20
Das Stammschloß Wolfsberg war ein schwerfälliges steinernes Bauwerk mit düsteren Bogenhallen, feuchten Gängen, klafterdicken Mauern. Der Graf hatte es einst mit großem Aufwand bewohnbar machen und einen Teil davon in altertümlichem Stile einrichten lassen, während der andere allen Anforderungen entsprechen sollte, die heutzutage an den Landaufenthalt reicher und gastfreier Leute gestellt werden. Später, nach dem Tode seiner Frau, bereute er die romantische Laune, die ihn verleitet hatte, seinen Wohnsitz in einer unwirtlichen Gegend zu nehmen, in der Nachbarschaft einer Dorfbevölkerung, der alle Laster der Armut anhafteten. Er ließ Dolph und Maria monatelang allein; seine Besuche wurden immer kürzer, und nach der Verheiratung seiner Tochter kam er überhaupt nicht mehr nach Wolfsberg.
Das Schloß erhob sich auf einem stumpfen Hügel, der noch zu Anfang des Jahrhunderts dicht bewaldet gewesen war. Ein geldbedürftiger Vorfahr hatte die Bäume fällen und den Grund nicht mehr aufforsten lassen. Wasserrisse bildeten sich, die fruchtbare Erde wurde von Regengüssen fortgeschwemmt und der tonige Sandstein, der nun zutage kam, allmählich von einer kümmerlichen Vegetation bedeckt. Hie und da ragte der schiefe und narbige Stamm einer Föhre mit graugrünen Nadelbüscheln an den dürren Zweigen aus dem Gestein hervor, und wo ein Quellchen rieselte, gab es üppig wuchernde Moose. Wurzeltriebe der uralten Steineichen, die oben vor dem Pförtnerhause standen, schmückten sich mit Blättern. Kampanellen und Eriken wuchsen aus dem Schutt.
Daß die Wasseräderchen nicht ganz versiegten, dankte man dem Baumreichtum des Schloßgartens. Hinter seiner weitläufigen, [505] vieleckigen Einfassungsmauer, die sich stellenweise bis zur halben Höhe des Hügels zog, breiteten sich herrliche Wiesen, und sogar von Blumen und von Gewächshäusern, in denen sie überwinterten, erzählte man im Dorfe. Ein Verkehr zwischen diesem und dem Schlosse bestand nicht. Unfrieden herrschte zwischen beiden, seitdem die Gemeinde die ersten Wohltaten, die der Graf ihr erwiesen, mit Undank gelohnt hatte. Was sich an Nörgeleien erdenken läßt, das tat man einander an.
Dem Grafen, in dessen Sinne die Gutsverwaltung sich dem Volke gegenüber benahm, weihte es seinen vollsten Haß, während das Andenken der verstorbenen Herrin in Ehren gehalten wurde. Ein Gemisch von Wahrheit und von böswilliger Erfindung hatte sich als Tradition in der Gegend erhalten. Niemand bezweifelte, daß die Gräfin den Mißhandlungen erlegen war, die sie von ihrem Gatten erdulden mußte, und jetzt wandelte sie als Gespenst durch die Gänge, schlich an seine Tür und lauschte. Eines Nachts hatte er ihr geisterhaftes Auge gesehen, wie es durchs Schlüsselloch spähte. Nun verfolgte ihn dieses Auge und starrte ihm entgegen aus jedem Winkel des Hauses. Kein Wunder, daß er es nicht aushielt in Wolfsberg; kein Wunder, daß seine frechen Diener sich nach und nach gebärdeten als Herren im fremden Eigentum.
Das Telegramm des Grafen, welches das Eintreffen Marias zu längerem Aufenthalte ankündigte, entthronte mit einem Schlage ein halbes Dutzend Usurpatoren und entfesselte einen Sturm von unwilligen Fragen: »Was hat sie hier zu suchen? Warum bleibt sie nicht dort, wohin sie gehört?«
Keinem willkommen, kehrte Maria mit Erich und ihrem kleinen Gefolge in die Heimat zurück.
Die windbrüchige Akazienallee, die zum Schlosse führte; das Muttergottes-Kapellchen daneben am Fuße der Anhöhe, von vier Winterlinden umgeben; den weiten Ausblick, den man im Steigen über die Felder und Hutweiden gewann, bis zu dem Steinbruche, und tief im Hintergrunde den dunkeln Nadelwald – das alles hatte sie geliebt. – Und wie kahl, welch ein Ausbund von Traurigkeit erschien es ihr jetzt!
»Wo sind denn die Wiesen, wo sind denn die Berge?« rief Erich, als er am Morgen nach der Ankunft aus dem Fenster blickte. Er ging mit Lisette in das Dorf und kehrte ganz entrüstet zurück.
»Sie sind hier sehr unartig«, erzählte er, »sie geben keine Antwort, wenn man sagt: Guten Morgen, und ein Bub hat mir«, [506] er senkte die Stimme und flüsterte seiner Mutter ins Ohr: »die Zunge herausgestreckt.«
»Sie kennen dich noch nicht«, erwiderte sie ihm; »warte nur, bald werden sie so freundlich mit dir sein wie die Kinder in Dornach.«
Aber diese Prophezeiung erfüllte sich nicht. Im Gegenteil; als der Grund der Entfernung Marias aus Dornach bekannt wurde, ließen es auch die Erwachsenen, besonders die Weiber, an Gehässigkeiten gegen das Kind nicht fehlen. Ein Schimpfwort wurde ihm zugerufen, sooft er sich zeigte, nach dessen Bedeutung er zu Hause vergeblich fragte, und als er mit seiner Mutter davon sprach, traten Tränen in ihre Augen. Sie hatte gemeint, nach dem Scheiden von Dornach könne ihr nichts mehr weh tun, und nun gab es doch noch Stacheln, die vermochten, ihr ins Herz zu dringen.
Als sie nach Geringschätzung gedürstet, hatte sie nicht bedacht, daß ihr schuldloses Kind sich mit ihr darein werde teilen müssen.
Sie begann zu werben um die Gunst der Elenden und Mitleidlosen. Sie brachte Hilfe und ließ sich nicht abschrecken durch das Mißtrauen und durch den kaum verhehlten Hohn, mit dem ihre Gaben aufgenommen wurden. Wenn Erich über die Bauernkinder klagte, wies sie ihn ab: »Sie können nicht dafür, bedauere sie; niemand sagt ihnen: seid gut.«
»Wär auch schad drum, mit denen müßt man eine andere Sprache reden!« fiel Lisette zornschnaubend ein. – Sie hätte so gern jede Beleidigung, die Maria oder das Kind erfuhren, mit Feuer und Schwert gerächt. – Ihres Respekts vor dem Grafen Wolfsberg entledigte sie sich nach und nach vollständig und äußerte ungescheut, wie es sie empöre, daß er nicht kommt, sich seiner Tochter anzunehmen und »dem schlechten Beamten- und übrigen Volk den Standpunkt klarzumachen – mit der Hundspeitsche!« schrie sie und schlug auf den Tisch.
Es war ihr unfaßbar, daß die flehentlichen Bitten Wilhelms und seiner Frau, Maria besuchen zu dürfen, von ihr unerhört blieben, und sie wurde nicht müde, ihren Unwillen darüber kundzutun.
»Glaube mir«, erhielt sie endlich zur Antwort, »es würde mich verwöhnen, mich weich machen.« Maria preßte die flachen Hände an ihr Gesicht, dann hob sie den Kopf in ihrer alten stolzen Weise. »Ich aber muß standhaft bleiben.«
Sie bewahrte einen unerschütterlichen Gleichmut; sie schien [507] blind und taub, wenn sie herausfordernden Mienen begegnete, wenn sich bei ihrem Anblick ein beleidigendes Zischeln erhob.
Eines Tages im Spätherbste führte ihr Weg sie zu einer einzeln stehenden Hütte, deren uralte Bewohnerin von aller Not befreit war seit der Anwesenheit der Gräfin in Wolfsberg. Gekrümmt wie ein Bogen saß sie auf der Bank an ihrer Tür und lud Maria ein, neben ihr Platz zu nehmen. Sie begann damit, sich zu beklagen, daß die Kleidungsstücke, die sie aus dem Schloß erhalten hatte, nicht ganz nach ihrem Geschmack ausgefallen waren, sagte aber zuletzt doch einige Worte des Dankes.
Auf ihren Stock gestützt, blickte sie zu Maria hinauf, die, von Abscheu ergriffen vor der affenartigen Häßlichkeit der Alten, unwillkürlich die Augen schloß.
»Ja, was Sie jetzt anders geworden sind, daß Sie sich um uns kümmern«, sprach die Greisin; »wie Sie noch zu Haus waren, ist Ihnen so was nicht eingfallen ...« Sie lächelte schadenfroh. »Na, wir werden Ihnen schon losbeten, meine Tochter und ich; den anderen können Sie schenken, soviel Sie wollen, die beten doch nicht für Sie ... die schimpfen nur ... Was die aber selber tun, das sollen Sie von mir hören, hochgräfliche Gnaden, damit, wenn sich einer getraut, Ihnen etwas ins Gesicht zu sagen, Sie ihm's tüchtig zurückgeben können.«
Sie erzählte. Sie lieferte die Geheimnisse der Bewohner ihres Dorfes aus. Es war eine haarsträubende Sittengeschichte, und die alte Sibylle erfand nicht. Ihre Enthüllungen trugen das Gepräge der Wahrheit, einer Wahrheit freilich, die Schritt hielt mit den dunkelsten und ausschweifendsten Phantasiegebilden.
Maria unterbrach das Weib im schönsten Fluß ihrer Rede und erhob sich. – Welche Greuel, dachte sie; nein, so hättet ihr nicht werden müssen, ihr Bejammernswerten! Ihr hättet nicht in diesen Sumpf zu geraten brauchen, in dem ihr jetzt versinkt. Nur wenige Einsichtige und Barmherzige unter denen, die durch Jahrhunderte unumschränkt über euch geherrscht, und sie würden euch zur Erkenntnis des Guten geführt haben. Sie besaßen die Macht, warum nicht auch die Gerechtigkeit, die Uneigennützigkeit, das liebreiche Herz?
Als ein Kind ihres Stammes fühlte Maria sich mitschuldig an dem himmelschreienden Versäumnis und war doch die letzte, die Ersatz dafür zu leisten vermochte. Sie konnte schenken – raten, belehren, bessernd einwirken konnte sie, die Bemakelte, nicht. Um die Menschen zu ihrem wahren Heile zu führen, bedarf es einer reinen Hand.
[508] Sie eilte hinweg wie gejagt und durchwachte die Nacht ruhelos und fiebernd. In dem großen, kapellenartig gewölbten Schlafgemach, das sie mit Erich bewohnte, hingen zwei Meisterwerke Benczurs, die Bilder Hermanns und seines Sohnes. Gräfin Agathe hatte sie für ihre Schwiegertochter malen lassen, und sie waren das erste gewesen, das Wilhelm seiner verehrten Base nachzuschicken befahl aus Dornach. Die geliebten Gestalten schienen lebendig aus ihren Rahmen zu treten; ihre treuen, freundlichen Augen die Augen Marias zu suchen und ihr zu folgen, wohin sie sich wandte. Sie sank an ihrem Bette zusammen; ihre ganze Seele flammte auf in der verzehrenden, ewig empfundenen, ewig vergeblichen Sehnsucht all der Unglücklichen, die ihr Liebstes überleben: Einmal nur noch deine Stimme hören, einen Kuß auf deine Lippen drücken, nur einmal noch.
Oh, dieses immer geforderte, nie erlangte, nie verschmerzte eine letzte Mal!
Alles still im Haus und auch draußen alles still. Ausnahmsweise hatte der Sturm seine Flügel gefaltet und sein wildes Lied verstummen lassen. An dem Geiste Marias zogen die stillen Tage ihres ersten, noch unbewußten Glückes vorbei. Sie versenkte sich in die Erinnerung an jede im Verkehr mit ihrem Gatten, ihrem Freunde, verlebte Stunde.
Er hatte sein bei der Verlobung gegebenes Wort treulich gehalten, was sie für ihn tat, immer als Gnade angesehen, was er für sie tun durfte, als sein bestes Glück. Und seine Art und Weise gegen sie war nur der höchste Grad dessen, was er allen Menschen zu teil werden ließ. Sie erhob ihre Augen und ihre Hände zu seinem Bilde und tat einen stummen Schwur: Die Welt soll dich nicht ganz verloren haben, deine Güte, deine Langmut sollen fortleben; ich will dienen um das Recht, sie auszuüben in deinem Sinn; ich will mir das Vertrauen der Leidenden und Irrenden verdienen.
In diesem Jahre kam der Winter besonders früh und streng mit seinen kurzen Tagen, seinem dämmerigen Lichte, mit Eis und Schnee. Wochenlang von dem Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten, suchte Maria, wenn ein Postpaket endlich ins Schloß befördert werden konnte, immer zuerst nach Briefen von ihrem Vater – und nicht selten umsonst. Fürstin Alma, Carla und Betty schrieben voll Zärtlichkeit; Wilhelms wiederolten immer inniger ihre stehende Bitte, sprachen immer wärmer ihre Sehnsucht nach einem Wiedersehen aus. Tante Dolph [509] sandte unpassend schneidige Berichte über das Treiben in der Gesellschaft, während Wolfsbergs Briefe so unpersönlich als möglich nur Fernliegendes berührten.
Am Abend, wenn Sturm und Frost Maria im Hause ge-fangenhielten, setzte sie sich ans Klavier und spielte, und sehr oft kam Erich, rückte einen Sessel herbei, stieg hinauf und hörte unendlich aufmerksam zu. Das Kind schien eine Ahnung zu haben von der Schönheit der Phantasien, die unter den Fingern seiner Mutter hervorquollen. Sein dunkler, leuchtender Blick ruhte mit ehrfurchtsvollem Staunen auf ihr und senkte sich fast scheu, wenn sie zu ihm hinsah.
Einmal plötzlich hielt sie inne, nahm ihn auf ihren Schoß und drückte ihn an sich. Er streichelte und küßte ihre Wangen, wollte sprechen, würgte aber die Frage, die ihm schon auf den Lippen schwebte, wieder hinunter.
»Was hast du? Was willst du?« sprach Maria.
»Ich möcht so gern ... so gern möcht ich ...« er stockte wieder und fuhr nach einer Weile zögernd fort: »Ich weiß, Mutter, wie man nach Dornach geht. Vom Schlafzimmer sieht man den Weg, Lisette hat mir ihn gezeigt ... Sie hat gesagt, das arme Dornach ist ganz verlassen und wird noch lang verlassen bleiben. Ist es weit nach Dornach, liebe Mutter?«
Sie nickte schweigend: »Ja.«
»Ich möcht aber doch nach Dornach«, begann er wieder, entschlossener werdend. »Hermann wird mir von den Löwen erzählen. Dornach ist nicht so weit wie die Löwen.«
»Doch!« rief sie mit schneidendem Schmerzensklang. »Dornach ist weiter als alles, ist unerreichbar!«
Am folgenden Morgen, da Lisette beim Eintreten in das Zimmer der Gebieterin ausrief: »Wie blaß du bist, wie übel du aussiehst!« mußte Maria eingestehen, daß sie sich müde und unwohl fühlte.
Lisette bemerkte nur: »Es muß arg sein, wenn du's selber sagst«, aber sie setzte etwas ins Werk, was sie schon seit längerer Zeit geplant hatte, und vertraute im Laufe des Tages dem Stubenmädchen, daß sie heute »einen Coup« ausgeführt, einen ausgezeichneten »Coup«.
Die Kränkung Marias über das Wegbleiben des Grafen, die wenigstens sollte ein Ende nehmen. Lisette wußte recht gut, was sie zu tun hatte, um ihn ins Bockshorn zu jagen.
[510] In der Stunde, in der Maria ihr schweres Geständnis abgelegt, hatte ihrem Vater ein schreckliches Bild von dessen möglichen Folgen vorgeschwebt. Der Name seiner Tochter der Schmach preisgegeben, nie wieder genannt, ohne die Erinnerung an einen Skandal zu wecken ... Und er mit hineingerissen in die Schande, seine glänzende Stellung vernichtet.
Aber siehe! als er sich anschickte, die große Welt als ein Ausgestoßener zu fliehen, kam sie ihm entgegen, huldvoller denn je. Seltsamerweise hatte Maria die öffentliche Meinung gewonnen durch die heroische Geringschätzung, die sie ihr bewies. Die große Welt verzieh, statt zu verdammen, sie tat ein übriges – sie bewunderte. Tonangebende Damen erklärten, Gräfin Dornach werde stets in ihrem Hause willkommen sein.
»Was der Teufel, willkommen!« rief Betty Wonsheim aus, »kniend würde ich sie auf meiner Schwelle empfangen.«
Und wie stimmte Carla ihr bei! und welches unaussprechliche Mitleid erfüllte die Seele Fürstin Almas und wagte nicht, sich laut zu äußern, aus Furcht vor dem Schein einer begreiflichen Sympathie mit der Schuldigen und mit der Schuld. Fee, die sich einen famosen Reisewagen hatte bauen lassen – Gott weiß, wo, Gott weiß, wann man ihn brauchen wird! –, konnte es nicht erwarten, ihn zu probieren. Eine Fahrt über Land, mit eigenen Pferden, mit vielmaligem Einkehren und wunderbarem Schlußeffekt: plötzlichem Sturz in die Arme ihrer überraschten, ihrer liebsten, ihrer angebetenen Freundin – das wäre etwas gewesen, recht nach dem Herzen der kleinen Fee.
Die strengsten Richter fand Maria in ihrer Familie.
»Bei mir hat sie abgewirtschaftet«, sagte Gräfin Dolph geradeheraus zu Fräulein Nullinger.
Die Gesellschafterin erwiderte nicht ohne geistlichen Hochmut: »Darüber wird sie sich trösten – im Himmel, der die große Büßerin erwartet.«
»Was Sie sagen – der Himmel?... Kann sein übrigens. Es gibt ja einen für die Einfältigen. Sie hat eine Dummheit gemacht, um einen Fehler zu reparieren; das mag dort Anerkennung finden.«
Das Fräulein spielte alle Farben von Dunkelrot bis zu Violett: »Mein ganzes Innere ist empört ...«
»Gegen mich?« fragte Gräfin Dolph mit souveränem Lächeln. »Oh, wie grausam! – nein, ich bitte Sie, kein Wort mehr, haben Sie Erbarmen, ich weiß ja, daß meine Empfindungen nur Hunde sind gegen die Ihrigen.«
[511] So scharf ihr eigenes Urteil über Maria war, die Härte ihres Bruders suchte sie zu mildern, weil er darunter litt. »Was nimmst du ihr im Grunde übel?« sagte sie einmal – »daß dein Blut und das Blut ihrer Mutter in ihren Adern rinnt. Nun, Verehrtester, ich kann den Gebrauch, den sie davon gemacht, nicht unbescheiden finden. Sie hat geheiratet, überlege nur, mit der Neigung zu Tessin im Herzen, sie hat – ich kenne sie – jeden Gedanken an ihn von sich gewiesen. Aber die abgewiesenen Erinnerungen und Gefühle, das ist bei Leuten eueres Schlages wie zurückgeschobener Sand oder Schnee; es häuft, es häuft sich, es wird ein Berg und stürzt euch bei der ersten Gelegenheit über dem Kopf zusammen.«
»Diese Frau«, murmelte Wolfsberg, »und – dieser Mann!«
Gräfin Dolph verzog den Mund mit unbeschreiblichem Spotte:
»Soll ich alte Jungfer dir sagen, daß die Krone der Liebe nicht wie die von Mazedonien ›dem Würdigsten‹ bestimmt ist? – Das wäre eine langweilige Welt, in der nur Tugendhelden Eroberungen machen würden. Ich bitte dich, hör auf dich zu quälen. Ewig zürnen kannst du nicht, und einen Groll, den man endlich doch fahren lassen muß, soll man je eher je lieber aufgeben.«
Die Zeit verfloß, die ersten Frühlingstage kamen, der Verkehr zwischen Vater und Tochter beschränkte sich immer noch auf einen spärlichen Briefwechsel.
Da erschien eines Vormittags Gräfin Dolph im Arbeitszimmer ihres Bruders. Ihr linkes Auge war zusammengezogen und zwinkerte trüb und matt. Sie hatte ihre März-Rheumatismen, die ganz besonders bösen, in der Stadt herumkutschiert und kam von einem Abschiedsbesuch bei Wonsheims. Es ging nicht gut in dem Hause. Auf den dringenden Rat ihrer Ärzte verreisten die zwei Ehepaare für längere Zeit. Clemens brauchte Zerstreuung um jeden Preis. Der Arme war seit dem entsetzlichen Unglück, das er verschuldet, als er sinn- und gedankenlos den Ehrgeiz eines Kindes zum unseligsten Wagnis aufgestachelt, in ernster Gefahr, gemütskrank zu werden.
»Er denkt natürlich nicht daran, Maria vor Augen zu treten, die beiden Frauen aber möchten unbeschreiblich gern Abschied von ihr nehmen. Geht das, was meinst du?« fragte die Gräfin.
»Ich weiß nicht«, gab er zur Antwort.
»Sie ist etwas unwohl.«
»Wer?«
»Nun, Maria.«
[512]»Hat sie geschrieben?«
»Nicht sie. Lisette, der alte Angstwurm, hat hinter ihrem Rücken einen Brief an Doktor Hofer ergehen lassen, und der ist sofort nach Wolfsberg abgereist.«
Der Graf saß an seinem Schreibtisch, hielt eine Feder in der Hand und tippte heftig mit der Spitze auf ein bereits ausgefertigtes Schriftstück: »Was das für Übertreibungen sind!«
»Er hat sich nicht lange aufgehalten, war heute schon bei mir und voll Ingrimm über die schlechten Verkehrsmittel bei uns zulande.« Sie rückte näher an den Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte. »Drei Patienten haben mit dem Sterben auf ihn gewartet; sobald sie expediert sind, kommt er zu dir.«
»Er hätte gleich kommen sollen«, versetzte Wolfsberg ungeduldig. »Warum bin ich der letzte, der von alledem etwas erfährt?«
»Damit du dir nicht unnötige Sorge machst ... ganz unnötige! Es ist nichts von Bedeutung.« Die Hälfte von dem, was der Arzt ihr gesagt, hatte sie vergessen, vergessen wollen, und von der anderen Hälfte verschwieg sie ihrem Bruder das meiste. Ihre Schmerzen waren fast unleidlich geworden. »Leb jetzt wohl«, sprach sie, »ich muß anticipando ausruhen, habe Gesellschaft heute abend, die ganze Menagerie, wie Madame de – de, wie hieß sie nur? sage, nun, die im 18. Jahrhundert, als Paris noch an der Spitze der Kultur stand und das Kaffeehaus Europas war – die ... ich hab vergessen, wie sie hieß, mein Gedächtnis geht flöten. Auch eines der vielen Anzeichen des hereinbrechenden Greisentums. – Ja, mein Lieber, halte dich an die Nachkommen, die Zeitgenossen sterben einem weg. Du kannst über Nacht ein Bruder ohne Schwester sein.«
Sie fand für gut, das zu sagen, wäre jedoch sehr erstaunt gewesen, wenn man ihr geglaubt hätte.
Als sie fort war, fuhr Wolfsberg ins Ministerium, präsidierte einer Sitzung, empfing Besuche – alles wie immer. Und dabei hatte er unaufhörlich die Empfindung eines Zusammenpressens der Kehle. Gegen Abend kam er heim, begann rastlos auf und ab zu wandern in seinem Zimmer und horchte jedem Glockenzeichen. Eine schwere, alt machende Stunde verschlich. Da endlich wurde die Tür vor dem Herrn Professor aufgerissen.
Er war ein Mann in den Fünfzigen, kräftig und untersetzt, mit ansehnlicher Glatze, aber noch dunklen Haaren. Der treuherzige Ausdruck seines schönen, glattrasierten Gesichtes, sein gerades Wesen gewannen ihm auf den ersten Blick ein Vertrauen, [513] das er durchs Leben hindurch zu rechtfertigen wußte.
Der Graf ging ihm entgegen und reichte ihm beide Hände: »Lieber Herr Professor, Sie Getreuer – Sie waren dort – ich danke Ihnen.«
»Nix z'danken«, erwiderte Hofer trocken – er bediente sich manchmal durchaus ernsthaft des Wiener Dialekts – und seine kleinen braunen Augen fest auf Wolfsberg richtend, fuhr er fort: »War meine verdammte Schuldigkeit, mich nach ihr umzusehen, wäre – mit Verlaub – auch die Ihre, Herr Graf. Sie und ich, wir kennen sie gleich lang, und wir könnten es wissen, daß die Frau einige Aufmerksamkeit verdient.«
Wolfsberg wischte sich die Stirn. »Es hat sich viel verändert, Freund. – Zur Sache! Wie geht es ihr?« Er lehnte mit dem Rücken am Fenster, der Arzt stand vor ihm.
»Merkwürdige Frage«, sagte er. »Nein, daß auch für Sie die alte Regel paßt: Willst du Genaues erfahren über deine Allernächsten, so frage nur bei fremden Leuten an. Hm, hm! – Hat zuviel ausgestanden, die Frau. Wissen Sie was, Herr Graf? Hören Sie jetzt auf zu schmollen, es könnte Sie sonst reuen«, er klopfte ihm auf den Arm.
»Doktor, Herr Professor ... mich reuen ... Sie sehen zu schwarz ... Ihr einziger Fehler.«
»Ich sehe, was Sie sehen werden. Reisen Sie morgen, machen S' a bisserl an Ordnung auf Ihrem Rittergschloß, bleiben Sie aber nicht lang und kommen Sie dann nicht zu bald wieder hin. Auch Ihre Besuche würden die Kranke ...«
»Die Kranke?«
»... aufregen, und jede, selbst die geringste Gemütsbewegung kann von den schlimmsten Folgen für sie sein. Es ist ja ganz gut, sie so hinduseln zu lassen und zu beschränken auf den Umgang mit ihrem Kind. Wenn sie recht haushält mit ihren Kräften, wird es vielleicht möglich werden, sie im Herbst nach dem Süden zu bringen. Aber«, er erhob drohend den Zeigefinger, »das Bewußtsein muß sie haben, daß ihr niemand etwas nachträgt. Ihr gebührt Bewunderung. Wer die Frau kränkt, begeht eine Todsünde. Das sage ich Ihnen.«
Eine halbe Stunde später kündigte der Graf seiner Schwester an, daß er mit dem Nachtzuge nach Wolfsberg abreise, und ließ packen. Das Essen, das ihm in seinem Zimmer serviert wurde, blieb unberührt. Er schickte einige Zeilen an seine Behörde und warf die Antwort ungelesen auf den Tisch. In seinem Sessel zurückgelehnt, starrte er vor sich hin. Da, auf [514] dieser Stelle hatte sie gekniet, den Kopf an seinem Herzen ... Plötzlich, unwillkürlich falteten sich seine Hände. Der Mann, dem der Glaube nur als ein Kappzaum galt für die Menge und als unentbehrlicher Trost für die Enterbten dieser Erde, betete zu dem Gott der Liebe und des Erbarmens, dessen er in Jahren nicht gedacht. Erhalte sie mir, schrie er zu ihm empor. Das war alles, was er zu sagen wußte in seiner Pein – Anfang und Ende seiner Beredsamkeit: Allmächtiger, erhalte sie mir!
Am nächsten Tage traf er in Wolfsberg vor dem Telegramm ein, das ihn ankündigen sollte. Die Überraschung der Dienerschaft, das Geschrei Lisettens, die eben in den Hof trat, als er hereinfuhr, belehrten ihn darüber.
»Der Herr Graf! das ist aber etwas!« rief die Alte, tat aufs äußerste verwundert und beantwortete seine Frage nach Maria mit den hastig gesprochenen Worten: »Bei den Pinien ... im Garten ... ich muß nur bitten ... ich will sie vorbereiten ...«
Er hörte sie nicht an. Während im Schloß und im Beamtenhaus alles durcheinanderrannte und die feindlichsten Elemente sympathisch zusammentrafen in dem Verdruß über seine Ankunft, schritt er eilig der großen Baumgruppe am südlichen Ende des Gartens zu. – Wie war alles verwildert! Die Wege grasüberwuchert, die Wiesen von Unkraut zerfressen, die Gebüsche unbeschnitten; ihre kahlen, schwachen Stämmchen in die Höhe gewachsen, lauter Lichtungen statt der ehemaligen schattigen Gänge. Von weitem schon erblickte er seine Tochter. Sie saß auf einer Moosbank unter den mächtigen Stämmen – durchsichtig blaß, schmal in ihrem schwarzen, eng anliegenden Kleide – und sah dem Kinde zu, das sich eifrig mit dem Bau einer kleinen Grotte beschäftigte. Ihr Vater war schon nahe bei ihr, als sie seine Schritte knistern hörte auf dem mit dichten Schichten abgefallener Nadeln bedeckten Grunde und den Kopf erhob.
»Maria!« rief er aus, und Tränen traten ihm in die Augen.
Sie stand auf, wollte sprechen, auf ihn zueilen, sank aber stumm zurück mit einem unendlich dankbaren Lächeln.
Er neigte sich zu ihr herab und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn. Sie flüsterte etwas Unverständliches, ihre Nasenflügel bebten, ihre Lippen waren halb geöffnet, sie zogen die Luft hörbar atmend ein.
Wolfsberg setzte sich zu ihr. »Hätte ich doch gewußt ...« sagte er, »warum nicht ein Wort schreiben ... Wie unrecht.« Von Rührung übermannt, zog er ihre Hände an seinen Mund [515] und küßte sie und sprach leise: »Niemand liebt dich, wie ich dich liebe, und niemand hat dir so weh getan.«
Alles war ihm Vorwurf, ihr abgehärmtes Aussehen, ihr verwahrloster Wohnort, das Fremdtun Erichs, der sein Spiel unterbrochen hatte und ihn ernst und fragend ansah, ohne ihn zu begrüßen.
Auf einmal blitzte es freudig auf in den Augen des Knäbleins. Er trat an seine Mutter heran. »Schau dorthin«, sagte er, legte sein Händchen flach an ihre Wange und zwang sie, den Kopf zu wenden. Die Sonne ging unter; ihre letzten waagerechten Strahlen schimmerten durch die Stämme der Bäume, das Angesicht des Kindes flammte in ihrem Widerschein; goldene Lichter spielten auf seinen dunkeln, leicht gelockten Haaren.
Wolfsberg betrachtete ihn mit schmerzlicher Bewunderung. »Nun, was ist mit dir?« begann er. »Du siehst mich ja gar nicht an. Kennst du mich nicht mehr?«
»O ja – o ja!« gab Erich zur Antwort, senkte den Kopf und wandte seine ganze Aufmerksamkeit einem Käfer zu, der an einem Grashalm emporzuklimmen suchte.
Auch Maria wagte nicht aufzublicken. Die Erinnerung an den Abscheu, mit dem Gräfin Agathe das Kind von sich gestoßen hatte, durchzitterte sie, und sie murmelte: »Verzeih ihm, er ist so scheu geworden in der Einsamkeit.«
»Wir wollen ihn schon zutraulich machen«, sagte ihr Vater und streckte dem Knäblein die Rechte entgegen. »Schlag ein, kleiner Wolfsberg, schlag ein, mein Enkel. Auf gute Freundschaft!«
Der Graf blieb einige Zeit daheim, und alle, die in seinem Dienste standen, erfuhren, wie begründet ihr Schrecken über seine Ankunft gewesen war. Er ging streng ins Gericht; seinen unverschämtesten Ausbeutern, seinen aufgeblasensten Würdenträgern brach der Angstschweiß aus, als er, ohne die Stimme zu erheben, mit geschlossenen Zähnen zu ihnen sprach: »Weh euch, wenn ich bei meiner Wiederkehr nicht jedes Versäumnis eingebracht finde, hundertfach.«
Seine Abreise verschob er von Tag zu Tag. Er hatte Erich liebgewonnen; er beschäftigte sich mehr mit ihm, als er mit Maria getan, da sie noch in so zartem Alter stand. Halbheit war seine Sache nicht. Er wollte den Enkel, den er anerkannt, von aller Welt anerkannt sehen und ihn für eine glänzende Zukunft erziehen. Als er jedoch seine ehrgeizigen Pläne vor [516] Maria entwickelte, traf er auf Widerstand. Sie strebte für Erich das Gegenteil von allem an, was ihrem Vater wünschenswert erschien; ja, sie forderte von ihm das feierliche Versprechen, daß ihr die entscheidende Verfügung über ihr Kind bewahrt bleibe im Leben und im Tode.
Zweifelnd und erschrocken sah er sie an, aber eine andere Antwort als »ja« hatte er auf einen von ihr geäußerten Wunsch nicht mehr.
Ihre unerschütterliche Gelassenheit bewegte ihn in allen Seelentiefen. Es schien ihm die Gelassenheit einer halb Abgeschiedenen, die nicht mehr wünscht noch hofft. Ihre Mutter, in ihrem letzten Lebensjahre, hatte in ruhigen Stunden denselben Ausdruck stiller Trostlosigkeit gehabt. Maria war jetzt das vollkommene Ebenbild der unglücklichen Frau, und Wolfsberg schauerte manchmal zusammen, wenn sie ihm unerwartet entgegentrat.
Am Abend vor seiner Abreise waren sie aus dem Salon, in dem der Tee genommen worden, in den anstoßenden Erker getreten. Aus seinen hohen schmalen Fenstern sah man über die Bäume des Gartens, über das Dorf hinweg auf eine von Trümmern, die aus dem Steinbruch herabgerollt, teilweise bedeckte Hutweide. Die Dämmerung war eingebrochen, und in ihrem täuschenden Scheine meinte man einen ungeheuren Friedhof vor sich zu sehen. Wolfsberg blickte lange gedankenvoll hinaus. Ein letztesmal suchte er Maria zu überreden, ihren düstern Aufenthalt mit dem auf einem seiner Güter in Tirol oder in Österreich zu vertauschen: »Wo du mir leichter erreichbar wärest und auch Tante Dolph, der die Reise hierher zu beschwerlich ist, dich besuchen könnte. Und die anderen, die vielen, die dich lieben. Was mir nur die kleine Fee alles aufgetragen hat! Sie droht, wenn du ihr durchaus nicht erlaubst zu kommen, es ohne deine Erlaubnis zu tun.«
»Gib es nicht zu!« rief Maria flehend aus. Eine tiefe Röte spielte auf ihren Wangen. »Ich kann niemanden sehen, lieber Vater. Laß mich hier vergraben, tot für alle sein, nur so ertrage ich das Leben.«
Zur Abfahrt Wolfsbergs versammelten sich seine Angestellten mit ihren nicht immer »besseren« Hälften im Schloßhofe. Auch der Vorsteher der Gemeinde war da. Der Graf hatte derselben einen Teil ihrer Schulden abgenommen, gegen seine Überzeugung, aber auf Marias Fürbitte. – Er kam mit ihr und mit Erich die Treppe herab, beantwortete die devoten Kratzfüße [517] und Knickse der seiner Harrenden mit einer ablehnenden Gebärde, umarmte seine Tochter, küßte und segnete seinen Enkel und sprang in den Wagen.
Maria blieb regungslos stehen und sah ihm nach. Plötzlich bemerkte sie, daß auch die übrigen sich nicht vom Flecke gerührt, sondern in untertäniger Haltung erwarteten, von ihr entlassen zu werden. – Die freche Feindseligkeit hatte sich in eine kriechende verwandelt.
Ein Jahr nach dem Tode Hermanns schrieb Tessin an Maria. Seine Versetzung auf einen höheren, wieder überseeischen Posten sollte noch im Laufe des Jahres erfolgen; er kam, bevor er ihn antrat, für einige Zeit in die Heimat zurück. In bewegten, tiefe, unwandelbare Liebe atmenden Zeilen bat er um die Gunst eines Wiedersehens und knüpfte daran eine Hoffnung, die vielleicht zu kühn war, um in Erfüllung zu gehen. Doch lebe er von ihr, und auf sie verzichten müssen wäre sein Untergang.
Maria las mit Schrecken und Grauen. So war die Vergangenheit nicht begraben? So streckte sich die Hand des Urhebers ihrer unsühnbaren Schuld noch immer nach ihr aus? Die Stunde der Erniedrigung stieg wieder auf vor ihrem geistigen Auge – unfaßbar, ein höllisches Rätsel ... Ihr Herz stand still, ihre Zähne schlugen zusammen ... Mit dem Aufgebot aller ihrer Kraft trat sie zum Schreibtisch und richtete hastig einige Zeilen an ihren Vater:
»Antworte für mich – du weißt alles ... Hilf, rette mich vor diesem Menschen, schütze mich vor der Gefahr, jemals wieder von ihm zu hören.«
Sie schloß den Brief Tessins in den ihren und schickte damit einen Reitenden, dem sie selbst die größte Eile auftrug, nach der Post.
In Gedanken begleitete sie ihren Boten. Jetzt konnte er beim Steinbruch sein und jetzt an der Brücke, und wenn er tüchtig jagte, kam er noch zurecht zur Abfahrt des Postkarrens. – Und der brauchte dann vier Stunden, bis er zur Eisenbahnstation gelangte. Vier volle Stunden ... Wenn nur die vorüber wären, sie würde leichter atmen.
Jetzt also, dachte sie, ist der Brief auf der Bahn, als die Schloßuhr zehn schlug.
Sie hatte die Leute zur Ruhe geschickt und ging nun rastlos in ihrem Schlafzimmer auf und ab, bis sie endlich todmüde [518] auf ihr Lager sank, neben dem das kleine Bett Erichs stand. Er schlief fest und sah gescheit und lieblich aus. Seine Mutter schöpfte Mut und Kraft aus seinem Anblick, ihre Besorgnisse schienen ihr mit einem Male töricht. Was lag daran, ob die Antwort auf den Brief, der ihr zugeflogen war wie ein Pfeil aus dem Busche, einen Tag früher oder später kam? – – Was lag daran? – Sie sprach sich Vernunft zu; sie schalt die Schwäche des Willens, der nichts vermochte über das Treiben aufgeregter Nerven, über das tolle Pochen des Herzens. Gegen Morgen fiel sie in leisen, durch wirre Träume gestörten Schlaf und erwachte, in kalten Schweiß gebadet. Sie stand mühsam auf und schickte Erich mit seiner Wärterin in den Garten. Zu Mittag kam er wie gewöhnlich zur Unterrichtsstunde in das Erkerzimmer, wo Maria ihn erwartete.
»Mutter«, rief er, »es ist jemand angekommen, ein Herr, mit den Schimmeln vom Postmeister, und der eine hinkt.«
Sie war aufgefahren, hatte einen raschen Blick nach der Tür geworfen, als ob sie entfliehen wollte, und war dann auf ihren Platz zurückgesunken. »Jemand angekommen«, wiederholte sie. »Weißt du wer?«
Nein, er wußte es nicht.
Aber sie wußte es ... Tessin hatte ihre Antwort nicht abgewartet – er war gekommen.
Die Tür, die vom Gang in das Nebenzimmer führte, wurde aufgerissen. Man vernahm Lisettens kreischenden Ausruf: »Jesus! Herr Jesus!« – »Ich darf niemanden vorlassen«, sprach ein Diener laut.
»Mutter«, rief Erich, »warum schreien sie so da draußen?« Er breitete seine Arme aus und stellte sich schützend vor sie hin:
»Fürchte dich nicht!«
Und jetzt polterte sehr aufgeregt Lisette herein: »Nein, denk dir nur ... Graf Tessin nennt er sich, und ich schwöre darauf, es ist derselbe ... Aber was ist dir denn?...«
Maria war aufgestanden; ihr Gesicht hatte einen fremden Ausdruck angenommen. Finster und kalt sah sie den eintretenden Tessin an, der bei ihrem Anblick totenblaß wurde.
Erich stürzte ihm entgegen: »Fort, du, fort, wir wollen dich nicht ...« und drohend erhob er die Faust.
Die Lippen Tessins verzogen sich; er lächelte das Kind an mit einem Gemisch von Verlegenheit und Spott; er wünschte sich weit weg von hier, er verfluchte seine Ungeduld.
[519] In liebevoll gehegter Erinnerung hatte er Maria immer nur so vor sich gesehen, wie sie war in der süßesten und siegreichsten Stunde seines Lebens. Er hatte die schönste Frau in Gedanken tausend- und tausendmal in seinen Armen gehalten. Das wahnsinnige Verlangen nach ihr, das ihn oft in der Fremde ergriffen, wuchs von Minute zu Minute, seitdem er den Boden der Heimat betreten hatte. Er zweifelte nicht – sie liebte ihn noch; sie hatte immer nur ihn geliebt; sie wartete seiner mit ebender Sehnsucht, mit der er ihr entgegengestrebt – –
Und nun war's erreicht; er stand am Ziel, und was es ihm bot, war eine grausame Enttäuschung, die zu verbergen ihm die Fassung fehlte. Langsam trat er näher und verbeugte sich stumm.
Maria winkte Lisetten, den Knaben fortzuführen. Er sträubte sich, mußte aber gehorchen. Am Ausgange noch wandte er sich um und warf einen Blick voll Trotz und Mißtrauen auf Tessin.