Rheinfahrt

1.

Nun wird es licht, nun will der Frühling nahn,
Durch blaue Lüfte schifft der wilde Schwan,
Von Berg zu Bergen webt der Sonnenstrahl,
Es jauchzt der Bach und springt ins Blütental,
Die Wolke treibt im Wind, die Seglerin, –
Was wogst du, Herz! O sprich, wohin, wohin?
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O Herz, du möchtest mit dem Schwane ziehn,
Du möchtest mit dem Bach zur Tiefe fliehn,
Du möchtest fahren in die Welt hinein
Mit Märzenwind und Frühlingssonnenschein –
Wohin? Wohin? – O still! Was fragst du viel?
Du weißt die Richtung, und du kennst das Ziel.
In hohen Wassern braust der grüne Rhein,
Die Berge schaun, die Burgen still hinein;
Durch Felsgeklüft und Reblaub geht die Bahn;
Dort haust die Fei, die dir es angetan.
Spann' aus die Flügel denn! Was zögerst du?
Zu ihr! Zu ihr! Denn dort nur hast du Ruh'!

2.

Nun geht's auf dampfbeschwingtem Schiffe
Zu Tal vom Fels der Lorelei:
Besonnte Weiler, schwarze Riffe,
Zerfallne Warten fliehn vorbei.
Es grüßen Kirchen, grüßen Schlösser,
Bezaubernd wechseln Berg und Tal,
Des Stromes dunkelgrün Gewässer
Wird flutend Gold im Abendstrahl.
Aus allen Gärten Blütendüfte,
Von allen Türmen Glockenspiel,
In Rosenglut getaucht die Lüfte –
O schöne Fahrt zum schönsten Ziel!
Am Bord die Musikantenbande
Hebt an ein Lied von Rhein und Wein,
Das Echo ruft vom Klippenstrande,
Und Schaum und Räder brausen drein.
O Klang und Sang aus heller Kehle,
O Frühling, wie berauscht ihr mich!
Ein Jauchzen geht durch meine Seele:
Du schönes Weib, ich grüße dich!

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Rheinfahrt. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BBC5-7