[97] [99]Einleitende

Frühlingszuruf

Nun sich die Knospen aus den Zweigen drängen,
Blühende Kräfte morsche Bande sprengen,
Wohin du siehst, wacht alles fröhlich auf –:
Nun sei in deiner Seele rein und heiter,
Erzengel rechts und links dir als Begleiter,
Nimm in den Morgen fröhlich deinen Lauf!
Die Schwingen streifen dich an beiden Seiten,
Um dich der Engel Atem im Geleiten,
Wie muß dein Schritt jetzt frei und kräftig sein!
Schreit aus und glaube: Dir erklang das Werde!
Schick deine Blicke aus: Die ganze Erde
Blüht dir ans Herz: Was schön ist, das ist dein!
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Denn der ist König über alle Dinge,
Und den berührt der Engel goldene Schwinge,
Der seine Blicke so aussenden kann,
Daß sie wie Adler Beute heimwärts tragen,
Und dem die Morgenstunden leuchtend sagen:
Du Mensch mit hellen Augen, nimm uns an!

Einem schönen Mädchen unter sein Bildnis

Wo sah ich das doch schon einmal?
Dies zart und liebliche Oval,
Die großen Augen tief und klar,
Dies bogenfeine Lippenpaar
Und diesen Strudel Lockenhaar?
Wo, wo? Und plötzlich seh ichs licht:
In Form und Farben ein Gedicht,
Das Botticellis teure Hand
Gedichtet auf die Leinewand.
Stand lange in Florenz davor,
Mich ganz in Schauens Lust verlor,
Andächtig zu der klaren Kraft,
Die uns in Schönheit Tröstung schafft.
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Denn aller Schönheit höchste Huld
Ist Trost und Stille und Geduld.
Wer recht zu sehen weiß, der spürt
Sein Herz von Schwingen angerührt,
Die himmelher und heilig sind.
Ihr Wehen ist so lieb und lind
Wie Mutteratem über der Wiegen;
Du fühlst dich eingebettet liegen,
Liebeingefriedet wie ein Kind.
Dem Meister, der so hohes gab,
Legt Dankbarkeit den Kranz aufs Grab;
Der Schönheit, die ins Leben blüht,
Naht sich mit Wünschen das Gemüt:
Sei nicht bloß Schenkerin –: Beschenkte auch!
Im eignen Innern wohne dir der Hauch,
Den Schönheit atmet: Friede sei dein Teil!
Du lieb Gesicht, halt deine Seele heil!

Im Hause Thoma

(Für Frau Thoma.)


Stiller Heiterkeit ein Glanz,
Leisen Glückes leiser Tanz,
Schaffens frohe Kraft,
Heitrer Liebe stille Hut,
Schalkheit auch, das Kleinod gut,
Und die Meisterschaft.
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Alles dies in einem Haus;
Keiner ging noch aus ihm aus,
Der das Glück nicht pries,
Das ihn hier in engem Raum
Einen guten klaren Traum
Leibhaft sehen ließ.

Stiller Gang

Stille geh ich meinen Gang
Wiesen, Wälder, Felder lang.
Was ich höre, was ich sehe,
Daß mir nichts vorüber wehe,
Fasse ichs in Verse ein,
Und die ganze Welt wird mein.
Sind wohl unscheinbare Dinge;
Mancher achtet sie geringe,
Und ein Nabob wird man nicht,
Fängt man solche Schmetterlinge.
Aber manches wird Gedicht.
Ist nicht mehr wie Blumen pflücken,
Linde sich ins Grüne bücken,
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Ist nicht mehr als wie ein Lauschen,
Grüße mit den Vögeln tauschen,
Ist nichts, als bescheiden sein
Mit der Schönheit, mit dem Schein.
Und ist dennoch tiefe Labe,
Dauernde und reiche Habe:
Wer die Schönheit sich erfaßt,
Schenkt der Welt den Rest mit Lachen,
All die plumpen Siebensachen,
Hat die Götter selbst zu Gast.

Gebet zwischen blühenden Kastanien

Frühling, oh du süßer Junge!
Deine Beine sind so zärtlich
Schlank und deine schmalen Lippen
Feucht.
Wie du schreitest! Wie die Locken fliegen
Und das blaue Band im blonden Haare!
Wie es duftet, wo dein Mantel wehte!
Frühling, süßer, saftgebenedeiter
Sieger-Knabe mit den Mädchenbrüsten,
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Hauch mich an mit deinem Blumenatem,
Der ich dich jetzt tiefer kenn und liebe,
Deiner Brünste voller bin als ehmals.
Neig dich mir, oh süßer Knabe, süßres
Mädchen! Ich vergehe sonst vor Sehnsucht,
Dich zu fühlen.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2011). Bierbaum, Otto Julius. Einleitende. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-313C-B