. In der Ouvertüre, den Liedeinlagen und vor

allem in der Schlußapotheose leistet der musikalische Teil die

Emporführung ins Allgemeinmenschliche, das nur dem Gefühl

unmittelbar zugänglich ist, aber sich doch aus dem

Drama ablöst, welches der Sprache bedarf. Die andere

Richtung dringt zur Gestaltung des Dramatischen in der

Musik vor. Morphologisch ist der Ausgangspunkt die Oper

mit gesprochenen Teilen (»Zauberflöte«, »Fidelio«), wo die

Sprache das Konkrete der äußeren Handlung bringt, die

Musik mehr den inneren Vorgang gestaltet. Im Rezitativ

arbeitet dann die Musik das Dramatische einer Sprachreihe

heraus (»Don Giovanni«). In Duetten und Terzetten usw.

wird weiter der wesentliche dramatische Stimmungsgehalt

lebendig; dafür sind die Weisungen Mozarts an Daponte, die

Beethovens an Sonnleithner bezeichnend. Endlich kommt es

zum vollen Durchkomponieren mit bestimmten Leitmotiven.

Der dramatische Vorgang empfängt nur mehr letzte, äußere

Hilfen vom Text, das Dramatische liegt im Geflecht der

Motive: Wagners »Tristan«.



3. Stellen ohne Sprache im Drama (Gebärden, Pantomime,

Musik) zeigen, daß hier die Urgespaltenheit nicht bis ins

letzte bestimmend ist. Denn solche Stellen haben drei Merkmale: |#f0613 : 597|



sie sind flüchtig, etwa Gebärden. Nur in der sprachlichen

Ausdeutung entweder vorher oder nachher erhalten sie

Dauerprägung. Sie sind ungreifbar. So erhalten die Wagnerschen

Leitmotive erst ihre strukturelle Bedeutsamkeit, wenn

sie einmal im Kontext erklungen sind und von dorther Zeichen

werden. Motive einer Ouvertüre werden plötzlich gedanklich

greifbar und aufgeladen, wenn sie im Zusammenhang der Handlung

wieder auftauchen. Sie sind oberflächlich: so können Gebärden

allein nicht letzte Tiefen wirklich ergreifend darstellen.



Schon durch diese Überlegungen wird die Bedeutung der

Sprache klar. Was über ihre grundlegende Rolle in der Dichtung

gesagt worden ist, gilt völlig auch fürs Drama. Die drei

Grundmerkmale der Dramatik sind geradezu auf die Sprache

angewiesen. Die Darstellung im Rollenspiel ruht im ganzen

auf Rede und Gegenrede. Die Gespanntheit kann besonders in

der Beziehung und Abfolge der sprachlichen Bilder und im

dynamischen Ablauf der Sprache lebendig werden. Und die

Urgespaltenheit ist immer wieder in allen Kräften der Sprachgebung

herausformbar.



Von den Stilkräften führt uns der Anruf geradezu an die

Wurzel der darstellenden Dichtung, denn er liegt auch dem

Gespräch zugrunde, das ja immer ein Reden von Du zu Du ist.

Im dramatischen Dialog fehlt zum Unterschied von Gesprächen

in der Epik das leise Darüberschweben des Erzählers, die Personen

stehen sich unmittelbar gegenüber. Der echt dramatische

Dialog ist auf Kampf und Entscheidung gestellt. Er weist verschiedene

Formen auf: entweder kommen auch im Drama

bloße Erörterungen vor, die sich allerdings zu erregten Aussprachen

steigern können, oder es sind Dialoge, die ganz in

die Handlung eingefügt sind, sie entweder selbst bilden oder

sie vertiefen. Eine Sonderform sind etwa Telefongespräche,

die besonders spannungserregend sein können, da man die

Mitteilung nur ahnt. Wirkungsvoll ist in dieser Hinsicht der

Schluß von Zuckmayers Drama »Des Teufels General«.

Wichtiger als diese Formen sind die Funktionen der Dialoge

im Drama. Die unmittelbarste ist es, Spannungen und Spaltungen

der verschiedensten Art zu wecken, also die Urgespaltenheit

auf die mannigfachste Weise zu gestalten als |#f0614 : 598|



Widerspruch zwischen Sprechen und Tun, als Gegensätzlichkeit

der Gesprächspartner, als Enthüllung von Gespanntheiten

im Lauf der Gesprächsentwicklung, als Widerspruch zwischen

Sein und Schein, Trug und Wahrheit. Dialoge können aber

auch verdecken: das ist dann der Fall, wenn etwa nur Gebärden

Tieferes andeuten, die Sprache aber im konventionellen

Ablauf gerade dieses Tiefere verhüllt, zugleich aber damit ahnbar

macht. Meisterhaft ist es Kleist im 4. Aufzug des »Homburg«

gelungen; was sich im Prinzen beim Lesen und Beantworten

des Kurfürstenbriefes abspielt, ist aus dem Gespräch

mit Natalie kaum zu erspüren, wohl aber aus dem Inneren des

Prinzen, wie es sich in der Haltung ahnen läßt. Endlich können

Gespräche mehr andeuten und verschweben, wie meisterhaft

in den Lustspielen Hofmannsthals. Auch in diesen beiden

letzten Arten des Dialogs enthüllt sich Dramatik, denn auch

hier tun sich Spaltungen und Spannungen tiefster Art auf:

zwischen Äußerem und Innerem, zwischen Reden und Tun,

zwischen einzelnen Gestalten. Während Berichte und Schilderungen

in der Epik sich ganz in das Erzählen einfügen, sind

sie im Drama von anderer Art, sie fügen sich dem Dramatischen

ein: es sind meist Ichberichte, von stärkster Bewegtheit

und Anteilnahme des Sprechenden, vor allem aber wird im

Drama die erregte oder lähmende Aufmerksamkeit der Zuhörer

auf der Bühne mitgestaltet, ja diese Wirkung auf den

Hörer ist sogar das dramatisch Entscheidende. Genau dasselbe

gilt für die Schilderungen, etwa die bekannten Mauerschauen.

Auch größere Reden fügen sich ins Dramatische einer Dichtung

ein. Die Hörer wirken anreizend oder hemmend, oder

es können durch Reden große Wendungen in der Handlung

erzeugt werden. Meisterhaft in dieser Hinsicht ist die große

Rede des Antonius in Shakespeares »Julius Cäsar«. Es kommt

also auch in den Reden immer auf den Kontakt mit den Hörern

an, im Zusammenspiel beider ruht das Dramatische.



Die Stilkraft des Ausrufs entwächst dem unmittelbaren Ausdruck

des Seelischen. Im Drama wird also dadurch vor allem

eine der dargestellten Persönlichkeiten innerlich nahegebracht.

Die besondere Form des Ausrufs im Drama ist der Monolog,

denn er ist immer unmittelbare Aussage eines individuell |#f0615 : 599|



Seelischen. Der Monolog ist durchaus mit Dramatik und

Drama verträglich. Er kann Ruhestellen bringen und damit

als Entspannung und Gegengewicht wirksam sein. Er kann

innere Dramatik prägen, also Gespanntheit in der Seele des

Sprechenden. So sind im Monolog alle dramatischen Elemente

enthalten: Selbstdarstellung der Person, er kann auch

stärkste Spannung erzeugen und endlich besonders stark auch

die Gespaltenheit ausdrücken, so der große Wallenstein-

Monolog oder der Monolog Iphigenies am Schluß des vierten

Aufzugs, wo sie vor eine furchtbare Entscheidung gestellt ist

und sich noch nicht entscheiden kann. Den Monolog als unnatürlich

abzulehnen, bedeutet Verkennung der Grundlagen

der Dichtung; gerade im Zuge der Wirklichkeitsenthebung

durch die Kunst erhält er seinen Sinn. Vor allem in ihm kann

das Tiefgründige vernehmbar gemacht werden. Zugleich

kann er auch im Bau des Dramas bestimmte Funktionen erfüllen.

Eine ist die Eröffnung des ganzen Werkes (»Faust«,

Wächtermonolog im »Agamemnon«) oder bestimmter wichtiger

Teile (Monolog in der hohlen Gasse). Eine andere ist die

Verbindung wichtiger Handlungsglieder. Endlich kann er

auch in den Kern des dramatischen Geschehens führen und

dabei die innere Gespanntheit der Person offenbaren (Iphigenie

am Schluß des 4. Aktes) oder dem Gegner im Geiste

gegenübertreten (Wallensteins großer Monolog). Die dämonischen

Bereiche des Menschentums eröffnet der Dolchmonolog

Macbeths. Es kann ganze Monologketten geben, die

fortschreitend aus immer neuen Lagen das Innere des Helden

enthüllen, so die Monologe Hamlets, Iphigenies oder Tassos.



Auch das sprachliche Bild verrichtet bestimmte Leistungen

im Drama. In ihnen besonders ist die Spannung auf das Ziel

hin gestaltbar. Gleich im Anfang des »Kaufmanns von Venedig«

lenken die Bilder Salarios auf die See und das kommende

Schicksal der Schiffe Antonios. Zugleich eignet den echt

dramatischen Bildern starke Knappheit, Leerlauf ist undramatisch.

Innerlich sind die Bilder des echten Dramas meistens

gespannt, sie weisen in sich schon das Dramatische auf. Auch

im Miteinander und Gegeneinander der Bilder kann Dramatik

liegen. Besonders deutlich in der Gegensätzlichkeit der |#f0616 : 600|



Bereiche der Bilder Iphigenies und Orests am Beginn des

dritten Aufzugs.



Für das Drama ist die Gespanntheit und Antithetik des

Sprachablaufs wichtig. Das zeigt sich im Satzbau und im

Rhythmus. Der dramatische Satzbau weist strenge Durchgliederung

auf: Unterordnung der einzelnen Glieder drängt

oft entscheidende Aussagen in den Nebensatz. Die Subjekte

werden scharf an die Spitze gestellt, so daß sofort ein Täter

heraustritt und man auf sein Tun gespannt wird. Finale und

konsekutive Unterordnungen herrschen vor. Solche Satzgebilde

mit reicher Unterordnung bauen geschlossene Gebilde,

die auch Unvereinbares syntaktisch verbinden, daher die

Gegensätzlichkeit erst recht heraustreiben.



Schon in der Prosa echter Dramen macht sich ein gespannter,

vorwärtsdrängender Rhythmus bemerkbar. Welche

Unterschiede trotzdem herrschen können, zeigt die Gegenüberstellung

von Lessings »Minna«, Schillers »Räubern«,

Hebbels »Judith«, Hauptmanns »Webern« usw. In den Versdramen

wird die Verwesentlichung weiter vorangetrieben,

damit auch das Wesentliche des Dramatischen. Die bekannten

Versarten, die im Drama vorkommen: der jambische Trimeter

der Alten, der Alexandriner, der Blankvers, der

spanische trochäische Viertakter und der Faustvers, bieten

jeder in seiner Art die verschiedensten Möglichkeiten der

Bewegtheit, Gespanntheit und Antithetik.



Im Zusammenhang der Dramatik sind noch drei Züge des

Sprachstils kurz zu beleuchten: das Problem des Personalstils,

die sprachliche Gestaltung der Urgespaltenheit, die

dramatische Sprachsymbolik. In einem Drama können die

einzelnen Figuren ihre eigengeprägte Sprache führen und

damit schon die Gegensätzlichkeit zwischen den einzelnen

Gestalten deutlich werden. Othello und Jago sind sprachlich

in Shakespeares Tragödie deutlich unterschieden: Othellos

Sprache ist kosmisch umfassend, bewegt und unmittelbar im

Ausdruck, Jagos Sprache dagegen rational, konstruiert, berechnend.

Oder Personen verlieren ihren eigengeprägten Stil

und fügen sich in den Stil ein, der der Entfaltung des Vorgangs

entspricht. Am Schluß von Grillparzers »Sappho« |#f0617 : 601|



treten die beiden Dienergestalten Eucharis und Rhamnes, die

bisher das Bescheidene, Alltägliche und Schlichte ihres

Standes auch sprachlich formten, aus dieser Sprachhaltung

heraus, sie reden feierlich und passen sich daher dem feierlichen,

erhabenen Schluß der gesamten Tragödie in ihren

reichen Bildern an: die Rundung ins Hohe, die Rückkehr in

die erhabenen Bereiche der Dichtung sind das Bestimmende

für den Abschluß des ganzen Vorgangs, ihm haben sich auch

die Figuren in ihrer Sprache einzufügen.



Die Darstellung der Weltgespanntheit in der Sprache

haben wir schon an verschiedenen Einzelheiten erkannt. Um

zu zeigen, wie reich hier die sprachlichen Möglichkeiten sind,

seien sie, mit einigen Ergänzungen, zusammengefaßt. Schon

der Doppelsinn der Worte, d. h. der Zusammenprall verschiedener

Erfassungsweisen im Rahmen des gesamten Wortgehalts,

ist hier von Bedeutung: Im Schlußsatz des »Michael

Kramer« wird in der Spannung zwischen konventioneller Alltagsphrase

und Tiefsinn auch ein Dramatisches des Lebens

erahnbar: »... was wird es wohl sein am Ende?« Die vielen

Wortspiele Shakespeares, der Romantiker und Büchners machen

die Sprache selber fragwürdig. Dazu gehört auch die

tragische Ironie: vom Redenden sind die Worte mehr im

konventionellen Sinn gebraucht, den anderen und dem Zuhörer

enthüllt sich aus der Gesamtlage ein Tieferes, das unmittelbaren

Bezug zum Bevorstehenden und Geahnten hat,

so Wallensteins letzte Worte: »ich gedenke einen langen

Schlaf zu tun«. Vor allem reißen natürlich Streitgespräche die

ganze Zerrissenheit der Welt auf. Die Verszerreißung, also die

Aufteilung eines Verses auf mehrere Sprecher, ferner die

Stichomythien und die heftige Schilderung eines Kampfes

etwa bei einer Mauerschau durch mehrere Personen, die sich

ständig unterbrechen, ergänzen und widersprechen, sind

weitere wirkungsvolle Mittel. Auch die innere Gespanntheit

einer Rede gehört hierher. Man denke an Fausts Verhalten zum

Erdgeist, die Antithetik von Bitte und Hochmut in diesen

Versen, oder an die innere Widersprüchlichkeit zwischen

Furcht vor der Kaisermacht und ihrer heftigen Herabsetzung

in Wallensteins Monolog.

|#f0618 : 602|



Alles, was bisher in verschiedenen Zusammenhängen über

das Wesen, die Entstehung und die Funktionen der sprachlichen

Symbole gesagt wurde, gilt auch für das Gebiet der

Dramatik. Aber es ist noch zu fragen, wie gerade das Dramatische

auch durch sprachliche Symbole gestaltbar wird. Schon

die heftige Bewegtheit der zum Symbol gesteigerten sprachlichen

Bilder ist eine erste Kraft.



Ein neuer Anfall, heiß wie Wetterstrahl

Schmolz, dieser wuterfüllten Mavorstöchter,

Rings der Ätolier wackre Reihen hin,

Auf uns, wie Wassersturz, hernieder sie,

Die unbesiegten Myrmidonier, gießend,

Vergebens drängen wir dem Fluchtgewog

Entgegen uns: in wilder Überschwemmung

Reißt's uns vom Kampfplatz strudelnd mit sich fort.


   (Kleist, »Penthesilea« V. 246 ff.)



Auch können die symbolischen Bilder selber in sich voller

Gegensätzlichkeit sein, schon in der rhythmischen Form. In

Calderóns Großem Welttheater heißt in Eichendorffs Übersetzung

eine Reihe von vier Versen in der ständigen Aufteilung

auf Bettler und Reichen so:

   Der Bettler: Welche Freude!

   Der Reiche:   Welche Trauer!

   Der Bettler: Welche Tröstung!

   Der Reiche:   Welche Qual!

   Der Bettler: Welch Vergnügen!

   Der Reiche:   Welche Schmerzen!

   Der Bettler: Welches Glück!

   Der Reiche:   O harter Fall!



Es können auch zwei Bereiche symbolhaft gestaltet werden,

die in Gegensatz zueinander stehen, so daß Gegensymbole

erwachsen. In Shakespeares »Macbeth« hören wir neben allen

Blut- und Mordbildern, die das Stück durchziehen, an bedeutsamer

Stelle, als Duncan das Schloß Macbeths betritt und

bevor dieser mit seinen Mordabsichten beginnt, folgende

Verse:



Duncan: Dies Schloß hat eine angenehme Lage,

   Mit sanfter Milde schmeichelt sich die Luft

   Den zarten Sinnen ein.
|#f0619 : 603|



Banquo:    Der Sommergast,

Die Schwalbe, die an Tempeln wohnt, beweist

Durch ihr geliebtes Nest, daß Himmelshauch

Hier buhlend weht; kein Dächlein, Pfeiler, Fries,

Kein Eckchen, wo der Vogel nicht gebaut

Sein hängend Haus und Kinderbett. Wo er

Gern heckt und nistet, hab ich stets bemerkt,

Ist mild die Luft.


Mit größter Eindringlichkeit stellt dieses Bild die heile Ordnung

den furchtbaren Störungen entgegen. Vorgang und

Sinn des Dramas sind hier symbolhaft verdichtet. In Schillers

Dramen werden immer wieder zwei Bereiche auch in sprachlichen

Symbolen einander gegenübergestellt: auf der einen

Seite das Hohe, Schöne, Lichte, der Himmel und das Paradies,

auf der anderen das Niedere, Häßliche, Dunkle, die Hölle.



Das Ganze als wirkende Gestalt



Über all den vielen einzelnen Schichten, Gliedern, Gestaltungskräften

darf man nicht vergessen, daß jede echte

dramatische Dichtung eine höhere Einheit darstellt. Denn zunächst

einmal schließen sich alle die besprochenen Züge zu

einer Gestalt zusammen, in der erst alles einzelne Sinn und Aufgabe

erhält, die aber nur durch diese Glieder und Kräfte

Wirklichkeit wird. In dreifach aufsteigender Stufung wird

ein solches Drama dichterische Wirklichkeit: Aus dem Wesen

des Dramatischen baut sich ein Gewebe von Urgespaltenheit,

Gespanntheit und Darstellung auf; es verdichtet sich in

einem einmaligen Vorgang; im künstlerischen Gefüge der

Glieder, im Bau und in der sprachkünstlerischen Durchbildung

entsteht die Ganzheit der Dichtung. Und endlich ist

die Einheit im tiefsten im bestimmten menschlichen Schöpfertum

verankert. Ein »Ödipus«, ein »Macbeth«, ein »Tasso«,

ein »Wallenstein«, eine »Penthesilea«, ein »Bruderzwist« sind

im letzten so verschieden voneinander, weil ein schöpferischer

Mensch aus einer ganz bestimmten geschichtlichen

Lage heraus sie aus seinen geheimnisvollen Kräften heraus

geformt hat. Dieses Menschentum spaltet sich gleichsam in

die vielen Personen auf, die im Drama einander gegenübertreten |#f0620 : 604|



und eine dramatische Welt bilden. »Es ist das Rätsel

der Dichtung, daß ihre Vielheit der Personen im Epischen

und im Dramatischen nur aus einer Seele stammt, die ihnen

Leben gibt, aber welche Fülle von Leben!« (v. Wiese).



Der Reichtum an wirkenden Aufbaukräften kann in der verschiedensten

Weise geschichtet und gefügt sein. Die Strukturen

der Dramen sind also zahlreich. So kann man verschiedene

Typen je nach der Struktur aufstellen. Wir haben bereits

Einortdramen und Bewegungsdramen unterschieden, ebenso

nach der Bedeutung der dramatischen Figuren Charakterdramen,

Handlungsdramen und Weltanschauungsdramen.

Hier sind wir schon ganz nah an einer anderen Einteilung

verschiedener Typen, die mit der in der Epik besprochenen

(S. 550) verwandt ist (W. Kayser). In einem ersten Typus

bildet eine einzelne Gestalt Zentrum und Kristallisationspunkt

des Dramas. Die Urgespaltenheit liegt dann entweder in der

Gestalt selbst oder in ihrem Verhältnis zur Welt. Man denke

an »Julius Cäsar«, »Don Juan«, »Empedokles«, »Peer Gynt«:

Figurendrama. Wenn eine ganze Welt von Figuren sich im

dramatischen Vorgang entfaltet, sprechen wir von Raumdrama.

Häufiger Schauplatzwechsel, Fülle der Figuren und

des Geschehens, Lockerheit der Szenenfolge sind seine Kennzeichen.

Hier besteht die Gefahr der Auflösung der künstlerischen

Form, zugleich die der Hinneigung zum Epischen.

Die entscheidende Frage ist auch hier, wie sich die dramatischen

Kernmerkmale in einer solchen Struktur ausprägen,

besonders die Urgespaltenheit. Sie offenbart sich hier in der

Tatsache, daß die in einem solchen Drama gestaltete Welt

durch und durch von Gegensätzen zerrissen ist, und zwar von

grundlegenden und unüberbrückbaren. Auch eine solche

Struktur ist also echte dramatische Kunst: »Hamlet«, »Lear«.

In einem dritten Typus steht ein einzelnes Ereignis im Mittelpunkt.

Dadurch gewinnt das Kunstwerk zeitliche Straffung,

strenge Verdichtung auf eine Handlung. Die Figuren selbst

haben außerhalb der Handlung kein Leben. Die Urgespaltenheit

und die Gespanntheit ist hier in den Handlungsablauf

hineinverdichtet: »Ödipus«, »Zerbrochener Krug«, »Die Braut

von Messina«.

|#f0621 : 605|



Im Zusammenhang mit der dramatischen Struktur sind

noch zwei besondere künstlerische Möglichkeiten zu beleuchten.

a) Wie ordnen sich lyrische und epische Einlagen in

solches Gefüge? Über das Lyrische im Drama ist schon gesprochen

worden. Es besteht entweder die Möglichkeit der

Rahmung durch lyrische Stellen, wie das im weitesten Goethe

in seinem »Faust« versucht hat. Denn der Zueignung am Anfang

sollte ein tatsächlich gedichteter »Abschied« entsprechen.

Viel wichtiger ist die Tatsache, daß sich die Figuren eines

Dramas oft lyrisch äußern. Und zwar im strengen Sinn des

Wortes, wie wir es hier gefaßt haben: als Ausdruck unmittelbarster

Weltbegegnung. Das ist vor allem im Monolog der

Fall. Vielfach nimmt er geradezu die Form lyrischer Verse an.

Hero in Grillparzers »Des Meeres und der Liebe Wellen«

spricht oft rein lyrisch. In ihren lyrischen Monologen drückt

sie aufs feinste ihre Weltbegegnung aus, die Verse tauchen aus

ihrem Tiefsten, vielfach ihr selber unbewußt. Zugleich aber

verbirgt sich in dieser lyrischen Stimmung das Dramatische.

Denn gerade in dieser ihrer Art, auf die Welt zu reagieren,

entsteht die Spannung zur Welt, tut sich immer mehr der

Abgrund zwischen ihr und der Welt auf. Das Lyrische erhält

also eine dramatische Funktion. Ähnlich ist es mit den Liedern

Gretchens im »Faust«. Auf die Szene »Wald und Höhle«,

die das erste unbeschwerte Liebesglück jäh abbricht, folgt

unmittelbar »Meine Ruh ist hin«: in diesem rein lyrischen

Ausbruch wird nicht nur Gretchens augenblickliche Lage

dichterisch abgeklärt gestaltet, sondern auch der unheimliche

Gegensatz zu Faust, den dieser gerade vorher selbst ausgesprochen

hat. Zugleich aber ist diese lyrische Stelle nicht allein:

ihr folgt bald das erschütternde Lied im Zwinger »Ach neige«,

das im Rückblick auf jenes den raschen Weg ins Dunkel und

in die Verzweiflung lebendig macht. Diese Entwicklung

schließt die reine Stimmungsszene im Dom ab: in diesen drei

kurzen Szenen ist, man möchte sagen: rein lyrisch, der Unglücksweg

Gretchens mit unheimlicher Deutlichkeit herausgetrieben.

Wieder erscheint hier das Lyrische im Dienste

dramatischer Präzipitation, um diesen Ausdruck Schillers zu

gebrauchen. So sind auch epische Stellen zu werten. Die |#f0622 : 606|



Botenberichte haben wir auszuschalten, denn ihre künstlerische

Anlage ist nicht rein episch, weil sie ganz in eine dramatische

Situation hineingestellt sind und daraus ihre künstlerische

Form empfangen. Aber man könnte sich zur Entspannung

oder zur Charakterisierung eines Menschen oder

einer Gruppe eine Szene denken, in der ruhig erzählt wird. Im

Rahmen des Ganzen könnte eine solche Stelle erst recht wieder

dramatische Werte entfalten, eben im Gegensatz zum

Vergangenen, Drohenden oder Geahnten. Es würde also die

Gespanntheit damit erst recht greifbar. Das Entscheidende

bleibt also, ob und wie es dem Dichter gelingt, Episches und

Lyrisches in die rein dramatische Struktur der Dichtung einzufügen,

so daß das Lyrische und Epische selbst zu notwendigen

Gliedern des Dramatischen werden. Es kann auch sein,

daß der Dichter das gar nicht will, daß er bewußt die strenge

Gattungsform zerbrechen will. Damit werden neue Fragen

an die Dichtung gestellt, die aber von den gewonnenen Standpunkten

aus zu beantworten sein werden.



b) Neben den dramatischen Formen, die einen Vorgang

in seinem gespannten dramatischen Ablauf fortlaufend gestalten,

gibt es auch eine, die auf den ersten Blick diesem zielstrebigen

Fortgang zu widersprechen scheint: Rahmenstücke.

Selten ist es nur eine einleitende Einstimmung wie in Shakespeares

»Der Widerspenstigen Zähmung«, wo ein Lord den

Kesselflicker Sly in besoffenem Zustand in sein Haus bringen

läßt. Scheinbar erwacht er aus einem Traum, sieht sich als

Lord, dem eine Komödie vorgeführt wird. Immerhin wird

schon durch diese Einleitung die Frage nach dem wahren Verhältnis

von Schein und Sein lebendig. Das ist nun zur Grundlage

des dramatischen Aufbaus in Calderóns »Das Leben ist

Traum« geworden; ebenso liebt Grillparzer solche Rahmungen

in der mannigfaltigsten Form. Auch Goethe baut seinen

»Faust« so. Nicht nur hätte der Zueignung ein Abschied,

sondern dem Vorspiel eine Abkündigung entsprechen

sollen. Und dem Prolog im Himmel steht nun wirklich

Fausts Aufnahme in den Himmel gegenüber. Damit wird

der Einbau der menschlich-irdischen Tragödie des Faustlebens

in das überwölbende Mysterienspiel und also die weltbildmäßige |#f0623 : 607|



Lösung alles Tragischen im Sinne Goethes in der

künstlerischen Form schon deutlich. Die künstlerischen

Möglichkeiten rahmenden Aufbaus lassen sich aus solchen

Beispielen ablesen. Es können dadurch zwei Welten, etwa

das Diesseits und das Jenseits, einander gegenübergestellt, also

doch auch im Rahmenbau das Dramatische herausgeformt

werden. Durch den Rahmen kann auch die Geschlossenheit

der Dichtung heraustreten. Der Rahmen kann auch Spannung

wecken. Das geschieht im vorderen Rahmenstück von Grillparzers

»Weh dem, der lügt!«; denn so wacht die erregte

Frage auf: wie wird Leon die Aufgabe lösen? Durch die

Rückkehr ins vordere Rahmenstück kann zugleich eine

Höherbewegung mit eingeformt werden, so vor allem in

Grillparzers »Traum ein Leben«.



Die Fülle der künstlerischen Möglichkeiten verdichtet

sich auch dadurch zur Ganzheit des Kunstwerks, daß sie alle

eben im ästhetischen Sinn durch ihr Dasein zugleich tiefer

schauen lassen, ein Weltbild dichterisch aufbauen. Alle Bilderwelt,

alle Personen, alle Handlung sind immer gleichsam

Vordergrund: durch sie wird ein Weltbild lebendig, allerdings

eines, das die Welt bis ins Innerste zerrissen und gespalten

zeigt. Der Dramatiker schafft also eine Art Mythos

durch seine künstlerischen Möglichkeiten, wenn wir unter

Mythos hier eine mit ästhetischen Kräften erwirkte Weltschau

verstehen, die uns zutiefst ergreifen kann. Diese Erhellung

der Tiefengründe, das Aufbrechen des Letzten im Drama,

hat natürlich verschiedene Grade. Possen, leichte Spiele,

Unterhaltungsstücke werden nie in solche Tiefen gehen,

wohl aber die großen Werke echter Kunst. So bieten sich

hier wieder Wertungsmöglichkeiten: je mehr die künstlerische

Durchformung auch Hintergründe erhellt, desto höher

im Rang steht ein solches Drama. Dazu kann auch schon der

Schluß mit seiner besonderen Wirkung beitragen. Denn gemäß

dem Wesen des Dramatischen wird er von entscheidenderer

Wirkung im Drama sein als in epischer Dichtung. Die

Erschütterung oder Befreiung, der Aufschwung und die Ergriffenheit,

die uns am Schluß überkommen, öffnen ja schon

Blicke in Abgründe oder Höhen. Aber auch der Ablauf des |#f0624 : 608|



Vorgangs kann erhellen: durch die Entwicklungen, Spannungen,

Wenden und Brüche wird ja zugleich die Welt geformt.

Dazu kann auch die Intrige beitragen. Sie ist oft geradezu

symbolisch für eine bestimmte Gesellschaftsstruktur. Im

»Carlos« etwa wird durch sie der kalte Staatsmechanismus

bloßgelegt, dem sogar im innersten Posa verfällt und der

die »Gedankenfreiheit« unmöglich macht. Die dramatischen

Figuren erhellen auch die Art unserer Welt: in ihren inneren

Gefahren, der Schuldhaftigkeit, aber auch in dem, was ihnen

von außen zustößt. Alle Verzweiflung, alle Aufschwünge,

Zerrüttung, Selbstbewahrung, der Tod als Ende oder Übergang

in ein anderes: das alles vermag der Dichter zur Erhellung

der Welthintergründe einzusetzen.



In den Wirkungsmöglichkeiten unterscheidet sich die

Dramatik dadurch von den anderen Gattungen, daß sie durch

eine besondere Darbietungsart uns entgegentritt: durch das

Theater. Zur Funktion des Darstellens tritt hier noch die

mannigfache Verflechtung mit den Formen und Möglichkeiten

des Theaters, wie sie sich im Lauf der Geschichte ausgebildet

haben. Das Theater selbst wieder wurzelt im Kultischen.

Zugleich aber gibt es auch fürs Drama andere Darbietungsarten.

Doch die Bühnenaufführung ist das unmittelbar

Gegebene.



Die Bühnenaufführung in den drei Teilfragen der Bühnengestaltung,

der Schauspielkunst und der Aufgaben des Spielleiters

(Regie) zu betrachten, ist reine Aufgabe der Theaterwissenschaft.

Wir können in einer Poetik kurz darüber hinweggehen,

bemerken aber ausdrücklich, daß diese Fragen

nicht unwichtig sind. Es zeigt sich dabei klar, daß die Dramatik

wirklich über die rein dichterischen Möglichkeiten hinausgeht.





Die Bühnengestaltung ist sehr eng mit soziologischen und

weltanschaulichen Fragen verbunden. Die Grundfrage jeder

Bühnengestaltung ist das Verhältnis des Schauspielers zur

Gemeinde. Er kann sich entweder als ihr Glied fühlen, so daß

die Gemeinde mitwirkt (Mitsingen bei den religiösen Spielen,

barocke Hoffeste zur Verherrlichung des Fürsten, Volksspiele),

oder er stellt sich ihr gegenüber: die Gemeinde wird |#f0625 : 609|



vom Mitspieler zum Zuschauer. Das ist auch der geschichtliche

Weg. Diesem Verhältnis liegt ein tieferes zugrunde:

Die dichterische Wirklichkeit wird auf der Bühne durch eine

greifbare Realität anschaulich gemacht, so daß zwei Wirklichkeitssphären

einander gegenübertreten, die Welt der

Bühne und der Lebensraum des Zuschauers. Daraus ergeben

sich folgende grundsätzliche Formen: das Spiel im Zuschauerkreis,

das Spiel außerhalb des Zuschauerkreises vor festem

Hintergrund, das Spiel vor beweglichem Hintergrund im

Zeichen der Verwandlung. Auf diese Formen gehen die

geschichtlichen zurück. In der Antike ist das Spiel an einen sakralen

weiten Raum gebunden, der Fülle, Geschlossenheit und

Feierlichkeit ermöglicht. Die Form der Badezellenbühne des

späten Mittelalters und des Humanismus hängt noch mit

der Art der mittelalterlichen Kirchen- und Bürgerspiele zusammen,

auf einem festen Raum durch Unterteilung und

Einzelstücke alle möglichen Räume des Geschehens zusammenzufassen.

Die sogenannte Shakespearebühne kennt drei

Flächen: eine Vorderbühne, eine Hinterbühne, die etwas

höher liegt, und eine Oberbühne. Sie gibt dem Schauspieler

volle Freiheit, er formt den der Handlung nötigen Raum um

sich herum durch sein Spiel. Die moderne Guckkastenbühne

engt den Raum ein und bindet den Spieler an einen Ort. Auf

diesen historisch einander folgenden Bühnenformen vollzieht

sich das dauernde Ringen zwischen den beiden Grundsätzen:

Verbindung oder Trennung von Bühnen- und Zuschauerwelt.

Die geschichtliche Ausformung dieses Ringens

ist Stoff der Theatergeschichte. Während bis in den Barock

die Einheit beider im Hintergrund immer noch gefühlt und

gesucht wurde, setzt hier und dann entschieden im 18. Jahrhundert

die scharfe Trennung ein. Heute beobachten wir

mannigfache Versuche der Annäherung.



Die dichterische Wurzel der Schauspielkunst ist die Darstellung

in der Transfiguration. In der kultischen Feier übernehmen

die Darstellenden eine Rolle, sie spielen sie nicht,

sie sind im Augenblick die Dargestellten selbst. Die Transfiguration

zeigt sich im feierlichen Schreiten und in der Maske.

Zwei Grundformen der Darstellungsart entwickeln sich im |#f0626 : 610|



Lauf der Zeit: die Form der Feierlichkeit und Enthebung über

den Alltag und die der realistischen Herausarbeitung von

Einzelheiten. Heute zeigt sich eine Richtung nach Zeichenhaftigkeit,

zu einer Kunst der Andeutungen, gleich weit entfernt

von Pathetik und von Naturalismus. Auch im Verhältnis

zum Publikum gibt es verschiedene Spielarten, die

sich auf folgende Grundformen zurückführen lassen: der

Schauspieler steht im Publikum und agiert für es; er steht

vor dem Publikum und sucht das Publikum ins Geschehen

hineinzureißen; der Schauspieler löst sich ganz vom Publikum

und spielt gleichsam ohne Rücksicht auf dieses, wir stehen

hier also vor der schärfsten Trennung der beiden Wirklichkeitssphären,

genau wie in der Guckkastenbühne. Auch hier

kann man beobachten, daß man heute von dieser radikalen

Trennung wieder wegzukommen sucht.



Der Spielleiter steht zwischen Dichtung und Theater. Nur

selten ist der Dichter auch wirklich großer Spielleiter: Shakespeare,

Schiller, Goethe, Wagner, Raimund, Nestroy. Vom

Standpunkt der Dichtung aus hat der Spielleiter die Möglichkeiten

der Dichtung auf der Bühne voll zu entfalten. Er

kann dabei wortwörtlicher Ausleger sein, aber auch den

Dichter nach dessen Richtlinien in bühnentechnischer Hinsicht

verbessern. Freilich kommt es oft vor, daß der Spielleiter

seine eignen Wege geht und ihm die Dichtung dabei

Mittel zum Zweck wird. Vom Standpunkt der Dichtung

aus ist das abzulehnen.



Hier ist nun auf eine Form der Bühnendarstellung hinzuweisen,

die seit einigen Jahrzehnten immer mehr von sich

reden macht, auf das sogenannte epische Theater. Vor allem

durch die theoretischen Darlegungen und durch die Stücke

von Bert Brecht ist dieser Begriff in die Dramaturgie eingedrungen.

Es handelt sich um teilweise sehr weit reichende

Änderungen der bis dahin üblichen Art der Bühnendarstellung.

Zunächst lassen sich folgende Kennzeichen angeben.

Der Schauspieler hat in solcher Darstellung nicht nur zu

spielen und zu singen, also in unserem Sinne darzustellen,

sondern auch zu zeigen, was er darstellt. Dazu gehört auch

das Ansagen. So scheint es sich auf den ersten Blick um eine |#f0627 : 611|



Erweiterung von Elementen zu handeln, die in die Darstellung

eingefügt werden, um Nicht-Darstellbares ins Drama

einzubauen: Prolog, Epilog, Mauerschau. Die einfachste

Form ist etwa: man berichtet auf der Bühne ganz kurz von

einem Ereignis, oder man zeigt skizzenhafte Bilder oder tut

so, als ob man solche zeigte; und dann treten die Spieler auf

und spielen das zuvor Berichtete oder Gezeigte. Mit anderen

Worten: man will das Darstellen selbst in die Darstellung

einbauen, so wie man schon immer im Erzählen das Erzählen

selbst mitformt. Es liegt also höchste Bewußtheit der Kunstgestaltung

vor, weil man das künstlerische Gestalten selbst in

das Kunstwerk einbaut. Wie im Erzählwerk auch ein Wesen

strukturell wichtig wird, das erzählt, so nun auch im Drama:

man spürt im Ablauf des Dramas zugleich einen mit, der das

Drama abrollen läßt. Der Künstler als Gestalter wird ins

Kunstwerk eingeformt. Während also in der Epik heute vom

Standpunkt einer Person im Erzählwerk aus erzählt wird,

also der Erzähler stark zurücktritt, beginnt man zu gleicher

Zeit im Drama, diesen Künstler auf der Bühne mitzuformen,

ihn gleichsam am Werk zu zeigen. Dieser eigenartige geistesgeschichtliche

Zusammenhang verdient hervorgehoben zu

werden. Nicht einzusehen aber ist, warum solche Gestaltung

episch heißen soll. Das Spiel eines Schauspielers, der nicht mehr

Lear sein will, sondern ihn spielen und damit zeigen soll,

episch zu nennen, ist eine Begriffsvergröberung. Ebenso

scheint es nicht begründet, wenn man zur Kennzeichnung

dieser Darstellungsweise auch den Begriff der Verfremdung

bemüht. Gewiß bekommen so die Vorgänge leicht den

Stempel des Auffallenden, des der Erklärung Bedürftigen, das

nicht mehr selbstverständlich ist. Aber das ist weder ein

epischer Zug noch ein neuer. Die Theatergeschichte kann

genügend Beispiele bringen. Die Verfremdung steht vielmehr

im Zusammenhang mit dem Vordringen des Grotesken in

aller Dichtung, ja in aller Kunst. Der Zug zur Einformung

des Gestaltungsvorgangs in das Gestaltete ─ der ja eigentlich

schon im Wesen des Satzes zu beobachten ist ─ verbindet

sich also in unserer Zeit aus anderen geistigen Zusammenhängen

heraus mit dem Verfremdungseffekt; das Ergebnis |#f0628 : 612|



hat man sich episches Theater zu nennen angewöhnt. Es ist

sicher ein durchaus beachtliches künstlerisches Bemühen.

Freilich sind damit Gefahren verbunden, vor allem die der

Auflösung des ursprünglich Dramatischen: das Darstellen

wird aus reiner Transfiguration zu einem Zeigen, die Gespanntheit

dadurch vielfach beseitigt, aber auch die Möglichkeiten,

die tiefe Urgespaltenheit der Welt lebendig zu machen,

verringert. Von hier aus wäre also das sogenannte epische

Theater bedenklich, wenn man sich nicht ständig der dramatischen

Urgegebenheiten bewußt bleibt und beachtliche

Experimente zu rasch als hohe Dichtungen hinstellen will.

Wenn aber das Dramatische in seinen drei Grundmerkmalen

erhalten bleibt, so bietet diese Form durchaus eine Bereicherung.

Und die Bemühung, das Kunstwerk nicht bloß als in

sich Abgeschlossenes vor uns hinzustellen, sondern in seinem

Werden, im Gestaltungsvorgang lebendig zu machen und

dadurch der Weltbildgestaltung in der Kunst neue Sichten

zu eröffnen, ist durchaus mit der Bewahrung des echt Dramatischen

vereinbar. Pirandellos »Sei personaggi in cerca

d'autore«, zeigt doch die Urgespaltenheit in den Lebensbezügen

als einen ganz ursprünglichen Gestaltungsantrieb.



Die moderne Technik hat eine neue Möglichkeit dramatischer

Darstellung entwickelt: das Drama im Rundfunk, auf

dem Tonband, auf der Schallplatte. Dramen werden für

Rundfunkvorführung bearbeitet, aber auch schon einige

Hörspiele als neuartige dichterische Leistungen gibt es. Hier

fehlt alles Schaubare: das Bühnenbild, die Bühnenvorgänge

bis zu den Gebärden. Deshalb sind nicht alle Dramen gleich

für den Rundfunk geeignet. Man denke an »Tell«, »Wallenstein«,

»Zauberflöte« im Gegensatz zu »Iphigenie« und »Tasso«.

Der Rundfunk muß alles auf das Ohr umstellen. Er arbeitet

daher stark mit sogenannten Geräuschkulissen. Die Geräusche

des Gehens, anderer Vorgänge usw. suchen das Sichtbare zu

ersetzen. Vor allem aber bietet der Rundfunk die Möglichkeit,

die Sprachkunst aufs höchste wirken zu lassen, auch für die

Personengestaltung. Das Schaubare fehlt, der unmittelbare

Eindruck auch, aber die Sprachkunst kann so ihre Werte voll

einsetzen.

|#f0629 : 613|



Auch das Lesen ist ein Zugang zum Drama. Das Vorlesen

mit verteilten Rollen, wo die »Darsteller« sitzen bleiben,

kann zwar alle Sprachwerte herausarbeiten, aber es ist doch

ein Zwitter, ein deutlicher Ersatz einer Aufführung. Das

stille Lesen eines Dramas hat Nachteile: denn es sind nicht

alle inneren Möglichkeiten des Dramas ausgeschöpft. Man

kann es mit dem Partiturenlesen einer Symphonie vergleichen.

Besonders Geübte haben mehr davon. Aber der Leser kann

aus der Phantasie den Raum, die Vorgänge, die Gestalten

und die Gebärden ergänzen. Die Bühnenanweisungen helfen

ihm dabei mehr oder weniger. Seit dem Naturalismus sind

sie vielfach so ausführlich, daß sie oft schon erzählerisch, ja

novellistisch wirken; so entsteht wieder die Gefahr eines

Zwitters. Der Leser kann gewisse Stellen wiederholen, um

den Eindruck zu vertiefen, er ist aber auch der Gefahr ausgesetzt,

über Wesentliches hinwegzulesen.



Lesen und Hörspiel sind Ersatz einer vollen Gestaltung.

Werte und Wirkungen des Ersatzes sind verschieden je

nachdem, wer sie erlebt, nach seiner Schulung und seinen

Kenntnissen. Die beste Wirkungsmöglichkeit ist eine Aufführung,

die die inneren Werte der Dichtung voll entfaltet,

ohne zu fälschen und hinzuzufügen. Trotzdem bleibt das

gesprochene Drama in seinem innersten Wesen eine Dichtung.



Wenn man die Wirkung des Dramas eigens hervorhebt,

so hängt das nicht nur mit den besonderen Darbietungsmöglichkeiten

zusammen, sondern auch mit der Tatsache, daß

jede Dramenaufführung ein Gemeinschaftsvorgang ist. Denn

jede Aufführung findet vor einer Gemeinschaft von Zuhörern

statt. Einer allein läßt sich wohl nur in ganz besonderen Fällen

ein Drama aufführen. Man denke auch an die peinliche

Wirkung eines halbleeren Saales ─ auf die Schauspieler und

auf die Zuhörer. Jede Aufführung ist also von einem Fluidum

der Gemeinschaft getragen. So hat eine Dramenaufführung

schon von vornherein eine gewisse Massenwirkung. Sicher

gibt es bei Aufführungen auch unliebsame Störungen, aber

trotzdem wird durch das gemeinsame Erleben des Kunstwerks

dessen Wirkung noch verstärkt. Das wird besonders deutlich,

wenn Aufführungen irgendwie sich einer Kultfeier nähern |#f0630 : 614|



oder sie geradezu sind. Als wirkliche Feiern wurden ja die

Aufführungen in der Antike erlebt, aber auch die Barockfestaufführungen

an einem Hof oder die Schulaufführungen der

Orden waren Feiern. Ähnliches gilt von Tellaufführungen

in der Schweiz. Auch mit Bayreuth hat Wagner solche Absichten

verfolgt. Die Vielzahl der modernen Festspiele hängt

irgendwie mit dem Drang der Menschen, durch Kunst aus

dem Alltag gehoben zu werden, und mit dem oft auch ungenauen

Wissen, daß Kunst aus dem Alltag wirklich zu erheben

vermag, zusammen. Daß alle diese Veranstaltungen

auch andere Antriebe haben, ist die andere Seite und führt

wieder in die Geschichtlichkeit der Kunst hinüber. In Festaufführungen

hebt schon der Rahmen der Veranstaltung aus

dem Alltag hinaus, die Zuschauer sind in höherer Gestimmtheit

und damit auch innerlich bereiter, das Verwesentlichende

des Dramas zu erfassen. Für die Wirkung eines aufgeführten

Dramas ist aber auch die ständische Gliederung der Zuschauer

wichtig. Bei den alten Griechen waren aus der Menge nur

die Staatsführer und die Priester herausgehoben. Damit schon

wurde das Überalltägliche betont. In den Barockaufführungen

war der Platz des Fürsten in der Mitte zwischen Bühne

und Zuschauern, er verband in seiner Person beide Welten.

Die Adligen nahmen an möglichst sichtbaren Orten Platz:

so stellte eine solche Aufführung den Gesellschaftsaufbau im

kleinen dar. Die ständische Sonderung zeigt sich noch in der

Logenordnung der neueren Theater; man beachte, daß man

auch von »Rängen« spricht. Die Einrichtung, die Herrscherlogen

nach hinten zu verlegen, schafft eine merkwürdige

Spannung: das Publikum ist nun eingespannt zwischen zwei

Polen. Bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts war die Kunst

des Theaters in eine Gesellschaftsfeier eingebaut. Das Kunstwerk

empfing von der gesellschaftlichen Repräsentation

Wirkungsantrieb. Mit dem späten 19. Jahrhundert geht diese

gesellschaftliche Ordnung langsam in eine ungegliederte

Zuschauermenge über, die erst durch die Wirkung der Aufführung

zu einer höheren Gemeinschaft werden soll.



Die Wirkung auf diese versammelte Gemeinschaft geht

von folgenden Kräften des Dramas aus. Zunächst und vor |#f0631 : 615|



allem immer wieder und noch vom gesprochenen Wort, in

dem die künstlerischen Werte der Sprache viel leichter aktualisiert

werden können. Aber auch eine gut durchgeführte Exposition

trägt dazu bei: sie kann tragisch oder heiter stimmen

und zugleich dramatisch spannen: durch ihre Klarheit, auch

wenn sie besonders klar Unverständliches, Rätselhaftes herausstellt

und damit den Wunsch nach Lösung; ferner durch

eine gewisse Eingänglichkeit und Gedrungenheit. In der

Tragödie kommt dann noch die Erregung der Furcht, des

Schauders hinzu. Weiter wirkt die Art, wie der Dichter den

Vorgang gestaltet: ob er langsam immer mehr Weltstoff

einformt, ob er kunstvolle Spannungsbögen vor allem in der

Aktgliederung erzeugt. Auch die Figuren selbst können in

ähnlicher Weise das Interesse, das Mitfühlen wecken. Besonders

innere Größe, Hinaufsteigern von Typen ins Extreme

oder individuelle Besonderheiten regen den Zuschauer zum

Mitleben an.



Drei Richtungen der Wirkung dramatischer Gestaltung

können am Schluß in theoretischer Sonderung auseindergehalten

werden. 1. Das Drama gestaltet Gemeinschaftsgehalte,

also typische Erlebnisbereiche, Denkformen, Anschauungen,

Einsichten, die im Geiste der Gemeinschaft

leben. Durch die künstlerische Gestaltung werden die tiefsten

Möglichkeiten dieses Gehaltes herausgehoben. Das ist

besonders der Fall bei den alten Griechen, bei Calderón, auch

bei Schillers »Tell«. Kolbenheyer spricht hier von der ideogenen

Gestaltung. 2. Das Drama bietet neue Gehalte in künstlerisch

eindringlicher Weise. Durch diese Gestaltung erst

werden die Zuschauer diesen neuen Bildungsgehalten zugeführt

und in ihrem Inneren durch die angebahnte Auseinandersetzung

damit bereichert. Kolbenheyer spricht von

ästhetogener Gestaltung. 3. Die intensivste Wirkung erzielt

die Dramenaufführung, wenn das Gestaltete im Inneren des

Zuschauers Kräfte anregt, durch die die Fülle der Gesichte

und Gehalte erst ganz aufleben und den Menschen formen.

Hier werden also die bildenden Kräfte des Zuschauers selbst

in die Wirkung einbezogen, das Gestaltwerden des Gehalts

vollendet sich erst ganz im erlebenden Menschen.

|#f0632 : 616|



Die dramatischen Arten



Eine kurze Überschau über die geschichtliche Entfaltung

der Dramatik in Antike und Abendland als einem im ganzen

doch einheitlichen Kulturkreis zeigt die Mannigfaltigkeit

und doch die einheitlichen Grundlinien dramatischer Ausprägungen

und Formen. Vom künstlerischen Standpunkt

lassen sich fünf Höhepunkte der Dramenkunst erkennen.



1. Die erste Höhe bildet das griechische Drama, vor allem

die Tragödie der drei Großen, Aischylos, Sophokles, Euripides.

Der Mensch steht hier im allgewaltigen Schicksal,

aus der Isolation seines irdischen Daseins wird er im Tod in

die höhere sinnvolle Ordnung des Kosmos eingeführt.

Radikale Seinsgespanntheit schafft eine tiefe Erschütterung.

Diese Gespanntheit besteht im Widerstreit überpersönlicher

Mächte. Die Gespaltenheit der ganzen Welt wird im Drama

greifbar in klar umgrenzten Vorgängen. Das Geschehen

ist im antiken Drama grundlegender als die Persönlichkeit.

Es ist aber immer auf Göttliches ausgerichtet, eine religiöse

Substanz speist es. Die Wirkung der antiken Tragödie auf

die Nachwelt war vor allem in ihrer künstlerischen Größe

mächtig. Aber die einzelnen Epochen haben sie verschieden

gesehen, daher sind ihre Anregungen mannigfaltig. Die

antike Komödie ist durch Aristophanes auf die Höhe geführt

worden. Trotz ihrer Schärfe hat auch sie einen weiten menschlichen,

politischen und religiösen Hintergrund.



2. In den großen Zeiträumen vom späten Mittelalter bis

an den Beginn des 18. Jahrhunderts bestimmt das Christentum

das gesamte Weltbild. Innerhalb dieser weiten Epoche

entfaltet sich die Dramatik auf drei verschiedene Höhen

hin. Nun tritt im Drama mehr der handelnde Mensch

in den Vordergrund, der menschliche Wille wirkt am dramatischen

Geschehen mit. Die Gestaltung wird mannigfacher,

fülliger, die Hintergründe und die Atmosphäre werden

eingeformt, die symbolische Gestaltung wird daher wichtig.

Das Christentum ist die Grundhaltung, aber die Grade und

die Dichte der Durchchristlichung sind verschieden. Von |#f0633 : 617|



Calderón über Racine zu Shakespeare ─ keine geschichtliche

Reihe natürlich ─ kann man ein Schwächerwerden christlicher

Substanz beobachten.



Calderón ist der Höhepunkt des christlichen Dramas. Es

hat sich zuerst in den mittelalterlichen Spielen der Heilslehre

darstellend bemächtigt und die Welt in ihrer durchgehenden

Sinnbezogenheit aufs Jenseits gezeigt. Das mittelalterliche

Drama ist daher nicht tragisch. Im Barockzeitalter wird die

dauernde Spannung Diesseits-Jenseits auch dramatisch geformt.

Allegorien größten Ausmaßes und Märtyrerstücke

sind die typischen Ausprägungen. In Spanien, wo die mittellateinische

Literatur ohne Bruch ins Barock hereinwirkt und

die jahrhundertlange Kulturgemeinschaft zwischen christlichem

und maurischem Spanien eine eigenartige Ganzheit

schafft, erreicht das christliche Drama mit Calderón seine

Höhe. Er will in seinen Werken die Seele in ihrer Verstrikkung

an die Welt erhellen und erleuchten. Die ganze Welt

ist in ihnen durchsichtig auf das Absolute und Unveränderliche

hin. Schöpfung, Fall, Erlösung und Gericht sind die

großen bestimmenden Welttatsachen. Calderóns Drama ist

metaphysisches, theologisches Theater: indem es die Situation

des Menschen in der Welt darstellt, gibt es zugleich eine

theologische Deutung der Welt. Sein Drama zeigt reichbewegte

Aktion mit überraschenden Wechselfällen und versinnbildet

in ihnen die Unendlichkeit der Weltbezüge.



3. Mit der französischen Klassik betreten wir den Raum des

weltlichen Dramas, das nun in Frankreich, England und

Deutschland bestimmend bleiben wird. Trotz großer Unterschiede

haben alle drei eine einheitliche Menschenauffassung:

der Mensch steht im Mittelpunkt der Vorgänge, er trägt individuelle

Züge, sein Charakter wird daher sein Schicksal.

Zunächst bleibt noch das Christentum Grundlage, es treten

aber, vor allem in Frankreich, die Kräfte des Humanismus

und der neu sich bildenden Hofkultur dazu. In Racine vollendet

sich die französische Tragödie: Maßlosigkeit und Leidenschaft

gefährden das Dasein. Aber die Bändigung in

höfischer zuchtvoller Haltung schafft den unverkennbaren

künstlerischen Gesamtcharakter. Molière vollendet die französische |#f0634 : 618|



Komödie. Hier steht der Mensch in der Spannung

zwischen Ich und Gesellschaft, sie gefährdet durch Unnatur

und Lüge den Menschen, die Unzulänglichkeit des an die

Gesellschaft gebundenen Menschen wird entlarvt.



4. In Shakespeares Werk wird die christliche Substanz am

stärksten zurückgedrängt, Tragik und Komik brechen unverhüllt

und kraftvoll durch. Er ist der umfassendste Dramatiker

des Abendlandes. Vom Geschichtsdrama geht der

Weg über die Lustspiele und die Tragödien zu den Alterswerken

mit den stark heraustretenden Zügen des Heilenden

und Versöhnenden, die aber schon früher zu beobachten waren.

Man nennt sie heute vielfach Romanzen (»Cymbeline«,

»Wintermärchen«, »Sturm«). Shakespeare erschüttert und

erregt uns in seinen Tragödien aus den Möglichkeiten des

Menschen an sich. Aber die Überzeugung von einer erstrebenswerten

heilen Ordnung, in die alles Menschliche einfügbar

ist, wird als Hintergrund aller Dramen spürbar. Die Meisterschaft,

das alles in einprägsamen Bildern und einer dichten

Wirklichkeitsfülle lebendig werden zu lassen, ist unübertroffen.



5. Mit Shakespeare werden Ordnungskräfte wirksam, die

nicht ausschließlich im Christentum und seiner Glaubenslehre

wurzeln. Wir können vom 18. Jahrhundert an von einer

nachchristlichen Epoche sprechen. Christliches ist immer

noch wirksam, besonders in der sittlichen Haltung, aber anderes

tritt daneben. Man spricht von Säkularisation. Das sollte

aber nicht abwertend gebraucht werden. Nicht bloß die

Spannung zwischen Glauben und Unglauben, Christentum

und Weltlichkeit darf man in dieser Epoche sehen. Ebenso

wesentlich für das Drama ist die zwischen menschlicher Innerlichkeit,

aus der bedeutsame Wert- und Weltsysteme aufsteigen,

und der harten Tatsächlichkeit der Außenwelt, die

aber auch ihre Werte hat. Hier nun erlangt das deutsche

Drama seine unstreitige Bedeutung im Rahmen der Weltliteratur.

Man wird ihm nicht gerecht, wenn man Goethe

und Grillparzer als undramatisch abtut und Kotzebue mehr

Raum in einer Darstellung einräumt als Kleist, Grillparzer

und Grabbe zusammen. Das deutsche Drama, vertreten vor

allem durch Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, |#f0635 : 619|



Grillparzer, Grabbe, Büchner und Hebbel bildet sich in einer

Welt aus, die, wie gerade angedeutet, andere Voraussetzungen

für die Kunst mitbringt als die vorangehenden Epochen. Daher

muß es auch andere Züge tragen, wenn auch starke Kräfte

der Überlieferung mitbestimmend sind. Wie schon die

Namen andeuten, zeigt das deutsche Drama größte Mannigfaltigkeit

der geistigen und künstlerischen Belange. Trotzdem

stellt es vom Gesamtblick des Abendlandes aus eine höhere

Einheit dar, die man vielleicht so umschreiben könnte: Im

Gehaltlichen ist die Spannung zwischen Persönlichkeit und

Weltbindung bestimmend; im Künstlerischen eine gewisse

organische Form, die versucht, Bewegtheit und Geschlossenheit

zu verbinden.



Seit dem späten 19. Jahrhundert kann man im Drama starke

neue Kräfte am Werk sehen. Schon der Naturalismus bezieht

neue Weltbereiche ein und versucht dafür neue künstlerische

Formen. Neben deutlicher Zersetzung der überlieferten

dramatischen Form durch Züge, die zunächst negativ wirken,

ist das Ringen um neue dramatische Möglichkeiten, die das

Alte, soweit es wertvoll ist, einbauen, deutlich zu beobachten.

Besonders Frankreich (Anouilh), England (T. S. Eliot und

Chr. Fry) und Amerika (O'Neill, A. Miller, T. Williams)

sind hier zu erwähnen. Aber Hofmannsthal, G. Hauptmann,

Zuckmayer und nun auch Dürrenmatt u. a. arbeiten ebenfalls

an der Weiterentwicklung der dramatischen Kunst.



Überblick



Der Reichtum dramatischen Schaffens seit der Antike

macht es ebenso schwer wie bei den anderen Gattungen, einen

geschlossenen Überblick über die möglichen dramatischen

Arten zu geben. Manche Sichten haben sich schon bisher ergeben.

Es ist klar, daß die Scheidung in ernste und heitere

Grundhaltung beim dichterischen Aufbau einer Welt auch

hierfür bedeutsam ist, besonders die Begriffe Tragik, Komik,

Humor werden sich noch in ihrer entscheidenden Bedeutung

zeigen. Auch die verschiedene Schicksalsauffassung in der

Antike, im Christentum und dann in der Romantik ließe |#f0636 : 620|



Einteilungsmöglichkeiten zu. Wir haben auch erkannt, daß

die Durchführung des Vorgangs sich entweder als ein Aufdecken

oder als ein Entfalten begreifen läßt. Der Raumgestaltung

nach haben wir von einem Einortdrama und einem

Bewegungsdrama gesprochen. Nach dem maßgebenden Ausschnitt,

den das Drama aus der Welt herausstellt, lassen sich

Figurendramen, Geschehnisdramen und Raumdramen unterscheiden.

Bei der Betrachtung der Wirkung haben wir kurz

auf Kolbenheyers Trennung von ideogener und ästhetogener

Gestaltung hingewiesen.



Im Anschluß an diese Andeutungen seien noch kurz einige

andere Versuche erwähnt, einen Überblick zu gewinnen.

Man kann ganz einfach mit Kutscher Theaterstücke und Dramen

unterscheiden. Jene sind die modernen Sproßformen des

Mimus, so etwa: Schwank, Posse, Rührstück, Sketch, Revue

usw. Diese haben die höhere menschliche Bedeutsamkeit

voraus: vor allem Tragödie, Komödie, Lustspiel. Die dichterischen

Werte und Möglichkeiten treten bei dieser Einteilung

stark zurück. Andere legen eine Vierteilung zugrunde:

etwa Tragödie, Komödie, Lustspiel und Lösungsdrama; oder

man stellt neben Komödien und Tragödien, wobei dieses

Wort einen weiteren Sinn erhält, etwa Romanzen als dramatisierte

Helden- und Liebesgeschichten und Allegorien,

worunter religiöse Spiele verstanden werden (Peacock). Eine

reiche Aufteilung versucht R. Petsch nach sechs verschiedenen

Einteilungsgründen: nach der weltanschaulichen Haltung

unterscheidet er naturalistische, realistische und phantastische

Dramen, nach der Stimmung die Pole Ernst und Komik, also

Tragödie, Komödie, Lustspiel, nach allgemeinen Inhaltswerten

nationale, soziale und epochale Typen (etwa attische

Tragödie, spanische Barockdramatik, französische Klassik

und naturalistisches Drama), nach dem Thema religiöse, heldische,

historische, bürgerliche usw., endlich nach der Form

geschlossene, offene und mittlere. Man erkennt sofort, daß

nicht alle gleich ergiebig und wesentlich sind. Sehr durchdacht

ist ein System, das Kluckhohn aufgestellt hat. Das Drama im

engeren Sinn ist ihm das Entscheidungsdrama mit seinen

drei Arten der Tragödie, des Lösungsdramas (z. B. »Iphigenie«) |#f0637 : 621|



und der Komödie; das Spiel im engeren Sinn nennt er

Geschehnisdrama, es sind das Historie, Wunderspiele, Lustspiele.

Daran schließt er die Weihespiele. Jede der Unterarten

gliedert er wieder zweifach auf. Aber je strenger eine solche

Systematik wird, desto schwerer sind die tatsächlichen Grenzen

zwischen den Gruppen festzulegen: logische Division

versagt im Bereich der Kunst. Vor allem muß man sich

hüten, formale und inhaltliche Gesichtspunkte zu vermengen.





Wir versuchen nun zunächst eine Übersicht nach der Art

der Darbietung (a), dann eine nach den Gestaltungskräften

(b) zu geben, und daran schließen wir einige besondere Formen,

die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben

(c); am wichtigsten aber wird die Betrachtung der vier Hauptformen

der Tragödie, Komödie, des Lustspiels und des

Schauspiels sein; bei dieser Scheidung handelt es sich um die

menschlich-dichterische Auffassungsweise der Welt.



a) Im Hinblick auf die Darbietung steht natürlich das

Bühnenspiel im Vordergrund. Es stellt ein bestimmtes Gefüge

schaubarer und hörbarer Darbietung dar. Die Art, wie diese

Kräfte strukturiert sind, könnte zu weiteren Scheidungen

führen: Schaustück, Sprechdrama usw. In der neuen Form

des Hörspiels wird alles Sichtbare ausgeschaltet, alles Hörbare

aber um so stärker eingesetzt: die verschiedensten Geräusche,

dann die musikalische Untermalung, vor allem aber die

Sprache. Geräusche und Musik schaffen eher nur die Atmosphäre,

das Entscheidende ist hier die Sprache. Man kann beinahe

sagen, daß im Hörspiel die Form gefunden worden ist,

das Drama rein auf die Kunst der Sprache aufzubauen. Das

Lesedrama ist eine Dichtung, die nur dem besinnlichen Lesen

allen Gehalt offenbart.



Eine besondere Form ist der Film. Eine kurze Besinnung

wird zeigen, ob wir ihn überhaupt in den Bereich der Dichtung

einreihen können. Er verdankt seine rasche Entwicklung

drei Entdeckungen: dem Einstellungswechsel der Kamera,

der Nahaufnahme und der Montage. Der Zuschauer empfängt

damit trotz der Zweidimensionalität der Leinwand eine

Raumvorstellung, die an Greifbarkeit die der Bühne übertrifft. |#f0638 : 622|



Das Entscheidende beim Film ist das bewegte Bild.

G. Groll sagt, Film sei die Kunst der verwesentlichenden

Welt- und Lebensgestaltung durch die optisch aufgefaßte

und durchgebildete Bewegung. Andere Gestaltungskräfte

ordnen sich unter. Sprache und Musik sind zwar dem modernen

Filmbesucher beinahe unentbehrlich, aber sie sind

deutlich Diener im Gesamten: man könnte sich einen Film

zur Not bloß gesehen vorstellen, niemals aber nur aus Worten,

Tönen und Geräuschen bestehend. Im Augenblick, wo

die Sprache in den Film eingefügt wird, ist die Frage nach

dem Verhältnis zu den Dichtungsgattungen da, natürlich

zur Epik und Dramatik. Sicher sind Beziehungen zum Drama

gegeben. Vor allem ist beiden die Darstellung durch Menschen

gemeinsam. Aber diese kann im Film schon sehr zurücktreten,

nie im Drama. Auch die Gespanntheit verbindet beide,

obwohl sie für den Film nicht so lebensnotwendig ist wie

für das Drama. Selbstverständlich kann auch im Film die

Urgespaltenheit der Welt lebendig werden, aber auch hier

ist das nicht unbedingt nötig. Das dramatische Werk kann

außerhalb der Bühne existieren, nicht der Film. Das hängt

ausschließlich mit der dichterischen Kraft der Sprache zusammen.

Oper und Film sind gleichsam Formen, in denen

die sprachliche Gestaltung durch andere zurückgedrängt

wird. Durch die breite Entfaltungsmöglichkeit der ganzen

Umwelt, durch das mögliche Fehlen der Urgespaltenheit

nähert sich der Film der Epik. Man hat mit Recht beobachtet,

daß ein Drama sich weniger zur Verfilmung eignet als ein

Roman. Man hat sogar gesagt, ein Drama werde durch Verfilmung

episiert. So aber erweitert man das Wort episch in

seinem Gehalt etwa in dem Sinn, wie man für Tatbestände

und Vorgänge des Alltagslebens auch die Worte lyrisch,

episch und dramatisch gebraucht. Wenn das Erzählen streng

genommen wird, so ist es unbedingt an die Sprache gebunden,

von Epik beim Film zu sprechen, ist eine Übertragung.

Aus diesen grundlegenden Unterschieden des Films zu allen

Dichtungsgattungen ergeben sich auch seine ureigenen Möglichkeiten,

die Fedor Stepun scharf herausgestellt hat: er unterscheidet

die außerkünstlerischen Filmformen wie Lehrfilme |#f0639 : 623|



und Reklamefilme, die einen Kultur fördernd, die anderen

sie gefährdend; dann die künstlerischen Formen des Films.

Die Vorstufe sind die kunstwidrigen Filme, die etwa den

Aufführungen in Schmierentheatern entsprechen. Der wirklich

künstlerische Film will aber mit seiner Darstellung dem

Theater Konkurrenz machen, er beachtet seine ihm eigenen

Möglichkeiten nicht, kann aber menschlich durchaus wertvoll

sein. Der Film kann endlich ein arteigenes Kunstwerk

sein, und zwar auf der Grundlage des Zusammenhangs der

Filmtechnik mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild: das

moderne naturwissenschaftliche Weltbild als wissenschaftliches

Erzeugnis macht die Welt, wie wir sie tagtäglich erfahren

und ordnen, unkenntlich, es verfremdet sie. Und der

Film kann mit seiner Technik das naturwissenschaftliche

Weltbild darstellen. Das sind Möglichkeiten mit starken

künstlerischen und auch sozialen Folgen. Aber dabei wird

eines ganz deutlich: der Film scheidet damit aus dem Bereich

der Dichtung als sprachgebundener Kunst völlig aus.



b) Die Betrachtung des Dramas nach den Gestaltungskräften

überschneidet sich vielfach mit der nach der Darbietung,

öffnet aber doch neue Blicke auf diese Kunst. Auch die

Pantomime verzichtet auf Sprache, weniger auf die Musik,

sie wählt einen knapp angedeuteten Bühnenrahmen. Die

Hauptgestaltungskräfte sind der Körperausdruck und die

Körperbewegung. Da hier, also vor allem in der Form des

Balletts, alle Kernmerkmale des Dramas vorkommen, können

wir sie hier hereinnehmen, aber sie scheidet aus dem

Bereich der Dichtung unbedingt aus. Man erkennt wieder

den Reichtum an Grenzformen. Die Grundlagen des musikalischen

Dramas
sind schon früher angedeutet worden. Geschichtlich

geworden sind folgende Arten: das Volksstück

mit Gesang in der Art Raimunds als lockerste Form, dann das

Singspiel, besonders seit dem 18. Jahrhundert; aus ihm hat

sich die Operette des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt;

dann die Oper mit ihrer reichen Entfaltung der Möglichkeiten

seit dem 16. Jahrhundert, und endlich das Musikdrama

als strengste Form rein musikalischer Dramatik seit

Richard Wagner. Das Sprechdrama holt alle Möglichkeiten |#f0640 : 624|



beinahe ausschließlich aus der Sprachkunst, ist also reine

Dichtung. Aber auch hier ist es möglich, eine Art Reihe aufzustellen

von Formen, in denen die Sprache neben anderen

Kräften wirkt, bis zu solchen, wo sie ausschließlich herrscht.

Man kann diese Reihe durch folgende Beispiele andeuten:

Hofmannsthals Salzburger »Jedermann«, Schillers »Tell«,

sein »Wallenstein«, Goethes »Iphigenie« und »Tasso«.



Nochmals sei hier auf Mischformen hingewiesen, die sich

besonders im Zusammenwirken von Dichtung und Musik

zeigen. Auch die Oper ist ein Drama im weiteren Sinn, daher

muß die Musik hier auf Handlungsablauf, auf die Fabel und

auf den Text hin gearbeitet sein. Dabei kann manche Oper

künstlerisch hoch stehen, ohne dichterisch sehr bedeutsam zu

sein, ja beides wird sich kaum einmal beisammen finden.

Wertsteigerungen durch Verbindung von Dichtung und

Musik im Drama sind nur bis zu einem gewissen Grade

möglich. Aber es gibt noch andere Randformen, die morphologisch

aus dem Sprechdrama hinausführen, und zwar

in die Richtung der Lostrennung von Aufführung und Bühne.

Zuerst eine Art des Dramas, wo nur eine handelnde und

sprechende Person auftritt, das sogenannte Monodrama. Dabei

sind Chöre, stumme Nebenpersonen und sichtbare Bühnenvorgänge

möglich. Wir können solche Formen besonders

seit dem 18. Jahrhundert verfolgen, wo sie sich zunächst in

Frankreich ausbilden. Eine Art des Monodramas ist das Melodrama,

das vor allem im 18. Jahrhundert gepflegt wurde. Das

Sprechen wird von Musikbegleitung untermalt. Vier bekannte

Beispiele sind Rousseaus »Pygmalion« (1762), die

»Ariadne auf Naxos« von J. Ch. Brandes (1774), ferner

Gotters »Medea« und Goethes »Proserpina«. Etwas anderes

ist das Ich-Drama, wo sich alles im Vorgang um eine Person

dreht. Auch solche Formen können echt dramatisch sein,

weil sie die dramatischen Grundmerkmale aufweisen. Aber

die traditionelle Form der Darstellung wird stark aufgeweicht,

wir haben es mit Randformen und Übergangserscheinungen

zu tun. Eine solche ist auch der schon zweimal, bei der Lyrik

und bei der Ballade, besprochene Dramatic Monologue.

Denn, wie E. Pound reizvoll sagt, man kann sich ihn so entstanden |#f0641 : 625|



denken, daß von einem Drama nur das im Monolog

Gestaltbare geboten wird, das übrige muß der Hörer oder

Leser sich hinzudenken. Also, wenn man will: eine große

stilistische Ellipse! Da aber hier die Darstellung beinahe völlig

zurücktritt, wird man diese Form doch besser vom Drama

abheben. Es wird nur wieder deutlich: Gattungen und Arten

haben keine scharfen Grenzen, denn es sind weniger tatsächliche

Gegebenheiten als Grundformen zur Verwendung für

den Dichter und zur Ordnungsstiftung für den Forscher.



c) Im Lauf der Dramengeschichte haben sich bestimmte

Arten ausgebildet, die mit Grundformen in Zusammenhang

stehen, aber nur aus geschichtlichen und weltanschaulichen

Voraussetzungen verstehbar sind. Diese Arten kreuzen sich

mit allen anderen möglichen Einteilungen, da sie rein aus

dem Gehalt her geschaffen sind. Der große Unterschied

zwischen der altgriechischen und der neueren Dramatik liegt

u. a. auch in der Rolle der Person im Vorgang. Im Zusammenhang

mit dem seit dem 16. Jahrhundert sich immer stärker

durchsetzenden Individualismus steht es, wenn auch das Drama

sein Leben vor allem aus der dramatischen Grundkonzeption

der in ihm handelnden Person gewinnt. Bei Shakespeare

haben wir diesen Typus das erste Mal deutlich gesehen.

Macht man, wie etwa Reinhold Lenz in seinen »Anmerkungen

übers Theater«, einen Grundsatz daraus, daß aus der Art

eines Menschen die Dramatik erfließe, so kommt man zur

Ausprägung eines bestimmten Typus, des Charakterdramas.

Man kann dann entweder die Dramatik der Weltliteratur auf

diesen Tatbestand hin überprüfen oder gar in der Aufführung

vor allem die Kunst der Charakterdarstellung durch einen

Schauspieler ganz in den Vordergrund drängen. Dieser

Form gegenüber steht die andere, wo das Geschehen, der

dramatische Vorgang, das strukturell Entscheidende ist. Weil

hier die Personen mehr durch die Macht der Umstände im

Ablauf des Dramas bestimmt sind, hat man auch von Schicksalsdrama

gesprochen. Sicher sind die antike Tragödie, große

Teile des Barockdramas, manche klassische Dichtung der

Deutschen, Formen des Volksstücks, nämlich das Gespensterstück,

und endlich das sogenannte romantische Schicksalsdrama |#f0642 : 626|



in der künstlerischen Art sehr verschieden. Aber eines

bindet sie: der Mensch erscheint in allen als beinahe wehrloses

Objekt eines welthaften Daseins, einer großen Macht, die alle

Welt beherrscht. Man kann das als Schicksal bezeichnen.

Aber je nach Zeitlage und Weltbild gliedert es sich in Spielarten

auf: die große, zu verehrende Macht bei den alten

Griechen, die Vorsehung, die dem Christen in seiner Erkenntnisbeschränkung

als rätselhaft erscheinen muß, die er eben

gläubig hinzunehmen hat, die waltende und rächende Geschichtsmacht

(Schillers Nemesis) und endlich das böse Verhängnis.

Als solches erscheint das Schicksal in den romantischen

Schicksalsdramen seit Tiecks Frühwerken (»Abschied«

und »Berneck«) und besonders in Z. Werners »Der 24. Februar«

und den erfolgreichen Stücken seiner Nachahmer. Sie arbeiten

mit den Motiven der Blutsünde, der Weissagung eines

Unheils, des Familienfluchs, des Verwandtenmordes und der

Heimkehr. Man findet solche und ähnliche Schicksalsgestaltung

schon früher, in ersten Andeutungen bei Lillo und den

Anfängen der bürgerlichen Tragödie und weit hinein zu den

realistischen, naturalistischen und sogenannten neuromantischen

Dramen des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Gemeinsame

ist die Tatsache, daß hier das Schicksal zum Unmenschlichen,

ja Außermenschlichen wird, dem der Mensch rettungslos

ausgeliefert ist. Es gewinnt greifbare Gestalt in Dingen,

in den eben erwähnten Motiven, in der Form des bösen

Zufalls. Solche Wandlung der Schicksalsvorstellung hängt

mit der Entwicklung des Weltbildes zusammen. Man erkennt,

wie so umfassende Begriffe in ihrer geschichtlichen

Auseinanderfaltung wieder die künstlerische Gestalt bestimmen.





Da seit der Entwicklung des Dramas vom Humanismus her

und der Ausformung der Tragödie im Renaissance- und Barockzeitalter

die Tragödie stark sozial bestimmt war, nämlich

so, daß in ihr nur Personen hohen Standes vorkommen

durften, hat sich mit dem geistigen Hochkommen des Bürgertums

eine Dramenform ausgebildet, wo auch aus bürgerlicher

Welt tragische Erschütterungen aufsteigen. Da dieser Wandel

in der sozialen Gestaltung der Tragödie sehr auffällig war, |#f0643 : 627|



hob man die neue Tragödienform, in der bürgerliche Personen

handelten, als deutliche Art heraus: bürgerliches Drama.

Auch das ist keine künstlerische Bestimmung, sondern eine

sozialgeschichtliche. Dabei ist auch der sozialgeschichtliche

Untergrund nicht eindeutig. In »Kabale und Liebe« (1783) ist

das Bürgertum gegen den Adel abgehoben, die Spannung

der sittlichen Haltung der beiden Stände hat der Dichter bis

in die Seelen der Hauptgestalten hinein verfolgt; in Hebbels

»Maria Magdalena« (1843) liegt die Tragik rein in der sittlichen

Verkapselung des Kleinbürgertums, nicht mehr im

Kampf gegen einen anderen Stand, in Ibsens »Nora« (1879)

wird dem verlogenen sittlichen Getue des späten Bürgertums

die Larve heruntergerissen. So gesehen ist das bürgerliche

Drama eine sozialgeschichtliche Erscheinung. Vom dichterischen

Standpunkt aus wird es in seiner künstlerischen Form

erst bedeutsam, wenn man erkennt, wie aus der gesellschaftlichen

Umschichtung der Personen des Dramas auch die

Kunstform sich wandelt. Die höfische Tragödie Racines, die

hohe Tragödie der deutschen Klassik, das religiöse Drama

Calderóns und die gewaltigen Weltdramen Shakespeares bewegen

sich auf einer hohen Ebene: gesellschaftlich gesehen,

oder in der Kraft der weltanschaulichen und religiösen Gestaltung

oder in der Weltumfassenheit, die an sich schon einen

erhöhten Standpunkt verlangt. Das wirkt sich auch in den

Aufbauformen und vor allem im Sprachstil aus. Das bürgerliche

Drama führt in die Enge eines mittleren Standes, auch

der Bau wird eng, gedrängt sein müssen, vor allem ist das

Weltbild der Personen beschränkt, und der Sprachstil gestaltet

eine ganz andere Wirklichkeitsebene. Das bürgerliche

Drama wird also von vornherein realistisch im üblichen Sinne

sein. Eine künstlerische Wertung hat davon auszugehen, ob

auch das bürgerliche Drama gewaltige tragische Erschütterung

und Blicke in die Hintergründe der Welt ermöglicht.

Das macht den Rangunterschied zwischen einem Drama

Kotzebues und einer »Penthesilea« aus.



So wie im Gebiet der Epik hat man auch in dem des Dramas

einen Gehalt immer wieder besonders herausgegriffen:

die Geschichte. Das Geschichtsdrama ist künstlerisch genau so |#f0644 : 628|



zu beurteilen wie etwa der Geschichtsroman. Man muß sich

klar sein, daß es einen sehr breiten Raum im dramatischen

Schaffen aller Völker einnimmt: Shakespeare, Barockdramen,

Victor Hugo, Goethe, Schiller, Kleist, Grillparzer,

Hebbel, Hauptmann, aber auch Anouilh, Claudel, Miller.

Es ist in seiner Bedeutung jedenfalls umfassender als der Geschichtsroman,

der auch erst im modernen Sinn einsetzte,

als sich das Geschichtsdrama voll entfaltet hatte. Im Geschichtsdrama

kann das Dramatische auf alle Fälle in reinster

Ausformung aller seiner Grundmerkmale lebendig werden:

dafür zeugen die ganz großen Dramen der deutschen Literatur,

die die Spannungskräfte geschichtlichen Lebens auf

die verschiedenste Weise herausgestalten: »Wallenstein«,

»Demetrius«, »Prinz von Homburg«, »Bruderzwist«. Daß sich

das Geschichtsdrama in der künstlerischen Anlage als Bewegungsdrama

herausformen wird, daß es Fülle und Breite

in das dramatische Geschehen einfügen muß, ergibt sich aus

dem Gesetz, daß sich jeder Gehalt seine eigene Form bildet.



Die Hauptformen



Der bisherige Überblick hat gezeigt, welche Fülle und

Mannigfaltigkeit im dramatischen Gestalten möglich sind. In

der geschichtlichen Entwicklung des Dramas indessen und

innerhalb der Ausbildungsmöglichkeiten der typischen

Grundformen haben sich besondere Arten künstlerisch herausgebildet.

Es sind Typen, denen die wesentlichsten dramatischen

Werke der Weltliteratur einzuordnen sind, die

die höchste künstlerische Vollendung erreichen können und

die tiefsten und erregendsten Weltbilder enthüllen, mit

einem Wort: Typen, die uns größte Leistungen dichterischer

Schöpferkraft zeigen. Sie sind daher genauer zu betrachten.

Dabei lassen auch diese Arten sich aus einem bestimmten

Gesichtspunkt auseinanderfalten. Es kommt bei ihrer Aufgliederung

auf die menschlich-dichterische Auffassungsweise

der Welt an, von der wir im ersten Teil ausführlich gesprochen

haben. Daß gerade dieser Gesichtspunkt für die Aufstellung

der wesentlichsten Dramenformen maßgebend ist, |#f0645 : 629|



zeigt deutlich, welche Bedeutung in der Dichtung doch auch

dem Gehaltlichen im weitesten Sinn zukommt. Wir haben

diese Auffassungsweisen nach der menschlichen Grundgestimmtheit

im dichterischen Schaffen unterschieden: der

Ernst, die Heiterkeit und das Gefühl geistiger Überlegenheit.

In diesem Rahmen sind die wichtigen Begriffe besprochen

worden: das Erhabene, die Tragik, der Humor, die Komik.

Wenn auch nur der Humor allein eine rein menschliche Einstellung

ist, während die drei anderen scheinbar Seinsweisen

der Welt andeuten, so haben wir doch erkannt, daß auch

diese Seinsweisen immer nur aus dem Blick und für den

Geist des Menschen da sind. Tragik, Komik und Erhabenes

gibt es nur als menschliche Auffassung der Welt. Der Mensch

erst macht durch sein Erfassen und geistiges Gestalten des

Weltstoffes diesen zum erhabenen, tragischen oder komischen.

Aus diesen Haltungen formen sich die Tragödie, die Komödie,

die Tragikomödie, das Lustspiel und das Schauspiel.

Diese Reihung ist rein didaktisch, um die einzelnen Arten in

ihrer Wesenheit klarer herauszuarbeiten.



Die Tragödie ist die reinste und dichteste Gestaltung des

Tragischen. Wir haben das Tragische (S. 98─108) als eine besondere

Grundgestimmtheit der Weltauffassung kennengelernt.

Dabei hat sich ergeben, daß geschichtlich diese

Grundgestimmtheit zunächst nur der dramatischen Dichtung

zukam, und daß man erst später aus dieser Grundhaltung der

Tragödie das Tragische als Grundgestimmtheit im Leben

überhaupt abgelöst und erkannt hat. Diese Grundgestimmtheit

besteht in einer tiefen Erschütterung, in der uns die

Grundfesten unseres Daseins zu versinken drohen. Diese Erschütterung

kann verschiedene Formen annehmen, und das

Versinken der Grundfesten in verschiedenen Zusammenhängen

stehen. Zur Erschütterung kommt aber in der Tragik

noch das Durchhalten. Es kann im reinen Bestehen der fürchterlichen

Tatsachen beruhen und offenbart dann tiefste Kräfte

des Menschen, oder man durchschreitet die Erschütterung zu

einer neuen und umfassenderen Sinngebung hin. Das Verzweifeln

ist ein inneres Zerbrechen des Menschen und steht

außerhalb des echten Tragischen. Im Aufwühlenden der Erschütterung |#f0646 : 630|



und des Bestehens wird der Mensch emporgerissen;

darin liegt der Sinn der Tragik.



Die Tragik offenbart sich am eindringlichsten in der

Tragödie. In ihr ist sie gleichsam der Grundakkord und das

Organisationsprinzip. In den dramatischen Kernmerkmalen

lassen sich die Erschütterung und das Durchhalten am kräftigsten

herausformen. Die Urgespaltenheit der Welt führt

zur reinen Erschütterung, die Gespanntheit im dramatischen

Vorgang reißt uns innerlich mit, so daß die Stimmungen

um so intensiver wirken. Zugleich drängt die Gespanntheit

nach vorn, und so läßt der dramatische Geist in der Verfolgung

des Ziels am Wege vieles liegen und kümmert sich

nicht darum. Aber gerade aus diesen Bereichen können dann

Einbrüche erfolgen, die die Antithetik offenbaren und alles

Drauflosstreben aufs Ziel fraglich und fragwürdig machen:

wir sehen uns dann vor Abgründe gestellt. Die Darstellung

solcher Vorgänge im Handeln und Reden von Personen drängt

uns alles Erschütternde am unmittelbarsten und radikalsten auf.



Alles tragische Welterleben wird aber in der Tragödie in

ein reines Kunstgebilde emporgehoben. Die Tragödie ist

höchste Kunstform in klarster Ausgestaltung, und eben als

reines Kunstwerk gestattet sie die Durchblicke in die tiefen

Weltzusammenhänge. Aber sie stellt uns nicht unmittelbar

als Lebewesen in sie hinein, sondern stellt uns ihnen in ästhetischer

Schau gegenüber: wir sind durch solche Erschütterungen

nicht physisch bedroht, sondern haben uns als geistige

Wesen mit ihnen als dauernden Möglichkeiten des Menschseins

auseinanderzusetzen. Die Tragödie hat das vor allem

in drei umfassenden geschichtlichen Bereichen geleistet: in der

griechischen Tragödie, in der dauernden Bedrohung des

Menschen durch das Schicksal als weltenbeherrschende

Macht; in der Tragödie der christlichen Epoche, in der Gespanntheit

zwischen Jenseits und Diesseits, in die der Mensch

in diesem Leben hineingeworfen ist; in der Tragödie neuerer

Zeit, die keine Verflachung oder Entartung bringt, sondern

den Menschen in neue Bedrohungen schleudert und in ihnen

neuen Halt suchen läßt.



Als Tragödie fassen wir unter den Dramen nur solche, in |#f0647 : 631|



denen die tiefe Erschütterung bis zum Schluß anhält, ja sich

gegen Ende steigert und hier herrscht, natürlich neben dem

erhebenden Erleben des Durchhaltens. Das bedeutet, daß

auch andere Dramen tragische Bestandteile und Durchgangsstufen

enthalten können, sie aber in irgend einer Weise

durchschreiten. Damit stoßen wir auf die Fragen um den

Tragödienbegriff. Seit Aristoteles ist die Frage nach der

Art und den Regeln der Tragödie eine der wichtigsten in der

Geschichte der Poetik. Die Wandlungen des Tragödienbegriffs

sind geistesgeschichtlich sehr lehrreich. Bei den alten

Griechen war Tragödie jede dramatische Dichtung mit tragischen

Situationen, auch wenn sie am Schluß völlig durchschritten

wurden, wie etwa im »Ödipus auf Kolonos«. Es ist

also Tragödie beinahe ein historischer Begriff, der erst in dem

Augenblick zu einem der Poetik werden konnte, als man das

Tragische nicht mehr als Merkmal der Tragödie sah, sondern

aus ihr hinausverlegte in die tatsächlichen Welt- und Lebenszusammenhänge.

Man kann es auch so sehen: die Tragödie

gestaltet in verwesentlichender und daher eindringlichster

Weise Situationen, die mit tiefster Erschütterung erlebt werden.

Und nun vollziehen sich zwei Entwicklungen: auf der

einen Seite liest man aus solchen Dramen die Kunstgesetze

der Gattung ab, Tragödie wird ein nach strengen Gesetzen

auf Wirkung berechnetes dichterisches Kunstwerk; auf der

anderen Seite lernt man von den tragischen Situationen der

Tragödien auf das Leben zu blicken, entdeckt dort ähnliche,

nur wirklichkeitsmäßig verwickeltere Situationen, und leitet

endlich daraus Sichten auf die Welt ab, die auch zu solchen

Erschütterungen führen. Man beginnt die Welt selbst tragisch

zu sehen; das war also zunächst wirklich eine Bedeutungsübertragung:

die Welt so sehen, wie es in der Tragödie

zugeht; dann aber bildete sich daraus langsam eine philosophisch

bestimmte tragische Weltanschauung. Das vollzieht

sich mit der deutschen Romantik. Von hier aus erscheint

dann die Tragödie als Dichtung, die diese tragische Weltstruktur

darstellt. Damit wird aber nur deutlich, daß die

Tragödie im alten Sinn eben so tief in die Welt hineinleuchtete,

daß sie Strukturzüge der Welt aufdeckt. Es dürfte wohl |#f0648 : 632|



zu weit gehen, wenn man zwischen der Tragödie als Kunstgebilde

und tragischer Weltanschauung einen scharfen Trennungsstrich

zieht. Man könnte eher von der welterhellenden

Kraft der Tragödiendichtung sprechen, die uns erst langsam

die Augen für tragische Weltzusammenhänge öffnete, genauer:

uns die Welt auch so sehen lehrte. Damit stoßen wir

auf den terminologischen Zusammenhang von Drama und

Tragödie. Erst langsam lernte man die Grundzüge der dramatischen

Gattung an allen Arten von Dramen herauslesen.

Man kannte ursprünglich wirklich nur Tragödien, Komödien,

Spiele usw. Wenn wir heute also die Tragödie als eine,

zwar sehr wichtige Art des Dramas auffassen, so ist das eben

eine neue Sicht auf die Möglichkeiten dichterischen Gestaltens,

die frühere nicht als falsch hinstellt, sondern sich an ihre Seite

setzt. Wir glauben, auch durch solche Sicht neue Blicke auf

die Dichtung gewinnen zu können. Umgekehrt kann Tragisches

auch in anderen Dichtungen gestaltet werden, nicht

bloß in dramatischen. Das Wort Tragödie selbst bezeichnet

einerseits eine dichterische Art, die man durch die Jahrhunderte

verfolgen kann, die nach bestimmten Gesetzen gebaut

sein mußte. Aber andererseits faßt die moderne Poetik den

Begriff enger, weil sie aus der Tragödie den Begriff des

Tragischen gewonnen hat. Es kommt nicht darauf an, daß

überhaupt tragische Situationen in einem solchen Drama

gestaltet werden, sondern daß eben das Tragische grundbestimmend

für das ganze Werk ist, also auch für den Abschluß

des Vorgangs: rücksichtslose Durchführung einer

tragischen Weltsicht bis ins Letzte. Selbstverständlich gibt

es Übergänge und Zwischenformen, und es ist damit kein

Werturteil über andere Dramenarten ausgesprochen. Daß

wir von diesem Standpunkt aus dann Dramen, die unter

dem geschichtlich zu verstehenden Wort »Tragödie« gehen,

nicht mehr als solche bezeichnen, heißt nur: wir gruppieren

nach unserer Sicht auf die dichterischen Möglichkeiten, bleiben

uns aber bewußt, daß wir damit das Wort Tragödie aus

einem geschlossenen System der Poetik heraus verwenden und

nicht im historischen Sinn. Wir tun das, weil wir glauben,

damit bestimmte Sichten auf die künstlerische und weltanschauliche |#f0649 : 633|



Art von Dichtungen zu gewinnen und genauer

festzuhalten. Das bedeutet keine Abwertung von Dichtungen,

die jetzt aus solcher Schau den Namen Tragödie verlieren,

auch keine Abwertung anderer Anschauungen, sondern ist

eine Entscheidung aus einer durchzuführenden Gesamtsicht

auf die Dichtung. Solche Blickart ist nicht rein individuell

oder gar subjektivistisch, sondern sie ergibt sich immer deutlicher

aus unserer modernen theoretischen Bemühung um die

Dichtung.



Die Tragödie ist nicht nur in ihrem Gehalt durch die durchgehende

Tragik bis zur letzten Folgerung bestimmt, sondern

auch in ihrer künstlerischen Anlage. Man kann das bis in die

sprachlichen Bilder und den dynamischen Ablauf der Rede

verfolgen. Tragische Bilder sind anders als komische. Man

spürt einer Dichtung nach den ersten Versen an, ob sie in den

tragischen oder komischen Bereich gehört. Die antike Tragödie

baut in ihrem Geschehen auf dem Mythos auf. Da der

Mythos die menschliche Fassungskraft übersteigt, da das Sein

der Welt in all seinen Geheimnissen ahnbar wird, ergeben sich

Umschwünge und Erkennungen im Ablauf des Geschehens.

So entsteht ein enges Sinngefüge als tragisches Kunstwerk.

Es ist der Ablauf der Tragödie von der sogenannten hamartia,

also vom Mangel an Einsicht einer dramatischen Person her

und vom Ende, das die erschütternden Folgen darstellt, her

in seiner Anlage bestimmt: ein strenges teleologisches Gefüge.

Alles, was diese Durchführung verhindern könnte,

bleibt weg, die Tragödie hat aus ihrem Wesen heraus einen

dichten, konzentrierten Aufbau. Deshalb konnte schon Aristoteles

bestimmte Teile und Kräfte festhalten, die jede Tragödie

aufweisen müsse, und auch neuere Poetiker betonen

diesen strengen Bau. Wenn man aber übersieht, daß es verschiedene

dramatische Möglichkeiten wie etwa Einort- und

Bewegungsdrama gibt, für die jeweils das Gesetz der Verdichtung

und Konzentration anders sich auswirkt, kommt

man zur pedantischen Aufstellung von notwendigen Handlungsschritten

(Freytag).



Die Erschütterung, die aus dem tragischen Vorgang entsteht,

geht, äußerlich gesehen, immer auf ein großes Unglück |#f0650 : 634|



zurück, das den Menschen betrifft. Aber nur von Unglück

zu reden, bleibt bedenklich. Denn nicht jedes Unglück ist

schon tragisch. Nur wenn daraus eine Erschütterung erfolgt,

wenn man die Daseinsgrundlagen vernichtet glaubt, kann von

Tragik gesprochen werden. Man kann nach der Art der Ereignisse,

die ein solches tragisches Unglück hervorrufen, auch

verschiedene Arten von Tragödien unterscheiden. Sie können

im Zusammenstoß eines Menschen mit der Welt bestehen,

darin, daß in einem Menschen zwei Weltprinzipien zum

Kampf antreten, darin, daß ein Mensch mit seiner inneren

Zwiespältigkeit nicht fertig wird, darin, daß einen Menschen

ein ungeheures Schicksal überfällt. Geschichtlich ist der

Wandel, der sich im 18. Jahrhundert vollzogen hat, auch

für die Art der Tragödie wichtig. Vorher konnten nur hochgestellte

Personen Träger tragischer Geschehnisse sein, im

18. Jahrhundert beginnt die bürgerliche Tragödie. Seither

gibt es keine sozialen Normen mehr für die Tragödie: neben

»Herodes und Mariamne« steht »Maria Magdalena«, neben

den »Webern«, dem »Fuhrmann Henschel« und »Hanneles

Himmelfahrt« die »Atridentetralogie« G. Hauptmanns. Aber

man darf diese Gewohnheit früherer Jahrhunderte nicht bloß

gesellschaftsgeschichtlich sehen. Man hat mit Recht von einer

tragischen Fallhöhe gesprochen. Das Schicksal eines »Ödipus«,

eines »Tasso«, eines »Wallenstein« erschüttert uns in der Dichtung

meist mehr als das eines Fuhrmanns, eines armen Dorfmädels,

einiger Fabrikarbeiter. Nicht deshalb, weil nur hohe

Menschen unseres Mitgefühls wert wären oder nur in diesen

höheren Bereichen die Fragwürdigkeit des Daseins vorhanden

wäre. Aber es ist eine künstlerische Tatsache, daß tragische

Erschütterungen leichter wirksam zu gestalten sind,

wenn ein hochgestellter, heldischer oder überhaupt innerlich

bedeutender Mensch scheitert: der Fall von beachtlicher

menschlicher Höhe herab in den Untergang reißt mehr mit,

wühlt uns tiefer auf als das endgültige Versinken eines an

sich schon in den Tiefen dahinvegetierenden armen Teufels.

Das hat nichts mit sozialem Mitgefühl, sondern nur mit

ästhetischer Erschütterung zu tun. Wenn es dem Dichter

gelingt, auch im Schicksal eines kleinen Menschen uns die |#f0651 : 635|



Not und ewige Bedrängnis der Menschheit erleben zu lassen,

so ist diese Tragödie genau so wertvoll und menschlich hoch

wie die eines Königs, Helden oder Künstlers. Aber es ist

schwer, letzte tragische Wirkungen aus einem unteren Menschenbereich

herauszuformen. Auf die tragische Wirkung

aber kommt es an.



Damit stoßen wir auf die wichtigste Frage der Tragödie:

die Wirkung. Scheinbar geraten wir hier schon über den

Bereich des in sich geschlossenen, für sich bestehenden Kunstwerks

hinaus. Sollte das tatsächlich der Fall sein, so wäre es

ein Beweis, daß es, zumindest im Bereich der Tragödie, eine

solche Insichgeschlossenheit nicht gibt. Denn seit Aristoteles

haben alle, die sich um das Wesen der Tragödie bemüht

haben, immer nach den Möglichkeiten der Wirkung gefragt.

Und mochte das auch seit der Romantik etwas zurückgetreten

sein, gerade jetzt wird diese Seite an der Tragödie

wieder besonders beachtet (O. Mann: Poetik der Tragödie).

Denn immer schon hat es die Menschen zum Denken angeregt,

wie eine Dichtung, die doch ästhetische Freude erregen

soll, tiefste Erschütterungen erzeugt und trotzdem der

Mensch ihr nicht ausweicht, solche Erschütterungen geradezu

sucht. Natürlich der wesenhafte Mensch: man kann vielleicht

sagen, daß der Mensch, der solche Erschütterungen sucht

und an ihnen innerlich stärker wird, sich damit als wesenhaft

ausweist. Das soll aber nicht heißen, daß er der heiteren oder

überschäumenden Lebensfreude aus dem Wege gehen müßte!



Aristoteles fragt bei der Erörterung der Tragödie ausschließlich

nach der Wirkung. Seine berühmte Tragödiendefinition

zeigt das eindeutig: »Es ist also die Tragödie die

nachahmende Darstellung einer ernsten und in sich abgeschlossenen

Handlung, die eine gewisse Größe hat, in kunstvollem

Stil, der in den einzelnen Teilen sich deren besonderer

Art anpaßt, einer Handlung, die nicht bloß erzählt, sondern

durch handelnde Personen vor Augen gestellt wird und die

durch Mitleid und Furcht erregende Vorgänge die Auslösung

dieser und ähnlicher Gemütsbewegungen bewirkt« (übersetzt

Nestle). Es ist eine Bestimmung nach der Wirkung der

Dichtung. Diese Wirkung bezeichnet Aristoteles mit dem |#f0652 : 636|



Ausdruck Katharsis. Um ihn und um die Frage, ob die griechischen

Ausdrücke ›eleos‹ und ›phobos‹ mit Mitleid und

Furcht treffend übersetzt sind, geht seit den ersten Aristoteleskommentaren

der Renaissancezeit ein dauernder Streit.

Vielleicht wird wirklich zuviel in die Worte hineingelegt,

aber das Ringen um ihre Deutung klärt uns doch über Grundverhältnisse

der Tragödie auf.



Wir fragen zunächst nach dem Grund der Wirkung einer

Tragödie. Gewiß kann oft schon der Stoff als solcher erschütternde

Wirkungen auslösen. Aber schon da muß beachtet

werden, daß die geringste Gestaltung durch den Dichter

schon über das Stoffliche hinausführt: Auswahl der Teile,

Verteilung der Gewichtigkeit, Ausführlichkeit oder Knappheit.

Rein stoffliche Wirkung ist undichterisch; sie bleibt

im Realen, Außerdichterischen hängen, hat nichts mit Kunst

zu tun. Mit Recht hat Schiller ängstlich stoffliche Wirkungen

immer zu vermeiden gesucht. Die entscheidenden Wirkungen

gehen von der Gestaltung aus. Und zwar im vollsten

Umfang des Gestaltens. Dazu gehört die Durchführung des

Vorgangs, seine Gliederung, der Aufbau der Spannung, die

Gewichtigkeit, die jedem Glied der Handlung zugemessen

wird, Art und Haltung der Personen, das Zusammenwirken

der Personen, endlich auch die sprachliche Gestaltung: die

sprachlichen Bilder in ihrem Bereich, ihrem Zusammenwirken,

ferner die dynamische Bewegtheit usw. Kurzum alle

Schichten, Glieder, die einzelnen Sichten, die Stilkräfte und

ihr Zusammenwirken, all das, was wir über die Gestaltungsmöglichkeiten

der Dichtung gesagt haben, wirkt mit an der

Erzeugung tragischer Wirkung. Welche Elemente jeweils

stärker und welche schwächer daran beteiligt sind, prägt die

Eigenart jeder Tragödie mit.



Die Art der tragischen Wirkung im einzelnen ist zunächst

schon durch das berühmte Wortpaar des Aristoteles: Furcht

und Mitleid angedeutet. Vorauszusetzen ist zunächst der Begriff

hamartia, d. h. Fehler. Damit meint man keine spezifische

Schuld, kein Verbrechen, das sich klar umschreiben ließe

oder einem Menschen voll zugerechnet werden könnte, sondern

Mangel an tiefer Einsicht, wie wir es an Ödipus erkennen. |#f0653 : 637|



Der Mangel an Einsicht ist die Ursache für das Unglück, in

das ein Mensch in der Tragödie gerät. Und er führt uns zu den

Gefühlen, die man als Furcht und Mitleid bezeichnet. Aber

beide griechischen Worte sind im Lauf der Zeiten verschieden

übersetzt und damit gedeutet worden. Solche Übersetzung und

Deutung zeigt zugleich, worin man in der betreffenden Zeit

die tragische Wirkung sah. In der Barocktheorie hat man mehr

Gewicht auf die Furcht als auf das Mitleid gelegt. Zugleich

wurde dieses Wort ›phobos‹ aber mit Schrecken wiedergegeben.

Der Schrecken über die Furchtbarkeiten, denen große

Menschen ausgesetzt sind, ist die Wirkung, die der Barockmensch

an der Tragödie erfährt. Dazu kommt noch die Bewunderung,

die man der Haltung der Helden im Unglück

zollt. Alles ist also auf eine starke Erhebung aus dem Alltag abgestellt.

In der Aufklärungszeit, besonders deutlich bei Lessing,

lehnt man den Schrecken ab, setzt dafür Furcht, betont aber

viel mehr das Mitleid. Auch die Furcht bezeichnet Lessing als

das auf uns selbst bezogene Mitleid. Damit wird die philanthropische

Einstellung dieser Zeit deutlich. Das rein menschliche

Mitfühlen mit einem unseresgleichen im Unglück tritt

an die Stelle erhabener Gefühle. Tragisches Mitleid ist nun

der höchste Grad der Anteilnahme des erschütterten Zuschauers.

Noch Schiller kommt von diesem Gefühl des Mitleids

in seiner Theorie und bei der Überlegung der Tragödienpläne

nie recht los. Neuerdings hat man nun zu zeigen

versucht, daß durch die ganze ethische Entwicklung aus dem

Geist des Christentums die Begriffe Furcht und Mitleid auf

sanftere und gleichsam mittlere Bereiche bezogen werden.

Diese Entwicklung wurde durch die philanthropischen Neigungen

des 18. Jahrhunderts und durch das erwachende

Sozialgefühl im 19. Jahrhundert noch gefördert. Daher kann

der Altphilologe Schadewaldt sagen, daß Furcht und Mitleid

in unserem heutigen Sinn die griechischen Worte nicht mehr

richtig wiedergeben, daß sogar Schrecken treffender als

Furcht sei. Schadewaldt meint, daß ›phobos‹ durch Schauder,

›eleos‹ durch Jammer am besten wiedergegeben sei. Diese

ganze Auseinandersetzung zeigt zweierlei: 1. Wandlungen

der Auffassung von der tragischen Wirkung, daher auch vom |#f0654 : 638|



Tragischen. In der Bewunderung des Barockzeitalters spricht

sich die Einstellung zum leidenden und standhaften Menschen

aus, im Mitleid des 18. Jahrhunderts die sanftere, rührselige

Haltung dieser Zeit, in der Neuübersetzung durch Schauder

und Jammer die Art, wie wir Menschen unseres Jahrhunderts

das Tragische erfassen. Aber immer bleibt das eine: für jede

Epoche stellt die tragische Wirkung die höchste Erschütterung

und zugleich innerliche Erhebung über den Alltag dar, deren

die Zeit eben fähig war. Dieser Grad ist verschieden, und daher

können wir von unserer Zeit aus sagen, daß etwa das

18. Jahrhundert der tiefsten tragischen Erlebnisse gar nicht

fähig war. 2. Man bemüht sich, aus der jeweiligen Fähigkeit

zu tragischem Erleben zu erweisen, daß Aristoteles die richtige

Einstellung zur tragischen Wirkung gehabt habe. Wenn

die Übersetzung von ›phobos‹ und ›eleos‹ durch Schauder

und Jammer dem griechischen Denken entspricht, dann kann

man sagen, daß die Auffassung des Aristoteles der unseren

von heute sehr nahe kommt.



Ebenso schwierig ist die Frage nach dem Wesen der Katharsis.

Zuerst bleibt schon zu klären, wie der Ausdruck »Reinigung

dergleichen Leidenschaften« aufzufassen ist: wird von

den Leidenschaften gereinigt oder werden diese gereinigt,

oder reinigen diese? Alle drei Möglichkeiten liegen in der

griechischen Fügung, und alle drei haben ihre Vertreter gefunden.

Heute nimmt man an, daß es sich um die Reinigung

von den Leidenschaften handelt, während Lessing bekanntlich

an die Reinigung der Leidenschaften dachte. Zugleich

glaubt man heute auch, daß mit »dergleichen Leidenschaften«

Schauder und Jammer und ähnliche Gefühle, nicht die

im Stück dargestellten Affekte gemeint seien, wie das die

Barockzeit dachte. Damit aber wird es notwendig, den

tieferen Sinn des Wortes Katharsis zu erfassen. Auch in

dieser Hinsicht haben die einzelnen Theoretiker verschiedene

Auffassungen vertreten: eine ethische Ausdeutung zeigt drei

Spielarten: eine Art Abhärtung, indem wir uns durch den

Anblick des Unglücks an Furcht gewöhnen sollen, eine Art

Abschreckung, indem wir durch die Furcht vor den bösen

dargestellten Leidenschaften behütet werden sollen, eine Art |#f0655 : 639|



Besserung, indem das Mitleid zur Tugend der richtigen Mitleidsbereitschaft

erhoben werden soll (Lessing); eine medizinische

Ausdeutung meint unter Katharsis die Entladung dieser

Gefühle und damit eine innere Befreiung von argen Spannungen;

eine ästhetische Ausdeutung sieht in der Katharsis

eine Ausgleichung der durch den Ablauf der Tragödie in

verschiedene Spannungen geratenen Gemütslage; eine mystische

versteht darunter eine Art Sühnung, eine heilige Vollendung

einer inneren Gemütsentwicklung; eine metaphysische

meint, durch die Katharsis werde das menschliche Sein,

das in Furcht und Leiden aus der Bedrohtheit der Menschen in

dauernden Glücksumschwüngen gründet, in reiner, schlackenloser

Weise herausgestaltet. Auch hier wieder dasselbe: jede

Aristoteles-Deutung ist zugleich Bekenntnis zu einer bestimmten

Auffassung von der tragischen Wirkung.



Aus allem aber erkennt man, daß in der echten Tragödie

nach unserer Auffassung das Ende von besonderer Bedeutung

ist. Der Tod muß nicht der einzig mögliche Abschluß der

Tragödie sein. Der Held kann im Tod seinen Zusammenbruch

erleiden, aber es ist auch eine tiefe Erschütterung ohne Tod

möglich. Man denke vor allem an »Tasso« und an bestimmte

Tragödien Grillparzers, besonders an die »Medea«. Der Tod aber

darf nicht Strafe für ein Vergehen sein, er darf keine kriminelle

Angelegenheit sein. Im Tod der Maria Stuart ist das Tragische

nicht der Tod als Ausgang eines Gerichtsprozesses, sondern

der Tod als persönlich auf sich genommene Sühne, im Wallenstein

als endlicher Zusammenbruch eines großen Menschen,

als Einbruch des Weltverhängnisses ins Persönliche. Aus solchem

Einbruch kann es auch zum Freitod kommen. Er ereignet

sich, weil die Verhältnisse dazu drängen oder weil die innere

Anlage des Helden dazu treibt.



Eine besondere Verstärkung der tragischen Erschütterung

ist in der Tragödie, besonders an ihrem Schluß, oft dadurch

erreicht, daß auch der Held selber im Lauf des Vorgangs,

besonders aber am Ende, tragische Erschütterung erfährt. Der

Zuschauer erlebt also nicht bloß das ganze tragische Geschehen,

sondern auch eine tragische Erfahrung, die aus demselben

Geschehen wächst. So wird ihm das Menschliche des |#f0656 : 640|



ganzen Zusammenhangs erst recht fühlbar. Wieder ist das

besonders an der Gestalt des Ödipus deutlich.



Im Ende erreicht also die tragische Erschütterung ihre Höhe

und zugleich die Wende in die Erhebung durch die Möglichkeit

des Durchhaltens. Hier geschieht der Durchbruch in die

tieferen Hintergründe, die Seinserhellung, die jedem Kunstwerk

aufgegeben ist, die aber der Tragödie in ganz besonderem

Maße eignet: Durch alles Grauen, alle Erschütterung die

Tatsache eines tiefen, erhellenden und erhebenden Erlebnisses,

das dem Menschen neue Kräfte gibt. In diesem Schluß zeigt

sich die ganze menschliche Bedeutung der Tragödiendichtung.

Sie taucht den Menschen am tiefsten in die Abgründe und

reißt ihn trotzdem und dadurch zugleich in die Höhe, er wird

sich der Gefährlichkeit und der Möglichkeiten des Menschseins

bewußt.



Wir haben bei der Betrachtung der menschlich-dichterischen

Auffassungsweisen der Welt über Humor und Komik

gesprochen (S. 109 ff., 114 ff.) und dabei beide Haltungen

unterschieden. Der Humor ist eine besondere Form heiterer

Weltsicht: man sieht lächelnd über die Unzulänglichkeiten

der Welt hinweg, vielleicht ─ und das ist der tiefere Humor ─

weil man alles Schwere der Welt schon durchgekostet hat.

Aus hoher Überschau wird alles Irdische klein, verliert seine

bedrückende Nähe und erhält so den Schimmer des Liebenswürdigen.

Der Humor muß nicht bloß zart und still-heiter

sein; er kann derb sein und von der Vitalität, dem Lebensübermut

zeugen, die der gesunde Mensch besitzt. Gerade diese

kraftstrotzende Art, sich über das Schwere hinwegsetzen zu

können, ist für die Dramatik auch wichtig. Die Komik dagegen

ist nicht unmittelbar eine menschliche Haltung wie der

Humor, sondern die Farbe, die Gegenstände und Vorgänge

um uns bekommen können, wenn wir sie aus einer bestimmten

inneren Einstellung heraus betrachten: etwas wird komisch

erst durch unsere Sicht darauf. Mit dem Spiel des überlegenen

Geistes entlarven wir Angemaßtes und stürzen es auf seine

Ebene herab. Der Humorist lacht oder lächelt, der Mensch,

der etwas komisch findet, macht es lächerlich. Auch hier gibt

es Spielarten von derbem Spott und überschäumender Ausgelassenheit |#f0657 : 641|



bis zum feinen oder scharfen, aber doch vornehmen

Geistesspiel und zur Ironie. Beide Haltungen sind mit

Dramatik und ihren Kernmerkmalen durchaus verträglich.

Freilich wird der humorvolle Mensch die Urgespaltenheit

der Welt innerlich überwinden, aber er wird sie doch zur

Kenntnis nehmen müssen. Die Angespanntheit wird eine

heitere Lösung finden; diese wird um so befreiender sein, je

stärker vorher die Spannung war. Und in der humorvollen

Art der dargestellten Menschen und dem in ihrem Handeln

und Sprechen ablaufenden Vorgang kann die Haltung des

Humors uns ganz unmittelbar ansprechen. Die Komik hängt

aufs engste mit den Spaltungen und Gegensätzen der Welt

zusammen. Man denke an die Widersprüchlichkeit zwischen

dem angemaßten Richteramt und seinem Rang auf der einen

Seite und der Art und dem Zustand des Dorfrichters Adam

auf der anderen. Dieser Widerspruch führt zu stärkster Gespanntheit

im Augenblick, wo der anmaßende Mensch den

Anspruch aufrechterhalten will. Die Entladung, die ihn auf

seine Ebene zurückwirft, offenbart die stärkste Komik. Die

Form der Darstellung durch redende und handelnde Menschen

fördert die Unmittelbarkeit der Wirkung.



Die Unterscheidung von Humor und Komik, die besonders

greifbar im Gegensatz von Lachen und Lächerlichmachen

hervortritt, läßt es auch bei der Betrachtung der dramatischen

Arten geboten sein, zwei Formen zu unterscheiden, je nachdem

der Humor vorherrscht oder der Vorgang komisch gesehen

wird. Wir sprechen von Lustspiel und Komödie. Diese

Scheidung ist nicht alt und noch nicht allgemein üblich. Aber

sie läßt uns doch die tiefen Unterschiede zwischen Shakespeare

und Molière, zwischen Raimund und Nestroy, zwischen

Kleists »Zerbrochenem Krug« und Grillparzers »Weh

dem, der lügt!« und die Eigenart der Spiele Hofmannsthals,

besonders des »Schwierigen«, klarer fassen, als wenn man das

»Lustige« daran unter einem Blick betrachtet. Gerade in

einem gemeinsamen Zug dieser beiden Arten von Dramen

kann man doch auch wieder den Unterschied erkennen: in

der lustigen Person. Sie gehört zu jedem solchen Drama, ob

sie sehr handgreiflich heraustritt wie in den Spielen Shakespeares, |#f0658 : 642|



den Komödien Nestroys und den Spielen Raimunds,

oder in feinere geistige Bereiche, in höhere Sphären gehoben

ist wie der Dorfrichter Adam, der Küchenjunge Leon oder

der Schwierige selbst. Die lustige Person stellt die enge Verbindung

zwischen Bühne und Publikum her, die darstellende

Art wird in ihr gerade dadurch oft betont, daß sie manchmal

aufgehoben wird: dann wenn die lustige Person zum Publikum

spricht und damit den in sich ablaufenden Vorgang

unterbricht. Auch das ist eine Art Auflösung des Scheins. Das

geht bis in die Gestalt Zangas in Grillparzers »Traum ein

Leben«, der nach einer ausführlichen Schlachtschilderung, die

an sich schon aus Publikum gerichtet ist, sagt:



Also sichs begeben hat;

Ich bin selbst das Zeitungsblatt,

Schwarz gekommen schon zur Erden,

Darf's nicht erst durch Lügen werden.


Und trotzdem besteht in Stimmung und Funktion ein deutlicher

Unterschied zwischen der komischen Figur und dem

Lustigmacher. Die komische Figur verdichtet das Komische

in sich. Sie verkörpert gewisse menschliche Hemmungen und

Schwächen ─ den Buckligen, den Geizigen ─, sie verdichtet

sie zu Typen und verzerrt sie zu Karikaturen. So wird die

menschliche Unzulänglichkeit wie in jeder echten Komik

deutlich, irgend etwas bricht aus dem Erwarteten heraus.

Anders der Lustigmacher: in Gehaben, Maske und Kostüm

steht er über allen Dingen. Er strotzt von vollsaftiger Vitalität.

Die überschäumende Lebensfreude kann vom Burlesken

bis zum Grotesken gehen. Aber auch seine Wurzel ist die

Unbefriedigtheit mit dem Tatsächlichen, also Gespaltenheit

und Gespanntheit auch hier.



Die Scheidung von Lustspiel und Komödie drängt sich

also auch so auf. Man kann scharf beide so unterscheiden: in

der Komödie wird die Komik der Unzulänglichkeit Gestalt,

im Lustspiel der Humor des weltüberlegenen Spiels.



Die Grundlage der Komödie ist die Komik mit all ihren

Zügen, die wir früher betrachtet und vorhin gestreift haben:

die Unerwartetheit, der Widerspruch zum Üblichen, das

Heraustreten aus einer Ordnung, der plötzliche Fall des Anmaßenden, |#f0659 : 643|



die Entlarvung des Scheins, damit die Auflösung

einer Täuschung. Gerade darin ist ein wichtiger Zug zu sehen:

zunächst scheint die Darstellung eine Wirklichkeit aufzubauen,

die im ästhetischen Sinn auf Wesentlicheres zu blicken

erlaubt. Freilich schon hier steigen Bedenken auf ─ eine Ursache

dramatischer Gespanntheit. Am Schluß aber wird

endgültig dieser Schein des Tieferen zerstört, die Täuschung

aufgelöst. Und doch läßt auch ein solcher Vorgang auf das

echte Tiefere schauen, eröffnet uns den Blick in Möglichkeiten

des Lebens und der Welt, in wesenhafte Verhältnisse.

Damit zeigt sich uns die Komödie als hervorragend dramatisch.

Genau so wie in der Tragödie sind in ihr die dramatischen

Züge greifbar. Das braucht im einzelnen nicht mehr ausgeführt

zu werden. Sicher aber wird nirgends so sehr wie in

diesen beiden Arten die Urgespaltenheit der Welt ästhetische

Wirklichkeit. Nie geht das Weltbild in reiner Harmonie

auf ─ sonst wäre weder Tragik noch Komik möglich. Beide

Arten sind eins in bezug auf diese Struktur der Welt, aber sie

stehen einander entgegen wie der positive und der negative

Pol: In der Tragödie die Erschütterung und aus tiefstem

Grunde die Erhebung, in der Komödie die gemüthafte Angespanntheit

wegen der Widersprüchlichkeit, dann die befreiende

Lösung, daß wenigstens vorläufig ─ was ist schon

endgültig in dieser Welt! ─ der Widerspruch beseitigt ist,

und zwar mit so drastischem Fall.



Die Art und die Bedeutung der komischen Figur ist schon

umrissen worden. Der Dichter kann sie mannigfaltig ausgestalten.

Es kann eine scheinbare Nebenfigur sein, die dann in

ihrem Bezug zum Publikum, in ihrem Heraustreten aus dem

Vorgang eine Art Chor ist; sie unterstreicht dann das Komische

des Vorgangs, die Angemaßtheit der Hauptfigur.

Dabei wirkt sie durch ihr Gehaben und ihr Aussehen selbst

komisch ─ ein derbes Herausbrechen aus dem Erwarteten,

auch schon dadurch, daß sie aus der Ordnung des geschlossenen

Vorgangs heraustritt. Die komische Figur kann aber auch

die Hauptgestalt sein, so besonders deutlich bei Molière und

in Kleists Komödie. Dann tritt eine starke Verdichtung des

Komischen ein: denn nicht nur, daß sich ja in der Hauptgestalt |#f0660 : 644|



eines Dramas der Vorgang verdichtet, von ihr aus gebaut

ist, auch das Komische verdichtet sich hier, indem die Gestalt

eine menschliche Schwäche in höchster Steigerung herausstellt,

zu einem Typus formt, der wegen seiner Unerwartetheit

schon komisch wirkt, und in ihrer Bloßstellung am Schluß

sich der Lächerlichkeit am stärksten aussetzt: in ihrem Menschentum

und in ihrer Funktion als Hauptgestalt, also wieder

von etwas Wichtigem. Das sind nur zwei Möglichkeiten. Sie

können bereichert werden durch den Zusammenstoß zweier

komischen Figuren und durch das, was sich daraus ergibt.

Dabei enthält die Komödie auch eine soziale Seite. Die erlebende

Gruppe, also die Zuschauer, müssen gleich erleben, sie

müssen in gleicher Weise die Fallhöhe abmessen. Daher wird

die Farce ein anderes Publikum verlangen als etwa Kleists

»Zerbrochener Krug«. Die Zuschauer, die Kleists Spiel als

komisch erleben, werden vielleicht an der Farce keinen Geschmack

finden, oder sie müssen sich sozial in eine andere

Gruppe umstellen, um es zu können, und die Menschen, die

eine derbe Farce genießen, werden eine Komödie Molières

langweilig finden.



Je nach dem Bereich, der vor allem das Komische enthüllt,

gibt es verschiedene Arten der Komödie. Es kann eine Person

sein, deren Unzulänglichkeit dramatisch herausgestellt wird,

so besonders in den Komödien Molières. Man spricht da auch

von Charakterkomödien. Die Komik kann sich auch aus dem

dramatischen Vorgang ergeben: schon die Situation, von der

er ausgeht, kann Komik auslösen: eine Situation, die in

sich eine Anmaßung oder Widersprüchlichkeit enthält und

von der wir gespannt erwarten, wie sie sich effektvoll löst.

Die Situationen können auch Teilergebnisse des Vorgangs

sein, in denen sich die komischen Elemente des Gesamtvorgangs

besonders verdichten. Musterbeispiele solcher Situationskomik

bieten viele Stücke Nestroys, besonders etwa

»Einen Jux will er sich machen«. Dieses Spiel ist beinahe eine

einzige Reihe ununterbrochener komischer Situationen. Die

Handlung kann auch durch Intrigen angezettelt oder weitergeführt

werden. Bekannt ist die Intrige, die in Beaumarchais'

»Mariage de Figaro« die Lösung herbeiführt. Auch die romantischen |#f0661 : 645|



Komödien, ebenso die Grabbes, gehören zur Art der

Intrigenkomödie. Der Vorgang kann sich in der Komödie

so erweitern, daß eine ganze Gesellschaft in die Komik hineingezogen

wird: ihre sittliche Haltung, die Lügenhaftigkeit

ihrer Gesellschaftsformen, die Verlogenheit ihrer moralischen

Grundsätze können durch die Handlung, die durch alle Bereiche

des Gesellschaftslebens führt, ad absurdum geführt, in

ihrer Scheinhaftigkeit bloßgestellt werden: die Gesellschaftskomödie.





Die Art der Wirklichkeit, die eine Komödie aufbaut, ist

nicht immer dieselbe. Man spricht oft von einer realistischen

Komödie und meint damit, daß eine Wirklichkeit vor uns

ersteht, die aus dem menschlichen Alltagsleben geschöpft ist.

Aber die Komik entsteht erst durch die besondere Ausformung

dieser dichterischen Wirklichkeit: sie unterscheidet sich

von dem Alltagsleben durch die Verzerrung der Verhältnisse,

durch die Überbelichtung bestimmter Lagen und Vorgänge.

Gerade von solchen komischen Verdichtungen lebt die

Komödie, darin besteht ihre dichterische Wirklichkeit. Auch

so wird Wesenhaftes, genauer noch: Mögliches des menschlichen

Lebens gestaltet. Pseudorealistisch könnte man eine

solche Komödie wohl nur nennen, wenn man ihre dichterische

Wirklichkeit an dem Alltagsleben der Menschen vergleichend

mißt. Solcher Art sind vielfach die Possen, die Gesellschaftskomödien

und die Charakterkomödien. Die Übersteigerung

komischer Züge kann ins Groteske führen. Es gibt

einen Bereich, wo sich Komik und Groteske überschneiden.

Dabei darf man aber nicht vergessen, daß das Groteske ein

weiteres Gebiet umfaßt als bloß das Komische. Aber in der

Verfremdung der Wirklichkeitsbezüge, im willkürlichen

Montieren disparater Stücke, in der übertriebenen Verzerrung

kann das Groteske auch komisch wirken. Das Verrückte im

tatsächlichen Leben wird hier aufgegriffen, zu einer eigenen

dichterischen Welt ausgeformt, wo alles unerwartet ist und

aus der Art fällt. In der Lösung deutet sich eine Wiederherstellung

einer heilen Ordnung an, zumindest eine Bloßstellung

oder gar Vernichtung des Verzerrten. Freilich können in

solchen Komödien bereits dämonische Züge einfließen. Alle |#f0662 : 646|



Arten der Puppenkomödie, der puppenhaften Komödien wie

etwa Büchners »Leonce und Lena«, der Verkleidungs- und

Verwechslungskomödien, der Parodien und Travestien gehören

dazu.



Auch nach den Stilebenen sind die Komödien verschieden.

Sie können ausgesprochen höfische Züge an sich tragen, wenn

auch andere Stände mit einwirken, so etwa der »Figaro«, aber

auch die Spiele von Marivaux und vieles von Molière. Die

niedere Gesellschaftsebene ist der Bereich der Farcen und

Possen. Die Farcen sind meist kurz und sehr scharf, die satirischen

Züge drängen vor. Die Possen sind harmloser, oft volkstümlicher,

vielfach kommen sie schon in die Nähe der Lustspiele.





Nach der inneren Haltung kann man reine Komödien des

geistreichen, ironischen Spiels von solchen, in denen die Satire

vorherrscht, unterscheiden. Die satirischen Komödien durchwirkt

der deutliche Spott und damit auch die Angriffslust.

Insofern sich die Parodien und Travestien bestimmte Dramen

als Zielscheibe ihres Spottes vornehmen, gehören auch sie in

diese Gruppe.



Nicht alle Dramen lassen sich rein in solche Gruppen einordnen.

Es kann auch die Grenze zwischen Komödie und

Lustspiel nicht immer scharf gezogen werden. Manches in

Hofmannsthals »Der Schwierige«, etwa gesellschaftssatirische

Züge, starke Überlichtungen in der Entgegenstellung der

Figuren geht ins Komödienhafte. Der Gesamtton freilich

bleibt lustspielartig. Bekannt sind die komischen Einlagen und

Zwischenspiele in Tragödien, besonders in denen Shakespeares.





Eine besondere Form ist in diesem Zusammenhang die

Tragikomödie. Wir denken heute nicht mehr an die bürgerliche

Tragödie im 18. Jahrhundert. Wir machen auch nicht

mehr die Unterscheidung der Barockpoetik; diese sprach von

Tragiko-Komödie, wenn aus der hohen Handlung sich eine

niedere, derbe entwickelte, von Komiko-Tragödie, wenn sich

aus anfänglichen komischen Szenen eine hohe ernste Handlung

ablöste. Als solche Komiko-Tragödie wurde Bidermanns

»Cenodoxus« bezeichnet. Über die Haltung der Tragikomik |#f0663 : 647|



haben wir schon einiges gesagt (S. 103 f.). Demnach ist uns die

Tragikomödie ein Drama, in dem tragische und komische

Elemente verbunden sind, und zwar so, daß die komischen

nicht als Einlagen, wie eben in Shakespeares Tragödien, bezeichnet

werden können. Das scharfe Aneinanderstoßen

tragischer und komischer Sichten kann Ausdruck innerer Unruhe

und Zerrissenheit des auffassenden Menschen sein, aber

auch Zeichen der Fülle der Welt, die zugleich aus verschiedensten

Haltungen erfahren werden kann. Entscheidend für

die tiefere Tragikomödie ist einmal der Umschlag aus dem

Komischen in die Erschütterung, aus der Erhabenheit in die

Entlarvung. Es erscheint da die Welt als Schein, der zerstört

wird: das Tragische wird als Erhabenes entlarvt, das Komische

stößt in das Erschütternde vor. Es kann aber auch mehr

folgende Doppelsicht vorherrschen: ein Vorgang, eine Gestalt

bietet tragische und komische Seiten zugleich und offenbart

damit eine geradezu unheimliche Seite an der Weltstruktur.

Die Art tragikomischer Entlarvung hat W. v.

Scholz an Shakespeares »Troilus und Cressida« herausgestellt.

»Es ist das Wesen der Tragikomödie, daß sie fortwährend

Lebenstäuschungen zerstört: die tragischen erhabenen, die das

Dasein und den Menschen zu wichtig nehmen, mit den dazwischen

geworfenen komischen Teilen, und die komischheiteren,

die allein sonnige Leichtigkeit vorspiegeln würden,

indem sie sie in die Umwelt des Tragischen stellt, das so zu

schmerzlicher Verzweiflung wird, während das Komische

durch diese Nachbarschaft Züge scharfen Hohnes und Spottes

bekommt. Hier wie dort ist das Wesen der Tragikomödie:

Zerstörung des angenehmen Truges und des Gewohnten.«

Das unheimliche tragische und komische Doppelgesicht der

Welt, wo es weniger auf Zerstörung des Trugs ankommt,

erkennt man neuerdings an Kleists »Amphitryon«. Hier wirkt

sich das Tragikomische in vierfacher Weise aus, und es offenbaren

sich damit zugleich Möglichkeiten tragikomischen Gestaltens.

Die komische Dienerhandlung beleuchtet die geheime

Komik auch des Hauptvorgangs; eine Gestalt weist

innere Widersprüche auf wie Jupiter, die sie zu einer komischen

und tragischen Figur zugleich machen; einer Gestalt |#f0664 : 648|



trübt sich ihr Selbstverständnis, sie kennt sich über sich selbst

nicht mehr aus wie Amphitryon und offenbart in dieser

komischen Situation auch tragische Züge, weil sie innerliche

Größe hat; eine edle hohe Gestalt wie Alkmene gerät in Lagen,

wo die Umwelt sie in komischem Lichte sehen muß. Diese

Bauformen könnten auch an anderen Tragikomödien gezeigt

werden (Molières »George Dandin« und »Misanthrope«,

Rostands »Cyrano«). Erschütterung und Entlarvung schließen

sich in solchen Tragikomödien zu einer Einheit zusammen,

und so entsteht eine dichterische Weltauffassung von besonderer

Eigenart.



Das Wesen des Lustspiels ist aus der Haltung des Humors zu

verstehen. Selbstverständlich werden sich auch im Lustspiel

oft komische Züge finden, wie auch die ernsten und tragischen

nicht immer fehlen müssen. Aber das Entscheidende ist doch,

daß da eine Welt vor uns ersteht, die aus einer gehobenen

Weite des Blicks und aus einer daraus erfließenden Heiterkeit

gesehen wird. Die Klippe für das Lustspiel ist die Tatsache,

daß gerade solche weltüberblickende Heiterkeit leicht die

Urgespaltenheit der Welt zu überwinden vermag, daß von

der hohen Warte aus die Kämpfe und Spannungen der irdischen

Welt ihr Bedrängendes verlieren, daß wir sie als klein

und schon beinahe liebenswürdig, zumindest als verzeihlich

belächeln. So schreitet das Lustspiel auf scharfem Grat zwischen

der Komödie oder der epischen Sicht. Wohl deshalb

gibt es so wenige große Lustspiele bei der großen Zahl

meisterhafter Komödien. Denn der Dichter eines Lustspiels

muß das Dramatische mit dem Humor und dem Heiteren

verbinden. Man möchte sagen: nur in ganz begnadeten

Augenblicken kann das gelingen.



Deutlich lassen sich stimmungsmäßig zwei Arten von Lustspielen

unterscheiden: das eine ist das derb-vitale. Es ist ein

Spiel aus überschäumender Lebensfreude, die noch vor tragischen

Lebenserfahrungen liegen mag, aber auch nach solchen

wieder errungen sein kann. Solche zweite Möglichkeit ist

gewichtiger, tiefer, welterhellender. Shakespeares Lustspiele

sind Meisterwerke dieser Art. Daß sie vielfach durch das

Tragische durchgegangen sind, zeigt der »Kaufmann von |#f0665 : 649|



Venedig«. Für eine Komödie trägt Shylock zu ernste, ja oft

ergreifende Züge, in seiner Entlarvung steckt mehr Erschütterung

als Befreiung, nur die Rettung Antonios wirkt entgegen.

Das Unglück Antonios mit seinen Schiffen, das furchtbare

Hineingeraten in die Todesbedrohtheit aus Freundestreue

nähern das Stück auch der Tragödie. Über allem aber

schwebt in unbeschwerter Heiterkeit Bassanios Liebe zu

Porzia, auch sie emporgewachsen aus drohenden Prüfungen.

Noch im letzten Augenblick wird es bedrohlich. Aber im

Ganzen erringt der Vorgang doch eine alle Verwirrung überwindende

Heiterkeit und Unbeschwertheit.



Die andere Lustspielart ist die heiter schwebende. Drei

Meisterwerke dieser Art sind Lessings »Minna von Barnhelm«,

Grillparzers »Weh dem, der lügt!« und Hofmannsthals »Der

Schwierige«.



In allen dreien können wir komische Züge deutlich erkennen:

die Szenen mit Just und dem Wirt, die mit Galomir und

die Gesellschaftskarikatur, die sich in Hofmannsthals Spiel

bemerkbar macht. Auch der Ernst dringt in allen dreien

stark vor: Beinahe verliert Minna ihren Tellheim, Leon droht

in der höchsten Not sogar Gott: »Halt mir dein heilig Wort!

Weh dem, der lügt!« Auch Kari scheint am Ende beinahe leer

auszugehen. Aber alle Spannungen und Gefahren werden

überwunden. Der Dichter vermag es, von hoher Warte alles

ins Rechte zu rücken und alles in überwindender Heiterkeit zu

sehen. In allen drei Stücken verdichtet sich diese errungene

Heiterkeit in unvergeßliche sprachliche Bilder am Ende. Nach

allem Wirbel und aller peinigenden Spannung bleibt am

Schluß der »Minna« das Dienerpaar auf der Bühne und gewinnt

sein schönstes Menschenglück: »Herr Wachtmeister ─

braucht er keine Frau Wachtmeisterin?« Bischof Gregor hat

seine strengen Forderungen an die Wahrheit nicht aufgegeben,

aber sie gelten nicht für diese irdische Welt, hier muß

man schon froh sein, wenn alles zum Guten gedeiht:



Das Unkraut, merk ich, rottet man nicht aus,

Glück auf, wächst nur der Weizen etwa drüber.


Kari Bühl hat endlich doch sein Glück gefunden, weil der

prächtige innere Kern seines Wesens alle Hülle der Ungeschicklichkeit, |#f0666 : 650|



ja gesellschaftlichen Untüchtigkeit durchbrochen

hat. Aber er bleibt immer noch der Verhaltene, Verlegene.

Als er endlich seine Verlobung bekennen muß, sagt er

»mit großer gêne«, »Gratulier Sie mir« und dann: »Aber tret Sie

dann gleich weg und misch Sie's nicht in die Konversation. Sie

hat sich ─ ich hab mich ─ wir haben uns miteinander verlobt.«



Dabei ist es auch dem Lustspiel möglich, die Tiefe der

Weltschau zu erringen. Das ist am stärksten spürbar in Grillparzers

Werk. Denn das Schlußbild, das Bischof Gregor

spricht, ist so ergreifend groß, daß es zunächst alles Lustspielartige

zudeckt. Nur dadurch, daß er eben aus solcher Schau

ohne Gram und heiter auf diese irdische Welt blicken kann,

bleibt die Heiterkeit erhalten. Sie erklingt deutlich in den

eben zitierten Worten und bricht nochmals durch ganz am

Ende, als es heißt: »Und diese da ─ sie mögen sich vertragen«,

womit wieder ein Liebesglück gestiftet ist. Aber es verliert

alles Derbe oder Spaßige unter dem nachwirkenden Eindruck

der Worte:



Ich weiß ein Land, das aller Wahrheit Thron,

Wo selbst die Lüge nur ein buntes Kleid,

Das schaffend er genannt: Vergänglichkeit,

Und das er umhing dem Geschlecht der Sünden,

Daß ihre Augen nicht am Strahl erblinden.



Diese Verse rücken das Lustspiel Grillparzers nahe an eine

letzte bedeutende Art des Dramas heran: an das Schauspiel. Auch

dieser Begriff ist zumindest in der nichtdeutschen modernen

Poetik nicht allgemein üblich. Äußerlich sind wir schon dadurch

gezwungen, ihn einzuführen, daß wir nur solche Werke

als Tragödien bezeichnet haben, die auch in ihrem Schluß

tragisch sind, ja dort erst recht, mag auch die Tragik verhüllt

sein wie in Goethes »Tasso«. Wieder bieten sich drei große

Beispiele an: Goethes »Iphigenie«, Schillers »Wilhelm Tell«

und Kleists »Prinz von Homburg«. Tatsächlich wird Goethes

Werk manchmal, und nicht bloß von der klassischen französischen

Poetik her, als Tragödie bezeichnet, und »Tell« wird

in einer neueren Ästhetik als heroische Komödie etikettiert.

Auch die drei letzten Spiele Shakespeares reihen sich hier ein,

denn mit den anderen Artbezeichnungen kommen wir ihnen |#f0667 : 651|



gegenüber nicht aus. Ablösen davon wollen wir aber die

Tragikomödien und die Stücke, die Victor Hugo als »drames«

bezeichnet. Denn in den Tragikomödien prallt das rein

Komische und das rein Tragische in eigenartiger Weise zusammen,

während in den angegebenen Beispielen das Komische

völlig fehlt, ja sogar das Heitere stark zurücktritt. Das

Schauspiel ist also auch kein Mischspiel, sondern seine eigene

Art.



Das Wesen ist die Grundhaltung des Ernstes. Wir haben bei

der Betrachtung der menschlich-dichterischen Weltauffassung

die zwei Grundstimmungen des Ernstes und der Heiterkeit

unterschieden. Der Ernst ist bestimmend für diese Dramenart.

Ja noch mehr: sie zeigt deutliche Zusammenhänge mit der

Tragödie. Tragische Situationenen stehen an entscheidenden

Stellen des dramatischen Vorgangs. In Goethes »Iphigenie«

droht reine Tragik sogar mehrmals durchzubrechen: im

Wahnsinn Orests, vor allem aber am Ende des vierten Aufzugs.

Da ist Iphigenie in eine Lage gestellt, wo jede Entscheidung

Katastrophe sein kann: durch Wahrheit Brudermord zu

begehen, durch Lüge ihr eigenes Innere zu zerstören. Im Ausruf

»Rettet mich und rettet euer Bild in meiner Seele« sind wir

hart an der Tragödie. Hier durchschreiten wir mit Iphigenie

eine tiefe Erschütterung, weil jeder Daseinsgrund eines sittlichen

Menschen zu versinken droht. In Schillers »Tell« ist

mit dem Ende der Apfelschußszene ein solcher Stand erreicht:

alle Taten, Beschlüsse, Opfer sind umsonst: Tell und die

ganze Gemeinschaft scheinen verloren. In den Worten des

Schiffers am Anfang des vierten Aufzugs kommt das zu erschütterndem

Ausdruck. Der Prinz von Homburg fühlt sich

im Augenblick, als er an den Ernst des Kurfürsten, ihn hinzurichten,

glauben muß, vernichtet, er hat jede Daseinssicherung

verloren, ein Abgrund gähnt vor ihm. Er hat sich dabei

selbst verloren, wie auch Natalie dem Kurfürsten sagt. Der

Prinz von Homburg ist in diesem Augenblick an dem Punkt,

an dem die Penthesileatragödie zu Ende ist: Das einmalige Sein

eines Menschen ist in unheilbaren Widerspruch mit der Welt

um ihn geraten, damit fühlt er seine Daseinsgrundlagen zerstört

und stürzt ins Nichts.

|#f0668 : 652|



Von hier aus aber ist nun der entscheidende Unterschied

zwischen Tragödie und Schauspiel deutlich: die Tragik wird

im Schauspiel durchschritten, eindeutig überwunden; es

bleibt nicht beim Durchhalten der Tragik. Iphigenie wagt

die sittliche Entscheidung und heilt gerade dadurch alle

Widersprüchlichkeit. Für diesen Fall ist die Möglichkeit

einer geheilten Welt nach dem Durchschreiten von tiefsten

Erschütterungen Wirklichkeit geworden. Die innere Erhebung

ist groß, aber sie steht auf dem Boden des Furchtbaren,

das zu durchschreiten war. Der Ernst bleibt dadurch gewahrt.

Tell und die Schweizer vermögen sich ─ durchs Schicksal

mannigfach begünstigt ─ die Freiheit doch zu erringen. In

dieser Schicksalsgunst liegt ein Symbol für den naturrechtlichen

Anspruch eines Volkes, seiner Art gemäß zu leben.

Homburg gewinnt, indem er in die Lage versetzt wird,

selber über sein Schicksal entscheiden zu dürfen, wieder Boden

unter den Füßen und damit ein neues, positives Verhältnis

zur Welt, ohne seine innere Selbstbestimmung aufgeben zu

müssen. In allen drei Werken wird also die Urgegensätzlichkeit

der Weltstruktur überwunden, nicht durch die Wirklichkeit,

sondern durch die innere Kraft des Menschen, im sittlichen

Ringen und Vollbringen. Als Tatsache bleibt die Urgespaltenheit

bestehen, aber in der Kraft und Möglichkeit des

Menschen ruht es, sie für den Menschen zu überwinden.

Doch die Bedrohung bleibt; das hat der Durchgang durchs

Tragische unheimlich nahegebracht. Daher der Ernst, der

eben doch auch das Schauspiel durchklingt. Aber die Erlebnislage

am Schlusse eines Schauspiels ist so grundsätzlich von der

der Tragödie verschieden, daß die Abhebung des Schauspiels

als eigene Art berechtigt ist.

|#f0669 : E653|



FÜNFTER TEIL

DIE DICHTUNG IN DER

GESCHICHTLICHEN WIRKLICHKEIT
|#f0670 : E654|



In ihrem Wesen als Kunstwerk ist die Dichtung ein Gebilde,

das über das Einmalige der geschichtlichen Lage ins Übergeschichtliche,

Dauernde, Absolute hineinragt. Aber das ist,

obwohl sehr grundlegend, doch nur eine Seite am Dasein

der Dichtung. Es wäre also einseitig, wollte man nur von

diesem dauernden Wesen her die Dichtung betrachten. Wir

würden so nicht ihr ganzes Dasein in den Blick bekommen.

Denn tatsächlich ─ und wir haben es im Lauf unserer Betrachtungen

schon öfter erwähnen müssen ─ ist jede Dichtung zugleich

im geschichtlichen Ablauf eingefügt. Jede Dichtung ist

ein Stück geschichtlicher Wirklichkeit, und es ist zu erwarten,

daß wir durch eine Betrachtung dieser Zusammenhänge neue

Einsichten in die Dichtung im allgemeinen gewinnen werden.

Denn was jeder einzelnen Dichtung als Merkmal zukommt,

offenbart zugleich einen Zug an der Dichtung überhaupt.

Aber es handelt sich nun nicht um literaturgeschichtliche

Zusammenhänge. Wir betrachten nur die allgemeinen

Grundzüge, die der Dichtung als geschichtlicher Wirklichkeit

zukommen. Diese Grundzüge sind allerdings für die Literaturgeschichte

sehr wichtig, denn sie geben den wissenschaftstheoretischen

Untergrund für alle literaturgeschichtliche Arbeit

und Darstellung. Eine solche zusammenhängende Darstellung

dieser Sicht auf die Dichtung kann aber hier nur in

den Grundzügen gegeben werden. Es werden oft mehr Andeutungen

und Beispiele als systematische Auseinanderfaltung

sein. Es ergeben sich in diesem Zusammenhang am besten

drei Fragenkreise: 1. Wie die Dichtung durch die Tatsache

bedingt ist, daß sie je in einer bestimmten geschichtlichen

Lage steht. 2. Die Fragen um die Tatsache, daß jede Dichtung

in mannigfaltigster Weise ein Gebrauchsgut im Leben

der Menschen ist. 3. Die mannigfachen Probleme um die

Wirkung der Dichtung.

|#f0671 : E655|



I

DIE DICHTUNG IM RAHMEN

DER GESCHICHTLICHEN LAGE


Grundsätzliches



Jede Dichtung ist in zweifacher Weise mit der geschichtlichen

Lage, aus der sie kommt, verbunden. Sie erwächst dadurch,

daß ein Mensch sie schafft, gleichsam aus dem Muttergrund

einer geschichtlichen Situation. Denn der Mensch ist ja

in der mannigfachsten Weise selbst an Raum, Gemeinschaften

und Zeit gebunden. Diese Kräfte wirken auf seine tiefsten

Schichten, aus denen das Kunstwerk emporsteigt, auch ein. So

ist in gewissem Sinne jede Dichtung geschichtlich gewirkt. Zugleich

aber kann jede Dichtung grundsätzlich in diese geschichtliche

Lage hineinwirken. Das muß nicht immer eine

rein künstlerische Wirkung sein. In den Frühzeiten menschlicher

Gemeinschaften war es wohl meist eine magischreligiöse,

denn durch sie wird dem Menschen eine »Hinterwelt«

vermittelt. Von solchen Hinterwelten aus erleben wir

ja auch die Fülle sinnlicher Gegebenheiten um uns. Vater,

Mutter, Liebespartner, Herrscher, Polizei, Gesetze usw. sind

nicht bloß sinnliche Gegebenheiten einer Wirklichkeit, sondern

werden von uns, wenn wir ihnen begegnen, tiefer gedeutet,

als Sinn- oder Machtträger mannigfachster Weise.

Genau so sind auch zunächst die Wirkungen der Kunstwerke.

Auch sie deutet der Mensch aus dem Hintergrund her. So

könnte man die erste Wirkung der Kunst als magische Vergegenwärtigung

bezeichnen. Erst später, auf weiter entwickelter

Kulturstufe, kommt es dann langsam zum reinen ästhetischen

Erleben der Kunstwerke. Beide Arten, den Kunstwerken

zu begegnen, bedeuten aber, daß Kunstwerke auf

Menschen und damit in geschichtliche Situationen hinein

wirken.

|#f0672 : 656|



Dadurch aber, daß Dichtung in doppelter Weise an die geschichtliche

Wirklichkeit gebunden ist, ist sie selbst zugleich

ein Stück Endlichkeit. Als ein konkretes Stück Wirklichkeit,

das in rein materiellen Dingen (Handschriften, Buch) aufgehoben

ist, ist Dichtung bis zu einem gewissen Grade auch in

ihrem Bau, in ihrer Form geschichtlich bedingt. Ohne diese

Zusammenhänge kann man Dichtung in ihrer Gesamtheit gar

nicht voll erfassen. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen

ergibt sich, daß Dichtung realgeschichtlich und soziologisch

gegründet ist, und zwar nicht nur jede einzelne Dichtung,

sondern die Dichtung als solche, sie als bestimmte Wesenheit.

Diese reale und soziologische Fundierung wirkt sich auf die

Gehalte und die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der

Dichtung in gleicher Weise aus.



Der Mensch als Schöpfer



Wir haben schon bei der Betrachtung der menschlichen

Züge jeder Dichtung die Bedeutung des Dichters auch für das

bestimmte Sosein einer Dichtung herausgehoben. Züge des

menschlichen Schöpfers werden sich in jeder Dichtung zeigen,

auch wenn der Dichter sich noch so bemüht, die Dichtung als

Gebilde aus sich hinauszustellen. Sie bleibt ein menschliches

Werk. Und dadurch ist sie geschichtsgebunden. Denn auch

der Dichter ist als Mensch mannigfach in die ganze verwickelte

Gesellschaftsstruktur verflochten. Auch wenn er sich dagegen

sträuben sollte, wenn er sich als Künstler von der Gesellschaft

vollkommen loslösen möchte: es gelingt ihm nicht. Das ist

Glück und Tragik zugleich, Notwendigkeit und Verhängnis.

In Goethes »Tasso« sind diese Bezüge künstlerische Gestalt

geworden. Aber im Schaffen der Dichtungen faltet sich diese

grundsätzliche und allgemeine geschichtliche Gebundenheit

des Schöpfers in zwei Möglichkeiten auseinander, die gerade

zwei Dichtertypen hervorrufen. Eine Gruppe von Dichtern

fühlt sich bewußt in diese Gemeinschaft hineingebunden.

Das kann individuell verschieden sein, aber auch zeitlich bedingt.

Die Dichter früherer Zeiten, besonders solcher mit |#f0673 : 657|



deutlich ausgeprägter Gemeinschaftskultur, stehen im engsten

Wechselverkehr mit ihrem Publikum. Dem Dichter des

Mittelalters, aber auch dem höfischen Barockdichter, ist

Dichten kein monologisches Bekenntnis. Sein Lied, sein Epos,

sein Drama setzt das Publikum voraus. Der Ritterdichter und

der Barockdichter, um nur zwei sehr deutliche Beispiele anzuführen,

erfüllen in ihrem Dichten, durch ihre Dichtung eine

gesellschaftliche Funktion. Das gilt in anderer Weise für den

einer politischen Partei verschworenen Dichter genau so.

Weil diese Gebundenheit an politische Richtungen gerade in

unserem Jahrhundert in verschiedener Weise sehr stark wurde,

kommt der Dichter menschlich oft in die schwierigsten Lagen.

Vor allem aber schafft er sich dadurch für seine Dichtung

ein ganz bestimmtes Publikum und schließt damit andere

Schichten aus. Ein großer Teil der modernen Dichter kann

aus dieser Bedingtheit gar nicht mehr zu den Menschen überhaupt

sprechen. Auch künstlerisch bedeutet diese Bindung,

die der Dichter bewußt auf sich nimmt, eine bestimmte Ausrichtung.

Der Minnedichter des Mittelalters, der barocke Gesellschaftsdichter

ist an die von der Gesellschaft sanktionierten

und vielfach von Gesellschaften aufgestellten Regeln gebunden.

Man denke auch an die strengen Gesetze der Meistersänger

und ihre Tabulatur. Diese Bindung erstreckt sich nicht bloß

auf Motive, sondern auf den Strophenbau, auf das Versmaß,

auf die Stilebenen der sprachlichen Bilder. Daß damit nichts

über den Rang einer solchen Dichtung ausgesagt sein muß,

zeigen die großen Dichter in der Ritterzeit, zeigen aber vor

allem die Tragödien Racines, die innerhalb solcher gesellschaftlich

bedingten Gebundenheit an die Gesetze der Poetik

höchste dichterische Vollkommenheit erlangt haben. Neben

diesen Dichtern gibt es einen zweiten Typus, der diese gesellschaftliche

Abhängigkeit im dichterischen Schaffen weitgehend

ausschalten will. Es sind das Dichter, die rein aus dem

inneren Erlebnis heraus dichten, deren Dichten dadurch geradezu

etwas Bekennendes erhält. Seit dem Sturm und Drang ist

diese gesellschaftlich gelockerte Art der Erlebnisdichtung

stark in den Vordergrund getreten. Hier sind die geschichtlichen

Bindungen nicht mehr so deutlich, aber immer noch da.

|#f0674 : 658|



Gesellschaft und Zeit in ihrem Verhältnis zur Dichtung



Die Gruppenbildung der Menschen wird im Lauf der geschichtlichen

Entwicklung immer verwickelter. Damit wird

der einzelne Mensch in ein immer unübersehbareres Geflecht

gesellschaftlicher Gebilde hineingestellt. Und viele dieser

Gruppen sind dann auch für die kulturellen Leistungen in

irgendeiner Weise maßgebend. Da sind einmal die Lebensgemeinschaften

von der Familie über die Sippe, das Dorf und

den Stamm bis zum Volk, die in gewissen Zusammenhängen

und Räumen auch heute noch kulturell sehr maßgebend sind.

Daneben treten Bildungsgemeinschaften und die einzelnen

Stände. Schon aus der Geschichte wissen wir, welche Bedeutung

der Ritter, der Geistliche, der Bürger, der Gelehrte, der

Hofmann für die Literatur hatten. Daneben treten dann die

Spannungen zwischen Aristokratie und Bourgeoisie, heute die

zwischen Arbeitern und Bürgerlichen. Dazu kommen die

Religionsgemeinschaften und auch übernationale Gebilde;

solche waren der Ritterstand, der Hofmann, der Gelehrte.

Diese mannigfachen Bindungen sind aber noch zeitlichen

Wandlungen unterworfen. Alle die erwähnten Gruppen

bleiben sich nicht gleich; die zeitlichen Entwicklungen müssen

also auch berücksichtigt werden. Dazu kommt noch das

Generationenproblem. Man weiß, daß sich Generationen ablösen,

daß mit den neuen Generationen neue Ideale und

Weltbilder, neue künstlerische Anschauungen auftreten. Zugleich

aber überschichten sich die Generationen, sie wirken

sich in verschiedenen Kulturbereichen anders und zu anderen

Zeiten aus.



Die geschichtlichen Zusammenhänge, in denen die Dichtung

wie alle Kunst steht, zeigen sich auch in solchen Beziehungen

der Künste untereinander, die sich nicht aus deren

Wesen ergeben, sondern geschichtlich einmalige Begegnungen

darstellen. Sie sagen auch kaum etwas über das Wesen der

Künste aus, eher über die Zeit. Dabei muß zwischen Gleichzeitigkeit

und Gleichstufigkeit unterschieden werden. Das

eine betrifft künstlerische Schöpfungen und gemeinsame |#f0675 : 659|



Eigenarten innerhalb mehrerer Künste zur gleichen Zeit, das

andere Ähnlichkeiten zwischen künstlerischen Schöpfungen,

die aus gleicher Entwicklungslage der einzelnen Künste

hervorgehen. Dabei müssen sich Gleichzeitigkeit und Gleichstufigkeit

zeitlich nicht decken. Ursachen solcher Zusammenhänge

können sein: die Übermacht einer Kunst über andere,

Anregungen durch das Erlebnis eines Kunstwerks, gemeinsame

Stoffe. Maßgebend ist aber der gemeinsame Nährboden. Man

könnte von einem Kräfteparallelogramm aus Zeitgeist und

Volksgeist sprechen (Wais). Also auch hier wird die geschichtliche

Bedingtheit der Künste, auch der Dichtung, deutlich.



Die menschlichen Gruppen von den ursprünglichsten

Lebensgemeinschaften bis zu den zweckgebundensten Gesellschaften

sind also in mannigfacher Hinsicht bedeutsam für

die Dichtung. Wenn diese Sichten hier angedeutet werden,

so müssen immer zugleich die zeitlichen Lagen mitgedacht

werden: die Volksgemeinschaft wirkt nicht immer mit der

gleichen Stärke im Bereich der Dichtung, ebensowenig einzelne

Stände oder Gesellschaftsklassen. Und die strukturelle

Verflechtung in der Wirksamkeit der einzelnen Gruppenformen,

welche überhaupt zusammenwirken, welche fehlen,

welche den Ton angeben, wechselt auch wieder in den verschiedenen

geschichtlichen Lagen.



Die einzelnen menschlichen Gruppen sind jede für sich eine

Einheit aus Weltbild, Wertung und Bildungsstand: im

16. Jahrhundert etwa unterscheidet sich das Weltbild der

Geistlichen, der Bürger und der Gelehrten vielfach stark.

Deshalb stehen sie den einzelnen Kulturgegebenheiten auch

wertend anders gegenüber. Der Unterschied des Bildungsstandes

ergibt sich ohne weiteres. Aber auch in zeitlicher Folge:

das bürgerliche Weltbild des 19. Jahrhunderts hat mit dem des

15. Jahrhunderts nichts mehr zu tun, die Zeit des Naturalismus

wertete Dichtungen ganz anders als der Hofmann des

Barock, und der Bildungsstand der Gelehrten des Humanismus

unterscheidet sich grundlegend von dem der Naturwissenschaftler

von heute. Alle diese Tatsachen sind für die

Dichtung maßgebend. Diese zeitlich bestimmten Gruppen

bilden die weltanschauliche und wertungsmäßige Grundlage |#f0676 : 660|



und das Medium für die Dichtung, die aus ihnen hervorgeht.

Das Weltbild in den Schwänken des Hans Sachs ist verschieden

von dem im Humanistendrama, aber ebenso verschieden

von der bürgerlichen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Der

aristokratisch gebundene Börries von Münchhausen gestaltet

in seinen Balladen ein anderes Weltbild als die Aristokraten des

17. Jahrhunderts in ihren Romanen. Das wirkt bis in die Art

der Überlieferung der Dichtung. Ob Dichtung mündlich

oder schriftlich weitergegeben wird, ist für den Gehalt nicht

unwesentlich. Zugleich liegen nicht immer dieselben gesellschaftlichen

Ursachen vor. Die mündlich überlieferte Dichtung

der alten Germanen war reine Adelsdichtung, die Bauerndichtung

der Sagas war bereits aufgeschrieben. Hier ist die

Einwirkung des antik-christlichen Kulturbereichs maßgebend.

Später wird die Adelsdichtung aufgeschrieben, nicht dagegen

so ausschließlich die der Fahrenden und Volkslieder. Bei diesen

engen Zusammenhängen werden sich auch Gesellschaftsumbildungen

und besonders -umbrüche in der Dichtung

deutlich bemerkbar machen. Man denke an die gesellschaftlichen

Wandlungen in den Großstädten des späten 19. Jahrhunderts

und ihre Auswirkungen auf den dichterischen Gehalt.





Ebenso sind alle diese gesellschaftlichen Verhältnisse und

Wandlungen für die künstlerische Gestalt der Dichtung

wichtig. Jede Gesellschaftsklasse bildet ihre eigenen Kunstansichten

aus. Wie verschieden sind die Kunstanschauungen

der Höflinge und der Bürger im 17. Jahrhundert trotz aller

Einflüsse auf diese, und wie sehr hat sich die Einstellung zur

Kunst in der Bürgerwelt vom 18. ins 19. Jahrhundert gewandelt.

Daraus bildet sich jeweils ein bestimmter Geschmack.

Darunter wollen wir die Tatsache verstehen, daß die innerste,

gefühlsmäßige Einstellung zur Kunst unter Leitung des Verstandes

eine gewisse normierte Form annimmt. Wie diese

Einstellungen die künstlerische Form, den Stil bestimmen,

zeigt uns die Ritterdichtung, die französische Klassik, aber

auch der Naturalismus und jetzt der Realismus in Rußland.

Auch die Symbolsprache ist von daher bestimmt: einerseits

dadurch, welche Bilder aus welchen Bereichen Symbolwert |#f0677 : 661|



erhalten, andererseits wie sich oft bestimmte Bilder in ihrem

Symbolwert ändern. Die Wandlungen des Weltbildes und

der Menschenauffassung in der Goethezeit gegenüber der

Aufklärung böten Beispiele. Man kann sich ohne weiteres

denken, wie Bilder vom Gold, vom Schaffen und Zeugen

mit wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen

ihren Stimmungsgehalt ändern können, damit auch

als Symbole in der Dichtung sich verschieben. Hier spielt

nun auch das Problem der Tradition eine Rolle; denn auch

in dieser Hinsicht sind die Zeiten und Gruppen verschieden.

Man kann mit einiger Vorsicht sagen, daß in Österreich die

Tradition eine größere Rolle spielt als etwa in der norddeutschen

Großstadtdichtung; das erkennt man schon daran, daß

die literarischen Moden um die Wende zum 20. Jahrhundert

in Wien nie diese Ausschließlichkeit zeigten wie anderswo.

Aristokraten sind traditionsgebundener als Arbeiter. Und

wenn man heute beobachtet, daß die menschliche Gesellschaft

die abendländische Tradition vielfach aufgibt, so wirkt

sich das auf die Umgestaltung der Kunstform aus. Aber freilich

ist dabei im Hinblick auf die Dichtung etwas sehr Wichtiges

zu beachten. Dichtung ist Kunst in der Sprache. Nun ist

aber gerade die Sprache ein ganz bedeutender Traditionsträger.

Dadurch, daß Wortbedeutungen und Satzformen usw. von

Generation zu Generation fortbestehen, sich nur wenig und

allmählich ändern, ist eine Kontinuität des Weltbildes, der

Denkweise gegeben. Man kann mit der Sprache als einer

Sinngestaltung nicht beliebig umgehen wie mit toter Materie.

In der Sprachgebundenheit ist der Dichtung Traditionsgebundenheit

mitgegeben. Versuche, aus dieser Richtung auszubrechen,

bedeuten immer zugleich: gewaltsame Änderung

der Sprachstruktur bis zur Umbiegung ins Sinnentleerte,

daher besondere Radikalität und damit Gefahr der Entgleisung

ins Außerkünstlerische. Gelingen aber solche Umbildungen,

wie teilweise im Sturm und Drang, im Naturalismus,

auch im Expressionismus und im Surrealismus bis zu

einem gewissen Grade, so bedeutet das Bereicherung und

Neugewinn.



Die Bindung der Dichter und der Dichtungen an die gesellschaftlichen |#f0678 : 662|



und geschichtlichen Zusammenhänge ist nicht

bloß für das Weltbild in den Dichtungen, für die künstlerischen

Gestaltungen und die Kunstgesetze wichtig. Solche

Bindungen führen auch zu dichterischer Produktion. Man

macht sich nicht immer ganz klar, wie stark diese durch Aufträge,

Anregungen, ja sogar durch Befehle von der Gesellschaft

und ihren Trägern her bestimmt ist. Je mehr die Kunst

an bestimmte Gesellschaftsschichten, Bildungsgruppen oder

politische Machtgruppen gebunden ist, desto deutlicher wird

das der Fall sein. Das braucht auf den Wert der Dichtung

oder eines anderen Kunstwerks keinen Einfluß zu haben. Wir

denken an den »Heliand«, an die »Aeneis«, an Raffael und

Michelangelo, an vieles von Bach, Mozart und Beethoven

und einen Großteil der gesamteuropäischen Barockdichtung.



Dem allen gegenüber muß nun allerdings eines mit stärkster

Betonung herausgestellt werden: entscheidend für das

Kunstwerk als solches ist immer, was der Dichter aus all den

Bindungen, Zwängen und Aufträgen macht, wie er das, was

sie ihm geben oder aufdrängen, zum echten Kunstwerk

formt. Es ist »zu bedenken, daß ein Einfluß an sich noch nichts

erklärt, daß immer die Frage noch offen bleibt, was aus dem

Einfluß geworden ist, ob sich sein Sinn erhalten, verändert

oder ins Gegenteil verkehrt hat. Darüber gibt uns nur der

Text des Dichters zuverlässige Auskunft« (Staiger). Diese

Feststellung betrifft schon unmittelbar den Gehalt und die

künstlerische Form der Dichtung. Nicht welche Topoi ein

Dichter verwendet, welche Strophenformen er benützt,

welche Motive vorkommen und welchen Philosophen er zu

Rate gezogen hat, ist für das Erfassen des Kunstwerks in

seiner Einmaligkeit entscheidend, sondern wie er das alles in

ein echtes und in sich geschlossenes Kunstwerk eingeschmolzen

hat. Die Literaturgeschichte allerdings hat auch nach dem

Woher zu fragen. Die Poetik stellt bloß fest, daß es solche

Woher in Fülle gibt und betont damit eben die geschichtliche

Gebundenheit der Dichtung. Die Frage, was der Dichter

daraus gemacht hat, gilt aber weiter vor allem der Verwesentlichung.

Der echte Dichter schmilzt nicht nur alle Anregungen

und Formen in ein neues Ganzes ein, sondern er |#f0679 : 663|



macht sie im Rahmen dieses Ganzen zu neuen, echten ästhetischen

Gebilden, indem er sie durchsichtig werden läßt für

Tieferes, für die Hintergründe: in ihnen enthüllt sich uns

das Wesentliche, die Wahrheit. So kann der Dichter Zeitgebundenes

des allzu Einmaligen entkleiden und damit zum

Bild von Wesenhaftem machen. Er bewahrt aber das Zeitbedingte

zugleich in einem höheren Sinn auf, macht es

menschlich fruchtbar für spätere Zeiten.



Damit stoßen wir wieder auf die Frage der Wertung. Gewiß

bemüht sich jede tiefere Wertung, das Absolute herauszustellen.

In der allgemeinen Angabe, der Wert der Dichtung

werde durch das bestimmt, was der Dichter aus dem ihm

Zufließenden macht, ob es ihm gelingt, daraus das reine,

schlackenlose, erhellende Kunstwerk zu formen, sind sich

alle Einsichtigen einig, man kann diesem Satz allgemeine

Gültigkeit zusprechen. Trotzdem stoßen wir auch hier auf

menschliche Grenzen. Sie bestehen darin, daß wir immer nur

aus unserer geschichtlichen Bedingtheit heraus werten können.

Wir haben immer gefärbte Brillen auf, das ist die geschichtliche

Welt, die auch in uns sich auswirkt. Denn worin

das besteht, was der Dichter aus dem ihm Zufließenden gemacht

hat, werden verschiedene Zeiten und auch Räume

anders beurteilen. Es ist kaum dasselbe, worin die Menschen

des Mittelalters das Wesentliche in Gottfrieds »Tristan« gesehen

haben und worin wir es sehen. Das gilt auch für die formalen

Bestimmungen, eine Dichtung müsse schön und echt

usw. sein. Denn auch diese Wortgehalte ändern sich. Daraus

ergibt sich: 1. Dichtungen werden immer nur aus Zeitlagen

heraus gewertet. Aber je mehr sie in jeder solchen zeitgebundenen

Wertung als hohe Werke bestehen, indem sie also

von jeder Sicht her bestehen, desto mehr nähern wir uns in

zusammenfassender Schau dem wahren Wert und Wesen

eines solchen Werks und desto eindeutiger ersteht sein Ewigkeitswert.

2. Man kann die Fähigkeit schulen, in das Wesen

und den Wert von Kunstwerken einzudringen und damit

dieses Wesen und diesen Wert zu erfassen. 3. Aus diesen

Grenzen ergibt sich auch eine wissenschaftliche Möglichkeit:

man kann erforschen und erkennen, wie andere Zeiten und |#f0680 : 664|



Menschen eine Dichtung gewertet haben. Man kann darstellen,

wie ein »Parzival« und eine »Ilias«, ein »Ödipus«, ein

»Hamlet« und ein »Faust« im Laufe der Zeiten beurteilt und

gewertet wurden, welche Maßstäbe die Menschen dafür

verwendet haben, und welche Menschen diese Werturteile

abgegeben haben. Solche Erkenntnisse verschaffen uns wertvolle

Einsichten in das geschichtliche Leben von Kunstwerken.

Die allgemeinen Einsichten, die sich daraus ergeben,

ergänzen wieder unser Bild von der Dichtung überhaupt.



II

DIE DICHTUNG ALS GEBRAUCHSGUT



Von der entwickelten Lage der heutigen Kulturmenschheit

aus, wo sich also im Zusammenhang mit den differenzierten

Wertungseinstellungen und Leistungsgruppen im Rahmen

der Gesamtkultur die einzelnen Kulturgebiete verhältnismäßig

selbständig ausgebildet haben, kann man sagen, daß

der Dichtung gegenüber die ästhetische Einstellung, wie wir

sie gefaßt haben, die richtige, adäquate, sachgemäße ist. Damit

ist keinem leeren Ästhetizismus das Wort geredet, weil

ja im ästhetischen Gebilde der Dichtung andere Werte eingefügt

sind, so daß, um die Dichtung in ihrer ganzen Fülle

zu erleben, auch Aufgeschlossenheit gegenüber den anderen

Wertgebieten nötig ist. Wir haben schon einmal gesagt:

je reicher in seiner inneren Struktur und je wesenhafter ein

Mensch ist, desto eher wird er Dichtung in ihrem Reichtum

und in ihrer Tiefe fassen können. Aber diese ästhetische Einstellung

mit Einfügung anderer Wertrichtungen ist nicht die

einzige Einstellung zur Dichtung. Und man muß etwas vorsichtig

sein mit der Feststellung, alle anderen denkbaren Einstellungen

seien falsch, unsachgemäß. Denn gerade in Frühstufen

einer Kultur, wo sich die einzelnen Wert- und Leistungsgebiete

noch nicht ausdifferenziert haben, kann man

auch kaum noch von einer ausgesprochen ästhetischen Einstellung |#f0681 : 665|



reden. Natürlich waren die Züge, die wir heute als

wesentlich ästhetisch ansehen, auch im damaligen Erleben der

Dichtung, der Kunst überhaupt vorhanden, aber weder deutlich

bewußt noch für sich herausgeformt, sondern eingebaut

in umfassendere Haltungen, aus denen sich dann eben

erst mit dem Weiterschreiten der Entwicklung die späteren

Sonderhaltungen ausformten. Wir haben gerade früher erwähnt,

daß damals die Dichtung vorallem in magischen und

rituellen Zusammenhängen erfahren wurde, daß sie magische

Welterhellung gab. Sie war durchaus eingefügt in bestimmte

Gelegenheiten und Veranstaltungen des Gemeinschaftslebens,

sie hatte innerhalb dieser eine Aufgabe zu erfüllen.

Wir können sie damit schon als Gebrauchsgut bezeichnen.

Diese magisch-rituelle Funktion der Dichtung ist

heute stark zurückgetreten ─ natürlich bei fortgeschrittenen

Kulturvölkern ─, und nur mehr in verschlungenen Zusammenhängen

ist diese Aufgabe noch spürbar. Aber es gibt gerade

heute viele Möglichkeiten, sich zur Dichtung zu verhalten,

die alle nicht mehr mit der sachgemäßen übereinstimmen.

Das beginnt ja schon beim Theoretiker, beim Forscher, dem

Dichtung wissenschaftliches Untersuchungsobjekt ist. Aber

immer freilich wäre es wünschenswert, daß überall dort, wo

zu Dichtung aus irgendeinem Grunde Stellung genommen

wird, die rein ästhetische Schau, das tiefe ästhetische Erlebnis

Ausgangspunkt und Untergrund bildet. Denn nur aus dieser

Haltung her kann die Dichtung in ihrer vollen Kraft wirken ─

auch in anderen Gebrauchsweisen. Diese dürfen aber bei

einem vollen Bild der Dichtung, das wir hier anstreben, nicht

vernachlässigt werden. Wir unterscheiden am besten drei

Bereiche, in denen Dichtung eine Rolle spielt, schärfer ausgedrückt:

gebraucht wird.



Dichtung als Wirtschaftsgebilde



Wer eine Dichtung liest, muß eine Handschrift oder ein

Buch vor sich haben, heute auch schon den Schmalfilm. Wer

sie hört, ist jenem gegenüber, der sie vorträgt. Nur in frühen |#f0682 : 666|



Zeiten geschah dieser Vortrag ohne Unterlage. Heute liest

man vor, oder wenn man frei vorträgt, hat man den Text aus

einer Unterlage gelernt. Mit Ausnahme der Zeiten und Zusammenhänge

mündlicher Dichtungsüberlieferung sind wir

auf die Materie der Handschrift oder des Buches oder einer

anderen Vervielfältigungsmöglichkeit angewiesen. Die Menschen,

die sich mit Dichtung abgeben, brauchen diese Materien

dazu. Das Publikum ist der Verbraucher der Materien,

in denen Dichtung aufbewahrt ist, es ist in bezug auf die

Dichtung Verbraucher.



Da das Publikum Dichtung aus Büchern liest oder in Vorträgen

hört und da im allgemeinen der Dichter ein Publikum

erwartet, hat es auch Wünsche, wie das, was es erwartet,

beschaffen sein soll. Was nicht gefragt wird, wird kaum

gedruckt, und ein Großteil der Literaten wünscht doch gelesen

zu werden. Daher müssen sie sich bis zu einem gewissen

Grad auch den Wünschen des Publikums anbequemen. Das

gilt für die Zeiten, wo Dichtung in engem Zusammenhang

mit der Gemeinschaft stand, auch für Dichtung. Aber auch

der einsame Dichter, dem an der Öffentlichkeit nichts liegt,

findet nur über Handschrift oder Buch zu den Menschen,

oder sie nur so zu ihm. Die Lage des Publikums hat also einen

gewissen Einfluß auf die Entwicklung der Dichtung. Dafür

gibt es heute ein klares Beispiel: die Kurzgeschichte. Daß sie

ausgesprochene Mode werden konnte, hängt mit den Bedürfnissen

des modernen Großstadtpublikums zusammen. Im

Wirbel des Verkehrs und Betriebs hascht der Mensch nach

immer neuen Anregungen, bei der Fülle des Bedarfs dürfen

sie aber weder in die Tiefe gehen noch zu umfangreich sein.

Der Zeitungs- und Magazinkonsum nimmt daher überhand;

das Gewinnstreben wirkt mit, man kann mit solchen Artikeln

ein Geschäft machen. Aber in solchen Druckwerken kann

man wenig große Zusammenhänge bieten: »Wer vieles

bringt, wird manchem etwas bringen«: es kommt auf Kürze

an. Auch das Hochkommen des Films, der immer wieder

kurze Ausschnitte aus dem Leben oder aus einem dargestellten

Vorgang bringt, regt zum Verdauen kurzer Produktionen

an. Endlich wirkt die Gehetztheit des modernen Lebens mit. |#f0683 : 667|



Auf der Fahrt zur Arbeitsstätte oder abends nach Hause will

man möglichst viel erfahren, die Zeit nicht totschlagen, und

auch da wieder braucht es kurze Kost. Sicher spielt auch das

wachsende Interesse an psychologischen Fragen eine Rolle.

Das alles bereitet den Boden, auf dem eine neue literarische

Gattung, eben die Kurzgeschichte, hochkommen kann. Natürlich

müssen dazu noch innere Beweggründe treten, aber ohne

diese äußeren wäre die Kurzgeschichte nicht so zur Mode

geworden, wie sie es tatsächlich ist.



Die Unternehmungen, die die Dichtungen neben allem

anderen schriftlichen Schaffen ins Publikum bringen, faßt man

als das Verlagswesen zusammen. Der Verleger ist der notwendige

und praktische Vermittler zwischen Dichter und

Publikum. Damit spielt er im literarischen Schaffen eine

große Rolle und hat eine bedeutende Verantwortung. Vielfach

ist er es, der junge Begabungen entdeckt und sich für sie

einsetzt, es kommt also bis zu einem gewissen Grade auf ihn

an, wer als Dichter bekannt wird. Sein Mut und seine Geschicklichkeit

in der Werbung ermöglichen die Verbreitung

der Dichtungen. Seiner finanziellen Begabung und oft Opferfreudigkeit

verdanken manche Dichter ihre Existenz und

damit eine notwendige Grundlage zum Schaffen und verdankt

das Publikum immer wieder neue Ausgaben früherer

Dichter. So ist er Mithelfer an der großen Bildungstradition

eines Volkes. Für ihn allerdings ist die Dichtung ein reines

Gebrauchsgut, sie hat Nutzwert oder auch nicht. Freilich

wird er nur dann gerade auf dieses Gebrauchsgut stoßen,

wenn ihm im innersten Dichtung aus ihrem Wesen heraus

etwas sein kann. Nur das kann ihm dauernden Antrieb geben.

Vor allem der Briefverkehr unserer Großen mit ihren Verlegern

ist da sehr aufschlußreich.



Der Helfer des Verlegers ist der Buchhändler. Für die dramatische

Dichtung ist dann das gesamte Bühnenwesen wichtig.

Die Wirkungsgeschichte der Dramen hängt mit der Einrich

tung der Bühnen zusammen: mit den Intendanten, den Dramaturgen,

den Schauspielern, vor allem den Spielleitern und

den Kräften, die ein so kostspieliges Unternehmen, wie es

die Bühnen sind, erhalten. Tatsächlich ist es die Geldfrage, |#f0684 : 668|



wenn auf vielen Bühnen die großen und echten Dramen sich

den Rang von Reißern und Machwerken müssen streitig

machen lassen. Überall Geld und Wirtschaftsleben! Auch bei

den Übersetzungen spielt das eine Rolle. Bei ihnen kommt

aber noch ein weiterer wichtiger Vermittler dazu: der Übersetzer.

Ihm ist in bezug auf die Dichtung eine sehr schwere,

ja oft beinahe unlösbare und im allgemeinen undankbare Aufgabe

gestellt: eine Dichtung, die aus einer bestimmten Sprache

wächst und ihre Kräfte saugt, die nur in ihr ist und mit

ihren Möglichkeiten ihre Gehalte und Werte entfaltet, in

eine andere, oft sehr verschiedene Sprache zu übertragen.

Im tiefsten ist dichterische Übersetzung als vollkommenes

Werk unmöglich. Daß aber mit den Übersetzungsbemühungen

die Sprache, in die übersetzt wird, selbst sich bereichern

und entfalten kann, beweist die Geschichte der Übersetzungen

in die deutsche Sprache; an ihnen hat sie sich ja erst

eigentlich zur Literatursprache entwickelt, und es ist kein Zufall,

daß gerade die Zeit ihrer dichterischen Höchstentfaltung

auch die Zeit bedeutendster Übersetzungen war. Wir sehen,

welche verwickelte Organisation sich heute zwischen die

großen Dichtungen und das Publikum einschaltet, ja einschalten

muß, wenn Dichtung wirken soll.



Dabei ergibt sich ein eigenartiges Verhältnis in bezug auf

Angebot und Absatz. Der rasche Absatzerfolg kann manchmal

auch einem wertvollen literarischen Werk gegönnt sein. Man

denke an Schillers »Carlos«, an seine historischen Schriften

und Erzählungen. Das hängt mit den verschiedensten Momenten

zusammen: schon berühmte Schriftsteller haben rascher

Erfolg, es kommt auch auf die Ausstattung von Neuerscheinungen,

sogar auf die Titel an. Man erzählt eine Anekdote,

eine Leihbücherei habe Goethes »Wahlverwandtschaften«

einen neuen Einband und einen neuen Titel gegeben:

»Liebe im Dunkeln«, zugleich den Verfasser verschwiegen.

Die Zahl der Entlehnungen habe unheimlich

zugenommen! Geschickte oder angesehene Verleger, dann

gesellschaftlicher Einfluß, politischer Druck und politische

Lage, das alles wirkt zusammen, um rasche Massenerfolge

zu erzielen. Zwei berühmte gegensätzliche Beispiele, die zugleich |#f0685 : 669|



zeigen, daß der literarische Wert nicht unbedingt maßgebend

ist, aber glücklicherweise, wie im zweiten Fall, davon

betroffen sein kann: Hitlers »Mein Kampf« und Pasternaks

»Doktor Schiwago«. Nach dem ersten Weltkrieg war einer

der stärksten Bucherfolge die Geschichte Tarzans. Ganz

anders steht es um Werke, die sich langsam, aber sicher durchsetzen:

hier kann man schon eher auf den literarischen Wert

schließen. Es gibt auch geschichtliche Lagen, die große frühere

Dichter wieder sehr bekannt machen. Wir denken heute vor

allem an Goethe, Hölderlin und Stifter, bei denen es sich

keineswegs um wissenschaftlich gelenkte Wiedergeburten

handelt. Aber für tiefe seelische Wirkungen kommt es auf

den zahlenmäßigen Erfolg nicht an. Goethes »Wahlverwandtschaften«,

Hölderlins späte Hymnen, Stifters »Witiko« werden

nie Massenerfolge sein, aber ihr Wert bleibt davon

gänzlich unberührt. Auch die Wirkung kann dabei sehr tief

und weit sein. Man denke, was solche Dichtungen wesenhaften

Menschen geben können, und wie diese an ihnen

gestärkten Menschen dann in der menschlichen Gemeinschaft

viele unberechenbare und tiefe Wirkungen ausüben

können.



Daß das Wirken aller dieser Kräfte für die Dichter und die

Dichtung wichtig ist, läßt sich denken: Förderungen und

Hemmungen der verschiedensten Art entfalten sich. Denn wir

müssen uns klar darüber sein, daß alle die Institutionen, denen

die Verbreitung der Dichtung anvertraut ist, auch negative

Seiten haben: Druck auf die Dichter, so daß manchmal künstlerische

Intentionen verbogen werden, Hemmungen wertvoller

Leistungen durch reißerische Publikumserfolge, damit

auch die Gefahr der Verbiegung gesunder künstlerischer

Entwicklungen. Dahinein wirkt aber noch anderes.



Dichtung als Lehrgut



Ich vermeide hier absichtlich den Ausdruck »Bildungsgut«,

der oft gleichbedeutend damit gebraucht wird. Bildungsgut

ist der weitere und tiefere Begriff. Denn alles, was einen Menschen |#f0686 : 670|



innerlich anregt und fördert, was also an seiner inneren

Formung zum wertvollen und geschlossenen Menschen mitarbeitet,

ist Bildungsgut, ganz gleichgültig, wann, wie und

wo es ihn trifft. Wir sind mit diesem Begriff schon unmittelbar

bei der Frage nach der Wirkung der Dichtung. Aber

Dichtung war schon seit den ältesten Zeiten Lehrgut: in den

Schulen eingesetzt zur Bildung, Unterweisung und Erziehung

der heranwachsenden Generation. Es gab Zeiten und

Völker, wo das ganze von der Gemeinschaft geschaffene

Bildungssystem von Dichtungen ausging, so vor allem bei

den alten Juden und den alten Griechen. Man kann sich denken,

daß hier eine geschlossene ─ wenn auch vielleicht einseitige

─ und ins Wesenhafte gerichtete Bildung möglich

war, daß aber zugleich doch die Dichtung zu sehr auf diesen

Zweck hin »behandelt« wurde.



Aber auch später und bei anderen Völkern ist Dichtung

immer in ihrem Wert für die Jugenderziehung erkannt worden.

Man kann von hier aus geradezu zwei Typen höherer

Schulen unterscheiden. Solche, die die Dichtung und mit

ihr die anderen Künste und das Geistesleben in den Mittelpunkt

der Bildungsarbeit stellen, wie das etwa die verschiedenen

Formen der reinen humanistischen und musischen

Gymnasien tun; und solche, die in ihrer vor allem naturwissenschaftlich,

wirtschaftlich oder technisch ausgerichteten

Bildungsarbeit das Dichterische als Ausgleich, als Bildungsrundung

einsetzen. Dieser musischen Bildungsergänzung

liegt einerseits der Gedanke an eine harmonisch gerundete

Persönlichkeit zugrunde, andererseits das Wissen von den

innerlich bildenden Kräften der Dichtung. Ein sehr schwieriges

Gebiet deuten wir an, wenn wir nach der Art fragen, wie

Dichtung den jungen Menschen nahegebracht werden soll.

Man hat mit der Zeit geradezu raffinierte Methoden dafür

ausgebildet, muß sich aber immer der Gefahr bewußt bleiben,

daß durch methodisch-rationelle Durchformung die

Dichtung selber in ihrer Wirkung Schaden leidet. Am wertvollsten

bleibt immer noch die Wirkung einer von Dichtung

erfaßten und gehobenen Erzieherpersönlichkeit.



Damit kommen wir schon zu den Werten und Gefahren |#f0687 : 671|



solchen Einsatzes der Dichtung in der Bildungsarbeit. Eine

der größten Gefahren ist eben die methodische Überfeinerung

oder Rationalisierung. Sie kann ─ muß es nicht in der

Hand eines weisen und ergriffenen Lehrers ─ geradezu zur

Entfernung der jungen Menschen von den Werten der Dichtung

für immer führen. Wie vielen Jugendlichen ist Schiller in

der Schule verekelt worden! Sicher wird man auch nie alle

Schüler der Dichtung innerlich öffnen können. Aber wenn es

auch nur einige sind, die dann später der Dichtung treu bleiben,

denen sie immer schönste und ergreifendste Welterhellung

bleibt, ist die Mühe nicht verloren und die Bemühung,

die Jugend der Dichtung zu erschließen, gerechtfertigt.



Die Dichtung im öffentlichen Leben



Wir wollen uns hier ganz kurz bewußt werden, wie stark

Dichtung oder was sich so nennt, ins öffentliche Leben im

weitesten Sinn verflochten ist. Das beginnt schon bei der

Vorliebe für Reimereien und Gereimtes in allen möglichen

Lagen: Wirtshausschilder, Wandschmucktafeln, Polsterkissen,

schon ein wenig höher stehend die in den Alpenländern

üblichen Marterln, von denen angeregt Karl Schönherr seine

knappe und derb-kräftige Spruchdichtung der Bergsteigermarterln

geschaffen hat. Auch die Reklame macht sich die

Vorteile des Rhythmus und des Reims zunutze. Denn diese

Vorliebe für Metrisches und Gereimtes hängt vor allem mit

der Hilfe zusammen, die solche Sprachgebilde dem Gedächtnis

bieten. Zugleich aber macht die feste Prägung immer einen

starken Eindruck, es ist auch dem gewöhnlichen Menschen

dann so, als ob in dieser Sprachprägung das Auszusagende in

eine dauerhafte Form gefaßt und auf das Wesentliche ausgerichtet

wäre, also Verwesentlichung schon in diesen untersten

Bereichen.



Eine Stufe höher steht die Gelegenheitsdichtung im engeren

Sinn: zu allen möglichen Feiern, wie wir gleich sehen

werden, aber auch in die Alben und Merkbücher für Freunde

und Freundinnen. Große Dichter haben unter solchen Umständen |#f0688 : 672|



oft wertvolle Spruchdichtung geschaffen. Goethe hat

die schönen Verse über die »Iphigenie«: »Alle menschlichen

Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit« bei solcher Gelegenheit

ins Stammbuch eines Schauspielers geschrieben. Auch

die Tendenzdichtung hängt damit zusammen: bestimmte

Lagen, Anschauungen, Parteigruppen regen dazu an, zwingen

wohl auch dazu, ihre Lehren und Meinungen dichterisch

wirkungsvoll an den Mann gebracht zu sehen. Von öder

parteipolitischer Reimerei geht da ein Weg bis zu echter

Dichtung, zu Kleists »Hermannsschlacht«.



Damit sind wir bei der Propaganda, die sich der »Dichtung«

bemächtigt. Sie kann anregen, daß Dichterlinge eigene Fabrikate

herstellen, Dichter sich unter gewissen Umständen bereit

erklären, ihre Muse dafür anzuschirren. Man kann aber auch

echte hohe Dichtung propagandistisch gebrauchen und mißbrauchen.

Wir sahen im deutschen Sprachraum zwischen

1930 und 1950 bei jedem politischen Umschwung den »Tell«

als Festspiel aufgeführt. Grotesk wurde es nur, wenn etwa

die gleiche Gruppe, die bei der Machtergreifung den »Tell«

einspannte, einige Zeit darauf, bei tieferer Einsicht in seinen

Gehalt, ihn, vor allem in den Schulen, verbot. Als dann der

Nationalsozialismus hinweggefegt war, wurde derselbe

»Tell«, den er verboten hatte, nun auch von der nächstfolgenden

Machtgruppe ─ den Besatzungsmächten ─ verboten.

Damit sind wir bei den Verboten von Dichtungen. Angefangen

von Kellers »Grünem Heinrich«, der auf dem päpstlichen

Index prohibitorum librorum steht, bis zum politischen

Wirbeltanz der Verbote und Verbrennungen, der zuerst

einmal Thomas Mann, Franz Werfel, Broch, Hesse usw.

mitriß, dann später unter geänderten Vorzeichen W.

Schäfer, R. A. Schröder, Gertrud Le Fort und E. Jünger,

wenigstens in gewissen deutschen Sprachgebieten. Das alles

hängt einerseits mit dem Gefühl zusammen, welche tiefe

menschliche Macht Dichtung ist, andererseits eben mit der

Tatsache, daß auch Dichter selbst in gewisse Wirbel hineingezogen

werden.



Die Dichtung spielt auch im Gesellschaftsleben eine Rolle.

Der Sänger, der Fahrende, der Hofdichter gehörten zum |#f0689 : 673|



Menschenbedarf von Adelskreisen und Fürstenhöfen seit

ältesten Zeiten. Sie verschönten, veredelten das Leben, hoben

es auf eine höhere Stufe. Goethes Ballade vom »Sänger« gestaltet

das. Damit stoßen wir auf eine der bedeutendsten Gelegenheiten,

wo Dichtung im öffentlichen Leben wirksam

wird: die Feiern. Feiern spielen im Leben jeder auch noch so

kleinen Gemeinschaft eine bedeutsame Rolle. Ihr Sinn ist

Besinnung und Anregung in der Erhebung. Daraus ergibt

sich auch die Möglichkeit der Wiederholung. Wir wollen

hier davon absehen, daß das Erleben von Kunstwerken vielen

Menschen auch eine Feier ist und gerade die Wiederholung

solchen Erlebens immer wieder den Eindruck der Feier gibt.

Tatsächlich sind wir hier nahe an ursprünglichen Funktionen

der Kunst. Denn sie spielt in der verschiedensten Weise in

die Feiergestaltung herein, neben den bildenden Künsten

vor allem auch die Musik und die Dichtung. Dieser Einsatz

der Kunst kann von zwei Seiten betrachtet werden. Die eine

ergibt sich aus der Tatsache, daß vielen Menschen, wie gerade

gesagt, Kunsterleben eine Feier ist. So kommt es zu der Form

der Festspiele, die an sich eben die Menschen durch die Kunst

aus dem Alltag emporheben wollen; daß auch sie zu wirtschaftlichen

Einrichtungen werden können und die Kunst

damit wieder zu einem Gebrauchsgut wird, ist bekannt und

läßt sich wohl kaum ändern. Die andere Seite ergibt sich aus

der Tatsache, daß der Feiergestalter sich dessen bewußt ist,

daß Kunst die Feiern verschönen kann. Diese Seite ist für

uns hier wichtig, denn da hat die Kunst einen deutlichen

Dienstwert. Gerade das Eigentliche der Kunst, auch der

Dichtung, besteht ja im Verwesentlichen, in der Emporführung

über den Alltag. Die Dichtung wird hier also in einer

ihrer Sichten und Eigenschaften eingesetzt, und man kann

nicht einmal sagen, daß sie in ihrem Wesen dabei verkannt

wird. Man kann bestehende Dichtungen dafür einsetzen,

aber auch eigene Werke für solche Feiern schaffen, am bekanntesten

etwa die Pindarischen Hymnen, wobei sich zeigt,

welche dichterische Höhe in solcher Feiergestaltung erreicht

werden kann. Die Dichtung beginnt schon in der Familienfeier,

allerdings hier meist in bescheidener Form. Auch |#f0690 : 674|



Gruppen, Gesellschaften und Parteien der verschiedensten

Art setzen die Dichtung mannigfaltig für ihre Feiern ein. Repräsentativer

sind dann schon die Feiern des Staates im

weiteren Sinn: Nationale Gedenktage, Sieges- und Totenfeiern

usw. Immer wieder ist es dabei möglich, daß solche

Feiern, die ja selbst schon durchaus in den Bereich der Kunstgestaltung

aufsteigen können, Dichtungen den fördernden

Stimmungsuntergrund geben, auf dem sie erst voll wirken.

Das ist sicher gerade auch für Schillers »Tell« der Fall. Auch

die Feiern der Kirchengemeinschaften bedienen sich mannigfaltig

der Dichtung. Kirchliches Leben ist zu einem sehr wesentlichen

Teil Feiergestaltung: Herausheben des Menschen

aus dem Alltag zur Besinnung und Anregung. So im Ablauf

des Jahres, aber auch in der sich wiederholenden Liturgie des

Gottesdienstes. Er hat geradezu auch zu dichterischen Kunstwerken

angeregt. Man denke an die reiche kirchliche Hymnendichtung

des Mittelalters, an das Kirchenlied, aber auch

die ersten Formen des kirchlichen Spieles waren feiernde Erweiterungen

des Gottesdienstes. Besonders eigenartig ist die

Entwicklung der Sequenzendichtung im frühen Mittelalter.

Denn die Sequenz ist aus der Alleluja-Melodie der Liturgie

entstanden: der langen Modulation des letzten a wurde ein

Text geistlichen Gehalts unterlegt; aus dieser Gepflogenheit

entwickelte sich zuerst die sogenannte Sequenzendichtung,

endlich daraus das, was man heute Hymnik nennen würde.

Also: Feiergestaltung als Anregung für die Ausbildung neuer

Dichtformen. Daß solche Anregungen immer wieder möglich

sind, sieht man auch an Gedichten unserer Großen: die

feierlichen Prologe, manches kleine Festspiel, aber etwa auch

Goethes »Epilog zu Schillers Glocke« entspringen Anregungen

der Feiergestaltung.



So erscheint uns also die »Verwendung« der Dichtung in

der Feier nicht als eine Entwürdigung, ein Mißbrauch ─

das kann wohl mitunter fließen ─ sondern einerseits als eine

Möglichkeit, der Dichtung einen würdevollen Rahmen zu

schaffen, andererseits als Antrieb für neue Dichtungen, vielfach

Gelegenheitsdichtungen, aber im besten Sinn des Wortes.

Auch so ist also Dichtung mannigfach ins Leben verflochten.

|#f0691 : E675|



III

DIE WIRKUNG DER DICHTUNG



Das eigentliche Wesen des Kunstwerks, also auch der Dichtung,

haben wir in der vollendeten Gestalt, die eben in ihrer

Art und Vollendung einen Gehalt offenbart. In diesem Dasein

ruht ihr Sinn und Wert.



Aber sehr häufig hat man in der Wirkung der Dichtung ihr

Wesen gesehen. Das tut Aristoteles in bezug auf die Tragödie.

Aber auch Schiller sieht in der Dichtung als wesenhaft immer

ihre wirkende Gestalt: je tiefer die künstlerische Gestalt auf

den Menschen wirken kann, desto höher steht das Kunstwerk.

Freilich betont Schiller dabei ausdrücklich die künstlerische

Wirkung der Gestalt, während er stoffliche Wirkungen als

Unwert ablehnt. Mit Aristoteles und Schiller sind die zeitlichen

Grenzen angegeben, innerhalb welcher die Dichtung

nach ihrer Wirkung gewertet und betrachtet wurde. Erst

mit der Romantik betont man mehr ihr Sosein, ihre Insichgeschlossenheit.

Freilich betrachten die neuesten Arbeiten zur

Poetik auch wieder die Wirkung und messen ihr wesenhafte

Bedeutung zu. Denn die Wirkung der Dichtung ist eine

Tatsache, die aus dem Bereich der Fragen, die die Dichtung

als Gesamtheit uns stellt, einfach nicht wegzudenken ist.

Man könnte sich kaum eine Dichtung vorstellen, die nie gewirkt

hat oder grundsätzlich nicht wirken könnte. Und vor

allem: die Wirkung der Dichtung ist die unbedingte Voraussetzung

und der notwendige Weg, um zu ihrem Wesen

zu kommen; das gilt für jede Einzeldichtung und aus ihnen

heraus für die Dichtung überhaupt. Damit aber drängt sich

zuerst die Frage auf: Wie ist die Begegnung eines Menschen

mit einer Dichtung beschaffen? Man könnte auch sagen:

Worin besteht das Erlebnis einer Dichtung?

|#f0692 : 676|



Die Begegnung mit der Dichtung



Freilich muß da sofort mit einer Beschränkung begonnen

werden: Keine Dichtung wirkt allgemein. Jede einzelne

Dichtung ist zunächst nur eine einzelne Wirkungskraft innerhalb

eines umfassenden Zeitkomplexes, und sie wirkt nur

auf bestimmte Menschen, Räume und Zeiten, und nicht einmal

auf alle gleich: einzelne Menschen, Lebensalter, Zeiten,

Völker, Kulturkreise nehmen zu bestimmten Dichtungen verschieden

Stellung, empfangen aus ihnen verschiedene Anregungen

und werten sie anders.



Auch darf man nicht sagen, daß jede Begegnung eines

Menschen mit einer Dichtung dieser voll entspricht, ihr

adäquat ist. Es wäre nach unserer Einsicht falsch, wollte man

eine Kunst eines uns sehr fremden Volkes von unserem Standpunkt

aus als grotesk bezeichnen: wir hätten da vielleicht

unseren augenblicklichen persönlichen Eindruck bestimmt,

aber nach dem Wesen dieser Kunst kaum gefragt. Wir würden

auch Raabes Dichtung nicht gerecht, wollten wir sie

als bloß humorig und schrullig ansehen. Es ist möglich, daß

wir aus unserer Zeitlage manches als nihilistisch oder als

grotesk erleben, was aus der Struktur des Kunstwerks heraus

nicht so gewertet werden kann. Damit ergibt sich schon die

Schwierigkeit, Eindeutiges über eine Dichtung und ihren

Wert auszusagen. Denn nur über unsere Begegnung mit ihr

kommen wir zu Einsichten in sie, aber die Begegnung muß

nicht immer der Dichtung entsprechen. Hier hilft die Tatsache

weiter, daß sicher die Gefahr der Subjektivität bei jeder

Wertung möglich ist, daß es aber doch Bereiche und Ausschnitte

in jeder Dichtung gibt, über die von vornherein

keine Meinungsverschiedenheit besteht. Das mögen zunächst

einmal sehr äußerliche und nüchterne Dinge sein wie das

reine Wortverständnis, die Feststellungen über den Handlungsablauf,

über gewisse Grundzüge der Personen, aber auch

über die Versform, die Reimfolge, über ganz eindeutige

Lautmalereien usw. Da ist ein Ansatz gewonnen, der uns

sicher aus dem Subjektiven herausführt. Mit Vorsicht läßt |#f0693 : 677|



sich so vielleicht weiterkommen. Viel wichtiger allerdings

ist etwa die Aufgewühltheit wesentlicher Menschen bei der

Begegnung mit einer Dichtung; daran kann sich die Frage

anschließen, wie es zu dieser Aufgewühltheit kommt. Wir

haben so von einer wesentlicheren Seite einen Zugang versucht.





Immer wieder aber zeigt sich: Dichtungen sind uns nie an

sich ─ als Dinge an sich! ─ gegeben, sondern jeweils in einer

bestimmten Verwirklichung, Konkretisierung, die eben jedes

Erleben einer Dichtung darstellt. Diese Verwirklichungen können

auch bei derselben Dichtung sehr verschieden sein; wie

anders wird ein belesener, gebildeter und tief veranlagter

Mensch eine Barocktragödie erleben als ein Lebemann mit

liebenswürdiger Angelesenheit in moderner Literatur. Immer

wieder ergibt sich, wenn wir Aussagen über eine Dichtung

machen wollen: das Erlebnis eines aufgeschlossenen und gebildeten

Lesers muß als Konkretisierung gleichsam mitgedacht

sein. Ja vielfach vollendet sich die Dichtung erst in der Begegnung

mit einem Leser: erst da werden die künstlerischen

und gehaltlichen Möglichkeiten und Werte einer Dichtung

aktualisiert, erwacht sie zu Leben. Das hieße also, daß Dichtung

erst im Zustand des Wirkens ihr ganzes Sein entfaltet

und offenbart.



Das Kunsterlebnis ist also sehr wesentlich. Wie soll man

aber das adäquate Erlebnis eines Kunstwerks umschreiben, so

daß auch die ursprünglichen, noch nicht ausdifferenzierten

Einstellungen zu ihm mit einbegriffen sind? Wohl etwa so, daß

im tiefen und vollständigen Erfahren der künstlerischen Gestalt

das Gestaltete, der Gehalt, der welterhellende Hintergrund

auch lebendig wird. Das geschieht in betrachtender

Haltung, die aber nicht stumpfe Ruhe bedeutet, sondern von

tiefer Bewegtheit getragen wird. Die Bewegung, die irgendwie

in jedem Kunstwerk, vor allem in der Dichtung aus dem

zeitlichen Wesen der Sprache da ist und sich in dem Menschlichen

in ihr und in der gesamten künstlerischen Anlage

offenbart, überträgt sich auch auf den Erlebenden, der auch

in betrachtender Einstellung mitgetragen wird von der Bewegung

im Kunstwerk. Diese Bewegtheit kann die verschiedensten |#f0694 : 678|



Schattierungen und Grade haben, wird aber

immer das Tiefste unseres Menschseins betreffen. Der Vorgang

einer solchen Begegnung beginnt damit, daß sich die

Dichtung in der ersten Berührung mit ihr geradezu befremdend

aufdrängt, wir fühlen uns zum Kunstwerk hin entrückt,

wir vergessen die Welt um uns und finden nachher nur

schwer in sie zurück. Dabei führt diese Begegnung nicht zu

Zerstreuung, sondern zu Verdichtung auf das eigene Sein

durch das Werk. Nach der Art der Dichtung entfaltet sich

das Kunsterlebnis in verschiedener Weise innerhalb bestimmter

Grenzen. Die flüchtigste Art ist die Unterhaltung, die den

Ernst zurückdrängt und eine leichte Heiterkeit und Gelöstheit

erzeugt. Die höchste, zugleich aufwühlendste Art ist die Erhebung

in allen Spielarten, zu denen auch durchaus die hohe

Heiterkeit gehört.



Möglichkeiten und Grenzen dichterischer Wirkung



Mit der Überlegung über die Art einer Begegnung mit

Dichtung ist die Voraussetzung gegeben, die Wirkung einer

Dichtung genauer zu bestimmen. Nochmals sei betont, daß

es sich auch hier nicht um den Zweck der Dichtung handelt,

der in einer bestimmten Wirkung läge, sondern um eine notwendige

Folge ihres Daseins und Soseins. Sie steht im menschlichen

Bereich: sie bildet sich in ihm und sie wirkt sich in ihm

aus.



1. Wir fragen zuerst, in welcher Richtung die Wirkung

geht. Dabei muß das Wort Wirkung möglichst weit gefaßt

sein. Es gibt, genau besehen, auch eine engere Fassung. Jedes

Dasein einer Dichtung kann in dreifacher Brechung bestimmt

werden: sie stellt etwas vor uns hin in einer bestimmten

künstlerischen Formung; sie erregt dadurch in irgendeiner

Weise das menschliche Gemüt: das wäre die Wirkung im

engeren und unmittelbaren Sinn; und endlich erhellt sie dadurch

Weltzusammenhänge und Welttiefen. Aber alle drei

Entfaltungsweisen ihres Daseins bedeuten zugleich ein Wirken

im weiteren Sinn: die Vorstellung wird für uns zu einer |#f0695 : 679|



Begegnung, die dann unmittelbar aufs Gemüt wirkt, in dem

Vorgestellten erhellt sich ein Weltzusammenhang, vor allem

eben durch die Gemütsberührung; aber die Erhellung selbst

kann wieder weitere Tiefen unseres Inneren erregen oder aufwühlen.

Das ist ein sehr verwickelter und im großen einheitlicher

Vorgang: das Ins-Dasein-Treten der Dichtung für uns

Menschen.



Wir haben nun schon erkannt, daß die unmittelbare und

eigenste Wirkung Berührung unseres Gemütes ist. Wieder

fassen wir das Wort als Ausdruck für das Innerste, den Kern

der menschlichen Existenz auf. Eine Dichtung, deren »Wirkung«

an äußeren Bereichen hängen bliebe, hätte in ihrer

dichterischen Wirkung versagt. Bloß verstandesmäßiges

Feststellen und Verstehen der einzelnen Schichten und Glieder,

etwa des »Inhalts«, der Versform, der Aufbaugesetze usw., kann

eine Vorbereitung sein, kann aber auch einen Irrweg bedeuten.

Auf keinen Fall ist das die Wirkung. Diese kann man

am besten als Gemütsführung allgemein bezeichnen: das

Gemüt, also das Innerste des Menschen, sein Streben und

Wollen und die mannigfachen Gefühle, die durch eine Dichtung

angesprochen werden, werden in eine bestimmte Bahn

gebracht, nach einer Richtung gelenkt, sie werden verstärkt,

veredelt, miteinander zu einem Höheren verschmolzen.

Diese Ausrichtung des Gemütes geschieht durch eine starke

Erregung, die Schiller selbst als Erschütterung bezeichnet.

In seiner bewußten Planung der späteren Dramen hat er

besonderen Bedacht auf die Erschütterung, das Aufwühlen

des menschlichen Gemütes genommen.



Die Richtung, in die ein menschliches Gemüt durch die

Dichtung gelenkt wird, kann durchaus verschieden sein. Das

hängt unmittelbar von der Art der Dichtung selbst ab. So

kommt es, daß die eine Dichtung uns erheitert, die andere

belustigt, eine andere uns erhebt, andere wieder wühlen uns

auf, stimmen uns ernst, lassen uns erschaudern. Immer wird

da der Mensch in wesentliche Bereiche hineingezogen, sein

Innerstes wird angesprochen, tief davon betroffen. Darin

liegen die Ansätze für die Wirkungen, die man oberflächlicherweise

meist im Auge hat, wenn man, beinahe im moralischen |#f0696 : 680|



Sinn, vom Wirken der Kunst spricht: sie solle uns

bessern usw. Innere Stärkung, Klärung, Erhellung, Erschütterung

und Erhebung zugleich können sich wirklich auch auf

die Lebensführung des Menschen auswirken, können ihn sogar

widerstandsfähiger, leistungsfähiger, vor allem wesenhafter

machen. Das alles sind Folgen der Betroffenheit durch

Dichtung. Die Gefahr besteht, die Dichtung aus solchen

Folgen beurteilen zu wollen. Aber tatsächlich liegen in diesem

Bereich auch bedenkliche Erscheinungen, die kurz berührt

seien. Zu starke und zu häufige Begegnungen mit weicher,

ätherischer, erdenferner Dichtung können den Menschen

auf die Dauer tatsächlich dem Leben entfernen, ihn verweichlichen.

Freilich spielt da nicht einseitig die Dichtung herein,

sondern auch eine bestimmte innere Anlage des erlebenden

Menschen. Damit hängt es zusammen, wenn man von einer

Art seelenheilender Wirkung der Kunst spricht: sie kann mit

der Zeit den Verhärteten auflockern, den Weichen straffer

machen. Hier liegt auch die Frage, ob Kunst den Menschen

auch verderben könne. Es ist kein Zweifel, daß ausschließliches

Begegnen mit oberflächlicher, rosaroter, blaß optimistischer

und zu harmonischer Dichterei den Menschen aufweichen

kann. Aber ebenso umgekehrt: wenn nur nihilistische,

perverse, dem Sinnlosen und der puren Verzweiflung

zugeneigte Romanschöpfungen die Lektüre eines Menschen

wären, würde sich das in der Länge auf ihn unheilvoll auswirken.

Noch mehr, wenn eine ganze Gemeinschaft ausschließlich

solche literarische Kost bekäme. Hier ermißt man,

daß Kulturpolitik bedenkliche und verwerfliche Richtungen

einschlagen kann. Sie vermag eine Gemeinschaft zur seelischen

Unsicherheit, zur Werte-Unentschiedenheit, damit zu

Verwirrung und Gleichgültigkeit zu führen. So kann jede

Dichtung einerseits schlummernde Kräfte wecken und zur

inneren Tätigkeit anregen, sie kann aber auch hemmen und

fesseln, wenn etwa eine ältere hohe Kultur eine jüngere,

werdende überrennt. Wichtiger aber ist die Wirkung hoher

Dichtung. Sie führt geistig, bildet Ideale in ihren Gestalten

und Gestaltungen aus und regt so in sittlicher Hinsicht an.



2. Wir fragen dann, wodurch die Wirkung zustande |#f0697 : 681|



kommt. Hier ist die Dichtung von den übrigen Künsten unterschieden.

Denn in ihr wirkt die Sprache, damit die Tatsache,

daß Sprache Sinngestaltung ist. Rationale Grundlagen,

verstehbare Zusammenhänge, Sinn sind damit von vornherein

in den wirkenden Raum der Dichtung einbezogen.

Dichtung schafft damit sofort eine Art Milieu, eine bestimmte

Welt, in die wir bei der Begegnung mit ihr eintreten. Und

zwar ist das eine Welt für sich, keine bloße Umformung und

Weiterbildung der tatsächlichen Welt; wir haben das bei der

Frage nach dem Wirklichkeitsbezug erläutert. Das Erlebte

wird als volle Wirklichkeit wirksam. Wir werden von der

Eigenart, der Struktur und der Gestimmtheit dieser dichterischen

Welt eingefangen, sie bestimmt uns in unserer augenblicklichen

Lage. Das ist der Untergrund, auf dem das eigentlich

Sagbare, der Inhalt, weiter der tiefere Gehalt wirken kann.

Dieses Sagbare, das man gröblich auf eine Art Lehrgehalt

abziehen könnte, verliert schon durch diese Einbettung in den

dichterischen Weltzusammenhang das Lehrhaft-Rationale.

Aus der Art der dichterischen Welt heraus werden dann auch

die dargestellten Menschen und Räume wirksam, die dichterische

Welt wird nach allen Richtungen, in vielen Ausgliederungen

lebendig und reich. In diesem Zusammenhang wirken

sich dann Tragik, Komik, Humor usw. aus. Aber all

das unterscheidet sich von der Wirkungsweise etwa eines

philosophisch aufgebauten und dargestellten Weltbildes durch

die Fundierung auf die dichterische Kunst. Vorab wirkt die

Sprache in der Entfaltung aller ihrer Werte des Stils, dann

die Durchführung des Aufbaus, der Zusammenhang der

Symbole, die Gestaltungsebenen und Gestaltungsformen,

kurzum die ganze Vielschichtigkeit des dichterischen Kunstwerks.

In den Werten der Sprachen ruht es vor allem, wenn

gerade der Dichter als der Seher, der Verkünder gepriesen

wird und wirken kann. Das Verkündende ist keiner anderen

Kunst so gegeben wie der Dichtung, eben aus dem Wesen

der Sprache.



3. Wir fragen endlich, wie diese Wirkung ausgelöst wird.

Das unmittelbar Gegebene ist die ganz persönliche Begegnung

des Einzelmenschen mit der Dichtung, das persönliche |#f0698 : 682|



Einzelerlebnis. Die Wirkung innerhalb einer Gemeinschaft

kann das Erleben unter Umständen erhöhen. Es kommt auf

die Gemeinschaft, ihre Art und Größe, aber auch auf die

Dichtung an. Nicht alle epischen und lyrischen Gedichte eignen

sich zu einem Vortrag vor vielen, wenn das Letzte in

ihnen lebendig werden soll. Auch sind nicht alle Dramen in

Hinsicht auf Gemeinschaftswirkung gleich angelegt. Ein

»Tasso« wird seine ganzen Schönheiten und Werte vor allem

einer kleinen, ausgesuchten Gemeinde wertvoller Menschen

enthüllen, ein »Tell«, ein »Götz«, ein »Wallenstein«, der »Jedermann«

können eine große Menge durch die Entfaltung ihrer

dichterischen Werte zu einer geschlossenen Gemeinschaft

emporheben.



Nicht alle Dichtungen erschließen sich sofort allen Menschen,

nicht alle Menschen sind von vornherein für Dichtung

empfänglich. Hier setzen Hilfen ein. Das sind zunächst Bildungseinrichtungen

im weitesten Sinn, vor allem die planmäßige

Erziehungsarbeit der Schule und auch der Hochschule.

Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten ist bei der

Betrachtung der Dichtung als Lehrgut gesprochen worden.

Die Hinführung der Menschen zur Dichtung muß zunächst

Hemmnisse beseitigen; solche bestehen im persönlichen

Temperament eines Lesers, etwa eines Sanguinikers gegenüber

Stifter, in augenblicklichen Stimmungen, in mangelnden

Kenntnissen. Das ist die negative Vorbereitungsarbeit, im

allgemeinen durch eine Auflockerung des Gemüts, im Einzelfall

durch möglichst gute Einstimmung. Die positive Hinführung

besteht im vorsichtigen und feinfühligen Erschließen

der dichterischen Werte. Gelegentliche Einführung kann

durch verschiedene Einrichtungen (Lesekreise, einführende

Vorträge usw.) die planmäßige Erziehungsarbeit fortsetzen.

Eine weitere, sehr wichtige Hilfe ist die sogenannte Kritik.

Darunter meinen wir alle Einrichtungen, wodurch in Presse

und Rundfunk das Publikum auf neue Dichtungen, auf Neuauflagen

alter Dichtungen, auf Theateraufführungen und

andere dichterische Darbietungen hingewiesen wird. Ganz

einfach sagt einmal T. S. Eliot: Der Sinn der Kritik besteht

darin, »das Verständnis und die Freude an der Literatur zu |#f0699 : 683|



fördern«. Der Kritiker hat also eine kulturpädagogische Aufgabe,

und zwar von besonderer Wichtigkeit. Dem Kritiker

ist eine große Macht gegeben, die er auch negativ ausnützen

kann: er kann seine unbegründeten subjektiven Meinungen

dem Publikum aufdrängen wollen, er kann bewußt oder unbewußt

ganz einseitige Arbeit leisten, indem er Schlechtes

propagiert, Gutes in den Kot zieht, er kann Dichtung zerschwätzen,

seine eigenen wolkigen Phrasen vor dem Kunstwerk

aufsteigen lassen und es selbst so dem Menschen verhüllen,

er kann Blasiertheit und Eingebildetheit erzeugen und

damit gerade von echter Dichtung wegführen. Aber er kann

genau so gut das Gegenteil leisten: in gediegener und gebildeter

Weise dem Publikum die Werte der Dichtung erschließen,

es auf das Echte und Gediegene hinweisen, vor dem Schlechten

warnen und damit für die Wirkung der hohen Dichtung

den Boden bereiten. Dazu muß er aber bestimmte Forderungen

erfüllen. Er muß eine wissenschaftliche und gründliche

Ausbildung genossen haben, er muß starke erzieherische

Kräfte entfalten und muß vor allem selbst von Dichtung tief

ergriffen werden. Wieder sagt T. S. Eliot: »Der Literaturkritiker

muß ein ganzer Mensch sein, ein Mensch mit Überzeugungen

und Prinzipien, mit Kenntnissen und Lebenserfahrung.«





4. Trotz allen diesen Möglichkeiten und Wegen gibt es

Grenzen für die Wirkung der Dichtung. Zwar nicht so viele

wie für die Wissenschaften, wie für die bildenden Künste und

die Musik. Denn die Sprache ist allen Menschen gegeben,

und ihre Werte können bis zu einem gewissen Grade allen

erschlossen werden. Die Grenzen liegen an der Menschlichkeit

sowohl der Dichtung als des Erlebenden. Die Dichtung

schafft ganz bestimmte Situationen für den Menschen, sie

können den einen abstoßen, den anderen anregen. Vor allem

muß zwischen der Struktur einer Dichtung und der inneren

Anlage eines Menschen eine Berührungsmöglichkeit bestehen,

die Art der Dichtung muß im Inneren des Menschen

auf einen fruchtbaren Boden fallen. Wer aus seiner Art heraus

lyrischer Weltbegegnung völlig verschlossen ist, wird nie ein

lyrisches Gedicht tief erleben können. Wir alle werden uns |#f0700 : 684|



schwerer in chinesische Dichtkunst hineinfinden als in abendländische

oder gar in die unsereres eigenen Volkes. Der eine

wird mehr ergriffen von strengen, geistig anspruchsvollen

Dichtungen, der andere mehr vom Rauschhaften, der dritte

mehr vom Schlichten. Damit hängt auch die Tatsache zusammen,

daß nicht alle Menschen leicht zu alten Dichtungen

Zugang finden. Hier ist Hilfe besonders wichtig. Zwei Wege

bieten sich auch hier: einmal, wenn es gelingt, das Allgemein-

Menschliche, das Wesenhafte auch aus schon alten und uns

sonst fremden Dichtungen herauszuheben, dann auch, wenn

Menschen aus der Not der Gegenwart sich nach dem Schönen

vergangener Zeiten sehnen. Das braucht nicht immer Lebensuntüchtigkeit

zu sein!



Die Wertung der Dichtung im Lebenszusammenhang



Wenn wir bisher an verschiedenen Stellen vom Wert der

Dichtung und einer einzelnen Dichtung, von ihrer Wertung

gesprochen haben (besonders S. 325 ff.) so haben wir immer die

Dichtung als Gebilde für sich, in ihrer Geschlossenheit und in

ihrem Fürsichsein im Auge gehabt.



Das ist aber nur eine der wertenden Beleuchtungen, unter

die Dichtung gerückt wird. Freilich ist es die wesentliche und

entscheidende, aber der Blick auf die Dichtung wäre unvollständig,

wenn nicht die anderen Wertungsmöglichkeiten

auch erwähnt würden. Wir haben in der Wertung der Dichtung

als solcher von allem ausgesprochen persönlichen Erleben

so gut als möglich abzusehen versucht. Ganz läßt sich

dieses Persönliche ja nie ausschalten, aber das persönliche Erleben

führt uns zu einer anderen Wertung: jeder Dichtung

kommt eben auch dadurch ein Wert zu, daß sie ein persönliches

Erleben auslöst. Dieses Erlebnis muß ja nicht immer

adäquat sein, aber trotzdem hat die Dichtung in diesem

Augenblick einen Wert für den Menschen. Allgemein ausgedrückt:

jeder Dichtung kommt ein Wert als wirkende Gestalt

im Leben zu. Hier ordnen wir auch den Begriff des Geschmacks

ein. Wir verstehen darunter, wie schon früher angedeutet, |#f0701 : 685|



eine bestimmte festgefahrene Richtung ästhetischen

Fühlens. Es gibt nicht nur persönlichen Geschmack, sondern

auch zeitgebundenen, der dann mehr oder weniger einer

ganzen Gemeinschaft eigen ist. Wenn einmal das ästhetische

Fühlen des Menschen eine solche feste Richtung bekommen

hat, wird auch die Urteilstätigkeit einsetzen, der Mensch fällt

Urteile über die ästhetischen Gegenstände, die Kunstwerke,

er wertet sie. Man kann den Geschmack bilden in der Richtung

auf richtige, dem Wesen des beurteilten Werkes zukommende

Wertung.



Eine dritte Möglichkeit ist die, die Dichtung im geschichtlichen

Zusammenhang zu werten. Dabei muß zweierlei unterschieden

werden. 1. Bedeutenden Dichtungen kommt ein

ganz bestimmter Wert in der geschichtlichen Entwicklung

der Dichtkunst zu. Dieser kann aus dem Gesamtblick auf die

Literaturgeschichte ziemlich einwandfrei festgestellt werden.

Gewisse Dichtungen sind dann geradezu durch diese geschichtliche

Bedeutung bekannt geblieben. So etwa Corneilles

»Cid«, der Canzoniere des Petrarca, Otfrieds Christusdichtung.

Dieser geschichtliche Wert muß nicht immer mit dem

Wert der Dichtung als künstlerischen Gebildes zusammenfallen,

höchste Kunstwerke werden aber auch meist geschichtlich

bedeutsam sein. Zum geschichtlichen Wert einer

Dichtung gehört auch ihre Anregungskraft. In dieser Hinsicht

stehen Goethes »Werther«, »Götz« und »Lehrjahre« an

besonders hoher Stelle. 2. Eine andere Frage ist die nach der

Art, wie zu gewissen Zeiten gewertet wurde. Goethe und

Schiller haben Hölderlin lange nicht so geschätzt, wie wir es

heute tun, Jean Paul und in gebührendem Abstand von ihm

Heyse und Gustav Freytag wurden früher viel höher gewertet

als heute. Diese Betrachtung der Wertung früherer Zeiten

führt zur Geschmacksgeschichte. Man hat zu fragen, was in

bestimmten Zeiten gelesen wurde, warum gerade diese Dichtungen.

Es bilden sich Geschmacksgruppen und Geschmacksträger

heraus, die dann mit der Zeit bestimmend dafür werden,

was und wie gedichtet werden soll. Dabei kann es zu

ragen Fehlurteilen kommen, wie jede Geschichte der literarischen

Wertungen zeigen kann. Unmittelbar nach dem |#f0702 : 686|



Bekanntwerden einer Dichtung kann sie sofort wertmäßig

festgelegt werden aus der Voreingenommenheit der Leser

durch ein dichtungsfremdes Wertesystem, etwa durch ein

politisches oder standesgebundenes. Die Dichtung wird dabei

entweder überschätzt oder abgelehnt. Später kommt es zu

Fehlurteilen auch dadurch, daß man an der Wirkung, etwa

an der Auflagenzahl den Wert ablesen möchte; denn der

äußere Erfolg gibt keinen künstlerischen Maßstab.



Die Wandelbarkeit der Wertung einer Dichtung führt zu

einer Beobachtung die nun schon das irdische Schicksal der

Dichtungen betrifft. Zur Zeit ihrer Entstehung hoch gewertete

Dichtungen sinken im Lauf der Zeit in der Wertung

herab, wie wir gerade an einigen Beispielen angedeutet

haben. Umgekehrt steigen wirklich hohe Dichtungen in der

Wertschätzung immer mehr. Gerade dieses Steigen ist schon

ein Beweis des hohen Wertes. Denn steigen kann nur, was

alles Wertvolle in sich hat und nichts von der Wandelbarkeit

der Zeit entlehnen muß. So entsteht gerade bei hohen Dichtungen

ein großer Wirkungsbogen: sie wächst aus dem Leben,

hebt sich von ihm ab, aber im Erleben kehrt sie wieder zum

Leben zurück; je bedeutsamer solche Dichtung ist, desto

geschichtsmächtiger wird sie im Lauf der Zeiten. Sogar ihre

Unvollkommenheiten haben da eine Bedeutung: sie regen

den Aufnehmenden zu aktiver Mitarbeit an und entfalten

Vollendungstendenzen im Erlebenden.



Literarischer Erfolg kann dem Dichter schon zu Lebzeiten

beschert sein, Ruhm gewinnt er durch sein Schaffen erst

nach seinem Tode. Aber oft verdankt er diesen Ruhm einer

verfälschenden Organisation. So ist auch der Ruhm des

Dichters kein sicheres Kennzeichen für den Wert seiner

Schöpfungen. Erschütternd aber mag es uns scheinen, daß

auch die großen Dichtungen im Laufe der Äonen untergehen

werden. Wir können uns heute noch kaum vorstellen, daß

Zeiten kommen werden, die keinen Homer, keinen Dante,

Shakespeare und Goethe mehr kennen werden oder nur mehr

vom Hörensagen. Wie viel Wertvollstes ist aber schon für

uns heute untergegangen, und wir können uns nur schwer ein

Bild von solchen Dichtungen machen, auf keinen Fall sie |#f0703 : 687|



aber mehr lesen und hören: die meisten der griechischen Tragödien

der drei Großen, beinahe die gesamte altgermanische

Heldendichtung. Das ist wieder ein Stück geschichtlicher

Ausgeliefertheit der Dichtung. Freilich weder dem Wert der

einzelnen verlorenen noch der Dichtung überhaupt wird dadurch

nur das geringste angetan.



Der Lebenssinn der Dichtung



Der Umgang mit dem Wort »Lebenssinn« birgt Gefahren

in sich. Man denkt zu gern an die mannigfache, beinahe

praktische Lebenshilfe der Dichtung: man wird erbaut und

damit in Kümmernissen getröstet; man wird reicher an Lebenserfahrungen

durch den Inhalt von Dichtungen; wir werden

vom Alltag abgelenkt und leicht entspannt; wir können durch

sie die Jugend bildnerisch und sittlich beeinflussen. Das alles

sind Tatsachen der Lebenswirkung der Kunst. Viele Menschen

haben nur solche Hilfe, beinahe möchte man sagen: solchen

Nutzen von der Dichtung. Das ist nicht schlecht, aber ist

nur eine Folge vom Dasein der Dichtung und der Welt,

die in ihr lebendig ist. Unmittelbar ergibt sich aus dem Dasein

der dichterischen Welt in der Gestaltungskraft das Erlebnis

der Schönheit, in der Erhellungskraft das Erlebnis der

Wahrheit, in der Läuterungskraft das Erlebnis des Guten.

Aber auch das ist bereits eine Ableitung aus dem Wesen der

Dichtung. Daß ihr Dasein dem Menschen schon ein höchster

Wert ist, haben die Philosophen immer wieder erkannt,

wenn sie oft auch zuviel bloß an die Wahrheitserhellung

dachten und das Schöne, das In-sich-Ruhende, vernachlässigten.

In der Begegnung mit der Dichtung kommt der Mensch

zu sich selbst. Er wird sich seines innersten Wesens bewußt,

und das allein ist schon ein höchster Lebenssinn der Dichtung.

Die Zeit und die Umwelt wirbeln den Menschen in Äußerlichkeiten

herum, die in sich ruhende Welt der Dichtung

führt ihn zu sich. Das meint auch Schiller mit dem Spielcharakter

der dichterischen Welt: sie schwebt gelöst in sich,

und das Menschliche in ihr kommt zu reiner Geltung. Erst |#f0704 : 688|



von hier aus setzt eine Folgenkette an: dieses Zu-sich-selbst-

Kommen im Spielraum der Dichtung gibt dem Menschen

Halt, Freude und Welterhellung, und diese Erhellung, diese

Freude strahlt nun auf die Dinge der realen Welt und den

Umgang mit ihnen aus. In der Begegnung mit der Dichtung

tritt die Verwirrung und das Verwirrende der Realität zurück.

In der Dichtung gelingt dem Menschen eine Ordnung

und Sinndeutung der Welt. Die höchste Leistung des Menschengeistes,

die Sinngebung des Sinnlosen (N. Hartmann)

wird Wirklichkeit in der Dichtung, und darum eben vollendet

sich der Mensch im Umgang mit der Dichtung in

ihrem bloßen Sosein. Eliot sagt: »Denn letztlich ist es die

Leistung der Kunst, indem sie der gewöhnlichen Wirklichkeit

eine glaubhafte Ordnung aufprägt und dadurch eine

Vorstellung von Ordnung in der Wirklichkeit hervorruft,

uns in einen Zustand von Heiterkeit, Stille und Befriedung

zu versetzen und uns dann zu entlassen ─ so wie Vergil Dante

entließ ─, um in ein Reich einzutreten, wo jener Führer uns

nicht mehr helfen kann.« So ist die Dichtung wie jedes Kunstwerk

eine der Weisen, wie sich das Absolute verendlicht,

Wirklichkeit in der Menschenwelt wird. Diese Menschenschöpfungen

sind damit Diener des Absoluten.



Erst von solcher Warte aus verliert der Bezug der Dichtung

zur Gemeinschaft alles zu sehr Geschichtliche, Politische und

Propagandistische. Auch die Gemeinschaft derer, aus deren

Sprache die Dichtung aufsteigt, findet in ihr zu ihrem Wesen

und vermag sich so aufs Absolute hin zu vollenden. Wesenheit

ist in der Dichtung Wirklichkeit geworden, und jede Menschengemeinschaft

kommt an ihr zu sich selbst. Und wieder

eine Folge daraus ins geschichtliche Leben: das allein ist

Grundlage jeder Kultur. Mag das Zusichkommen des Menschen

in der Dichtung oft hart sein, nur über furchtbare Fragen

und bedrohende Erschütterungen möglich sein, mag es

manchmal nah an die Verzweiflung gehen: jedesmal, wenn

der Mensch auch in solchen Bitternissen zu seinem absoluten

Wesen findet, ist das ein großer Augenblick im Leben, wert,

gefeiert zu werden. Nicht nur die große heitere Dichtung,

auch die tragische führt zu solchen Augenblicken. Und ist |#f0705 : 689|



das nicht Anlaß zur Freude? Wir schließen mit den Worten

des Dichters Max Mell:



»Was aus allen den Prüfungen der Menschen in die Kunst

eingeht, legt ihr Kraft zu und Bereicherung eben zur Erfüllung

ihrer Sendung. Die aber ist dieselbe, die sie ewig war,

Freude zu bringen, und sie wird es wieder tun. Das vorauszusagen

ist leicht: sie ist ein unzerstörbares Element, sie ist ein

Lebenswert, den ein hoher Sinn, wie der Adalbert Stifters,

unmittelbar neben die Religion setzte. Es ist unsere Aufgabe,

dies festzuhalten. Wir sind in die zweite Hälfte des Jahrhunderts

getreten, das muß uns eine furchtbare Mahnung sein.

Ihre Ergebnisse dürfen denen der ersten nicht gleichen. Innerstes

Wollen des Geschöpfs ist Freude; die Kunst ist wie

nichts sonst imstande, sie zu erheben und zu veredeln und

nicht zuletzt das Gefühl für die Heiligkeit des Lebens zu erwecken

und zu schärfen.«

|#f0706 : E690|

|#f0707 : E691|



BIBLIOGRAPHIE


VORBEMERKUNGEN



Aus der Fülle habe ich die neueren und neuesten Arbeiten vorgezogen.

Auch Arbeiten zur Literaturgeschichte oder einer bestimmten

Frage daraus sind angeführt, wenn sie für die Poetik wichtig

sind. In der ersten Gruppe sind einige Sammelwerke verzeichnet,

die mehrere wichtige Beiträge enthalten. Diese Beiträge sind im

einzelnen dann nicht mehr angeführt. Besonders weise ich hier auf

die vielen wichtigen Stichworte im Reallexikon der deutschen

Literaturgeschichte und auf die Beiträge in der Deutschen Philologie

im Aufriß hin .Den in der ersten Gruppe erwähnten Zeitschriften

füge ich in Klammer die später gebrauchten Abkürzungen bei.



1. BIBLIOGRAPHISCHE WERKE ─ LEXIKA ─ SAMMELWERKE ─

ZEITSCHRIFTEN



H. W. Eppelsheimer, Bibliographie der deutschen Literaturwissenschaft,

1. Bd. 1945─1953; 2. Bd. 1954─1956, Frankfurt a. M.

1957, 1958 ─ J. Hansel, Bücherkunde für Germanisten, Berlin

1959 ─ H. Hatzfeld, A Critical Bibliography of the New Stylistics,

Univ. of North Carolina 1952 ─ J. Körner, Bibliographisches

Handbuch des deutschen Schrifttums, Bern 31949 ─ M. Wehrli,

Allgemeine Literaturwissenschaft (Wissenschaftliche Forschungsberichte,

geisteswissenschaftliche Reihe 3), Bern 1952 ─ W.

Kayser (hg.), Kleines literarisches Lexikon, Sammlung Dalp 15/17,

Bern 1953 (erweiterte Neuauflage in Vorbereitung) ─ W. Kosch,

Deutsches Literaturlexikon, 4 Bde, Bern 1949/58 ─ H. Pongs, Das

kleine Lexikon der Weltliteratur, Stuttgart 31958 ─ Reallexikon der

deutschen Literaturgeschichte, 1. Aufl. hg. Merker und Stammler,

4 Bde, Berlin 1925/28; 2. Aufl., hg. Mohr und Kohlschmidt, 1. Bd.

Berlin 1958 (die weiteren Lieferungen im Erscheinen) ─ G. v.

Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 21959 ─ J.

Shipley, Dictionary of World Literature Terms ─ Criticism, Forms,

Technique, London 1955 ─ Bausteine zur Poetik (Beiträge von:

Mon, Grass, R. Hausmann, Wirth, Krämer-Badoni, Dürren-

matt), Akzente 1957 S. 224─253 ─ Deutsche Philologie im Aufriß,

hg. W. Stammler, 3 Bde, 1. Aufl. Berlin 1952/57; 2. Aufl., 1. Bd.

Berlin 1957 ff. (Darin die Poetik von F. Martini) ─ Dichter über

Dichtung in Briefen, Tagebüchern und Essays. Ausgewählt und

kommentiert von W. Schmiele, Darmstadt 1955 ─ H. Mayer,
|#f0708 : 692|



Meisterwerke der deutschen Literaturkritik, 2 Bde, Berlin 1955 f. ─

Gestaltprobleme der Dichtung, G. Müller zum 65. Geburtstag, hg.

Alewyn, Hass, Heselhaus, Bonn 1957 ─ Beiträge zur Einheit von

Bildung und Sprache im geistigen Sein (Festschrift zum 80.

Geburtstag von E. Otto), hg. G. Haselbach und G. Hartmann,

Berlin 1957 ─ Sprache und Dichtung. In: Symphilosophein (Bericht

über den 3. dt. Kongreß für Philosoph., Bremen 1950), München

1952 S. 95─160 ─ Sprachschlüssel zur Welt (Festschrift zum 60.

Geburtstag von L. Weisgerber), Düsseldorf 1959 ─ Deutsche Vierteljahrsschrift

für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, hg.

Kuhn und Sengle, Stuttgart (DVS) ─ Germanisch-romanische

Monatsschrift, hg. F. R. Schröder, Heidelberg (GRM) ─ Euphorion,

hg. Alewyn, Heidelberg (Euph.) ─ Publications of the Modern

Language Association of America, New York (PMLA) ─ Trivium,

Zürich 1942─1955 ─ Wirkendes Wort, Düsseldorf (WW) ─ Zeitschrift

für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Stuttgart

1906─1943 (ZfÄsth.) ─ Jahrbuch für Ästhetik und allgem. Kunstwissenschaft,

hg. Lützeler, Stuttgart, 1. Bd. 1951, 2. Bd. 1954

(Jb. für Ästh.)



II. ALLGEMEINES ZUR LITERATURWISSENSCHAFT

(einschließlich Wertungsfragen, Philosophisches und

Geisteswissenschaftliches)



L. Beriger, Die literarische Wertung. Ein Spektrum der Kritik,

Halle 1938 ─ P. Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung

1. Bd. (Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache. Der

Wandel der literarischen Formensprache vom Mittelalter zur Neuzeit),

Hamburg 1949 ─ O. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen,

Frankfurt a. M. 1941 ─ O. F. Bollnow, Das Verstehen. Drei

Aufsätze zur Theorie der Geisteswissenschaften, Mainz 1949 ─

Chr. Caudwell, Illusion and Reality. A Study of the Sources of

Poetry, London 1937 ─ E. R. Curtius, Europäische Literatur und

lateinisches Mittelalter, Bern 21954 ─ T. S. Eliot, Die Grenzen der

Literaturkritik (übers. U. Clemen), Merkur 117 (1957) S. 1005─

1022 ─ E. Ermatinger (hg.), Philosophie der Literaturwissenschaft,

Berlin 1930 ─ H. Friedmann, Das Gemüt. Gedanken zu einer

Thymologie, München 1956 ─ V. Giraud, La critique littéraire:

le problème, les théories, les méthodes, Paris 1946 ─ H. Haeckel,

Das Problem von Wesen, Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens

für den Literaturhistoriker, DVS 27 (1953) S. 431─447 ─

J. Hessen, Wertlehre (Lehrbuch der Philos., 2. Bd.), München

1948 ─ G. R. Hocke, Manierismus in der Literatur (Rowohlts

deutsche Enzyklopädie 82/83), Hambg. 1959 ─ J. Huizinga, Homo

ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur,

Amsterdam 1939 ─ St. E. Hyman, The Armed Vision. A Study in
|#f0709 : 693|



the Methods of Modern Literary Criticism, New York 1948 ─ F. A.

Kaufmann, Mitteilung und Gestaltung. Zum Begriff literarischer

Qualität, Merkur 133 (1959) S. 234─245 ─ W. Kayser, Das sprachliche

Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern

51959 ─ P. Kluckhohn, Literaturwissenschaft, Literaturgeschichte,

Dichtungswissenschaft. Bemerkungen zu Fragen der Terminologie,

DVS 26 (1952) S. 112─118 ─ E. Lohner, Die Theorien des »New

Criticism«, Neue deutsche Hefte 45 (1958) 25─37 ─ E. Lunding, Strömungen

und Strebungen der mod. Literaturwissenschaft (Acta Jutlandica),

Aarhus 1952 ─ G. Müller, Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft

und Goethes Morphologie (Die Gestalt 13), Halle 1944

W. Muschg, Tragische Literaturgeschichte, Bern 31958 ─ R.

Newald, Einführung in die Wissenschaft der deutschen Sprache

und Literatur (Handbibliothek des Wissens), Lahr i. B. 21949 ─

H. Oppel, Die Literaturwissenschaft in der Gegenwart. Methodologie

und Wissenschaftslehre, Stuttgart 1939 ─ H. Oppel, Morphologische

Literaturwissenschaft. Goethes Ansicht und Methode,

Mainz 1947 ─ J. Petersen, Die Wissenschaft von der Dichtung.

System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft, 1. Bd.,

Berlin 1938 ─ R. Petsch, Deutsche Literaturwissenschaft. Begründung

zu ihrer Methode (Germanische Studien 222), Berlin 1940 ─

I. A. Richards, Principles of Literary Criticism, London 141955 ─

I. A. Richards, Practical Criticism. A Study of Literary Judgement,

London 91954 ─ J. P. Sartre, Qu'est-ce que la littérature? Paris

101948 ─ K. Schultze-Jahde, Zur Gegenstandsbestimmung der

Philologie und Literaturwissenschaft, Berlin 1928 ─ E. Staiger,

Morphologische Literaturwissenschaft, Trivium 2 (1944) S. 223─

227 ─ R. Unger, Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte

(Gesammelte Studien 1), Berlin 1929 (Darin S. 49─87:

Weltanschauung und Dichtung) ─ M. Wehrli, Zum Problem der

Historie in der Literaturwissenschaft, Trivium 7 (1949) S. 44─59 ─

R. Wellek und A. Warren, theory of Literature, New York

31949 (übers. E. u. M. Lohner, Darmstadt 1959) ─ H. Wutz, Zur

Theorie der literarischen Wertung. Kritik vorliegender Theorien

und Versuch einer Grundlegung (Neue geisteswissenschaftliche

Studien 1), Tübingen 1957.



III. ZUR ÄSTHETIK UND KUNSTWISSENSCHAFT



O. Benesch, Moderne Kunst und das Problem des Kulturverfalls,

DVS 32 (1958) S. 263─285 ─ K. Bühler, Die ästhetische Bedeutung

der Spannung, ZfÄsth 3 (1908) S. 207─254 ─ E. Cassirer,

Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde, Berlin 1923/25 ─

E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Oxford-

Freiburg i. B. 1956 ─ J. Dewey, Art as Experience, 1934 ─ W. Elton

(hg.), Aesthetics and Language, Essays by Gallie, Ryle usw.,
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Oxford 1954 ─ D. Frey, Kunstwissenschaftliche Grundfragen.

Prolegomena zu einer Kunstphilosophie, Wien 1946 ─ D. Frey,

Probleme einer Geschichte der Kunstwissenschaft, DVS 32 (1958)

S. 1─37 ─ A. Görland, Ästhetik. Kritische Philosophie des Stils,

Hamburg 1937 ─ E. Grassi, Kunst und Mythos (Rowohlts dt.

Enzyklopädie 36), Hamburg 1957 ─ R. Guardini, Über das Wesen

des Kunstwerks, Stuttgart 21949 ─ Th. Häcker, Schönheit. Ein

Versuch (Hochlandbücherei), München 31940 ─ N. Hartmann,

Ästhetik, Berlin 1953 ─ M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes,

in: Holzwege (Frankfurt a. M. 31957) S. 7─68 ─ G. R.

Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manierismus in der

europäischen Kunst (Rowohlts dt. Enzyklopädie 50/51), Hamburg

1957 ─ G. R. Hocke, Europa und das Absurde, Merkur 127 (1958)

S. 844─857 ─ Fr. Kainz, Vorlesungen über Ästhetik, Wien 1948 ─

H. Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung,

Ausdruck, Bern 1954 ─ J. König, Die Natur der ästhetischen Wirkung.

In: Wesen und Wirklichkeit des Menschen (Festschrift

Pleßner), Göttingen 1958, S. 283─332 ─ S. Langer, Feeling and

Form. A Theory of Art developed from Philosophy in a New Key,

London 1953 ─ H. Lützeler, Einführung in die Philosophie der

Kunst, 1934 ─ M. Mell, Über die Kunst, Wissenschaft und Weltbild

8 (1955) S. 121─126 ─ Th. A. Meyer, Die Persönlichkeit des

Künstlers im Kunstwerk und ihre ästhetische Bedeutung, ZfÄsth 9

(1914) S. 47─65 ─ R. Müller-Freienfels, Psychologie der Kunst,

3 Bde, 21922/38 ─ H. Nohl, Über den metaphysischen Sinn der

Kunst, DVS 1 (1923) S. 359─369 ─ H. Nohl, Die mehrseitige

Funktion der Kunst, DVS 2 (1924) S. 179─192 ─ H. Nohl, Die

ästhetische Wirklichkeit. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 1935 ─

F. O. Nolte, Art and Reality, Lancaster 1942 ─ H. Osborne,

Aesthetics and Criticism, London 1955 ─ St. C. Pepper, The Basis

of Criticism in the Arts, Cambridge (Mass.) 31949 ─ W. Perpeet,

Von der Zeitlosigkeit der Kunst, JbfÄsth 1 (1951) S. 1─28 ─ E.

Preetorius, Die Krise von Wirklichkeit und Kunst, Universitas 9

(1954) S. 17─24 ─ K. Riezler, Traktat vom Schönen. Zur Ontologie

der Kunst (Philosophische Abhandlungen 3), Frankfurt a. M. 1935 ─

E. Rothacker, Die Wirkung des Kunstwerks, JbfÄsth 2 (1954)

S. 1─22 ─ H. Schrade, Über das künstlerische Werturteil, Universitas

12 (1957) S. 369─378 ─ E. Staiger, Versuch über den Begriff des

Schönen, Trivium 3 (1945) S. 185─197 ─ E. Staiger, Musik und

Dichtung, Zürich 21959 ─ O. Sterzinger, Grundlinien der Kunstpsychologie,

2 Bde, Wien 1938/39 ─ K. Wais, Symbiose der

Künste. Forschungsgrundlagen zur Wechselberührung zwischen

Dichtung, Bild- und Tonkunst, Stuttgart 1936 ─ W. Weischedel,

Die Tiefe im Antlitz der Welt. Entwurf einer Metaphysik der

Kunst (Philos. u. Geschichte 73/74), Tübingen 1952 ─ H. Wölfflin,

Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1915.

|#f0711 : 695|



IV. ALLGEMEINES ZUR POETIK



B. Allemann, Über das Dichterische, Pfullingen 1957 ─ E.

Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen

Literatur, Bern 1948 ─ K. Berger, Die Dichtung im Zusammenhang

der Künste, DVS 21 (1943) S. 229─251 ─ I. Behrens, Die

Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, vornehmlich vom 16.

bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen,

Zeitschr. f. roman. Philol., Beiheft 92, 1940 ─ L. Beriger,

Der Symbolbegriff als Grundlage einer Poetik, Helicon 5 (1944)

S. 33─51 ─ K. Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie

vom Ausgang des klassischen Altertums bis auf Goethe und Wilhelm

von Humboldt (Das Erbe der Alten 9/10), 2 Bde, Leipzig

1914/24 ─ H. Brinkmann, Zur Daseinsweise der Dichtung. Notwendige

Unterscheidungen, WW 1 (1950/51) S. 218─223 ─

K. Burke, The Philosophy of Literary Form. Studies in Symbolic

Action, New York 21957 ─ B. Croce, La Poesia. Introduzione alla

critica e storia della poesia e della letteratura, Bari 51953 ─ H.

Cysarz, Die gattungsmäßigen Formmöglichkeiten der heutigen

Prosa, Helicon 2 (1939/40) S. 169─180 ─ C. Day Lewis, The Poetic

Image, London 1947 ─ W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung.

Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Göttingen, 131957 ─ A. Döb-

lin, Die Dichtung, ihre Natur und ihre Rolle, Wiesbaden 1950 ─

J. Elema, Poetica, den Haag 1949 ─ W. Emrich, Zur Ästhetik der

modernen Dichtung, Akzente 1 (1954) S. 371─387 ─ E. Erma-

tinger, Das dichterische Kunstwerk, Leipzig 21923 ─ W. Flemming,

Epik und Dramatik. Versuch ihrer Wesendeutung (Dalp-Taschenbücher

311), München 1955 ─ W. Gunther, Über die absolute

Poesie. Zur geistigen Struktur neuerer Dichtung, DVS 23 (1949)

S. 1─32 ─ K. Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1957 ─

R. Hartl, Versuch einer psychologischen Grundlegung der

Dichtungsgattungen, Wien 1924 ─ H. Hefele, Das Wesen der

Dichtung, 1923 ─ E. Hirt, Das Formgesetz der epischen, dramatischen

und lyrischen Dichtung, Leipzig 1923 ─ H. E. Holthusen,

Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen

bei Eliot und Benn, Merkur 110 (1957) S. 305─330 ─

R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus

dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft,

Halle 1931 ─ R. Ingarden, Das Form-Inhalt-Problem im literarischen

Kunstwerk, Helicon 1 (1938) S. 51─67 ─ Chr. Janentzky,

Über Tragik, Komik und Humor, Jb. d. Freien Dt. Hochstifts

1936/40 S. 3─51 ─ R. Janke, Das Wesen der Ironie. Eine Strukturanalyse

ihrer Erscheinungsformen, Leipzig 1929 ─ K. Jaspers,

Über das Tragische, München 1952 ─ W. Kayser, Literarische

Wertung und Interpretation, Der Deutschunterricht 1952/2 S.

13─27 ─ W. Kayser, Die Wahrheit der Dichter. Wandlung eines
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Begriffes in der deutschen Literatur (Rowohlts dt. Enzyklopädie 87),

Hamburg 1959 ─ W. P. Ker, Form and Style in Poetry, London

1928 ─ H. Keller, Lachen und Weinen, ein Versuch anthropologischer

Literaturbetrachtung, GRM 38 (1957) S. 309─328 ─

J. Körner, Einführung in die Poetik, Frankfurt a. M. 1949 ─

H. Kunisch, Grundformen der Dichtung und des Dichtertums.

Aus Anlaß der »Tragischen Literaturgeschichte« von W. Muschg,

WW 5 (1954/55) S. 36─47 ─ A. Kutscher, Stilkunde der deutschen

Dichtung, 2 Bde, Bremen 1951 ─ R. Langbaum, The Poetry of

Experience. The Dramatic Monologue in Modern Literary Tradition,

London 1957 ─ H. Lausberg, Rhetorik und Poetik. Eine

Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 21959 ─ R.

Maier, Das Gedicht. Über die Natur des Dichterischen und der

dichterischen Formen. Betrachtungen für Lehrende und Lernende,

Düsseldorf 1956 ─ B. Markwardt, Geschichte der deutschen

Poetik, bisher 3 Bde, Berlin 1937/58 ─ F. Martini, Poetik, in:

Dt. Philologie im Aufriß, 12 Sp. 223─279 ─ Th. A. Meyer, Das Stilgesetz

der Poesie, 1901 ─ G. Müller, Über die Seinsweise von

Dichtung, DVS 17 (1939) S. 137─152 ─ G. Müller, Morphologische

Poetik, Helicon 5 (1944) S. 1─22 ─ J. Müller, Der Dichter

und das Wirkliche. Prolegomena zu einer Ästhetik des Realismus,

Wiss. Zeitschr. d. Univ. Jena, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche

Reihe 1, 2. Jg. (1952/53) S. 63─72 ─ K. Müller, Vom

dichterischen Schaffensvorgang. Unter Heranziehung anderer

Zweige künstlerischen Schaffens, Karlsruhe 1957 ─ R. Petsch,

Gehalt und Form, Gesammelte Abhandlungen zur Literaturwissenschaft

und zur allgemeinen Geistesgeschichte, Dortmund 1925 ─

R. Petsch, Die Theorie des Tragischen im griechischen Altertum,

ZfÄsth 9 (1914) S. 208─248 ─ J. Pfeiffer, Wege zur Dichtung. Eine

Einführung in die Kunst des Lesens, Hamburg 41953 ─ J. Pfeiffer,

Über das Dichterische und den Dichter. Beiträge zum Verständnis

deutscher Dichtung, Hamburg 1956 ─ H. Pongs, Das Bild in der

Dichtung, 2 Bde, Marburg 1929, 1939 ─ M. Rieser, Analyse des

poetischen Denkens, Wien 1954 ─ O. Rommel, Die wissenschaftlichen

Bemühungen um die Analyse des Komischen, DVS 21

(1943) S. 161─195 ─ F. Schonauer, Manierismus und Modernismus.

Zwei Begriffe zur Klärung des Zustandes der deutschen Literatur

von heute, Wort und Wahrheit 13 (1958) S. 104─117 ─ J. Schwarz,

Der Lebenssinn der Dichtungsgattungen, Euph. 42 (1942) S. 93─

108 ─ R. Skelton, The Poetic Pattern, London 1956 ─ Th. Spoerri,

Der Weg zur Form. Dasein und Verwirklichung des Menschen im

Spiegel europäischer Dichtung, Hamburg 1954 ─ E. Staiger,

Grundbegriffe der Poetik, Zürich 31956 ─ E. Staiger, Zum Problem

der Poetik, Trivium 6 (1948) S. 274─296 ─ E. Staiger, Die

Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte,

Zürich 21957 ─ P. Stöcklein, Sprache und Dichtung. Zur modernen

artistischen Verkennung ihres Verhältnisses, in: Im Umkreis
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der Kunst, eine Festschrift für E. Preetorius, S. 246─260 ─ G. Storz,

Sprache und Dichtung, München 1957 ─ P. Valéry, Introduction

à la poétique, Paris 1938 ─ H. Weston, Form in Literature. A

Theory of Technique and Construction, London 1934 ─ E. Wink-

ler, Das dichterische Kunstwerk, Heidelberg 1924 ─ E. G. Wolff,

Ästhetik der Dichtkunst. Systematik auf erkenntnistheoretischer

Grundlage, Zürich 1944 ─ M. J. Wolff, Zum Wesen des Komischen,

GRM 9 (1921) S. 65─75.



V. STILISTIK

(einschließlich wichtiger Erscheinungen aus der allgemeinen

Sprachwissenschaft und der Verslehre)


Vorbemerkung: Untersuchungen zu Einzelfragen mußten ausgeschieden

bleiben.



H. Ammann, Die menschliche Rede. Sprachphilosophische

Untersuchungen, 2 Bde, Lahr i. B. 1925, 1928 ─ M. Aschen-

brenner, Gestalt und Leben der Sprache, München 1952 ─ Ch.

Bally, Précis de stylistique, Genf 1905 ─ L. Beriger, Poesie und

Prosa. Eine grundsätzliche Betrachtung, DVS 21 (1943) S. 132─

160 ─ K. Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der

Sprache, Jena 1934 ─ W. Clemen, The Development of Shakespeares

Imagery, London 1953 ─ A. Closs, Die freien Rhythmen in

der deutschen Lyrik, Bern 1947 ─ M. Cressot, Le style et ses

techniques, Paris 1947 ─ F. Crusius und H. Stubenbauer, Römische

Metrik. Eine Einführung, München 21956 ─ S. Dresden, Stylistique

et Science de la Littérature, Neophilologus 36 (1952) S. 193─

205 ─ T. S. Eliot, Der Vers. 4 Essays. Übers. H. H. Schaeder und

G. Hansel, Frankfurt 1952 ─ O. Funke, Innere Sprachform. Einführung

in A. Martys Sprachphilosophie (Prager Deutsche Studien

32), Reichenberg 1924 ─ G. Gerber, Die Sprache als Kunst,

2 Bde, Berlin 21885 ─ H. Glinz, Der deutsche Satz. Wortarten und

Satzglieder, wissenschaftlich gefaßt und dichterisch gedeutet,

Düsseldorf 1956 ─ M. Grammont, Le vers français. Ses moyens

d'expression, son harmonie, Paris 31923 ─ R. Haller, Studien über

den deutschen Blankvers, DVS 31 (1957) S. 380─424 ─ A. Heusler,

Deutsche Versgeschichte mit Einschluß des altenglischen und altnordischen

Stabreimverses, 3 Bde, Berlin 21956 ─ P. R. Hof-

stetter, Vom Leben des Wortes (Erkenntnis und Besinnung 11)

Wien 1948 ─ H. Holz, Sprache und Welt. Probleme der Sprachphilosophie,

Frankfurt a. M. 1953 ─ K. Jaspers, Die Sprache, in:

Von der Wahrheit, 5. Kap. S. 395─448, München 1947 ─ Fr. G.

Jünger, Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht, Stuttgart

1952 ─ Fr. Kainz, Zur dichterischen Sprachgestaltung, ZfÄsth 18

(1925) S. 195─222 ─ M.-H. Kaulhausen, Die Gestalt des Gedichts.
|#f0714 : 698|



Seine sprechkundliche Interpretation und Nachgestaltung, Göttingen

1953 ─ W. Kayser, Kleine deutsche Versschule (Dalp-Taschenbücher

306), Bern 51957 ─ H. Lausberg, Elemente der literarischen

Rhetorik, München 1949 ─ J. Legras, Réflexions sur l'art de

traduire, Paris 1939 ─ B. Liebrucks, Über das Wesen der Sprache.

Vorbereitende Betrachtungen, Zeitschr. f. philos. Forschung 5

(1950) S. 465─484 ─ F. Martini, Persönlichkeitsstil und Zeitstil.

Perspektiven auf ein literaturwissenschaftliches Thema, Studium

Generale 8 (1955) S. 31─40 ─ F. Martini, Das Wagnis der Sprache.

Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn, Stuttgart

31958 ─ F. Meyer, Schöpferische Sprache und Rhythmus, Berlin

1959 ─ W. Moog, Die homerischen Gleichnisse, ZfÄsth 7 (1912)

S. 104─128, 266─302, 353─371 ─ C. K. Ogden und I. A. Richards,

The Meaning of Menaning. A Study of the Influence of Language

upon Thought and of the Science of Symbolism, New York 1936 ─

J. Ortega y Gasset, Elend und Glanz der Übersetzung (spanisch

und deutsch, übers. G. Kilpper), München 21957 ─ M. Picard, Die

Welt des Schweigens, Zürich 1948 ─ W. Porzig, Das Wunder der

Sprache. Probleme, Methoden und Ergebnisse der modernen

Sprachwissenschaft (Sammlung Dalp 71), Bern 1950 ─ U. Pretzel,

Dt. Verskunst. Mit einem Beitrag über altdeutsche Strophik von

H. Thomas, in: Dt. Philol. im Aufriß, 3. Bd. Sp. 2327─2466 ─

K. Rupprecht, Einführung in die griechische Metrik, München

31949 ─ W. Schneider, Ausdruckswerte der deutschen Sprache.

Eine Stilkunde, Leipzig 1931 ─ K. Schultze-Jahde, Ausdruckswerk

und Stilbegriff, Berlin 1930 ─ D. Seckel, Hölderlins Sprachrhythmus.

Mit einer Einleitung über das Problem des Rhythmus

und einer Bibliographie zur Rhythmusforschung (Palaestra 207),

Berlin 1937 ─ H. Seidler, Sprache und Gemüt. Versuch zur Grundlegung

einer allgemeinen Stilistik, Anz. der philos.-hist. Kl. der

Wiener Akademie der Wiss. Jg. 1952, Nr. 16 S. 212─227 ─ H.

Seidler, Allgemeine Stilistik, Göttingen 1953 ─ B. Snell, Der Aufbau

der Sprache, Hamburg 1952 ─ B. Snell, Griechische Metrik,

Göttingen 1955 ─ R. Spindler, Englische Metrik, 1927 ─ L. Spitzer,

Stilstudien, 2 Bde, München 1928 ─ L. Spitzer, Linguistics and

Literary History. Essays in Stylistics, Princeton University 1948 ─

Th. Spoerri, Französische Metrik, 1929 ─ Th. Spoerri, Der Rhythmus

des romanischen Verses, Trivium 9 (1951) S. 193─213 ─

F. Stanzel, Episches Präteritum, erlebte Rede, historisches Präsens,

DVS 33 (1959) S. 1─12 ─ J. Stenzel, Philosophie der Sprache

(Handbuch der Philosophie IV, 1), München 1934 ─ G. Storz,

Ein Versuch über den Alexandriner, in: Festschrift Kluckhohn-

Schneider, Tübingen 1948 ─ G. Storz, Über den »Monologue

intérieur« oder die »Erlebte Rede«, Der Deutschunterricht 1955/1,

S. 41─53 ─ C. F. P. Stutterheim, Stijlleer, Den Haag 1947 ─ C. F. P.

Stutterheim, Modern Stylistics, Lingua 1 (1948) S. 410─426 ─

W. Suchier, Französische Verslehre auf historischer Grundlage,
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Tübingen 1952 ─ F. Tschirch, Weltbild, Denkform, Sprachgestalt

in der heutigen Sprachwissenschaft, Berlin 1954 ─ W. M. Urban,

Language and Reality. The Philosophy of Language and the

Principles of Symbolism, London 1939 ─ Zum Übersetzungsproblem,

verschiedene Beiträge, Akzente 1956 S. 405─431 ─

K. Vossler, Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg 1925 ─

L. Weisgerber, Das Gesetz der Sprache als Grundlage des Sprachstudiums,

Heidelberg 1951 ─ H. Werner, Grundfragen der Sprachphysiognomik,

Leipzig 1932 ─ P. B. Wessels, Vom Lachen der

Sprache, WW 6 (1955/56) S. 145─154 ─ E. Winkler, Grundlegung

der Stilistik, Bielefeld 1929.



VI. LYRIK UND DIDAKTIK



Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutsch. Gedichte, hg. H. O.

Burger, Halle 1942 ─ Wege zum Gedicht. Interpretationen, hg.

Hederer und Hirschenauer, München 1956 ─ Die deutsche Lyrik.

Form und Geschichte. Interpretationen, hg. von B. v. Wiese,

2 Bde, Düsseldorf 1956 ─ G. Benn, Probleme der Lyrik, Wiesbaden

41956 ─ F. Beissner, Geschichte der deutschen Elegie,

Berlin 1941 ─ E. Castle, Das Formgesetz der Elegie, ZfÄsth 37

(1943) S. 42 ff. ─ H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik.

Von Baudelaire bis zur Gegenwart (Rowohlts dt. Enzyklopädie 25),

Hamburg 1956 ─ F. Goertz, Vom Wesen der deutschen Lyrik,

Berlin 1935 ─ R. Grimm, Montierte Lyrik, GRM 39 (1958) S. 178─

192 ─ H. Henel, Erlebnisdichtung und Symbolismus, DVS 32

(1958) S. 71─98 ─ R. Ibel, Gestalt und Wirklichkeit des Gedichts,

Düsseldorf 21954 ─ E. Jirgal, Kennzeichen moderner Lyrik, Wort

in der Zeit 3 (1957) S. 9─96 ─ M.-H. Kaulhausen, Die Bedeutung

der irrationalen Sprachkräfte für die Gestalt des lyrischen Gedichts,

DVS 25 (1951) S. 232─249 ─ W. P. Ker, The Art of Poetry, Oxford

1923 ─ W. Killy, Wandlungen des lyrischen Bildes (Kleine Vandenhoeck-Reihe

22/23), Göttingen 21958 ─ J. Klein, Geschichte der

deutschen Lyrik von Luther bis zum Ausgang des 2. Weltkrieges,

Wiesbaden 1957 ─ M. Kommerell, Gedanken über Gedichte,

Frankfurt a. M. 1943 ─ F. Lockemann, Das Gedicht und seine

Klanggestalt, Emsdetten 1952 ─ S. Melchinger, Ist moderne Lyrik

modern? Wort und Wahrheit 11 (1956) S. 598─620 ─ F. Meyer,

Vom Leben der Strophe in der neueren deutschen Lyrik, DVS 25

(1951) S. 436─473 ─ W. Mönch, Das Sonett. Gestalt und Geschichte,

Heidelberg 1954 ─ G. Müller, Geschichte des deutschen Liedes,

München 1925 ─ G. Müller. Die Grundformen der dt. Lyrik,

in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, 5. Bd. (1941)

S. 95─135 ─ R. Petsch, Die lyrische Dichtkunst, Halle 1939 ─

J. Pfeiffer, Das lyrische Gedicht als ästhetisches Gebilde, Halle 1931

J. Pfeiffer, Umgang mit Dichtung. Eine Einführung in das Ver-
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ständnis des Dichterischen, Hamburg 81954 ─ J. Pfeiffer, Was

haben wir an einem Gedicht?, Hamburg 1955 ─ W. Ross, Zur

Frage der Wertung von Gedichten, WW 9 (1959) S. 24─36 ─

K. Spitteler, Vom Lehrgedicht (Ästhetische Schriften), 1947 ─

E. Staiger, Lyrik und Lyrisch, Der Deutschunterricht 1952/2

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E. Voege, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit in der Lyrik (Wortkunst,

Neue Folge 8), München 1932 ─ E. Waldinger, Tradition

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Ursprünge der Lyrik, 1924 ─ J. Wiegand, Abriß der lyrischen

Technik, Fulda 1951.



VII. EPIK



Th. W. Adorno, Form und Gehalt des zeitgenössischen Romans,

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Tübingen 1951 ─ E. Aulhorn, Zur Gestaltung seelischer Vorgänge

in neuerer Erzählung, in: Vom Geiste neuer Literaturforschung,

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W. Hellmann, Objektivität, Subjektivität und Erzählkunst. Zur

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des Erzählens, Stuttgart 1955 ─ E. Leisi, Der Erzählstandpunkt

in der neueren englischen Prosa, GRM 37 (1956) S. 40─51 ─

F. Lockemann, Die Bedeutung des Rahmens in der deutschen

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Gestalt und Wandlungen der deutschen Novelle, München 1957 ─

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Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über

die Formen großer Epik, Berlin 1920 ─ G. Lukács, Der historische

Roman, Berlin 1955 ─ M. Lüthi, Das europäische Volksmärchen.

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gegenwärtigen Romans, Der Deutschunterricht 1951/3 S. 5─28 ─

H. Meyer, Zum Problem der epischen Integration, Trivium 8

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Mit einer Einleitung: Zur Geschichte der Verseinlage (Palaestra 145),

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1956.



VIII. DRAMATIK



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Dramaturgisches Fundament, Berlin 1941 ─ A. Beiss, Das Drama

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Hochschule Braunschweig 4), Braunschweig 1954 ─

W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928 ─

B. Brecht, Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische

Dramatik, Frankfurt a. M. 1957 ─ M. Dietrich, Europäische

Dramaturgie. Der Wandel ihres Menschenbildes von der Antike bis

zur Goethezeit, Wien 1952 ─ E. Dosenheimer, Das deutsche soziale

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Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit, Studium Generale

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lachenden und einem weinenden Auge. Ein Versuch über das

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F. Kalbeck, Dichtung und Fernsehspiel. Versuch einer grundsätz-
|#f0719 : 703|



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einer Phänomenologie der Dichtkunst und Morphologie des Dramas,

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192 ff. ─ B. v. Wiese, Geschichte und Drama, DVS 20 (1942)

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2. Sonderheft (1954) S. 45─54 ─ G. Zwerenz, Aristotelische und

Brechtsche Dramatik. Versuch einer ästhetischen Wertung, Rudolstadt

1956.

|#f0720 : 704|



IX. BESONDERE FRAGEN



B. Allemann, Ironie und Dichtung (F. Schlegel, Hardenberg,

Solger, Kierkegaard, Nietzsche, Th. Mann, Musil), Zürich 1956 ─

E. Auerbach, Literatursprache und Publikum in der lateinischen

Spätantike und im Mittelalter (aus dem Nachlaß), Bern 1958 ─

E. Betti, Probleme der Übersetzung und der nachbildenden Auslegung,

DVS 27 (1953) S. 489─508 ─ O. Brunner, Neue Wege

der Sozialgeschichte, Göttingen 1956 ─ W. Dilthey, Die große

Phantasiedichtung, in: Gesammelte Aufsätze zur europäischen

Literatur, Göttingen 1954 ─ W. Emrich, Das Problem der Symbolinterpretation

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(1952) S. 331─352 ─ Ders.: Symbolinterpretation und Mythenforschung,

Euph. 47 (1953) S. 38─67 ─ Ders., Die Literaturrevolution

und die moderne Gesellschaft, Akzente 3 (1956) S. 173─191 ─

L. Fulda, Die Kunst der Übersetzung, Jb. d. Preuß. Akademie der

Künste 1929, S. 263─286 ─ F. Genzmer, Vom Übersetzen, WW 9

(1959) S. 65─69 ─ A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und

Literatur, 2 Bde, München 1953 ─ P. Heimann, Der Film als Ausdruck

der Gegenwartsliteratur, Universitas 12 (1957) S. 345─354 ─

F. G. Jünger, Über das Komische, Zürich 1948 ─ F. Kainz, Das

Steigerungsphänomen als künstlerisches Gestaltungsprinzip. Eine

literaturpsychologische Untersuchung, Zeitschr. f. angewandte

Psychologie, Beiheft 33, Leipzig 1924 ─ W. Kayser, Das Groteske.

Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg

1957 ─ Ders.: Das literarische Leben der Gegenwart, Merkur 134

(1959) S. 359─379 ─ St. Leacock, Humour. A Book of Discovery,

London 1935 ─ H. Lützeler, Philosophie des Humors, Zeitschr. f. dt.

Geisteswissenschaft 2 (1939/40) S. 158─176 ─ R. N. Maier, Das

Symbolische des Gedichts und die Erziehung des symbolischen

Sinns, WW 6 (1955/56) S. 41─53 ─ W. Muschg, Dichtertypen, in:

Weltliteratur, Festgabe für F. Strich zum 70. Geburtstag, Bern

1952 ─ M. Pagnol, Notes sur le rire, Paris 1947 ─ H. Plessner,

Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen

menschlichen Verhaltens, Bern 21950 ─ L. Radermacher, Lachen

und Weinen, Wien 1947 ─ J. Ritter, Über das Lachen, Bl. f. dt.

Philos. 14 (1940) S. 1 ff ─ R. Scherer, Das Symbolische. Eine

philosophische Analyse, Philos. Jb. d. Görresgesellsch. 48, Fulda

1935 ─ L. L. Schücking, Die Soziologie der literarischen Geschmacksbildung

(Philos. Reihe 76), 21931 ─ E. Staiger, Vom

Pathos. Ein Beitrag zur Poetik, Trivium 2 (1944) S. S. 77─92 ─ F.

Strich, Der Dichter und die Zeit (Gesammelte Aufsätze), Bern

1947 ─ F. Weinhandl, Über das aufschließende Symbol, Sonderheft

6 der Dt. philos. Gesellsch., Berlin 1929.

|#f0721 : 705|



REGISTER


[Beginn Spaltensatz]

Abstraktion 269, 457



Ableitungssilben 158



Adjektiv s. Eindruckswort



Akt 577 f.



Akteinteilung 578



Aktualisierung 155 f., 405 f., 552



Akzent 182, 189



Alexandriner 199 f., 366, 502



Allegorie 74, 77, 223, 271 f.



Alliteration 195



Alternieren 189



Altersstil 252



Altertum 438



Ambivalenz 118, 125 f., 569



Anakreontik 380



Anapäst 190



Anekdote 373 f., 466, 517



Angebot und Absatz 668



Anmut 287 f.



Anrede 499



Anruf 203 f., 597 f.



Anschaulichkeit 19 f., 137, 166 f., 208 f.,

408



Antike 2, 614 f., 619



Antithese 314



Antithetik 215



Aphorismus 434



Arbeiterdichtung 128



Arten des Erzählens 463



Arten, epische 505 ff.



Artikulation 20, 179 ff., 194



Aspekte 164, 483



Assonanz 195



Ästhetik 4, 19, 134 f.



Ästhetizismus 8, 664



Atmosphäre 102, 482, 488, 494, 587 f.



Aufbau 18, 145, 261 ff., 304, 308, 311,

314, 315, 633



Aufbauglieder 259, 462 f.



Aufbaukräfte 256 ff.



Auffassungsweise 94 ff., 237



Aufklärung 4, 108, 119, 239, 254, 661



Auftakt 191



Auftritt 577



Aufzeichnung 41



Aufzug s. Akt



Ausarbeitung 87



Ausbildung fester Formen 366



Ausbildung geschichtlicher Gattungen

361 ff.



Ausdrucksdrang 80



Ausdrucksgestaltung 21



Ausgewogenheit 273 f.



Ausruf 202, 598



Aussage, persönliche 68 f.



Außenwelt 39, 64



Autor 461

[Spaltenumbruch]

Badezellenbühne 609



Ballade 262, 264, 362, 375, 381, 423,

466, 482, 491, 504 f., 508 ff.



Ballett 566



Bänkelsang 510



Barock 3, 79, 108, 250, 290, 297, 310,

313 f., 331, 383, 538, 609, 614 f., 617,

657, 659, 662



Barockroman 263, 282, 534, 538, 543,

550, 555, 562



Bauerndichtung 128, 367



Bauformen 412, 528 f., 553



Bedingtheit, geschichtliche 108



Begrenzung und Auflösung 299



Begriff 269



Belletristik 563



Bericht 456 f., 480, 598



Beschreibung 258 f., 481



Beseelung 210



Betonung, schwebende 193



Betrachtung 351 f., 440, 480



Bewegung 263 f., 493



Bewußtseinsstrom 548



Beziehungen der Künste 658



Bild 15 205 ff., geschlossenes 211 ff.,

sprachliches 408, 500, 599



Bildung 559, 670, 669



Bildung von Typen 370 ff.



Bildungsgemeinschaften 243 f.



Bildungsraum 130



Bildungsroman 365, 537, 539, 543, 558 f.



Bindewörter 176



Bindung 261 ff.



Bindung des Stils, geschichtliche und

soziale 241 ff.



Bindung und Lösung 299



Blankvers 192, 366, 502



Blicknähe 303



Botenbericht 584, 606



Brieferzählung 497



Buchepos 505



Buchhändler 667



Bühne 443, 593



Bühnenanweisung 593, 613



Bühnenaufführung 608, 610 ff.



Bühnenraum 593



Bühnenspiel 621



Bühnenwesen 667





Charakterisierung 496



Charakterkomödie 644



Chiffre 272, 411, 552



Chor 566, 591



Chorische Poesie 421



Chorlied 416



Christentum 106 f., 619



chronicle 550

[Ende Spaltensatz] |#f0722 : 706|



[Beginn Spaltensatz]

Chronik 562



Concetti 311





Daktylus 187, 190



Darbietung 621 ff.



Darbietungsart 608



Darstellung 355 f., 567 f., 570

existentielle 378, sprachliche 27,

szenische 480 f., theoretische 378



Darstellungsweise 28, 152



Deformation s. Verfremdung



Denken 26 f.



Derbheit 286



Dialektik, geschichtliche 298



Dialog 566, 597



Dichte 226 f.



Dichter 49 f., 78 ff.



Dichtertypen 6, 80 f.



Dichtung 1 ff., 7 ff., 14 ff., 32, 37 ff., 47 ff.,

60 ff., 71 ff., 120 ff., 134 ff., 148 f., 166,,

181, 216, 221, 227, 228, 244, 308, 331,

384, 664 s. a. Kunstwerk



Dichtungsarten 344 ff.



Dichtungsgattungen 344 ff., 381



Dichtungslehre s. Poetik



Dichtungstheorie 363



Dichtungstypen 370



Didaktik 362, 369, 382, 384, 432, 438 ff.



Differenzierung 254



Dilettant 81



Dinggedicht 66, 392 ff.



Distichon 368, 421, 437



Dithyrambus 428



Drama 262, 267, 382, 482, 494, 503, 512,

564 ff., 572, 613 f., 620, 632


analytisches 575, bürgerliches 627,

christliches 617, deutsches 618, griechisches

616, musikalisches 623


Bewegungsdrama 584 f., 620

Charakterdrama 625

Einortdrama 583 f., 620

Entscheidungsdrama 620

Figurendrama 604

Geschehnisdrama 621

Ich-Drama 624

Lesedrama 621

Melodrama 405, 624

Monodrama 624

Musikdrama 623

Schicksalsdrama 625

Sprechdrama 623



Dramatic Monologue 360, 422 ff., 510,

624



Dramatik 69, 368 f., 375, 443, 463, 482,

506, 509, 564 ff., 618, 622



dramatisch 349 f., 352, 369, 377, 567 f.,

594, 622



Dreiakter 578



Durchhalten der tragischen Erschütterung

103 ff.



Dynamik 172, 204 f.





echt und unecht 338



Einakter 577

[Spaltenumbruch]

Einbildungskraft 80



Eindruckswort 160, 168 f., 306, 495, 531



Einfache Formen 371 ff.



Einfalt 126



Eingangsformeln 461



Einheit 143, 227, 256 ff., 576, 603



Einheiten 585



Einlage 381, 385



Einlinigkeit 554



Einortdrama s. Drama



Einstellung, ästhetische 664, theoretische

144



Einteilungen der Künste 17



Elegie 368, 381, 421, 523



Emblem 223 f., 250



Emphase 152



Enthumanisierung 400



Entpersönlichung 89



Entwicklungsroman 558



Epigramm 368, 397, 436



Epik 69, 263, 368 f., 375, 381, 443, 456 ff.,

505 ff., 568, 571, 587, 622



episch 349 f., 352, 367, 369, 377, 456 ff.,

464, 505, 606, 622



Episode 471



Epochenstil 249 ff.



Epos 466, 482, 491, 506, 524 ff.



Entdinglichung 594



Ereignisroman 560



Erfahrung 22, 86



Erfahrungswelt 23



Erfassung 14 f., 22 f., 69



Erfassungsakte 15



Erfassungskern 158, 163



Erfassungsweisen 164, 165



Erfolg 686



Erfühlung 211



Erhabenes 96 f., 289 f., 629



Erhebung 105, 678, 680



Erkennen 26 f.



Erlebnis 26 f., 85 ff., 123 ff., 134, 388, 429



Erlebniskreise 127 ff.



Erlebnislyrik 391



Erlebnisweise 23



Ernst 95 ff., 503



Er-Roman 544



Erschütterung 98, 101



Erzählen 355, 456 ff., 505

auktoriales 476, breites und knappes

466, personales 476, Elementarformen

479 ff.



Erzähler 461 f., 495, 499, 526, 546



Erzählergegenwart 470



Erzählerstandpunkt 472 ff.



Erzählung 519



Erzählzeit 471



Essay 555



Exposition 575



Expressionismus 310, 316, 661





Fabel 66, 142, 460, 522, 545



Fachausdrücke 144



Fachsprache 346

[Ende Spaltensatz] |#f0723 : 707|



[Beginn Spaltensatz]

Fallhöhe 115, 634



Farbworte 160 f.



Farce 294, 646



Feiergestaltung 673



Feiern 673 f.



Feldgliederung 23 f.



Festspiele 594, 614, 673



Figuren 490



Figuren, rhetorische 214



Figurenroman 551



Fiktion 359, 463



Film 18, 621 f.



flächenhaft - tiefenhaft 299



Form 17, 53, 136, 138 ff., 145, 334 ff.,

418, äußere 140, deutschorganische

283, geschlossene 299, gotische 284,

innere 141, offene 299, statisch-romanische

282 f.



Formen, einfache 371 ff., grammatische

162 ff., höhere 375, traditionelle 250



Formeln 142, 155, 185, 531



Formkultur 391



Formung 25, 62, 320, 324



Fortgang 467 ff.



Fragesätze 176



Freie Rhythmen 187



Freiheit des Geistes 111 ff.



Fremdsprachenteile 242



Frömmigkeit 52



Fügung 145



Fülligkeit 33



Fünfakter 578



Funktionalismus 261



Funktionalität 467



Furcht 636



Furcht und Mitleid 99



Futurum 164





Ganzheit 256 ff., 324, 376, 505, 607



Gassenhauer 403 f.



Gattung 4, 362 f., 438



Gebärden, sprachliche 371



Gebärdenspiel 594



Gebilde 7, 15, 18, 21, 30, 49, 65, 75, 137,

145, 195, 205, 256, 654, 658



Gebildehaftigkeit 53, 56



Gebundenheit, geschichtliche 365 f., 662



Gedankenlyrik 428 ff.



Gedicht 29, 380



Gefüge, sprachliches 71



Gefügesätze 177



Gefühl 16 f., 30, 134



Gefühlhaftigkeit des Wortgehalts 157



Gegenspiel 590



Gegenstand 14 f., 22



Gegenstand, ästhetischer 7, 20, 135, 157



Gegenstandswort 159, 168 f., 495



Gegenwart 483



Gehalt 23, 64, 72, 138 ff., 142, 145



Geist 20 f.



Gelegenheitsdichtung 671



Gemeinschaft 241 ff.



Gemeinschaftslied 419

[Spaltenumbruch]

Gemüt 15, 23, 26, 30, 34, 86, 146 ff., 389,

396 ff., 678 f.



Gemüthaftigkeit 398 f.



Gemütlosigkeit 396



Gemütsführung 679



genera dicendi 284



Genie 81



Gepräge 145, 148



Gesamtgestalt 233 ff.



Gesamtwortbestand 167



Gesang 416, 419 f.



Geschehen 527



Geschichte 459, 627 f.



Geschichtetheit des Kunstwerks 137



Geschichtsdichtung 66



Geschichtsdrama 627 f.



Geschichtsroman 367, 493, 560 ff.



Geschlossenheit 93, 291



Geschmack 280, 330, 660 f., 685 ff.



Geschmacksgeschichte 685



Gesellschaftskomödie 645



Gesellschaftsleben 672 f.



Gesetzlichkeit menschlichen Erfassens 69



Gespanntheit 275 ff., 567, 570



Gespräch 203, 461, 496 f., 566



Gestalt 31, 36, 46, 56, 88, 136, 138 ff.,

142 f., 145, 280, 675, 684



Gestalthaftigkeit 75



Gestaltung 17, 45, 50, 64, 68, 91, 107,

118, 121, 145, 172, 228, 295 ff., 334,

541 ff., 615



Gestaltungsebene 284 ff., 301



Gestaltungsformen 295 ff.



Gestaltungskraft 80



Gestaltungskräfte 593 ff., 623



Gestimmtheit 15



Gewichtsverteilung der Stilkräfte 225



Gleichnisse 531



Gliederung 169 f., 183, 299



Gliedsätze 178 f.



Goethezeit 79, 661



Gottesdienst 674



Grenzsituation 25, 101



Großepik 523 ff.



Großstadt 129



Groteske 117 ff., 279 f., 311, 316, 368,

392, 504, 552, 611, 645, 676



Grundgestimmtheit 381



Gruppierung der Figuren 491



Guckkastenbühne 609



gut - schlecht 333 ff.





Hakenstil 508



Haltung 23, 26, 52, 349



hamartia 633, 636



Handlung 69, 142, 469, 576 f.



Handlungsablauf 469



Handlungsmotive 260



Handlungsroman 550



Handlungsstränge 469



Häufung 166, 175



Hauptgestalt 492, 588 f.



Hebung 183 ff., 189, 265

[Ende Spaltensatz] |#f0724 : 708|



[Beginn Spaltensatz]

Heimat 129



Heimatkunst 129



Heiterkeit 109 ff., 503, 523, 678



Held 97, 588



Heldendichtung 97



Heldenlied 264, 466, 504, 505, 507 f.



Heldentum 97 f.



heroisch 97



Hexameter 186, 502



Hilfszeitwort 163



Hingerissensein 352 f.



Hochsprache 242



Hörer 462, 499



Hörspiel 18, 612, 621



Humanismus 3, 659



Humor 109 f., 120, 289, 503 ff., 619, 629,

640, 648 f.



Humoreske 523



Hymne 405, 416, 427 f.



Hymnendichtung 674





Ich, lyrisches 380 f., 394 f.



Ichbetontheit 388 ff.



Ich-Erzählung 476



Ich-Form 475



Ich-Lyrik 388



Ich-Origo 473, 478, 495



Ich-Roman 360, 475, 544



Idealismus 4, 107, 296, 298, 300 ff.



Idee 142, 145



Idylle 110, 368, 381, 523



Illusion 65 f.



Impressionismus 250, 254, 306 f.



Inhalt 138 ff., 141 f.



Innenleben 62



Inspiration 85



Integration 282, 556



Intellektualität 399 f., 555



Intentionalität, außersprachliche 458



Interpretation 6 f., 143



Intrige 608, 644



Intrigenkomödie 645



Ironie 111, 293, 553

romantische 112 f., 315

tragische 112, 601





Jambus 190



Jesuitentheater 443



Jugenderziehung 670





Kalendergeschichte 518



Kampf 102



Karikatur 117, 279



Kasus 373



Katastrophe 575



Katharsis 103 f., 636, 638



Kausalitätsgesetz 70



Kehrreim 402, 418 f.



Kirchenlied 420



Kitsch 45, 289



Klang 30



Klangart 194



Klarheit 299

[Spaltenumbruch]

Klassik 4, 307 ff.

französische 617



klassisch 298, 307 ff.



Klassizismus 310



Klauseln s. Kursus



klingend 193



Knittel 192



Komik 109, 113 ff., 238 f., 293 f., 503 f.,

619, 629, 640, 642 ff.



komisch 113 ff., 120



komische Figur 642



Komödie 620 f., 641 ff.



Komposition 282



Konflikte 573



Konkretion 269



Konkretisierung 677



Konstruiertheit 555



Konstruktion 282



Konzeptismus 311



Kriegsdichtung 130 f.



Kritik 682 f.



Kritiker 683



Kultfeier 613



Kultismus 311



Kultus 566



Kunst 1, 14 ff., 20, 52 f., 74 f., 340



Kunstanschauung 660 f.



Kunstballade 508



Kunsterlebnis 677



Kunstgebilde 391 f., 572



Kunstform 630 f.



Künstler 17



Künstlichkeit 401



Kunstlyrik 401 f.



Kunstwerk 14, 17, 66, 134 ff., 281, 320,

633, 654, 662



Kunstwissenschaft 139



Kursus 185



Kurzepik 507 ff.



Kurzgeschichte 504, 518 f., 666





Labyrinth 311



Lachen 109



Lächeln 114



Lächerliches 114



Lage, geschichtliche 295, 655



Landschaft 129



Länge der Erzählung 465



Langvers 508



Laut, Laute 20, 179



Lautbedeutsamkeit 181



Lautnachahmung 195



Lautspiele 311



Lautung 19, 30, 179 ff., 407



Lautungsgestalt 179, 193, 195



Lautungssymbolik 180 ff.



Lautungsträger 181



Lautungswerte 172



Lebensgemeinschaften 242 f.



Lebensraum 129



Lebensromane 558



Lebenssinn 687



Lebensstufen 252 f.

[Ende Spaltensatz] |#f0725 : 709|



[Beginn Spaltensatz]

Lebenszusammenhang 7, 65



Legende 365 f., 372, 487, 517, 521



Lehrgut 670



Lehrdichtung s. Didaktik



Lehrhaftigkeit 438



Lehrstück 443



Leiden 96



Leitbilder 58



Leitmotiv 268 f., 467



Leser 462



Liberalismus 539



Licht 594



Lied 19, 416 ff., 433



Liedeinlagen 596



linear-malerisch 299



Literatur 11, 41 f.



Literaturbereiche 40



Literaturgeschichte 8, 11, 654, 662, 685



Literaturwissenschaft 7, 43



Liturgie 674 f.



Lust 134



Lustigmacher 642



Lustspiel 620 f., 641 f., 648 f.



Lyrik 69, 89, 90, 263, 369 f., 375, 377 ff.,

400, 402, 441, 463, 506, 509, 568, 571



lyrisch 349 f., 351, 355, 367, 369, 377,

455, 605 f., 622





Malerei 17 f.



Manieriertheit 294



Manierismus 310 ff.



Märchen 56, 373 f., 462, 464, 487, 517,

519 f.



Märtyrerdrama 589



Maske 566, 594



Masse 592



Mauerschau 582



Melodie 20, 194



Melodrama 405



Memorabile 373



Menschenbild 526, 538 ff.



Menschengestaltung 546



Menschenwerk 89



Menschlichkeit 88 ff.



Metamorphose 281



Metapher 207, 214 f., 311



Metaphysik 52, 55 f.



Metonymie 215



Metrum 186 ff., 191, 418



Milieu 592



Mimesis s. Nachahmung



Mimik 594



Mimus 566, 620



Mischformen 624



Minnesang 250, 262, 331, 380, 382 f.



Mitleid 636 f.



Mitteilung 28



Mittelalter 79, 253, 439, 617, 657, 674



Monolog 598, 605

innerer 499, 547



Montage 49, 223, 413 f., 555, 645



Motiv 85, 142, 467, 574, 576



Motivkonstanz 467

[Spaltenumbruch]

Mundart 242



Mundartdichtung 243, 286



Mundartenteile 243



Musik 17 ff., 405 f., 595, 624 f.



Muster 367



Mythos 53, 372, 525, 536, 607, 633





Nachahmung 3, 34, 60, 67 ff.



naiv 298



Natur 129



Naturalismus 254, 305, 613, 619, 659,

660



Naturform 439



Naturgedichte 390 f.



Nebeneinander 555



Nebenfiguren 590 f.



Negation 172



Nibelungenstrophe 201, 502



Nihilismus 105



Normen 151



novel of action 550



novel of character 550



Novelle 262, 363 f., 374 f., 466, 482, 491,

504 f., 511 ff.





Objektivität der Werte 328



Ode 366 f., 405, 416, 426 f.



Odenstrophen 187



Ökonomisierung 29, 154, 457



Oper 19, 623



Operette 623



Oratorische Literatur 40



Ordensdrama 443



Ordnungsleistungen 120



Ordnungsstruktur 170



Organismus 283





Pantomime 566, 623



Parabel 368, 522



Parallelismus 215



Parodie 117, 277, 293 f., 646 f.



Passivität 589



Pathetik 152



pathetisch 96, 352



Pathos 96



Perfekt 164, 483



Person, komische 591, 641



Personalstil 600



Personen 490 ff., 586, 625



Persönlichkeit 295



Persönlichkeitsstil 249 ff.



Phantasie 80



Phasen 470



Philosophie 4, 121



poésie pure 413



Poetik 2 ff., 8 ff., 49, 149, 346 f., 362 f.,

438, 445, 565, 631 f., 650, 662, 675



Polarität 297, 569



Positivismus 119, 542 f.



Posse 292, 294, 620, 645 f.



Präsens 164, 483



Präteritum 164 f., 483

[Ende Spaltensatz] |#f0726 : 710|



[Beginn Spaltensatz]

Problematik 352



Produktion, dichterische 662



Propaganda 672



Prosa 37, 41, 184 f., 289, 501, 507, 511,

541, 600



Prosaepos 530, 542



Prosaerzählung 464



Psychologie 5



Publikum 666, 683





Raffung 471, 478, 497



Rahmen 514 ff.



Rahmenstück 606 f.



Rahmung 275 f.



Rätsel 372



Raum 69, 274, 580 ff.



Raumdrama 604



Raumgestaltung 488 f.



Raumroman 550



Rationalismus 119



Realismus 254, 296, 298, 302, 554, 660



Realität 60 ff.



Rede 23, direkte 224 f., 495 f., erlebte

225, 479, 498, 546, indirekte 224, 479



Rededynamik 501



Redefiguren 152



Redekunst s. Rhetorik



Reden 495, 598



Regeln 4 ff., 87



Reihung 170 ff., 469



Reim 191, 192, 258, 418



Reimstrophen 201



Religion 52, 54 f.



Renaissance 3



Revue 620



Rezitativ 405



Rhetorik 152 f., 214 f., 250, 285, 443



Rhythmus 20, 30, 92, 174, 182 ff.



Ritterdichtung 660



Rolle des Erzählers 472 ff.



Rolle der Figuren 592



Rollenlied 380, 382



Roman 276 f., 362, 374, 375, 466, 482,

491, 505, 512, 532 ff., auktorialer und

personaler R. 544



Romantik 4, 49, 79, 88, 119, 153, 250,

253, 296, 310, 315 f., 365, 370, 534,

539, 619



romantisch 298



Romanze 510



Romanzenzyklen 532



Rückwendung 486



Ruhe und Bewegung 265



Ruhm 686



Rührstück 620



Rundfunk 612





Sachdarstellung 31 f., 38, 41, 146 ff., 227,

240, 444, 457, 500



Sage 372, 464, 517, 521 f.



Säkularisation 618



Sangbarkeit 433



Sarkasmus 113

[Spaltenumbruch]

Satire 117, 368, 523



Satz 20, 171 ff.



Satzarten 175 f.



Satzbau 30, 303, 305, 600



Satzbau-Stilwerte 173 ff.



Satzbewegung 30, 501



Satzintention 173, 176



Satzreihen 176



Satzrhythmus 175



Schaffensvorgang 82 ff.



Schauspiel 650 ff.



Schauspieler 566, 594 f.



Schauspielkunst 609



Schichten des Dramas 573 ff.



Schichtenbau der Dichtung 321, des

Seins 320



Schichtung der Zeit 470



Schicksal 350, 574, 616



Schicksalsdramatik 574



Schilderung 495, 598



Schlager 403



Schlichtheit 173, 336



Schmuckformen 49, 311



schön und häßlich 337 ff.



Schönheit 16, 135



Schöpferisches 33



Schöpfung 21, 66



Schrifttum 41 f.



Schuld 102



Schund 46



Schwank 374, 523, 620



Seinserhellung 48, 270 f.



Senkung 183 ff. 265



Senkungsfüllung 190



Sentenzen 373, 481



sentimentalisch 298



Sequenz 674



Shakespearebühne 609



Silben 183 ff.



Singen 354 f.



Singspiel 623



Sinn 76 f.



Sinngestaltung 162



Sinnlosigkeit 105



Sinnzusammenhang 460



Situation 573



Sketch 620



Skizze 518



Sonett 201, 365, 367, 424



Sonettenkranz 426



Spannung 266 f., 469, 507, 568



Spiel 566, 593, 621



Spieldauer 581



Spielleiter 610



Spieltrieb 566



Spott 113, 117



Sprache 20 ff., 34 ff., 61, 72, 87, 89 f.,

137 f., 146 ff., 189, 263, 295, 386, 407,

412, 456 f., 531, 566, 595 f., 597 ff.,

661, 668, 681



Sprachgebilde 28



Sprachgebundenheit 661



Sprachgemeinschaft 21, 22, 24, 244

[Ende Spaltensatz] |#f0727 : 711|



[Beginn Spaltensatz]

Sprachgestaltung 171, altertümliche

248 f.



Sprachkunst 20, 31 ff., 33, 38, 184, 208,

214 f., 241, 244, 254, 311, 322, 386,

404, 446, 457


epische 499 ff.



Sprachkunstwerk 7, 31, 34 ff., 112,

146 ff., 224, 228, 240



Sprachrhythmus 183 ff.



Sprachschmuck 195, 210 f.



Sprachstil 301, 314, 552



Sprachstruktur 40



Sprachwerk 27 ff., 31, 33, 321



Sprechart 194



Sprichwort 373, 433 f.



Spruch 372, 416, 432 f.



Spruchdichtung 432 ff., 451



Sprunghaftigkeit 264



Stabreim 187, 196



Stabreimdichtung 186



Stabreimvers 502



Stanze 201, 420, 502



Stationendrama 578



Steigerung 265 f.



Stichomythie 203



Stil 145, 148, 457



Stil und Gemeinschaft 241 ff.



Stilarten 229 ff.



Stilauffassung 153 f.



Stilbeschreibung 149



Stilbruch 227 f., 292 f.



Stilelemente 150, 156 ff.



Stilentwertung 154 f.



Stilfiguren 154



Stilisierung 184 f., 187



Stilistik 149, 214 f., 250



Stilkräfte 202 ff., 408, 499, 597 ff.



Stillehre 152



Stilwandel 253 f.



Stilwerte, Aktualisierung der 155

soziale 243



Stimmungsgruppen 260



Stoff 66 f., 142, 145, 467



Strophe 191



Strophenbau 418



Struktur 5, 7, 31, 145, 148, 150

des Dramas 604 f.

der modernen Lyrik 398 f.



Strukturbegriff 467



Stufen der rhythmischen Gestaltung 184



stumpf 193



Sturm und Drang 49 f., 78, 119, 153,

250, 253, 286, 316, 661



Substantiv s. Gegenstandswort



Surrealismus 552, 661



Symbol 73 ff., 219 ff., 237, 268 ff., 301,

323, 410 f., 489, 502, 602



Symbolik 77



Symbolismus 254, 302, 391



Synästhesie 212 f.



Synchronisierung 486



Synonyma 157 f.



Szene 577

[Spaltenumbruch]

Takt 20, 190



Talent 81



Technik 3 f.



Teilnahme 176



Tendenz 128



Tendenzdichtung 46 f., 672



Tendenzen dichterischen Formens 375



Terzine 201, 366



Theater 564 ff., 608

episches 366, 546, 610



Theaterstück 620



Tiefenschichtung 319 f.



Tierdichtung 522



Tonhöhe 20



Topos 154, 216, 250, 364, 662



Tradition 77, 362 f., 367, 661



tragédie classique 291



Tragik 98 ff., 120, 290, 503 f., 619, 629 ff.



Tragikomik 116



Tragikomödie 646 f., 651



tragisch 94 f., 98 ff., 237, 629 ff., 651 f.



Tragödie 94 f., 96, 98 f., 102, 292, 362 f.

620 f., 626, 629 ff., 651 f., Begriff 631 ff.,

Definition 635, Theorie 99 f., 102



Transfiguration 567, 609



Travestie 117, 276, 294, 646 f.



Trilogie 579



Trochäus 190





Überlegenheit, geistige 111 ff.



Überlieferung 660



Übersetzer 668



Übersetzungen 244 ff., 668



Übertragung 206 f.



Umwertungen 330



Unausgewogenheit 278



Unterhaltung 678



Unterhaltungskunst 517



Unterhaltungsliteratur 40, 44, 287, 473,

486



Unterhaltungsroman 554



Urbilder 73, 222



Urdichtung 567



Urformen 354 ff.



Urgespaltenheit 360, 382, 568 ff., 604,

643, 648



Ursprache 26 f.



Utopie 462, 484, 563





Verbote 672



Verbum s. Vorgangswort



Verdichtung 165



Verdinglichung 165



Verfremdung 70, 119, 277 f., 338, 645



Vergangenheit 483



Vergangenheitsraum 483



Vergleich 216 ff.



Verhängnis 574



Verhüllungen 243



Verinnerung 350, 417, 506



Verkleinerungssilben 158



Verlagswesen 667



Verleger 667

[Ende Spaltensatz] |#f0728 : 712|



[Beginn Spaltensatz]

Vers 30, 184 f., 186 ff., 190 ff., 501, 541 f.,

600, altgerman. 187, 196, franz. 189,

german. 189



Versdichtung 507



Verserzählung 463 ff.



Versfuß 190



Versroman 542



Verstädterung 45



Verszerreißung 601



Vertonung 405 f.



Verwandlungen 594



Verwesentlichung 71 ff., 121, 285, 300,

304, 305, 306, 308, 313, 315, 323, 386,

463, 484, 501 ff., 541 f., 563, 585 f.,

591, 600, 671



vielheitlich ─ einheitlich 299



Vielgestaltigkeit 318



Vielschichtigkeit 317 ff.



Vielseitigkeit 317



Vielstimmigkeit 319



Viertakter 502



Vitalität 286



Volksgeist 659



Volksstück 623



Vorausdeutung 486



Vorgang 69, 359 f., 381, 384, 443, 449,

464, 467 f., 486, 493, 512, 542, 554,

568, 573 ff.



Vorgangsgestaltung 384



Vorgangswort 160 f., 163 f. 168, 495



Volksballade 262, 508



Volkslied 122, 382, 401



Vollreim 195





Wahrheit 55 f.



Weihespiel 621



Welt 14, 22, entfremdete 118, geistige

62, moderne 539 f.



Weltanschauung 57, 121



Weltauffassung 95 ff., 503



Weltbild 24 f., 95, 120 ff., 207 f., 301,

360, 482, 527, ff. 535 ff., 549, 607



Weltbildöffnung 453



Weltbildung 482 ff.



Welterfassung 23, 25, 28, 51, 61, 183



Welterhellung 323



Weltfülle 318



Weltgespanntheit 601



Weltgestaltung 52, 462 f., 549

[Spaltenumbruch]

Weltoffenheit 80, 205



Weltordnung 52



Weltweitung 528 ff.



Wert 16, 53, 77, 123 ff., 129, 325 f.



Wertung 123, 239, 254, 279, 325 ff.,

329 f., 533, 607, 663 f., 684 ff.



Wesensmerkmale der Dichtung 50



Wiederholung 165, 267 ff.



Wirklichkeit 27, 51, 60 ff., 681, außerdichterische

63, außersprachliche 61 ff.,

300, 303, 305, 308, 311, 315, 356, 510,

571, dichterische 63, geistige 35, geschichtliche

654 ff., sprachliche 61 ff.,

356 ff.



Wirklichkeitsbezug 34, 462 f., 463



Wirklichkeitssphären 609



Wirklichkeitsverhältnis 571



Wirkung 5, 49, 57, 353 f., 675 ff., des

Dramas 613 f., der Tragödie 635 ff.



Wirkungsgestalten, höhere 150



Witz 373 f.



Wort 20, 22 ff., 156 f.



Wortarten 159 ff., 168 f.



Wortbedeutung 32



Wortbildungsmöglichkeiten 158



Wortfügung 172



Wortgruppen 165 ff.



Wortschatz 22 ff., 253, 303, 305, 308, 315



Wortspiel 601



Wortstellung s. Reihung





Zeichen 73, 219, 222 f.



Zeigen 355, 440



Zeit 69 f., 482 ff., 543, 580 ff.

erzählte 471



Zeiterleben 349



Zeitformen 164



Zeitgeist 659



Zeitschichten 472 f., 485



Zeilensprung 193



Zerrissenheit 275 ff., 292, 335



Zivilisation 45, 81



Zufall 574



Zukunft 483



Zusammensetzungen 158 f.



Zuschauen 351



Zuschauerraum 594



Zwischenaktmusik 596



Zwischenformen 442

[Ende Spaltensatz]
|#f0729 : 1|



Kröners Taschenausgabe


ALPHABETISCHES GESAMTVERZEICHNIS

NACH DEM STAND VOM FRÜHJAHR 1959


Die lieferbaren Bände sind an den genauen Preisangaben kenntlich.

Bei Bänden, deren technische Herstellung noch im Gange ist, konnten

die Preise einstweilen nur mit „circa“ angegeben werden. Die Zahlen

in () sind die Bandnummern.



Aischylos · Die Tragödien und Fragmente

Übersetzungen von J. G. Droysen. Hg. Walter Nestle. DM 9.50 (152)



Der alte Mensch in unserer Zeit

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (286)



Aristoteles · Hauptwerke (129)

Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Wilh. Nestle. DM 11.─



Aron, Raymond · Deutsche Soziologie der Gegenwart

Hg. Iring Fetscher. DM 6.─ (214)



Aster, Ernst von · Geschichte der Philosophie

12. Auflage ergänzt von F. J. Brecht. DM 9.80 (108)



Atom zum Weltsystem, Vom

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (226)



Augustinus · Bekenntnisse, Gottesstaat

Sein Werk ausgewählt. Hg. Joseph Bernhart. DM 9.50 (80)



Bachofen, Joh. Jakob · Mutterrecht und Urreligion

Eine Auswahl. Hg. Rudolf Marx. DM 9.80 (52)



Buchwald, Reinhard · Führer durch Goethes Faustdichtung

DM 9.80 (183)



Büchner, Karl · Römische Literaturgeschichte. DM 15.─ (247)



Bücken, Ernst · Geschichte der Musik. DM 12.─ (131)



Bühler, Johannes · Die Kultur der Antike. Bd. I: Das Griechentum.

Bd. II: Das Römertum. Antike und abendländische Kultur

Je DM 11.─ (187/188)



Bühler, Johannes · Die Kultur des Mittelalters. DM 8.─ (79)



Burckhardt, Jacob · Der Cicerone

Einleitung von W. v. Bode. Mit 135 Bildern. DM 22.50



Burckhardt, Jacob · Die Kultur der Renaissance in Italien

Durchges. von Walter Goetz. DM 12.50 (53)



Burckhardt, Jacob · Die Zeit Konstantins des Großen

Vorwort von Ernst Hohl (54)



Burckhardt, Jacob · Erinnerungen aus Rubens

Nachwort von Hans Kauffmann (57)



Burckhardt, Jacob · Griechische Kulturgeschichte

Mit Nachwort hg. von Rudolf Marx. Bd. I: Der Staat und die Religion.

Bd. II: Künste und Forschung. Bd. III: Der griechische Mensch

(58/59/60)



Burckhardt, Jacob · Kulturgeschichtliche Vorträge

Mit Nachwort hg. von Rudolf Marx. Ca. DM 11.─ (56)



Burckhardt, Jacob · Weltgeschichtliche Betrachtungen

Mit Nachwort hg. von Rudolf Marx. DM 8.50 (55)

|#f0730 : 2|



Capelle, Wilhelm · Die Germanen der Völkerwanderung

Nach den zeitgenössischen Quellen (147)



Carlyle, Thomas · Heldentum und Macht

Schriften für die Gegenwart. Hg. Mich. Freund (123)



Carus, Carl Gustav · Psyche

Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Hg. Rudolf Marx (98)



Christen oder Bolschewisten

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (251)



Cicero · Mensch und Politiker

Auswahl aus seinen Briefen. Hg. Wilhelm Ax. DM 11.─ (201)



Claudius, Matthias · Gläubiges Herz

Sein Werk für uns. Hg. Willi A. Koch. DM 6.75 (142)



Clausewitz, Carl von · Geist und Tat

Auswahl aus Werken, Briefen und Schriften. Hg. W. M. Schering

DM 4.50 (167)



Comte, Auguste · Die Soziologie

Die Positive Philosophie im Auszug. Hg. Friedrich Blaschke (107)



Darwin, Charles · Die Abstammung des Menschen

Deutsch von Heinrich Schmidt (28)



Das ist der Mensch

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (292)



Deutsches Soldatentum · Dokumente und Selbstzeugnisse

aus elf Jh. deutscher Wehrgeschichte. Hg. Joh. Ullrich DM 5.─ (164)



Dietrich, Margret · Das moderne Drama

In Vorbereitung. Ca. DM 15.─ (220)



Droysen, Johann Gustav · Geschichte Alexanders des Großen

Hg. Helmut Berve. DM 7.50 (87)



Emerson, Ralph Waldo · Die Tagebücher

Mit Einleitung von Eduard Baumgarten. DM 9.80 (202)



Epiktet · Handbüchlein der Moral und Unterredungen

Hg. Heinrich Schmidt. Ca. DM 4.50 (2)



Epikur · Philosophie der Freude

Hg. Johannes Mewaldt. DM 4.50 (198)



Erde und Weltall, Von

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (236)



Ernährung, Die Grundlagen unserer E.

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (234)



Erziehung wozu?

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (241)



Euripides · Sämtliche Tragödien I/II

Einleitung von Walter Jens. Je DM 15.─ (284/285)



Feuerbach, Ludwig · Das Wesen der Religion

Einleitung von Kurt Leese (27)



Fichte, Johann Gottlieb · Politik und Weltanschauung

Auswahl aus seinen Schriften. Hg. Wolfram Steinbeck (174)



Fichte, Johann Gottlieb · Reden an die deutsche Nation

Hg. Hermann Schneider (35)



Freiheit der Persönlichkeit

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (290)



Frühsozialismus, Der

Ausgew. Quellentexte hg. v. Thilo Ramm. DM 12.─ (223)

|#f0731 : 3|



Genetik, Wissenschaft der Entscheidung

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (260)



Gesundheit, Die Bedrohung unserer G.

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (245)



Glasenapp, Helmuth von · Die Philosophie der Inder. DM 12.─ (195)



Glasenapp, Helmuth von · Die Religionen Indiens. DM 11.─ (190)



Goethe, J. W. von · Faust Teil I und II mit Urfaust

DM 5.50 (12) ─ „Faustführer“ siehe Buchwald



Goethe, J. W. von · Maximen und Reflexionen

Hg. Günther Müller. (186)



Goethe, J. W. von · Schriften über die Natur

Geordnet und ausgewählt von Gunther Ipsen. DM 6.─ (62)



Goethe-Taschenlexikon

Gedanken und Urteile. Hg. K. J. Obenauer. DM 12.─ (227)



Gracian · Handorakel und Kunst der Weltklugheit

Deutsch von A. Schopenhauer. Einleitung von Karl Voßler

DM 6.50 (8)



Grimm, Brüder · Ewiges Deutschland

Ihr Werk im Grundriß. Hg. Will-Erich Peuckert (139)



Grimm, Herman · Das Leben Goethes

Hg. Reinhard Buchwald. DM 12.─ (162)



Grimm, Herman · Deutsche Künstler

7 Essays. Hg. Reinhard Buchwald (184)



Haeckel, Ernst · Die Lebenswunder

Gemeinverständl. Studien über biologische Philosophie (22)



Haeckel, Ernst · Die Welträtsel

Gemeinverständl. Studien über monistische Philosophie (1)



Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands

Band I: Schleswig-Holst., Hamburg, Hg. O. Klose. DM 12.─ (271)

Band II: Niedersachsen, Bremen. Hg. K. Brüning. DM 15.─ (272)

Band III: Nordrhein-Westfalen. Hg. F. v. Klocke u. W. Zimmermann

(273)


Band IV: Hessen. Hg. G. W. Sante. Ca. DM 15.─ (274)

Band V: Rheinland-Pfalz und Saarland. Hg. L. Petry. Ca. DM 15.─

(275)


Band VI: Baden-Württemberg. Hg. Max Miller (276)

Band VII: Bayern. Hg. K. Bosl (277)



Hasselbach, Ulrich von · Die Botschaft

Das Evangelium und andere Kernstücke der Bibel. DM 4.50 (189)



Haussig, H. W. · Kulturgeschichte von Byzanz

Entstehung, Ausbreitung und Nachwirkung. Ca. DM 15.─ (211)



Hebbel, Friedrich · Der Mensch und die Mächte

Die Tagebücher. Ausgewählt von Ernst Vincent (144)



Heberer, Gerhard · Abstammungsgeschichte des Menschen

Nach dem heutigen Stand der Forschung. Ca. DM 13.50 (232)



Hegel, G. W. Fr. · Recht, Staat, Geschichte

Auswahl aus seinen Werken. Hg. von Friedrich Bülow. DM 9.80 (39)



Herder, Joh. Gottfried · Mensch und Geschichte

Sein Werk im Grundriß. Hg. Willi A. Koch. DM 9.80 (136)



Herodot · Historien (224)

Vollständige kommentierte Ausgabe. Hg. H. W. Haussig. DM 17.50



Hofstätter, Peter R. · Einführung in die Sozialpsychologie

64 Abbildungen. 53 Tabellen. DM 15.─ (295)

|#f0732 : 4|



Horaz · Die Gedichte

Übertragen und mit lateinischem Text hg. von Rudolf Helm

DM 7.─ (148)



Huizinga, Johan · Geschichte und Kultur

Gesammelte Aufsätze mit Abbildungen. Hg. K. Köster. DM 11.─ (215)



Humboldt, Alexander von · Kosmische Naturbetrachtung

Sein Werk in Auswahl. Hg. Rudolph Zaunick. DM 13.50 (266)



Ikonographisches Wörterbuch

Von Hubert und Inge Schrade. Ca. DM 13.50 (252)



Jean Paul · Weltgedanken und Gedankenwelt

Ausgewählt und aufgebaut von Richard Benz (153)



Kant, Immanuel · Die drei Kritiken

In ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk. Mit verbindendem

Text von Raymund Schmidt. DM 9.80 (104)



Kant-Laplace'sche Theorie. Ideen zur Weltentstehung (46)



Kierkegaard, Sören · Religion der Tat

Sein Werk in Auswahl. Hg. Eduard Geismar (63)



Das Kind in unserer Zeit

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (262)



Klages, Ludwig · Mensch und Erde

Gesammelte Abhandlungen. DM 7.─ (242)



Knudsen, Hans · Deutsche Theater-Geschichte

In Vorbereitung. Ca. DM 13.50 (270)



Kornemann, Ernst · Römische Geschichte

Bd. I: Zeit der Republik. Bd. II: Kaiserzeit. Je DM 11.─ (132/133)



Körte, Alfred · Die hellenistische Dichtung (47)



Lagarde, Paul de · Schriften für Deutschland

Hg. August Messer (110)



Lebendiges Wissen

Sendereihe des Hessischen Rundfunks. DM 9.80 (237)



Le Bon, Gustave · Psychologie der Massen

Einführung von H. Dingeldey. DM 6.50 (99)



Leibniz, Gottfried Wilhelm · Die Hauptwerke

Hg. Gerhard Krüger. DM 8.─ (112)



Leisegang, Hans · Die Gnosis. DM 9.80 (32)



Lennartz, Franz · Dichter und Schriftsteller unserer Zeit

Einzeldarstellungen zur deutschen Literatur. Neuauflage in Vorbereitung.

Ca. DM 17.50 (151)


Zur fremdsprachigen Literatur. DM 15.─ (217)



Lesky, Albin · Die griechische Tragödie

Mit 4 Bildtafeln. DM 9.─ (143)



Lessing, Gotthold Ephraim · Hamburgische Dramaturgie

Kommentierte Gesamtausgabe. Hg. Otto Mann. DM 13.50 (267)



Lichtenberg, Georg Christian · Aphorismen, Briefe, Schriften

Hg. Paul Requadt. 12 Abb. DM 11.─ (154)



Liedsang aus deutscher Frühe

Mittelhochdeutsche Dichtung. Hg. Walter Fischer. DM 13.50 (158)



Luther im Gespräch · Aufzeichn. seiner Freunde und Tischgenossen

Hg. Reinhard Buchwald (160)



Luther, Martin · Unterm Kreuz

Schriftenauswahl. Hg. Georg Helbig (95)

|#f0733 : 5|



Luthers Briefe · Hg. von Reinhard Buchwald. DM 8.─ (239)



Machiavelli, Niccolo · Der Fürst

Kommentierte Gesamtausgabe. Hg. Rudolf Zorn. DM 6.─ (235)



Machiavelli, Niccolo · Gedanken über Politik und Staatsführung

Auswahl aus den Discorsi mit Erläuterungen. Hg. Rudolf Zorn.

DM 7.─ (173)



Mahrholz, Werner · Literargeschichte und Literarwissenschaft (88)



Mann, Otto · Geschichte des deutschen Dramas

In Vorbereitung. Ca. DM 15.─ (296)



Marc Aurel · Selbstbetrachtungen

Übertragen und eingeleitet von Wilhelm Capelle. DM 6.50 (4)



Martini, Fritz · Deutsche Literaturgeschichte

Von den Anfängen bis zur Gegenwart. DM 11.─ (196)



Marx, Karl · Das Kapital

Kritik der politischen Ökonomie. Hg. B. Kautsky. DM 17.50 (64)



Marx, Karl · Frühschriften

Hg. S. Landshut. DM 13.50 (209)



Mensch und Menschlichkeit

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (243)



Michels, Robert · Soziologie des Parteiwesens

Vollständiger Neudruck. Hg. Werner Conze. DM 15.─ (250)



Montaigne, M. de · Essais und Reisetagebuch (101)



Müller, Adam · Vom Geiste der Gemeinschaft

Elemente der Staatskunst, Theorie d. Geldes. Hg. F. Bülow (86)



Nestle, Wilhelm · Griechische Geistesgeschichte

Von Homer bis Lukian. DM 13.50 (192)



Neues Testament in zwei Bänden

Verdeutscht und erläutert von Wilhelm Michaelis (120/121)



Nibelungenlied · Übertragung von Karl Simrock

Einleitung von D. Kralik. DM 8.─ (36)



Nietzsche, Friedrich · Also sprach Zarathustra. DM 6.─ (75)



Nietzsche, Friedrich · Der Wille zur Macht. DM 14.50 (78)



Nietzsche, Friedrich · Die Unschuld des Werdens

Der Nachlaß hg. von A. Baeumler. Je DM 12.─ (82/83)



Nietzsche, Friedrich · Fröhliche Wissenschaft. DM 7.50 (74)



Nietzsche, Friedrich · Geburt der Tragödie · Der griechische Staat

DM 9.─ (70)



Nietzsche, Friedrich · Götzendämmerung, Antichrist, Ecce homo,

Gedichte. DM 11.─ (77)



Nietzsche, Friedrich · Jenseits von Gut und Böse. Genealogie der

Moral. DM 9.─ (76)



Nietzsche, Friedrich · Menschliches, Allzumenschliches. DM 14.50 (72)



Nietzsche, Friedrich · Morgenröte. DM 8.50 (73)



Nietzsche, Friedrich · Unzeitgemäße Betrachtungen. DM 12.─ (71)



Nietzsche in seinen Briefen und Berichten d. Zeitgenossen

Die Lebensgeschichte in Dokumenten. Hg. Alfred Baeumler (100)

|#f0734 : 6|



Nietzsche-Register

Hg. Richard Oehler. Hln. DM 6.50 (170)



Ovid · Erotische Dichtungen

Übersetzt von Viktor v. Marnitz. Einführung von K. Büchner.

DM 12.─ (263)



Pestalozzi, Heinrich · Grundlehren über Mensch, Staat, Erziehung

Hg. Hans Barth und Max Zollinger. DM 12.50 (253)



Philosophisches Lesebuch

Texte zur neueren Philosophiegeschichte. Hg. Hermann Glockner

Bd. I: Von Bacon bis Hegel (206) in Vorbereitung. ─ Bd. II: Das

19. Jahrhundert. DM 8.─ (207)



Philosophisches Wörterbuch (13)

Begründet von Heinrich Schmidt. Hg. Georgi Schischkoff. DM 15.─



Platon · Der Staat

Deutsch v. August Horneffer. Einl. v. K. Hildebrandt. DM 9.80 (111)



Platon · Die Briefe

Übersetzt und hg. v. Heinrich Weinstock. DM 5.─ (203)



Platon · Hauptwerke

Hg. Wilhelm Nestle. DM 8.50 (69)



Plutarch · Griechische u. Römische Heldenleben (66/67)

Übertragen v. Wilhelm Ax. 2 Bde. Bd. I: DM 8.─; Bd. II: DM 9.80



Protestantismus im Wandel der neueren Zeit

Texte und Charakteristiken. Hg. Kurt Leese (180)



Ranke, Leopold von · Geschichte und Politik

Ausgewählte Aufsätze u. Meisterschriften. Hg. Hans Hofmann (146)



Ratzel, Friedrich · Erdenmacht und Völkerschicksal (155)



Religionen, Die großen nichtchristlichen R.

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 5.50 (228)



Riehl, Wilh. Heinrich · Die Naturgeschichte des deutschen Volkes

Hg. Gunther Ipsen (122)



Ringgren/Ström · Die Religionen der Völker

Hg. C. M. Schröder. DM 13.50 (291)



Rohde, Erwin · Psyche

Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen (61)



Rousseau, Jean Jacques · Die Krisis der Kultur

Die Werke ausgewählt von Paul Sakmann. DM 9.─ (85)



Sachwörterbuch der Literatur

Von Gero von Wilpert. DM 15.─ (231)



Sallust · Das Jahrhundert der Revolution

Übersetzt u. eingeleitet von Heinrich Weinstock. DM 7.50 (161)



Sanctis, Fr. de · Geschichte der italienischen Literatur

Einleitung von Fritz Schalk (156/157)



Schelling, F. W. von · Studium Generale

Hg. Hermann Glockner. DM 5.50 (222)



Schiller-Chronik s. unter Wilpert



Schiller - Goethe · Briefwechsel

Hg. Hermann Dollinger. DM 9.50 (197)



Schilling, Kurt · Geschichte der sozialen Ideen

Individuum, Gemeinschaft, Gesellschaft. DM 12.─ (261)



Schlegel, Friedrich · Schriften und Fragmente

Ein Gesamtbild seines Geistes. Hg. Ernst Behler. DM 12.50 (246)

|#f0735 : 7|



Schleiermacher, Friedrich · Über die Religion

Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (34)



Schopenhauer, Arthur · Aphorismen zur Lebensweisheit

Hg. Rudolf Marx. DM 6.50 (16)



Schopenhauer, Arthur · Persönlichkeit und Werk

Worte des Philosophen. Hg. Konrad Pfeiffer. Pb. DM 3.25 (48)



Schopenhauer, Arthur · Philosophische Menschenkunde

Das Werk als Anthropologie. Hg. Alfred Baeumler. DM 9.80 (240)



Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 5.50 (230)



Schulreform, Probleme einer S.

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (301)



Seidler, Herbert · Poetik

In Vorbereitung. Ca. DM 15.─ (283)



Seneca · Vom glückseligen Leben

Hg. Heinrich Schmidt. Einleitung v. J. Kroymann. DM 6.50 (5)



Shakespeare · Englische Essays aus drei Jahrhunderten

Zum Verständnis seiner Werke. Hg. E. Th. Sehrt. DM 9.80 (249)



Smith, Adam · Natur und Ursachen des Volkswohlstandes

Deutsch und mit Kommentar von Friedrich Bülow (103)



Sophokles · Die Tragödien

Übersetzt und eingeleitet von Heinrich Weinstock. DM 11.─ (163)



Spinoza, Benedictus de · Die Ethik, Schriften und Briefe

Hg. Friedrich Bülow. DM 7.50 (24)



Stein, Heinrich von · Idee und Welt

Das Werk des Philosophen und Dichters. Hg. von Günter Ralfs (159)



Strauß, David Friedrich · Der alte und der neue Glaube

Einleitung von Hans-Georg Opitz (25)



Sueton · Cäsarenleben

Hg. Max Heinemann. DM 11.─ (130)



Swift, Jonathan · Die menschliche Komödie (171)

Schriften, Fragmente u. Aphorismen. Hg. Michael Freund. DM 9.80



Tacitus · Annalen

Mit Einleitung von Joseph Vogt. DM 13.50 (238)



Tacitus · Die historischen Versuche

Agricola, Germania, Dialogus. Hg. Karl Büchner. DM 9.80 (225)



Tacitus · Historien

Mit Einleitung von Viktor Pöschl. DM 11.─ (299)



Thomas von Aquino · Summe der Theologie

Hg. Joseph Bernhart. 3 Bde. Je DM 13.50 (105/106/109)



Thomas von Kempen · Die Nachfolge Christi

Übertragen und eingeleitet von Felix Braun (126)



Thukydides · Der große Krieg

Übersetzt und eingeleitet von H. Weinstock. DM 5.25 (150)



Tocqueville, Alexis de · Das Zeitalter der Gleichheit

Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk. Hg. S. Landshut. DM 9.80 (221)



Treitschke, Heinrich von · Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert

Hg. Heinrich Heffter (115/116)



Treue, Wilhelm · Deutsche Geschichte

Von den Anfängen bis zum Jahr 1945. DM 15.─ (254)



Voltaire · Für Wahrheit und Menschlichkeit

Seine Schriften, ausgewählt von Paul Sakmann (40)

|#f0736 : 8|



Vorsokratiker

Fragmente u. Quellenberichte. Hg. Wilh. Capelle. DM 9.80 (119)



Wagner, Richard · Die Hauptschriften

Herausgegeben und eingeleitet von Ernst Bücken. DM 12.─ (145)



Weber, Max · Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik

Ausgewählte Schriften. Hg. J. Winckelmann. DM 13.50 (229)



Wege der Heilung

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (255)



Weinhold, Karl · Altnordisches Leben

Hg. Georg Siefert. Hln. DM 5.50 (135)



Wie leben wir morgen?

Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. DM 6.─ (268)



Wilhelm, Theodor · Pädagogik der Gegenwart

DM 13.50 (264)



Wilpert, Gero von · Schiller, Chronik seines Lebens und Schaffens

DM 9.80 (281)



Winckelmann, Joh. Joachim · Ewiges Griechentum

Hg. Fritz Forschepiepe (181)



Wörterbuch der Antike

Von Hans Lamer mit Ernst Bux und Wilh. Schöne. DM 17.50 (96)



Wörterbuch der Berufe

Zur Erleichterung der Berufswahl. Von Justus Streller. DM 10.─



Wörterbuch der deutschen Volkskunde (127)

Von Oswald Erich und Richard Beitl. 40 Abb. 18 Karten. DM 17.50



Wörterbuch der historischen Begriffe

Hg. Erich Bayer. In Vorbereitung (289)



Wörterbuch der Kunst

Von Johannes Jahn mit W. v. Jenny und R. Heidenreich. 212 Abb.

DM 13.50 (165)



Wörterbuch der Pädagogik

Von Wilhelm Hehlmann. DM 13.50 (94)



Wörterbuch der Psychologie

Von Wilhelm Hehlmann. DM 15.─ (269)



Wörterbuch der Religionen

Von A. Bertholet. DM 15.─ (125)



Wörterbuch des Theaters

Von Karl Gröning. In Vorbereitung (294)



Wörterbuch der Vor- und Frühgeschichte

Von O. Fr. Gandert und G. Heberer. In Vorbereitung (259)



Wörterbuch der Wirtschaft

Von Friedrich Bülow. DM 15.─ (114)



Wörterbuch s. Ikonographisches, Philosophisches und Sachwörterb.



Wundt, Wilhelm · Die Nationen u. ihre Philosophie. DM 3.75 (18)



Xenophon · Die sokratischen Schriften

Übersetzt und hg. von Ernst Bux. DM 9.80 (185)

|#f0737 : E9|

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|#f0740 : E12|


Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2016). ePoetics_Seidler. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7BA-5