Achter Abschnitt

Die Serapionsbrüder hatten sich wiederum versammelt.

»Sehr irren,« sprach Lothar, »sehr irren müßt' ich und überhaupt gar nicht der geübte, geniale Physiognomiker sein, der ich wirklich bin, wenn ich nicht aus jedem von unsern Gesichtern, das meinige, das ich soeben magisch schimmernd im Spiegel erblickt, nicht ausgenommen, mit Leichtigkeit herausbuchstabieren sollte, daß wir alle vieles im Sinn tragen und jeder nur auf das Kommandowort harret, um sogleich loszufeuern. Ich fürchte, daß vielleicht auch heute dieser, jener in diesem, jenem verschlossene exzentrische Sprühteufel aufsteigen, knisternd und knallend umherfahren und dann erst zu spät sich durchs Fenster davonmachen könnte, wenn er uns alle bereits erklecklich angesengt; ich fürchte sogar einen Nachtrag zum neulichen Gespräch, den der heilige Serapion von uns abwenden möge! Damit wir aber keinesfalls sogleich in wilde stürmende Wogen hineingeraten, sondern unsere serapiontische Sitzung fein ruhigen Geistes beginnen mögen, schlage ich vor, daß Sylvester uns sogleich die Erzählung vorlese, zu deren Mitteilung neulich die Zeit nicht mehr hinreichen wollte.«

Die Freunde waren mit Lothars Vorschlag einverstanden.

»Mein Gespinst,« sprach Sylvester, indem er einige Blätter hervorzog, »mein Gespinst besteht diesmal aus mancherlei Faden von gar verschiedener Farbe, und es wird darauf ankommen, ob ihr dennoch dem Ganzen Ton und Haltung zugestehen wollt. Einem ursprünglich, wie ich [463] zugestehen will, etwas magern Stoff glaubte ich dadurch mehr Fleisch und Blut zuzuwenden, daß ich aus einer großen verhängnisvollen Zeit Gebilde herbeiholte, deren Rahmen das nun eigentlich nur ist, was als sich in dem Augenblick begebend dargestellt wird.«

Sylvester las:

Der Zusammenhang der Dinge
Im Weltsystem bedingter Fall über eine Baumwurzel. Mignon und der Zigeuner aus Lorca nebst dem General Palafox. Erschlossenes Paradies bei dem Grafen Walther Puck

»Nein,« sprach Ludwig zu seinem Freunde Euchar, »nein, es gibt gar keinen solchen ungeschlachten tölpischen Begleiter der holden Glücksgöttin, der radschlagend die Tische umwirft, die Tintenflaschen zerbricht, dem Präsidenten, in den Wagen hineinpolternd, Kopf und Arm verletzt, wie Herr Tieck, der mit Vornamen so wie ich Ludwig geheißen, ihn in dem Prolog zum zweiten Teil des ›Fortunat‹ aufzustellen beliebt hat. Nein, es gibt keinen Zufall. Ich bleibe dabei, das ganze Weltsystem mit allem, was sich darin begibt, der ganze Makrokosmus gleicht einem großen, künstlich zusammengefügten Uhrwerk, das augenblicklich stocken müßte, sobald es irgendeinem fremden willkürlosen Prinzip vergönnt wäre, auch nur das kleinste Rädchen feindlich zu berühren.« »Ich weiß nicht,« erwiderte Euchar lächelnd, »ich weiß nicht, Freund Ludwig, wie du auf einmal zu dieser fatalen, längst veralteten mechanistischen Idee kommst und Goethes schönen Gedanken vom roten Faden, der sich durch unser Leben zieht, und an dem wir, ihn in lichten Augenblicken gewahrend, den über uns, in uns wallenden höheren Geist erkennen, so entstellen darfst.« »Das Gleichnis,« sprach Ludwig weiter, »das Gleichnis ist mir anstößig, weil es von der englischen Marine entnommen. Durch das kleinste Tau ihrer Schiffe, ich weiß es ja eben aus Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, zieht sich ein roter Faden, der es als Staatseigentum bezeichnet. Nein, nein, mein lieber Freund! [464] Alles, was sich begibt, ist von Ursprung an als notwendig bedingt, eben weil es sich begibt, und das ist der Zusammenhang der Dinge, auf dem das Prinzip alles Seins, des ganzen Lebens beruht! – Da man nämlich« – In dem Moment –

Doch es ist nötig, dem geneigten Leser zuvörderst zu sagen, daß beide, Ludwig und Euchar, also miteinander redend, durch einen Laubgang des schönen Parks vor W. lustwandelten. Es war Sonntag. Die Dämmerung begann einzubrechen, der Abendwind strich säuselnd durch die Büsche, die, sich von der Glut des Tages erholend, aufatmeten in leisen Seufzern; durch den ganzen Wald ertönten lustig die frohen Stimmen geputzter Bürgersleute, die sich hinausgemacht und, bald ins blumichte Gras hingelagert, ein mäßiges Abendbrot verzehrten, bald in dieses, in jenes der zahlreichen Wirtshäuser eingekehrt, sich nach den Kräften des Gewinns der Woche etwas mehr zugute taten.

In dem Moment also, da Ludwig weiter reden wollte über die tiefsinnigen Lehren vom Zusammenhang der Dinge, stolperte er über eine dicke Baumwurzel, die er brillbewaffnet, wie er war, doch übersehen, und fiel der Länge nach zur Erde nieder. »Das lag im Zusammenhang der Dinge; schlugst du nicht schmählich hin, so ging die Welt unter im nächsten Augenblick.« So sprach Euchar ernsthaft und gelassen, hob Stock und Hut des Freundes auf, beides war ihm beim Fall entflogen, und reichte ihm die Hand zum Aufstehen. Ludwig fühlte aber das rechte Knie so verletzt, daß er zu hinken genötigt, und dabei blutete die Nase heftig genug. Dies bewog ihn, dem Rate des Freundes zu folgen und einzukehren in das nächste Wirtshaus, unerachtet er sonst dergleichen, vorzüglich an Sonntagen, sorgfältig vermied, da ihm der Jubel der sonntäglichen Bürgerwelt eine seltsame innere Ängstlichkeit einflößte, als befinde er sich an einem Orte, der nicht recht geheuer, wenigstens für Leute seinesgleichen.[465] Auf dem mit Bäumen besetzten Rasen vor dem Hause hatten die Gäste einen dichten bunten Kreis geschlossen, aus dessen Mitte die Töne einer Chitarre und eines Tamburins erklangen. Das Schnupftuch vor dem Gesicht, vom Freunde geführt, hinkte Ludwig hinein in das Haus und bat so kläglich um Wasser und um ein geringes etwas von Weinessig, daß die erschrockene Wirtin ihn in den letzten Zügen glaubte. Während er mit dem Verlangten bedient wurde, schlich Euchar, auf den Chitarren- und Tamburintöne einen mächtigen unwiderstehlichen Zauber übten, man wird erfahren, warum, hinaus und suchte in den geschlossenen Kreis zu kommen. Euchar gehörte zu den wenigen hochbeglückten Lieblingen der Natur, denen ihr äußeres Ansehen, ihr ganzes Wesen überall freundliches Zuvorkommen verschafft, und so geschah es denn auch, daß einige Handwerksbursche, sonst eben nicht am Sonntage zu graziöser Höflichkeit aufgelegt, als er fragte, was sich in dem Kreise begebe, sogleich Platz machten, damit er nur auch das kleine närrische Ding schauen könne, das so hübsch und so künstlich spiele und tanze. Nun tat sich vor Euchar ein Schauspiel auf, das, seltsam und anmutig zugleich, seinen ganzen Sinn gefangen nahm.

In der Mitte des Kreises tanzte ein Mädchen mit verbundenen Augen zwischen neun Eiern, die zu drei und drei hintereinander auf dem Boden lagen, den Fandango, indem sie das Tamburin dazu schlug. Zur Seite stand ein kleiner verwachsener Mensch mit einem häßlichen Zigeunergesicht und spielte die Chitarre. Die Tänzerin höchstens fünfzehn Jahre alt, sie ging fremdartig gekleidet, im roten, goldstaffierten Mieder und kurzen weißen, mit bunten Bändern besetzten Rock. Ihr Wuchs, jede ihrer Bewegungen war die Zierlichkeit, die Anmut selbst. Sie wußte dem Tamburin, das sie bald hoch über dem Kopfe, bald mit in malerischer Stellung ausgestreckten Armen seitwärts, bald vor sich hin, bald hinter dem Rücken hielt, wunderbar mannigfaltige Töne zu entlocken. Zuweilen [466] glaubte man den dumpfen Ton einer in weiter Ferne angeschlagenen Pauke, dann das klagende Girren der Turteltauben, dann wieder das Brausen des nahenden Sturmes zu vernehmen; dazu erklangen die wohlgestimmten hellen Glöckchen gar lieblich. Der kleine Chitarrist gab dem Mädchen in der Virtuosität des Spiels nichts nach, denn auch er wußte sein Instrument auf ganz eigene Weise zu behandeln, indem er die eigentümliche Melodie des Tanzes bald klar und kräftig hervortreten, bald, indem er nach spanischer Weise mit der ganzen Hand über die Saiten fuhr, verrauschen ließ, bald volle helle Akkorde anschlug. Immer stärker und mächtiger sauste und brauste das Tamburin, rauschten die Saiten der Chitarre, immer kühner wurden die Wendungen, die Sprünge des Mädchens; haardicht bei den Eiern setzte sie zuweilen fest und be stimmt den Fuß auf, so daß die Zuschauer oft sich eines lauten Schreies nicht erwehren konnten, meinend, nun sei eines von den zerbrechlichen Dingern zerstoßen. Des Mädchens schwarze Locken hatten sich losgenestelt und flogen im wilden Tanz um ihr Haupt, so daß sie beinahe einer Mänade glich. »Endige!« rief ihr der Kleine auf spanisch zu. Da berührte sie tanzend jedes der Eier, so daß sie in einen Haufen zusammenrollten; dann aber mit einem starken Schlag auf das Tamburin, mit einem mächtigen Akkord der Chitarre blieb sie plötzlich stehen wie festgezaubert. Der Tanz war geendet.

Der Kleine trat hinzu und löste ihr das Tuch von den Augen, sie nestelte ihr Haar auf, nahm das Tamburin und ging mit niedergeschlagenen Augen im Kreise umher, um einzusammeln. Niemand hatte sich weggeschlichen, jeder legte mit vergnügter Miene ein Stück Geld auf das Tamburin. Bei Euchar ging sie vorüber, und als er sich hinzudrängte, um ihr auch etwas zu geben, lehnte sie es ab. »Warum willst du von mir nichts annehmen, Kleine?« fragte Euchar. Das Mädchen schaute auf, und durch die Nacht schwarzer seidener Wimpern blitzte der glühende[467] Blick der schönsten Augen. »Der Alte,« sprach sie ernst, beinahe feierlich, mit tiefer Stimme und fremdem Akzent, »der Alte hat mir gesagt, daß Sie, mein Herr, erst dann kamen, als die beste Hälfte meines Tanzes vorüber, und da darf ich nichts nehmen.« Damit machte sie dem Euchar eine zierliche Verbeugung und wandte sich zu dem Kleinen, dem sie die Chitarre abnahm und ihn an einen entfernten Tisch führte. Als Euchar hinblickte, gewahrte er Ludwig, der nicht weit davon zwischen zwei ehrsamen Bürgersleuten saß, ein großes Glas Bier vor sich stehen hatte und ihm ängstlich zuwinkte. Euchar ging hinan und rief lachend: »Nun, Ludwig, seit wann ergibst du dich denn dem schnöden Biertrinken?« Aber Ludwig winkte ihm zu und sprach mit bedeutendem Ton: »Wie kannst du nur so etwas reden? Das schöne Bier gehört zu den edelsten Getränken, und ich liebe es über alle Maßen, wenn es so vortrefflich gebraut wird als eben hier.«

Die Bürger standen auf, Ludwig begrüßte sie mit ungemeiner Höflichkeit und zog ein süßsaures Gesicht, als sie ihm beim Weggehen, nochmals den gehabten Unfall bedauernd, treuherzig die Hände schüttelten. »Immer,« begann nun Ludwig, »immer bringst du mich mit deinem unbedachtsamen Wesen in unnütze Gefahr! Ließ ich mir nicht ein Glas Bier geben, würgte ich nicht das schnöde Getränk hinunter, konnten das nicht die handfesten Meister übelnehmen, grob werden, mich als einen Ungeweihten hinauswerfen? Und nun bringst du mich, nachdem ich so geschickt meine Rolle gespielt, doch in Verdacht!« »Ei,« erwiderte Euchar lachend, »wärst du hinausgeworfen oder gar was weniges abgeprügelt worden, hätte das nicht im Zusammenhang der Dinge gelegen? Doch höre, welch hübsches Schauspiel mir dein im Makrokosmus bedingter Sturz über die Baumwurzel verschafft hat.«

Euchar erzählte von dem anmutigen Eiertanz des kleinen spanischen Mädchens. – »Mignon!« rief Ludwig begeistert, »himmlische, göttliche Mignon!«

[468] Gar nicht weit von den Freunden saß der Chitarrist und zählte emsig das eingenommene Geld, während das Mädchen vor dem Tische stand und eine Apfelsine in ein Glas Wasser ausdrückte. Der Alte strich endlich das Geld zusammen und nickte der Kleinen zu mit vor Freude funkelnden Blicken, die aber reichte dem Alten das bereitete Getränk hin, indem sie ihm die runzlichten Wangen streichelte. Ein widriges meckerndes Gelächter schlug der Alte auf und schlürfte den Trank ein mit durstigen Zügen. Die Kleine setzte sich hin und klimperte auf der Chitarre. – »O Mignon!« rief Ludwig von neuem, »göttliche, himmlische Mignon! – Ja, ich rette sie, ein zweiter Wilhelm Meister, aus den Händen des heimtückischen Bösewichts, dem sie dienstbar!« – »Woher,« sprach Euchar ruhig und gelassen, »woher weißt du, daß jener kleine Buckelmann ein heimtückischer Bösewicht ist?« – »Kalter Mensch,« erwiderte Ludwig, »kalter Mensch, den nichts ergreift, der nichts auffaßt, der keinen Sinn hat für das Geniale, Phantastische. Siehst du, gewahrst du denn nicht, wie aller Hohn, aller Neid, alle Bosheit, der schmutzigste Geiz aus den kleinen grünen Katzenaugen der zigeunerischen Mißgeburt herausblitzt, sich aus den Runzeln des unheimlichen Antlitzes herausfältelt? – Ja, ich rette es – ich rette es aus den satanischen Fäusten des braunen Unholds, das liebe Kind! – Könnt' ich nur reden mit der kleinen Huldin!« »Nichts ist leichter ins Werk zu stellen als das«, sprach Euchar und winkte das Mädchen herbei.

Sofort legte die Kleine das Instrument auf den Tisch, näherte und verbeugte sich dann mit züchtig niedergesenktem Blick. »Mignon!« rief Ludwig wie außer sich selbst, »Mignon, holde süße Mignon!« »Sie nennen mich Emanuela«, sprach das Mädchen. »Und der abscheuliche Kerl dort,« sprach Ludwig weiter, »wo hat er dich Ärmste geraubt, wo hat er dich in seine verfluchten Schlingen verlockt?« »Ich verstehe,« erwiderte die Kleine, indem sie die Augen aufschlug und Ludwig mit ernstem Blick [469] durchstrahlte, »ich verstehe Euch nicht, mein Herr, ich weiß nicht, was Ihr meint, warum Ihr mich so fragt.« »Du bist Spanierin, mein Kind«, begann Euchar. »Ja wohl,« erwiderte das Mädchen mit zitternder Stimme, »ja wohl bin ich das, Ihr seht, Ihr hört mir's wohl an, und da mag ich es nicht leugnen.« »So,« sprach Euchar weiter, »so spielst du auch Chitarre und vermagst ein Lied zu singen?« Das Mädchen hielt die Hand vor die Augen und lispelte kaum hörbar: »Ach, ich möcht' euch, meine lieben Herren, wohl eins vorspielen und vorsingen, aber meine Lieder sind glühend heiß, und hier ist es so kalt – so kalt!« »Kennst du,« sprach nun Euchar auf spanisch mit erhöhter Stimme, »kennst du das Lied: ›Laure l'immortal‹?« Das Mädchen schlug die Hände zusammen, hob den Blick gen Himmel, Tränen perlten in ihren Augen, stürzte fort, riß die Chitarre vom Tisch, flog mehr als sie ging, zu den Freunden zurück, stellte sich vor Euchar, und begann:


»Laure l'immortal al gran Palafox,
Gloria de España, de Francia terror!« etc.

In der Tat, unbeschreiblich zu nennen war der Ausdruck, mit dem die Kleine das Lied vortrug. Aus dem tiefsten Todesschmerz flammte glühende Begeisterung auf, jeder Ton schien ein Blitz, vor dem jede Eisdecke zerspringen mußte, die sich über die erkaltete Brust gelegt. Ludwig wollte vor lauter Entzücken, wie man zu sagen pflegt, aus der Haut fahren. Er unterbrach den Gesang des Mädchens durch überlaute Bravas, Bravissimas und hundert ähnliche Ausrufungen des Beifalls. »Habe,« sprach Euchar zu ihm, »habe die Gnade, mein Gönner, und halt jetzt ein wenig das Maul!« »Ich weiß es schon,« erwiderte Ludwig mürrisch, »daß Musik dich unempfindlichen Menschen ganz und gar nicht zu rühren vermag«, tat aber übrigens, wie ihm Euchar geheißen.

Das Mädchen lehnte sich, als das Lied geendet, ermattet an einen nahestehenden Baum, und indem sie die Akkorde [470] fortsäuseln ließ, bis sie im Pianissimo verhauchten, fielen große Tränen auf das Instrument!

»Du bist,« sprach Euchar mit dem Tone, der nur aus tief bewegter Brust zu kommen pflegt, »du bist bedürftig, mein armes holdes Kind, habe ich nicht deinen Tanz von Anfang an gesehen, so hast du das jetzt durch deinen Gesang überreichlich ersetzt und darfst dich nun nicht mehr weigern, etwas von mir anzunehmen.«

Euchar hatte ein kleines Beutelchen hervorgezogen, aus dem schöne Dukaten herausblinkten, das steckte er nun der Kleinen zu, als sie sich ihm genähert. Das Mädchen heftete den Blick auf Euchars Hand, faßte sie mit beiden Händen, bedeckte sie, mit dem lauten Ausruf: »Oh Dios!« vor Euchar niederstürzend, mit tausend heißen Küssen. »Ja,« rief Ludwig begeistert, »ja, nur Gold, nichts als Gold dürfen die süßen Händchen empfangen«, fragte aber dann, ob Euchar ihm nicht einen Taler wechseln könne, da er gerade kein kleines Geld bei sich führe.

Indessen war der Bucklichte hinangehinkt, hob die Chitarre auf, die Emanuela zu Boden fallen lassen, und verbeugte sich nun schmunzelnd ein Mal über das andere vor Euchar, der gewiß das Töchterlein reichlich beschenkt habe, da sie so gerührt danke.

»Bösewicht, Spitzbube«, grollte ihn Ludwig an. Erschrocken fuhr der Kleine zurück und sprach weinerlich: »Ach Herr, warum seid Ihr denn so böse? Verdammt doch nicht den armen ehrlichen Biagio Cubas! Kehrt Euch ja nicht an meine Farbe, an mein, ich weiß es wohl, häßliches Gesicht! Ich bin in Lorca geboren und eben solch ein alter Christ, als Ihr es selbst nur irgend sein könnt.« Das Mädchen sprang schnell auf, rief dem Alten auf spanisch zu: »O fort – nur schnell fort, Väterchen!« und beide entfernten sich, indem Cubas noch allerlei wunderliche Bücklinge verführte, Emanuela aber dem Euchar den seelenvollsten Blick zuwarf, dessen die schönsten Augen mächtig.

[471] Als der Wald schon das seltsame Paar verbarg, begann Euchar: »Siehst du wohl, Ludwig, daß du dich mit deinem schlimmen Urteil, das du über den kleinen Kobold fälltest, übereilt hast? Es ist wahr, der Mensch hat etwas Zigeunerartiges, er ist, wie er selbst sagt, aus Lorca. Nun mußt du aber wissen, daß Lorca eine altmaurische Stadt ist, und daß die Lorcaner, sonst ganz hübsche Leute, die Spuren ihrer Abkunft nicht verleugnen können. Nichts nehmen sie jedoch übler auf, als wenn man ihnen das zu verstehen gibt, weshalb sie unaufhörlich versichern, daß sie alte Christen wären. So ging es dem Kleinen, in dessen Gesicht sich freilich der maurische Stamm in der Karikatur abspiegelt.« »Nein,« rief Ludwig, »ich bleibe dabei, der Kerl ist ein verruchter Spitzbube, und ich werde alles daransetzen, meine holde süße Mignon aus seinen Klauen zu retten.« »Hältst du«, sprach Euchar, »den Kleinen durchaus für einen Spitzbuben, so traue ich meinesteils wieder nicht recht der holden süßen Mignon –« »Was sagst du?« fuhr Ludwig auf, »was sagst du, Euchar? Dem lieben Himmelskinde nicht trauen, aus deren Augen die unschuldsvollste Holdseligkeit hervorleuchtet? Aber daran erkennt man den eiskalten Prosaiker, der für dergleichen keinen Sinn hat, und der mißtrauisch ist gegen alles, was nicht hineinpaßt in seinen gewöhnlichen alltäglichen Kram!« »Nun,« erwiderte Euchar gelassen, »ereifere dich nur nicht so sehr, mein enthusiastischer Herzensfreund. Du wirst freilich sagen, daß das Mißtrauen gegen die süße Mignon keinen recht haltbaren Grund hat. Es entstand nur deshalb, weil ich eben jetzt gewahrte, daß die Kleine in eben dem Augenblick, als sie meine Hand faßte, mir den kleinen Ring mit dem seltenen Stein, den ich, wie du weißt, beständig trug, vom Finger gezogen. Ungern vermisse ich das teure Andenken aus einer verhängnisvollen Zeit.« »Was, und des Himmels willen,« sprach Ludwig kleinlaut, »es ist wohl gar nicht möglich! Nein,« fuhr er dann heftig fort, »nein, es ist nicht möglich! [472] Nicht täuschen kann ein solches Antlitz, ein solches Auge, ein solcher Blick! Du hast den Ring fallen lassen – verloren.« »Nun,« sprach Euchar, »wir wollen sehen, uns aber, da es stark zu dunkeln beginnt, nach der Stadt zurückbegeben!«

Unterwegs hörte Ludwig nicht auf von Emanuela zu sprechen, die er mit den süßesten Namen nannte, und versicherte, wie er deutlich an einem gewissen unbeschreiblichen Blick, den sie scheidend ihm zugeworfen, bemerkt, daß er einen tiefen Eindruck auf sie gemacht habe, welches ihm wohl in dergleichen Fällen, wenn nämlich die Romantik ins Leben trete, arriviere. Euchar unterbrach den Freund nicht mit einem Wort. Der exaltierte sich selbst aber immer mehr und mehr, bis er gerade unter dem Tore, als eben der Tambour der Wache den abendlichen Trommelschlag begann, dem Freunde um den Hals fiel und, Tränen in den Augen, mit kreischender Stimme, um den dröhnenden Wirbel des militärischen Virtuosen zu überbieten, ins Ohr schrie, er sei ganz und gar in Liebe zur süßen Mignon, und er wolle sein Leben daran setzen, sie wieder aufzufinden und der alten Mißgeburt zu entreißen.

Vor dem Hause, in welchem Ludwig wohnte, stand ein Diener in reicher Livree, der näherte sich ihm mit einer Karte. Kaum hatte Ludwig gelesen und den Diener ab gefertigt, als er den Freund ebenso heftig umhalste, als es schon unter dem Tore geschehen, dann aber rief: »Nenne mich, o mein Euchar, aller Sterblichen glücklichsten, beneidenswertesten! Erschließe deine Brust – fasse meine Seligkeit, habe Sinn für Himmelswonne, Guter! Mische deine Freudenzähren mit den meinigen!« »Aber,« fragte Euchar, »was kann dir denn so Hochherrliches auf einer Karte verkündet werden?« »Erschrick nicht,« fuhr Ludwig murmelnd fort, »erschrick nicht, wenn ich dir das zauberisch strahlende Paradies von tausend Wonnen auftue, das sich mir auftun wird mittelst dieser Karte!« »So[473] möcht' ich doch nur wissen,« sprach Euchar weiter, »welch ein hohes Glück dir beschieden!« »Wisse es,« rief Ludwig, »erfahr' es, vernimm es! Staune – zweifle – rufe – schreie – brülle. Ich bin auf morgen eingeladen zum Souper und Ball bei dem Grafen Walther Puck! Viktorine – Viktorine, holde süße Viktorine!« – »Und die holde süße Mignon?« So fragte Euchar, doch Ludwig ächzte gar weinerlich: »Viktorine, du mein Leben!« und stürzte hinein in das Haus.

Die Freunde Ludwig und Euchar. Böser Traum von dem Verlust eines schönen Paars Beine im Pikett. Leiden eines enthusiastischen Tänzers. Trost, Hoffnung und Monsieur Cochenille

Es möchte nötig sein, dem geneigten Leser zuerst etwas mehr über die beiden Freunde zu sagen, damit derselbe von Haus aus wenigstens einigermaßen wisse, wie er mit ihnen daran ist, was er von jedem zu halten.

Beide hatten einen Stand, der eigentlich chimärisch zu nennen, da er keinem Sterblichen auf dieser Welt beschieden, sie waren Freiherren. Zusammen erzogen, in enger Freundschaft aufgewachsen, konnten sie sich auch dann nicht trennen, als mit dem Zunehmen der Jahre die ausgesprochenste Verschiedenheit der innern Gemütsart immer mehr und mehr hervortrat, die sich selbst im äußeren Wesen offenbarte. Euchar gehörte als Knabe zu den sogenannten artigen Kindern, die also genannt werden, weil sie in der Gesellschaft stundenlang auf einem Fleck stillsitzen, nichts fragen, begehren u.s.w. und dann sich herrlich ausbilden zu hölzernen Dummköpfen. Mit Euchar hatte es eine andere Bewandtnis. Wurde er, wenn er, ein artiges Kind, mit niedergeschlagenen Augen, gebeugtem Haupt dasaß, angesprochen, so fuhr er erschrocken auf, stotterte, weinte manchmal gar, er schien aus tiefen Träumen zu erwachen. War er allein, so schien er ein ganz anderes Wesen. Man hatte ihn belauscht, als er heftig sprach, wie mit mehreren Personen, die zugegen, ja als er [474] ganze Geschichten, die er gehört oder gelesen, wie ein Schauspiel aufführte, da mußten Tische, Schränke, Stühle, alles, was sich eben im Zimmer vorfand, Städte, Wälder, Dörfer, Personen vorstellen. Eine besondere Begeisterung ergriff aber den Knaben, wenn es ihm vergönnt wurde, allein im Freien umherzustreifen. Dann sprang, jauchzte er durch den Wald, umarmte die Bäume, warf sich ins Gras, küßte die Blumen u.s.w. In irgendein Spiel mit Knaben seines Alters ließ er sich ungern ein und galt deshalb für furchtsam und träge, weil er irgendein gefährliches Unternehmen, einen gewaltigen Sprung, eine kühne Kletterei niemals mitmachen wollte. Aber auch hier war es besonders, daß, wenn es am Ende jedem an Mut gefehlt hatte, das Unternehmen wirklich zu wagen, Euchar still zurückblieb und einsam mit Geschicklichkeit das vollbrachte, was die andern nur gewollt. Galt es z.B. einen hohen schlanken Baum zu erklettern, und hatte keiner hinauf gemocht, so daß Euchar gewiß im nächsten Augenblick, sowie er sich allein befand, oben auf der Spitze. Äußerlich kalt, teilnahmslos erscheinend, ergriff der Knabe alles mit ganzem Gemüt, mit einer Beharrlichkeit, wie sie nur starken Seelen eigen, und brach in manchen Momenten das im Innern Empfundene hervor, so geschah es mit unwiderstehlich hinreißender Gewalt, so daß jeder Kundige über die Tiefe des Gefühls, das der Knabe in der verschlossenen Brust trug, erstaunen mußte. Mehrere grundgescheite Hofmeister konnten aus ihrem Zöglinge gar nicht klug werden, und nur ein einziger (der letzte) versicherte, der Knabe sei eine poetische Natur, worüber Euchars Papa gar sehr erschrak, indem er befürchten zu müssen glaubte, daß der Knabe am Ende das Naturell der Mutter haben werde, die bei den glänzendsten Couren Kopfschmerz und Ekel empfunden. Des Papas Intimus, ein hübscher glatter Kammerherr, versicherte jedoch, besagter Hofmeister täte ein Esel sein, in dem jungen Baron Euchar flösse echt adeliges Blut, mithin sei seine Natur[475] freiherrlich und nicht poetisch. Das beruhigte den Alten merklich. Man kann denken, wie sich aus solchen Grundanlagen des Knaben der Jüngling entwickeln mußte. Auf Euchars Antlitz hatte die Natur die bedeutungsvolle Chiffer gedrückt, mit der sie ihre Lieblinge bezeichnet. Aber Lieblinge der Natur sind die, welche die unendliche Liebe der guten Mutter, ihr tiefstes Wesen ganz zu fassen vermögen, und diese Lieblinge werden nur von Lieblingen verstanden. So kam es denn auch, daß Euchar von der Menge nicht verstanden, für gleichgültig, kalt, keiner rechtschaffenen Ekstase über ein neues Trauerspiel fähig und daher auch für prosaisch verschrien wurde. Vorzüglich konnten es ganze Zirkel der elegantesten, scharfsinnigsten Damen, denen sonst dergleichen Kenntnis wohl zuzutrauen, durchaus nicht begreifen, wie es möglich sei, daß diese Apollo-Stirne, diese scharf gebogenen gebietenden Brauen, diese düstres Feuer sprühenden Augen, diese sanft aufgeworfenen Lippen nur einem leblosen Bilde angehören sollten. Und doch schien es so, denn Euchar verstand durchaus nicht die Kunst, über nichts, nichts in nichtssagenden Worten mit schönen Weibern so zu reden und so sich darzustellen, als sei er Rinaldo in Fesseln.

Ganz anders verhielt es sich mit Ludwig. Der gehörte zu den wilden, ausgelassenen Knaben, von denen man zu prophezeien pflegt, daß ihnen dereinst die Welt zu enge sein würde. Er war es, der immer den Gespielen die tollesten Streiche angab, man hätte denken sollen, daß der kühne Junge doch einmal Schaden leiden würde, er war es aber auch immer, der mit unverbrannter Nase davonkam, da er bei der Ausführung sich geschickt hintenanzustellen oder ganz davonzumachen wußte. Er ergriff alles schnell mit großer Begeisterung, ließ es aber ebenso schnell wieder; so kam es, daß er vieles lernte, aber nicht viel. Zum Jüngling herangewachsen, machte er ganz artige Verse, spielte passabel manches Instrument, malte ganz hübsch, sprach ziemlich fertig mehrere Sprachen, war da [476] her ein wahrer Ausbund von Bildung. Über alles konnte er in die erstaunlichste Ekstase geraten und diese in den mächtigsten Worten verkünden. Aber es war mit ihm wie mit der Pauke, die, angeschlagen, desto stärker tönt, je größer der innere hohle Raum. Der Eindruck, den alles Schöne, Herrliche auf ihn machte, glich dem äußern Kitzel, der die Haut berührt, ohne die innern Fibern zu erfassen. Ludwig gehörte zu den Leuten, die man sehr oft sagen hört: »Ich wollte!« und die vor diesem wollenden Prinzip nie zum Handeln kommen. Da aber in dieser Welt diejenigen Menschen, welche sehr laut und breit verkündigen, was sie tun wollen, viel mehr gelten, als die, welche in aller Stille hingehen und es wirklich tun, so geschah es auch, daß man Ludwig jeder großen Handlung fähig hielt und ihn deshalb höchlich bewunderte, ohne weiter darnach zu fragen, ob er denn wirklich das getan, was er so laut verkündet. Freilich gab es auch wohl Leute, die Ludwig durchschauten und, ihn festhaltend bei seinen Worten, sich darnach emsig erkundigten, ob er dies oder jenes ausgeführt. Dies verdroß ihn aber um so mehr, als er in einsamen Stunden bisweilen selbst sich gestehen mußte, daß das ewige Wollen und Wollen ohne Tat miserabel sei. Da geriet er über ein verschollenes Buch, worin die mechanistische Lehre vom Zusammenhang der Dinge vorgetragen wurde. Begierig griff er diese Lehre auf, die sein Treiben oder vielmehr sein Wollen bei sich selbst und bei andern entschuldigte. Denn war nicht ausgeführt, was er versprochen, so trug nicht er die Schuld, sondern es hatte nur allein im Zusammenhang der Dinge gelegen, daß es nicht geschehen konnte.

Der geneigte Leser wird sich wenigstens von der großen Bequemlichkeit jener weisen Lehren überzeugen.

Da Ludwig übrigens ein ganz hübscher Jüngling mit roten, blühenden Wangen war, so würde er, vermöge seiner Eigenschaften, der Abgott jedes eleganten Zirkels gewesen sein, hätte nicht sein kurzes Gesicht ihn manches [477] seltsame Quidproquo begehen lassen, das ihm oft verdrießliche Folgen zuzog. Er tröstete sich jedoch mit dem unbeschreiblichen Eindruck, den er auf jedes weibliche Herz zu machen glaubte, und überdem galt die Gewohnheit, daß er, eben seines kurzen Gesichts halber, um nicht in der Person zu irren, mit der er sprach, welches ihm manchmal zu großem Ärger geschehen, selbst den Damen näher trat, als schicklich für die unbefangene Dreistigkeit des genialen Menschen.

Tages darauf, als Ludwig auf dem Ball bei dem Grafen Walther Puck gewesen, in aller Frühe erhielt Euchar ein Billett von ihm, worin es hieß:

»Teurer! Geliebtester! Ich bin elend, geschlagen, verloren, herabgestürzt von dem blumichten Gipfel der schönsten Hoffnungen in den bodenlosen nächtlichen Abgrund der Verzweiflung. Das, was mein namenloses Glück bereiten sollte, ist mein Unglück! – Komme! eile, tröste mich, wenn du es vermagst!«

Euchar fand den Freund mit verbundenem Haupt auf dem Sofa ausgestreckt, blaß, übernächtig. »Kommst du,« rief Ludwig ihm mit matter Stimme entgegen, indem er den Arm nach ihm ausstreckte, »kommst du, mein edler Freund? Ja, du hast doch gewiß einigen Sinn für meinen Schmerz, für meine Leiden! Laß dir wenigstens erzählen, was mir begegnet, und sprich das Urteil, wenn du glaubst, daß ich verloren bin total!« »Gewiß,« begann Euchar lächelnd, »gewiß ist es auf dem Ball nicht so gegangen, wie du gedachtest?« Ludwig seufzte tief auf. »Hat,« sprach Euchar weiter, »hat die holde Viktorine scheel gesehen, dich nicht beachtet?« »Ich habe sie,« erwiderte Ludwig mit tiefem Grabeston, »ich habe sie schwer, ich habe sie unversöhnlich beleidigt!« »Mein Gott,« rief Euchar, »wie hat sich das nur begeben können?« Ludwig holte nochmals einen tiefen Seufzer, ächzte was weniges und begann leise, aber mit gehörigem Pathos:


[478]
»Wie sich der Sonne Scheinbild in dem Dunstkreis
Malt, eh' sie kommt; so schreiten auch den großen
Geschicken ihre Geister schon voran,
Und in dem Heute wandelt schon das Morgen!«

»Ja,« fuhr er dann wehmütig fort, »ja, Euchar, wie das geheimnisvolle Schnurren des Räderwerks den Schlag der Uhr verkündet, so gehen warnende Ereignisse dem einbrechenden Malheur vorher. Schon in der Nacht vor dem Ball hatte ich einen schrecklichen, fürchterlichen Traum! Mir war es, als sei ich schon bei dem Grafen und könne, eben im Begriff zu tanzen, plötzlich keinen Fuß von der Stelle rühren. Im Spiegel werde ich zu meinem Schrecken gewahr, daß ich statt des zierlichen Fußgestells, das mir die Natur verliehen, des alten Konsistorial-Präsidenten dick umwickelte podagristische Beine unter dem Leibe trage. Und während daß ich an den Boden fest gebannt stehe, ländert der Konsistorial-Präsident, Viktorinen im Arm, leicht wie ein Vogel daher, lächelt mich hämisch an und behauptet zuletzt auf freche Weise, daß er mir meine Füße abgewonnen habe im Pikett. Ich erwachte, du kannst es denken, in Angstschweiß gebadet! Noch ganz tiefsinnig über das böse Nachtgesicht, bringe ich die Tasse, in der glühende Schokolade dampft, an den Mund und verbrenne mir dermaßen die Lippen, daß du trotz aller Pomade, die ich verbraucht, die Spuren davon noch sehen kannst. Nun, ich weiß es ja, daß du nicht viel Anteil nimmst an fremden Leiden, ich übergehe daher alle die fatalen Ereignisse, womit mich das Schicksal den Tag über neckte, und sage dir nur, daß, als es endlich abends zum Anziehen kam, eine Masche des seidenen Strumpfs platzte, mir zwei Westenknöpfe sprangen, daß ich, im Begriff, in den Wagen zu steigen, meinen Wellington in die Gosse warf und endlich im Wagen selbst, als ich die Patentschnallen fester auf die Schuhe drücken wollte, zu meinem nicht geringen Entsetzen an der Fasson fühlte, daß der Esel von Kammerdiener [479] mir ungleiche Schnallen aufgedrückt. Ich mußte umkehren und verspätete mich wohl um eine gute halbe Stunde. Viktorine kam mir entgegen im vollsten Liebreiz – ich bat sie um den nächsten Tanz. Wir länderten – ich war im Himmel. Aber da fühlte ich plötzlich die Tücke des feindlichen Schicksals« – »Zusammenhanges der Dinge«, fiel ihm Euchar ins Wort. »Nenne es,« fuhr Ludwig fort, »nenne es, wie du willst, heute ist mir alles gleich. Genug, es war ein tückisches Verhängnis, das mich vorgestern über die fatale Baumwurzel hinstürzte. Tanzend fühlte ich meinen Schmerz im Knie sich erneuern und immer stärker und heftiger werden. Aber in demselben Augenblick spricht Viktorine so laut, daß es die andern Tänzer hören: ›Das geht ja zum Einschlafen!‹ Man winkt, man klatscht den Musikanten zu, und rascher und rascher wirbelt sich der Tanz! Mit Gewalt kämpfe ich die Höllenqual nieder, hüpfe zierlich und mache ein freundliches Gesicht. Und doch raunt mir Viktorine ein Mal über das andere zu: ›Warum so schwerfällig heute, lieber Baron? Sie sind nicht gar mehr derselbe Tänzer wie sonst!‹ Glühende Dolchstiche in mein Herz hinein.« »Armer Freund,« sprach Euchar lächelnd, »ich fasse deine Leiden im ganzen Umfange.«

»Und doch«, fuhr Ludwig fort, »war dies alles nur Vorspiel des unseligsten Ereignisses! Du weißt, wie lange ich mich mit den Touren einer Seize herumgetragen, du weißt, wie ich vieles Glas und Porzellan, das ich, hier in meinem Zimmer mich in jenen Touren, in den kühnsten Wendungen und Sprüngen versuchend, von den Tischen warf, nicht geachtet habe, bloß um die geträumte Vollkommenheit zu erringen. Eine dieser Touren ist das Herrlichste, das jemals der menschliche Geist in dieser Art ersonnen. Vier Paar stehen in malerischer Stellung, der Tänzer, auf der rechten Fußspitze balancierend, umfaßt seine Tänzerin mit dem rechten Arm, während er den linken, graziös gekrümmt, über das Haupt erhebt, die andern machen [480] Ronde. Vestris und Gardel haben an so etwas nicht gedacht. Auf diese Seize hatte ich den höchsten Moment der Seligkeit gebaut! Zum Namenstag des Grafen Walther Puck hatte ich sie bestimmt – Viktorinen im Arm bei jener überirdischen Tour, wollte ich flüstern: ›Göttliche – himmlische Komteß, ich liebe Sie unaussprechlich, ich bete Sie an! sein Sie mein, Engel des Lichts!‹ Daher, lieber Euchar, geriet ich in solch Entzücken, als ich nun wirklich zum Ball eingeladen wurde, woran ich beinahe zweifeln mußte, da Graf Puck kurz zuvor auf mich sehr erzürnt schien, als ich ihm die Lehre vom Zusammenhang der Dinge, vom Räderwerk des Makrokosmus, vortrug, die er seltsamerweise dahin verstand, als vergleiche ich ihn mit einem Perpendikel. Er nannte das eine maliziöse Anspielung, die er nur meiner Jugend verzeihe, und drehte mir den Rücken. Nun also! Der unglückliche Ländler war geendet, ich tanzte keinen Schritt mehr, entfernte mich in die Nebenzimmer, und wer mir auf dem Fuße folgte, war der gute Cochenille, der mir sogleich Champagner kredenzte. Der Wein goß neue Lebenskraft mir in die Adern, ich fühlte keinen Schmerz mehr. Die Seize sollte beginnen, ich flog in den Saal zurück, stürzte hin zu Viktorinen, küßte ihr feurig die Hand, stellte mich in die Ronde. Jene Tour kommt, ich übertreffe mich selbst – ich schwebe – balanciere, der Gott des Tanzes selbst – ich umschlinge meine Tänzerin, ich lispele: ›Göttliche, himmlische Komteß‹, wie ich's mir vorgenommen. Das Geständnis der Liebe ist meinen Lippen entflohen, ich schaue der Tänzerin tief in die Augen – Herr des Himmels! es ist nicht Viktorine, mit der ich getanzt, es ist eine ganz andere, mir völlig unbekannte Dame, nur gewachsen, gekleidet wie Viktorine! Du kannst denken, daß mir war, als träfe mich der Blitz! Alles um mich her schwamm chaotisch zusammen, ich hörte keine Musik mehr, sprang wild durch die Reihen, bald hier, bald dort hört' ich Schmerzensrufe, bis ich mich mit starken Armen festgehalten fühlte und eine [481] dröhnende Stimme mir ins Ohr donnerte: ›Himmel tausend sapperment, ich glaube, Sie haben neun Teufel in den Beinen, Baron!‹ Es war der verhängnisvolle Konsistorial-Präsident, den ich schon im Traum gesehen, der mich in einer ganz entfernten Ecke des Saals festhielt und also fortfuhr: ›Kaum bin ich vom Spieltisch aufgestanden und in den Saal getreten, als Sie wie das böse Wetter aus der Mitte herausfahren und wie besessen auf meinen Füßen herumspringen, daß ich vor Schmerz brüllen möchte, wie ein Stier, wär' ich nicht ein Mann von feiner Konduite. Sehen Sie nur, welche Verwirrung Sie angerichtet haben.‹ In der Tat hatte die Musik aufgehört, die ganze Seize war auseinander, und ich bemerkte, wie mehrere Tänzer umherhinkten, Damen sich zu den Sesseln führen ließen und mit Odeurs bedient wurden. – Ich hatte die Tour der Verzweiflung über die Füße der Tanzenden genommen, bis der baumstarke Präsident dem tollen Lauf ein Ziel setzte. – Viktorine nahte sich mir mit zornfunkelnden Augen. ›In der Tat‹, sprach sie, ›eine Artigkeit ohnegleichen, Herr Baron! Sie fordern mich zum Tanz auf, tanzen dann mit einer andern Dame und verwirren den ganzen Ball.‹ Du kannst dir meine Beteurungen denken. ›Diese Mystifikationen‹, erwiderte Viktorine ganz außer sich, ›sind Ihnen eigen, Herr Baron, ich kenne Sie, aber ich bitte, mich nicht weiter zum Gegenstande Ihrer tiefen schneidenden Ironie zu wählen.‹ – So ließ sie mich stehen. Nun kam meine Tänzerin, die Artigkeit, ja, ich möchte sagen die Zutulichkeit selbst! – Das arme Kind hat Feuer gefaßt, ich kann es ihr nicht verdenken, aber bin ich denn schuld?- O Viktorine, Viktorine! O Unglücks – Seize! – Furientanz, der mich in den Orkus hinabreißt!«

Ludwig schloß die Augen und seufzte und ächzte, der Freund war aber gutmütig genug, nicht auszubrechen in lautes Gelächter. Er wußte überdem wohl, daß Unfälle der Art, wie sie den armen Ludwig bei dem Ball des Grafen Walther Puck betroffen, selbst auf Menschen von [482] geringerer Geckenhaftigkeit die Wirkung spanischer Fliegen äußern in psychischem Sinn.

Nachdem Ludwig ein paar Tassen Schokolade eingeschlürft, ohne sich, wie tages zuvor, die Lippen zu verbrennen, schien er mehr Fassung zu gewinnen, sein ungeheures Schicksal mit größerem Mute zu tragen. »Höre,« begann er zu Euchar, der sich indessen in ein Buch vertieft, »höre, Freund, du warst ja auch zum Ball eingeladen?« – »Allerdings«, entgegnete Euchar gleichgültig, kaum von den Blättern aufblickend. – »Und kamst nicht und hast mir nicht einmal von der Einladung etwas gesagt«, sprach Ludwig weiter. – »Eine Angelegenheit«, erwiderte Euchar, »hielt mich fest, die mir wichtiger war als jeder Ball in der Welt, und hätt' ihn der Kaiser von Japan gegeben.« – »Gräfin Viktorine«, fuhr Ludwig fort, »erkundigte sich sehr angelegentlich, weshalb du wohl ausbliebest. Sie war so unruhig, blickte so oft nach der Türe. In der Tat, ich hätte eifersüchtig werden, ich hätte glauben können, dir wär's zum erstenmal gelungen, ein weibliches Herz zu rühren, wenn sich nicht alles aufgeklärt hätte. – Kaum mag ich's dir wieder erzählen, auf welche schonungslose Art sich die holde Viktorine über dich äußerte. – Nichts Geringeres behauptete sie, als daß du ein kalter, herzloser Sonderling seist, dessen Gegenwart sie oft mitten in der Lust ängstige; weshalb sie denn gefürchtet hätte, du würdest auch an dem Abend ihr Freudenstörer sein. Nun sei sie aber recht froh, daß du nicht gekommen. – Aufrichtig gesprochen, seh' ich doch gar nicht ein, warum du, lieber Euchar, dem der Himmel doch so viel körperliche und geistige Vorzüge verliehen, solch entschiedenes Unglück bei den Damen hast, warum ich dir überall den Rang ablaufe! – Kalter Mensch! Kalter Mensch, ich glaube, du hast keinen Sinn für das hohe Glück der Liebe, und darum wirst du nicht geliebt. Ich dagegen! – Glaube mir, selbst Viktorines aufglühender Zorn, erzeugte er sich nicht aus den Liebesflammen, die [483] in ihrem Innern lodern für mich, den Glücklichen, den Seligen?«

Die Türe öffnete sich, und es trat ein seltsames Männlein in das Zimmer, im roten Rock mit großen Stahlknöpfen, schwarzseidenen Unterkleidern, stark gepuderter hoher Frisur mit kleinem runden Haarbeutel! »Bester Cochenille,« rief ihm Ludwig entgegen, »bester Monsieur Cochenille, wie habe ich das seltne Vergnügen« –

Euchar versicherte, daß wichtige Angelegenheiten ihn fortriefen, und ließ den Freund mit dem Kammerdiener des Grafen Walther Puck allein.

Cochenille versicherte süß lächelnd mit niedergeschlagenen Augen, wie hochgräfliche Gnaden überzeugt wären, daß der verehrteste Herr Baron während der Seize von einer seltsamen Krankheit befallen, deren Namen im Lateinischen beinahe so klinge wie Raptus, und wie er, Monsieur Cochenille, gekommen, Nachfrage zu halten nach des verehrtesten Herrn Barons gnädigem Wohlbefinden. »Was Raptus, o Cochenille, was Raptus«, rief Ludwig, erzählte nun ausführlich, wie sich alles begeben, und schloß damit, daß er den gewandten Kammerdiener des Grafen Walther Puck bat, die Sache möglichst ins Geleise zu bringen.

Ludwig erfuhr, daß seine Tänzerin eine Cousine der Gräfin Viktorine gewesen, die vom Lande hineingekommen zum Namenfest des Grafen, daß sie und Gräfin Viktorine ein Herz und eine Seele wären und sich, wie bei jungen Damen der Einklang der Gemüter wohl in Seide und Flor ans Licht zu treten pflege, öfters ganz gleich kleideten. Cochenille meinte ferner, daß es mit dem Zorn der Gräfin Viktorine doch nicht rechter Ernst sein müsse. Er habe ihr nämlich bei dem Schluß des Balls, gerade als sie mit der Cousine zusammengestanden, Gefrornes serviert und dabei bemerkt, wie beide herzlich gekichert und gelacht, sowie gehört, wie sie beide mehrmals ganz deutlich den Namen des hochverehrtesten [484] Herrn Barons genannt hätten. Freilich sei, wie er vernommen, die gräfliche Cousine ungemein verliebter Komplexion und werde nun verlangen, daß der Herr Baron das fortsetze, was er begonnen, nämlich daß er der Cousine fortan erklecklich den Hof mache und zuletzt Glacéhandschuhe anziehe und sie zum Brautaltare führe, indessen wolle er das Seinige tun, daß sie davon abgebracht werde. Morgenden Tages wollte er hochgräfliche Gnaden, wenn er dieselbe zu frisieren die Ehre habe, gerade beim Lockenbau auf der linken Seite die ganze Sache vortragen und bitten, der Cousine unter eindringenden oheimlichen Ermahnungen vorzustellen, daß des Herrn Barons Liebeserklärung nichts anders gewesen sei, als was dergleichen Erklärungen gewöhnlich wären, nämlich ein angenehmer Tanzschnörkel, der geraden Tour beigefügt als liebenswürdiger Exzeß. Das werde helfen. Cochenille gab endlich dem Baron den Rat, Viktorinen sobald als nur möglich zu sehen, und dazu finde sich noch am heutigen Tage Gelegenheit. Die Konsistorial-Präsidentin Veehs gäbe nämlich abends ästhetischen Tee, den sie, wie er von dem Kammerdiener des russischen Gesandten erfahren, durch die russische Gesandtschaft direkt von der chinesischen Grenze kommen lasse, und der einen ungemein süßen Geruch verbreite. Dort werde er Viktorine finden und alles retablieren können.

Ludwig sah ein, daß nur unwürdige Zweifel den Glauben an sein Liebesglück verstört haben konnten, und beschloß beim ästhetischen Tee der Konsistorial-Präsidentin so bezaubernd liebenswürdig zu sein, daß es Viktorinen nicht einfallen werde, auch nur was weniges zu schmollen.

Der ästhetische Tee. Stickhusten eines tragischen Dichters. Die Geschichte nimmt einen ernsten Schwung und spricht von blutigen Schlachten, Selbstmord u. dgl.

Der geneigte Leser muß es sich schon gefallen lassen, den beiden Freunden, Ludwig und Euchar, zu folgen in [485] den ästhetischen Tee, der nun bei der Frau Konsistorial-Präsidentin Veehs wirklich angegangen. Ungefähr ein Dutzend hinlänglich geputzter Damen sitzen in einem Halbkreis. Eine lächelt gedankenlos, die andere ist vertieft in den Anblick ihrer Schuhspitzen, mit denen sie geschickt die neuesten Pas irgendeiner Françoise ganz in der Stille zu probieren weiß, die dritte scheint süß zu schlafen, noch süßer zu träumen, die vierte läßt den Feuerblick ihrer Augen umherstreifen, damit er nicht einen, sondern womöglich alle jungen Männer treffe, die im Saal versammelt, die fünfte lispelt: »Göttlich – herrlich – sublim« – diese Ausrufungen gelten aber dem jungen Dichter, der eben mit allem nur möglichen Pathos eine neue Schicksals-Tragödie vorliest, die langweilig und abgeschmackt genug ist, um sich ganz zu solcher Vorlesung zu eignen. Hübsch war es, daß man oft ein Brummen vernahm, fernem Donner zu vergleichen. Dies war aber die Stimme des Konsistorial-Präsidenten, der in einem entfernten Zimmer mit dem Grafen Walther Puck Pikett spielte und sich auf jene Weise grollend, murrend vernehmen ließ. Der Dichter las mit dem süßesten Ton, dessen er mächtig:


»Nur noch einmal, nur noch einmal
Laß dich hören, holde Stimme,
Ja, o Stimme, süße Stimme,
Stimme aus dem tiefen Grunde,
Stimme aus den Himmelslüften.
Horch, o horch –«

Da schlug aber der Donner los, der längst bedrohlich gemurmelt. »Himmel tausend Sapperment!« dröhnte des Konsistorial-Präsidenten Stimme durch das Zimmer, so daß alles erschrocken von den Sitzen aufsprang. Wieder war es hübsch, daß der Dichter sich gar nicht stören ließ, sondern fortfuhr:


[486]
»Ja, es ist sein Liebesatem,
Ist sein Ton, den Honiglippen
Ist der süße Laut entflohen –«

Ein höheres Schicksal als das, was in des Dichters Tragödie waltete, litt es aber nicht, daß der Dichter seine Vorlesung ende. Gerade, als er bei einem gräßlichen Fluch, den der Held des Stücks ausspricht, seine Stimme erheben wollte zur höchsten tragischen Kraft, kam ihm, der Himmel weiß was, in den Hals, so daß er in einen fürchterlichen, nicht zu beschwichtigenden Husten ausbrach und halb tot weggetragen wurde.

Der Präsidentin, der man längst Überdruß und Langeweile angemerkt, schien die plötzliche Unterbrechung nicht ungelegen. Sobald die Ruhe der Gesellschaft wiederhergestellt, erinnerte sie, wie es nun an der Zeit sei, daß irgend etwas nicht vorgelesen, sondern recht lebendig erzählt werde, und meinte, daß Euchar recht eigentlich der Gesellschaft dazu verpflichtet, da er sonst bei seiner hartnäckigen Schweigsamkeit wenig zur Unterhaltung beitrage.

Euchar erklärte bescheiden, daß er ein sehr schlechter Erzähler sei, und daß das, was er vielleicht zum besten geben könne, sehr ernsten, vielleicht gar graulichen Inhalts sein, so aber der Gesellschaft wenig Lust erregen werde. Da riefen aber vier blutjunge Fräuleins mit einer Stimme: »O graulich! nur recht graulich, o was ich mich gar zu gern graue!«

Euchar nahm den Rednerstuhl ein und begann: »Wir haben eine Zeit gesehen, die wie ein wütender Orkan über die Erde dahinbrauste. Die menschliche Natur, in ihrer, tiefsten Tiefe erschüttert, gebar das Ungeheure, wie das sturmbewegte Meer die entsetzlichen Wunder des Abgrunds emporschleudert auf den tosenden Wellen. Alles, was Löwenmut, unbezwingbare Tapferkeit, Haß, Rache, Wut, Verzweiflung im mörderischen Todeskampf [487] vollbringen können, geschah im spanischen Freiheitskriege. Es sei mir erlaubt, von den Abenteuern meines Freundes – ich will ihn Edgar nennen – zu erzählen, der dort unter Wellingtons Fahnen mitfocht. Edgar hatte im tiefen schneidenden Gram über die Schmach seines deutschen Vaterlandes seine Vaterstadt verlassen und war nach Hamburg gezogen, wo er in einem kleinen Stübchen, das er in einer entlegenen Gegend gemietet, einsam lebte. Von dem Nachbar, mit dem er Wand an Wand wohnte, wußte er eben nichts weiter, als daß es ein alter kranker Mann sei, der niemals ausgehe. Er hörte ihn öfters stöhnen und in sanfte rührende Klagen ausbrechen, ohne die Worte zu verstehen. Später ging der Nachbar fleißig in der Stube auf und ab, und ein Zeichen wiedergekehrter Genesung schien es, als er eines Tages eine Chitarre stimmte und dann leise Lieder begann, die Edgar für spanische Romanzen erkannte.

Auf näheres Befragen vertraute ihm die Wirtin, daß der Alte ein krankheitshalber von dem Romanaschen Korps zurückgebliebener spanischer Offizier sei, der freilich nun insgeheim bewacht werde und sich nicht viel hinauswagen dürfe.

Mitten in der Nacht hörte Edgar den Spanier die Chitarre stärker anschlagen als sonst. Er begann in mächtiger, seltsam wechselnder Melodie, die ›Profecia del Pirineo‹ des Don Juan Bautista de Arriaza. Es kamen die Strophen:


›Y oye que el gran rugido
Es ya trueno en los campos de Castilla
En las Asturias bèlico alarido,
Voz de venganza en la imperial Sevilla
Junto a Valencia es rayo,
Y terremoto horrisono en Monsàyo.
Mira en haces guerreras,
La España toda hirviendo hasta sus fines,
[488]
Batir tambores, tremolar banderas,
Estallar, bronçes, resonar clarines,
Y aun las antiguas lanzas,
Salir del polvo à renovar venganzas.‹«

»Möge,« unterbrach die Präsidentin den Redner, »möge es doch unserm Freunde, bevor er weiter erzählt, gefallen, uns die mächtigen Verse deutsch zu wiederholen, da ich mit mehreren meiner lieben Gäste die ästhetische Unart teile, kein Spanisch zu verstehen.« »Der mächtige Klang,« erwiderte Euchar, »den jene Verse haben, geht in der Übersetzung verloren, doch würden sie gut genug also verdeutscht 2:


›Horch wie des Leuen Töne
Zum Donner in Kastiliens Regionen,
Zum Heulen werden für Asturias Söhne,
Rachschrei für die, die in Sevilla wohnen.
Valencia ist erschüttert,
Indes Moncayos Boden dröhnt und zittert.
Sich bis an seine Grenzen
Das ganze Land in Kriegesglut sich röten,
Die Trommeln wirbeln, und die Fahnen glänzen,
Die Erze krachen, schmettern die Trompeten,
Selbst die im Staube lagen,
Die Lanzen braucht man in den Rachetagen.‹

Edgars Innerstes entzündete die Glut der Begeistrung, die aus dem Gesange des Alten strömte. Eine neue Welt ging ihm auf, er wußte nun, wie er sich aufraffen von seiner Siechheit, wie er, ermannt zu kühner Tat, den Kampf, der seine Brust zerfleischte, auskämpfen konnte im regen Leben. ›Ja, nach Spanien – nach Spanien!‹ so rief er überlaut, aber in demselben Augenblick verstummte Gesang und Spiel des Alten. Edgar konnte der Begierde nicht widerstehen, den zu kennen, der ihm neues [489] Leben eingehaucht. Die Türe wich dem Druck seiner Hand. Doch in dem Moment, als er hineintrat in des Alten Zimmer, sprang dieser mit dem Schrei: ›Traidor!‹ (Verräter) vom Bette auf und stürzte mit gezogenem Dolch los auf Edgar.

Diesem gelang es indessen, durch eine geschickte Wendung dem gutgezielten Stoß auszuweichen, dann aber den Alten fest zu packen und niederzudrücken auf das Bett.

Während er nun den kraftlosen Alten festhielt, beschwor er ihn in den rührendsten Ausdrücken, sein stürmisches Einbrechen ihm zu verzeihen. Kein Verräter sei er, vielmehr habe das Lied des Alten allen Gram, allen trostlosen Schmerz, der seine Brust zerrisse, entflammt zu glühender Begeisterung, zu unerschütterlichem Kampfesmut. Er wolle hin nach Spanien und freudig fechten für die Freiheit des Landes. Der Alte blickte ihn starr an, sprach leise: ›Wär' es möglich?‹ drückte Edgarn, der nicht nachließ, auf das eindringendste zu beteuern, daß ihn nichts abhalten werde, seinen Entschluß auszuführen, heftig an die Brust, indem er den Dolch, den er noch in der Faust hielt, weit von sich schleuderte.

Edgar erfuhr nun, daß der Alte Baldassare de Luna geheißen und aus einem der edelsten Geschlechter Spaniens entsprossen war. Hilflos, ohne Freunde, ohne die geringste Unterstützung bei der drückendsten Bedürftigkeit, hatte er die trostlose Aussicht, fern von seinem Vaterlande ein elendes Leben zu verschmachten. Nicht gelingen wollt' es Edgarn, den bedauernswürdigen Alten zu beschwichtigen, als er aber zuletzt auf das heiligste versprach, beider Flucht nach England möglich zu machen, da schien neues belebendes Feuer durch alle Glieder des Spaniers zu strömen. Er war nicht mehr der sieche Alte, nein, ein begeisterter Jüngling, der Hohn sprach der Ohnmacht seiner Unterdrücker.

Edgar hielt, was er versprochen. Es gelang ihm die Wachsamkeit der arglistigen Hüter zu täuschen und mit [490] Baldassare de Luna zu entfliehen nach England. Das Schicksal vergönnte aber nicht dem wackern, vom Unglück verfolgten Mann, daß er sein Vaterland wiedersehe. Aufs neue erkrankt, starb er in London in Edgars Armen. Ein prophetischer Geist ließ ihn die Glorie des geretteten Vaterlandes schauen. In den letzten Seufzern des Gebets, das sich den zum Tode erstarrten Lippen mühsam entrang, vernahm Edgar den Namen: Vittoria! und die Verklärung des Himmels leuchtete auf de Lunas lächelndem Antlitz.

Gerade in dem Zeitraum, als Suchets siegreiche Heere allen Widerstand niederzuschmettern, das schmachvolle fremde Joch auf ewige Zeit zu befestigen drohten, langte Edgar mit der Brigade des englischen Obristen Sterret vor Tarragona an. Es ist bekannt, daß der Obrist die Lage des Platzes zu bedenklich fand, um die Truppen auszuschiffen. Das vermochte der nach kühnen Waffentaten dürstende Jüngling nicht zu ertragen. Er verließ die Engländer und begab sich zu dem spanischen General Contreras, der mit achttausend der besten spanischen Truppen in der Festung lag. Man weiß, daß, des heftigsten Widerstandes unerachtet, Suchets Truppen Tarragona mit Sturm nahmen, daß Contreras selbst, durch einen Bajonettstich verwundet, den Feinden in die Hände fiel.

Alles furchtbare Entsetzen der Hölle bieten die greuelvollen Szenen dar, die vor Edgars Augen sich auftaten. War es schändliche Verräterei, war es unbegreifliche Nachlässigkeit der Befehlshaber – genug, den zur Verteidigung des Hauptwalls aufgestellten Truppen fehlte es bald an Munition. Lange widerstanden sie mit dem Bajonett dem durch das erbrochene Tor einstürmenden Feinde, als sie aber endlich seinem wütenden Feuer weichen mußten, da ging es fort in wilder Verwirrung nach dem Tore gegenüber, in das, da es zu klein für die durchdringenden Massen, eingekeilt, sie Stich halten mußten dem fürchterlichen Gemetzel. Doch gelang es etwa viertausend Spaniern,[491] das Regiment Almeira war dabei und mit ihm Edgar, hinauszukommen. Mit der Wut der Verzweiflung durchbrachen sie die dort aufgestellten feindlichen Bataillone und setzten ihre Flucht fort auf dem Wege nach Barcelona. Schon glaubten sie sich gerettet, als ein fürchterliches Feuer aus Feldstücken, die der Feind hinter einem tiefen Graben, der den Weg durchschnitt, aufgestellt hatte, unentrinnbaren Tod in ihre Reihen brachte. Edgar stürzte getroffen nieder.

Ein wütender Kopfschmerz war das Gefühl, indem er zur Besinnung erwachte. Es war tiefe Nacht, alle Schauer des Todes durchbebten ihn, als er das dumpfe Ächzen, den herzzerschneidenden Jammer vernahm. Es gelang ihm, sich aufzuraffen und fortzuschleichen. Als endlich die Morgendämmerung anbrach, befand er sich in der Nähe einer tiefen Schlucht. Eben im Begriff hinabzusteigen, kam ein Trupp feindlicher Reiter langsam hinauf. Nun der Gefangenschaft zu entgehen, schien unmöglich, doch wie ward ihm, als plötzlich aus dem dicksten Gebüsch Schüsse fielen, die einige der Reiter niederstreckten, und nun ein Trupp Guerillas auf die übriggebliebenen losstürzte. Laut rief er seinen Befreiern auf spanisch zu, die ihn freudig aufnahmen. Nur ein Streifschuß hatte ihn getroffen, von dem er bald genas, so daß er vermochte sich Don Joachim Blakes Truppen anzuschließen und nach vielen Gefechten mit ihm einzuziehen in Valencia.

Wer weiß es nicht, daß die vom Guadalaviar durchströmte Ebene, in der das schöne Valencia mit seinen stolzen Türmen gelegen, das Paradies der Erde zu nennen ist. Alle Götterlust eines ewig heitern Himmels strahlt hinein in das Gemüt der Bewohner, denen das Leben ein ununterbrochener Festtag wird. Und dies Valencia war nun der Waffenplatz des mörderischen Krieges! Statt der süßen Liebesklänge, die sonst in der stillen Nacht hinaufgirrten zu den Gitterfenstern, hörte man nur das dumpfe Gerassel des Geschützes, der Pulverkarren, die wilden [492] Rufe der Wachen, das unheimliche Murmeln der durch die Straßen ziehenden Truppen. Alle Freude war verstummt, die Ahnung des Entsetzlichen, was sich begeben werde, lag auf den bleichen, von Gram und Wut verstörten Gesichtern, der fürchterlichste Ingrimm brach aus in tausend gräßlichen Verwünschungen des Feindes. Die Alameda (ein reizender Spaziergang in Valencia), sonst der Tummelplatz der schönen Welt, diente jetzt zur Musterung eines Teils der Truppen. Hier war es, wo Edgar, als er eines Tages einsam an einen Baum gelehnt stand und nachsann über das dunkle feindliche Verhängnis, das über Spanien zu walten schien, einen hochbejahrten Mann von hohem stolzen Wuchs bemerkte, der langsam auf und ab schritt und, bei ihm vorübergehend, jedesmal einen Augenblick stehenblieb und ihn scharf ins Auge faßte. Edgar trat endlich auf ihn zu und fragte mit bescheidenem Ton, wodurch er des Mannes besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. ›So habe‹, sprach der Mann, indem ein düstres Feuer unter den buschichten schwarzen Brauen hervorblitzte, ›so habe ich mich doch nicht getäuscht, Ihr seid kein Spanier, und doch muß ich, lügt nicht Euer Rock, Euch für einen unserer Mitkämpfer halten. Das kommt mir aber etwas wunderlich vor.‹ Edgar, zwar ein wenig verletzt durch des Alten barsche Anrede, erzählte doch gelassen genug, was ihn nach Spanien gebracht.

Kaum hatte er indessen den Namen Baldassare de Luna genannt, als der Alte in voller Begeisterung laut rief: ›Was sagt Ihr? – Baldassare de Luna – Baldassare de Luna? mein würdiger Vetter! ach, mein innigster einziger Freund, der mir hienieden noch übriggeblieben!‹ Edgar wiederholte, wie sich alles begeben, und unterließ nicht zu erwähnen, mit welchen Himmelshoffnungen Baldassare de Luna gestorben.

Der Alte faltete die Hände, schlug die Augen voller Tränen auf zum Himmel, seine Lippen bebten, er schien [493] mit dem dahingeschiedenen Freunde zu reden. ›Verzeiht‹, wandte er sich dann zu Edgar, ›verzeiht, wenn mich ein düstres Mißtrauen zu einem Betragen gegen Euch zwang, das mir sonst nicht eigen. Man wollte vor einiger Zeit ahnen, daß die verruchte Arglist des Feindes so weit gehe, fremde Offiziere sich in unsere Heere schleichen zu lassen, um verderblichen Verrat zu bereiten. Die Vorfälle in Tarragona haben diese Ahnung nur zu sehr bestätigt, und schon hat die Junta beschlossen alle fremde Offiziere zu entfernen. Don Joachim Blake hat indessen erklärt, daß vorzüglich fremde Ingenieure ihm unentbehrlich wären, dagegen aber feierlich versprochen, jeden Fremden, auf den der leiseste Verdacht des Verrats kommen werde, augenblicklich niederschießen zu lassen. Seid Ihr wirklich ein Freund meines Baldassare, so meint Ihr es gewiß tapfer und ehrlich – ich habe Euch indessen alles gesagt, und Ihr möget Euch darnach achten.‹ Damit ließ ihn der Alte stehen.

Alles Waffenglück schien von den Spaniern gewichen, der Todesmut der Verzweiflung vermochte nichts auszurichten gegen den immer näher andringenden Feind. Enger und enger wurde Valencia von allen Seiten umzingelt, so daß Blake, auf das Äußerste gebracht, beschloß, sich mit zwölftausend Mann der auserlesensten Truppen durchzuschlagen. Es ist bekannt, daß nur wenige durchkamen, daß die übrigen zum Teil getötet, zum Teil zurückgedrängt wurden in die Stadt. Hier war es, wo Edgar an der Spitze des tapfern Jägerregiments Ovihuela noch dem Feinde einige Momente Trotz zu bieten vermochte, so daß die wilde Verwirrung der Flucht weniger verderblich wurde. Aber wie bei Tarragona streckte ihn in dem Moment des wütendsten Kampfes eine Gewehrkugel nieder. – Den Zustand von diesem Augenblick an bis zum klaren Bewußtsein beschrieb mir Edgar als unerklärlich seltsam. Oft war es ihm, als sei er in wilder Schlacht, er hörte den Donner des Geschützes, das wilde Geschrei der Kämpfenden, [494] die Spanier rückten siegreich vor, aber als er, von freudiger Kampfeslust entflammt, sein Bataillon ins Feuer führen wollte, war er plötzlich gelähmt und versank in, bewußtlose Betäubung; dann fühlte er wieder deutlich, daß er auf weichem Lager liege, daß man ihm kühles Getränk einflöße, er hörte sanfte Stimmen sprechen und konnte sich doch nicht aufraffen aus den Träumen. Einmal, als er wieder in dem dicksten Getümmel der Schlacht zu sein wähnte, war es ihm, als packe man ihn fest bei der Schulter, während ein feindlicher Jäger sein Gewehr auf ihn abschoß, so daß die Kugel seine Brust traf und sich auf unglaubliche Weise langsam einwühlte in das Fleisch unter den unsäglichsten Schmerzen, bis alles Gefühl unterging im tiefen Todesschlaf.

Aus diesem Todesschlaf erwachte Edgar plötzlich zu vollem Bewußtsein, doch in solcher seltsamer Umgebung, daß er durchaus nicht ahnen konnte, wo er sich befinde. Zu dem weichen und üppigen Lager mit seidenen Decken paßte nämlich gar schlecht das niedrige, kleine, gefängnisartige Gewölbe von rohen Steinen, in dem es stand. Eine düstere Lampe verbreitete nur ein sparsames Licht ringsumher, weder Türe noch Fenster war bemerkbar. Edgar richtete sich mühsam in die Höhe, da gewahrte er einen Franziskaner, der in einer Ecke des Gewölbes auf einem Lehnstuhl saß und zu schlafen schien. ›Wo bin ich?‹ rief Edgar mit aller Kraftanstrengung, deren er nur fähig.

Der Mönch fuhr auf aus dem Schlafe, schürte den Docht der Lampe, nahm sie, leuchtete Edgarn ins Gesicht, fühlte seinen Puls und murmelte etwas, das Edgar nicht verstand. Edgar war im Begriff, den Mönch zu befragen um alles, was sich mit ihm begeben, als geräuschlos sich die Wand zu öffnen schien und ein Mann hereintrat, den Edgar augenblicklich für den Alten von der Alameda her erkannte. Der Mönch rief ihm zu, daß die Krisis vorüber sei und nun alles gut gehen werde. ›Gelobt sei Gott!‹ erwiderte der Alte und näherte sich Edgars Lager.

[495] Edgar wollte sprechen, der Alte bat ihn aber zu schweigen, weil die mindeste Anstrengung zurzeit ihm noch gefährlich sei. Zu denken sei es, daß es ihm unerklärlich sein müsse, sich in solchen Umgebungen wiederzufinden, wenig Worte würden aber hinreichen, ihn nicht nur ganz zu beruhigen, sondern ihm auch die Notwendigkeit zu zeigen, daß man ihn in diesen traurigen Kerker lagern müssen.

Edgar erfuhr nun alles. Als er, von einer Kugel in die Brust getroffen, niedersank, hatten ihn die unerschrockenen Kampfesbrüder, des fürchterlichsten Feuers ungeachtet, aufgerafft und in die Stadt hineingetragen. Es begab sich, daß hier im dicksten Getümmel Don Rafaele Marchez (so war der Alte geheißen) den verwundeten Edgar gewahrte, und ihn, statt nach dem Spital, sogleich in sein Haus tragen ließ, um dem Freunde seines Baldassare alle nur mögliche Hilfe und Pflege angedeihen zu lassen. Die Wunde war zwar gefährlich genug, was aber Edgars Zustand besonders bedenklich machte, war das hitzige Nervenfieber, dessen Spuren sich schon früher gezeigt, und das nun in voller Wut ausbrach. Man weiß, daß Valencia drei Tage und drei Nächte hindurch mit dem gräßlichsten Erfolg beschossen wurde, daß alles Schrecken, alles Entsetzen der furchtbarsten Belagerung sich in der von Menschen überfüllten Stadt verbreitete, daß derselbe Pöbel, der, von der Junta zur Wut aufgereizt, unter den fürchterlichsten Drohungen verlangte, Blake solle sich aufs äußerste verteidigen, nun bewaffnet den General zur augenblicklichen Übergabe zwingen wollte; daß Blake mit der Fassung eines Helden den zusammengerotteten Haufen durch wallonische Garden auseinander treiben ließ, dann aber mit Suchet ehrenvoll genug kapitulierte. Don Rafaele Marchez wollte nicht, daß der todkranke Edgar dem Feinde in die Hände fallen sollte. Sowie die Kapitulation geschlossen und der Feind einrückte in Valencias Mauern, schaffte er Edgarn hinab in das entlegene, jedem Fremden unentdeckbare Gewölbe. ›Freund meines verklärten [496] Baldassare‹ (so schloß Don Rafaele Marchez seine Erzählung), ›seid auch der meinige, Euer Blut ist geflossen für mein Vaterland, jeder Tropfen fiel siedend heiß in meine Brust und vertilgte jede Spur des Mißtrauens, das in dieser verhängnisvollen Zeit sich nur zu leicht erzeugen muß. Dieselbe Glut, die den Spanier entflammt zum wütendsten Haß, lodert auch auf in seiner Freundschaft und macht ihn jeder Tat, jedes Opfers fähig für den Verbundenen. In meinem Hause wirtschaften die Feinde, doch Ihr seid in Sicherheit, denn ich schwöre Euch, geschieht Entsetzliches, so lasse ich mich eher unter den Trümmern von Valencia begraben, als daß ich Euch verriete. Glaubt mir das!‹

Zur Tageszeit herrschte rings um Edgars verborgenes Gemach die tiefste Grabesstille, nachts dagegen war es Edgar oft, als höre er aus der Ferne den Widerhall leiser Tritte, das dumpfe Murmeln mehrerer Stimmen durcheinander, das Öffnen und Schließen von Türen, das Geklirre von Waffen. Ein unterirdisches Treiben schien zum Leben erwacht in den Stunden des Schlafes. Edgar befragte darum den Franziskaner, der ihn sehr selten nur auf Augenblicke verließ und ihn mit der unermüdlichsten Sorgfalt pflegte. Der meinte aber, sei er nur erst mehr genesen, so würde er wohl durch Don Rafaele Marchez erfahren, was in seiner Nachbarschaft sich begebe. Das geschah denn auch wirklich. Als nämlich Edgar so weit hergestellt, daß er sein Lager verlassen konnte, kam eines Nachts Don Rafaele mit einer angezündeten Fackel und lud Edgar ein, sich anzukleiden und ihm nebst dem Pater Eusebio, so hieß der Franziskaner, der sein Arzt und Krankenwärter, zu folgen.

Don Rafaele führte ihn durch einen schmalen, ziemlich langen Gang, bis sie an eine verschlossene Tür kamen, die auf Don Rafaeles Klopfen geöffnet wurde.

Wie erstaunte Edgar, als er in ein geräumiges, hell erleuchtetes Gewölbe trat, in dem sich eine zahlreiche [497] Gesellschaft von Leuten befand, die größtenteils ein schmutziges, wildes, trotziges Ansehen hatten. Mitten stand ein Mann, der, wie der gemeinste Bauer gekleidet, mit verwildertem Haar, alle Spuren eines heimatlosen Nomadenlebens an sich tragend, doch in seinem ganzen Wesen etwas Kühnes, Ehrfurchtgebietendes hatte. Die Züge seines Gesichtes waren dabei edel, und aus seinen Augen blitzte jenes kriegerische Feuer, das den Helden verrät. Zu diesem Mann führte Don Rafaele seinen Freund hin und kündigte ihn als den jungen tapferen Deutschen an, den er dem Feinde entrissen, und der bereit sei, den großen Kampf für die Freiheit von Spanien mitzukämpfen. Dann sprach Don Rafaele, sich zu Edgar wendend: ›Ihr seht hier im Herzen von Valencia, von Feinden umlagert, den Herd, auf dem ewig das Feuer geschürt wird, dessen unlöschbare Flammen, immer mit verdoppelter Kraft auflodernd, den verruchten Feind vertilgen sollen in der Zeit, wenn er, durch sein trügerisches Waffenglück kühn und sicher geworden, schwelgen wird in trotzigem Übermut. Ihr befindet Euch in den unterirdischen Gewölben des Franziskaner-Klosters. Auf hundert, jeder Arglist verborgenen Schleichwegen kommen hier die Häupter der Tapfern zusammen und ziehen dann, wie aus einem Brennpunkt schießende Strahlen, hinaus nach allen Enden, um den verräterischen Fremdlingen, selbst nach durch Übermacht erzwungenen Siegen, Tod und Verderben zu bereiten. Wir betrachten Euch, Don Edgar, als der Unsrigen einen. Nehmt teil an der Glorie unserer Unternehmungen!‹

Empecinado – niemand anders als das berühmte Haupt der Guerillas war jener Mann in Bauerntracht, Empecinado, dessen unerschrockene Kühnheit bis zum märchenhaften Wunder stieg, der wie der unvernichtbare Geist der Rache selbst allen Anstrengungen der Feinde Trotz bot und plötzlich, wenn er spurlos verschwunden schien, mit verdoppelter Stärke hervorbrach, der in dem Augenblick, als die Feinde die vollkommene Niederlage seiner [498] Haufen verkündeten, vor den Toren von Madrid erschien und den Afterkönig in Todesschrecken setzte – also Empecinado reichte Edgarn die Hand und redete zu ihm mit begeisterten Worten.

Man führte jetzt einen Jüngling gebunden herbei. Auf seinem todbleichen Antlitz lagen alle Spuren trostloser Verzweiflung, er schien zu beben, nur mit Mühe sich aufrecht zu erhalten, als man ihn hinstellte vor Empecinado. Der durchbohrte ihn schweigend mit seinem Flammenblick und begann endlich mit einer fürchterlichen, herzzermalmenden Ruhe: ›Antonio! Ihr steht in Eintracht mit dem Feinde, Ihr wart mehrmals zu ungewöhnlichen Stunden bei Suchet, Ihr habt unsre Waffenplätze in der Provinz Cuenca verraten wollen!‹ ›Es ist so‹, erwiderte Antonio mit einem schmerzlichen Seufzer, ohne das gesenkte Haupt emporzurichten. ›Ist es möglich?‹ rief nun Empecinado, in wildem Zorn aufbrausend, ›ist es möglich, daß du ein Spanier bist, daß das Blut deiner Vorfahren dir in den Adern rinnt? War deine Mutter nicht die Tugend selbst? wäre der leiseste Gedanke, daß sie die Ehre ihres Hauses hätte beflecken können, nicht verruchter Frevel, ich würde glauben, du seist ein Bastard, aus dem Samen des verworfensten Volks der Erde entsprossen! Du hast den Tod verdient. Mache dich gefaßt zu sterben!‹ Da stürzte Antonio, ganz Jammer und Verzweiflung, hin zu Empecinados Füßen, indem er laut schrie: ›Oheim – Oheim! glaubt Ihr denn nicht, daß alle Furien der Hölle meine Brust zerfleischen? Habt Barmherzigkeit, habt Mitleiden! Bedenkt, daß die Arglist des Teufels oft alles vermag! – Ja, Oheim, ich bin ein Spanier, laßt mich das beweisen! – Seid barmherzig, vergönnt, daß ich die Schande, die Schmach, die die verruchtesten Künste der Hölle über mich gebracht, tilge, daß ich Euch, daß ich den Brüdern gereinigt erscheinen möge! – Oheim, Ihr versteht mich, Ihr wißt, warum ich Euch anflehe!‹

Empecinado schien durch des Jünglings Flehen erweicht. [499] Er hob ihn auf und sprach sanft: ›Du hast recht, die Arglist des Teufels vermag viel. Deine Reue ist wahr, muß wahr sein. Ich weiß, warum du flehst, ich verzeihe dir, Sohn der geliebten Schwester! komm an meine Brust.‹ Empecinado löste selbst die Bande des Jünglings, schloß ihn in seine Arme und reichte ihm dann den Dolch, den er am Gürtel trug. ›Habe Dank‹, schrie der Jüngling, küßte Empecinados Hände, benetzte sie mit Tränen, hob den Blick betend gen Himmel, stieß sich den Dolch tief in die Brust und sank lautlos zusammen. Den kranken Edgar erschütterte der Auftritt dermaßen, daß er sich der Ohnmacht nahe fühlte. Pater Eusebio brachte ihn zurück in sein Gewölbe.

Als einige Wochen vergangen, glaubte Don Rafaele Marchez seinen Freund ohne Gefahr aus seinem Kerker, in dem er nicht genesen konnte, befreien zu dürfen. Er brachte ihn zur Nachtzeit herauf in ein einsames Zimmer, dessen Fenster in eine ziemlich entlegene Straße hinausgingen, und warnte ihn, wenigstens den Tag über nicht aus der Tür zu treten, der Franzosen halber, die im Hause einquartiert seien.

Selbst wußte Edgar nicht, woher die Lust kam, die ihn eines Tages anwandelte, auf den Korridor hinauszugehen. In demselben Augenblick, als er aus dem Zimmer trat, öffnete sich aber die Tür gegenüber, und ein französischer Offizier trat ihm entgegen.

›Freund Edgar, welches Geschick bringt Euch hieher? Seid tausendmal willkommen!‹ so rief der Franzose, stürzte auf ihn zu, umarmte ihn voller Freude. Edgar hatte augenblicklich den Obrist La Combe von der kaiserlichen Garde erkannt. Der Zufall hatte den Obristen gerade in der verhängnisvollsten Zeit der tiefen Erniedrigung des deutschen Vaterlandes in das Haus des Oheims geführt, bei dem Edgar, als er die Waffen ablegen müssen, sich aufhielt. La Combe war im südlichen Frankreich geboren. Durch seine unzweideutige Gutmütigkeit, durch [500] die seiner Nation sonst eben nicht eigene Zartheit, womit er die tief Verletzten zu behandeln wußte, gelang es ihm, den Widerwillen, ja den unversöhnlichen Haß, der in Edgars Innerm gegen die übermütigen Feinde festgewurzelt, zu überwinden und zuletzt durch einige Züge, die La Combes wahrhaft edlen Sinn außer Zweifel setzten, seine Freundschaft zu gewinnen. ›Edgar, wie kommst du hieher nach Valencia?‹ rief der Obrist. Man kann denken, wie sehr Edgar in Verlegenheit geriet; er vermochte nicht zu antworten. Der Obrist sah ihn starr an und sprach dann ernst: ›Ha! ich weiß, was dich hergebracht. Du hast deinem Haß Luft gemacht, du hast das Schwert der Rache gezückt für die vermeintliche Freiheit eines wahnsinnigen Volks – und – ich kann dir das nicht verdenken. Ich müßte deine Freundschaft nicht für echt halten, wenn du etwa glauben solltest, ich könnte dich verraten. Nein, mein Freund! nun ich dich gefunden, bist du erst in voller Sicherheit. Denn wisse, du sollst von nun an kein anderer sein, als der reisende Geschäftsführer eines deutschen Handelshauses in Marseille, den ich längst gekannt, und damit gut!‹ So sehr es Edgarn peinigte, La Combe ruhte nicht, bis er seine Klause verließ und mit ihm die bessern Zimmer bezog, die Don Rafaele Marchez ihm eingeräumt.

Edgar eilte, den mißtrauischen Spanier von dem ganzen Hergang der Sache, von dem Verhältnis mit La Combe, zu unterrichten. Don Rafaele begnügte sich, ernst und trocken zu erwidern: ›In der Tat, das ist ein sonderbarer Zufall!‹

Der Obrist fühlte Edgars Lage ganz; indessen konnte er doch den seiner Nation eigentümlichen Sinn, dem lebendiges Bewegen in Lust und zerstreuendem Vergnügen als die tiefste Herzenswunde heilend erscheint, nicht verleugnen. So kam es, daß der Obrist mit dem Marseiller Kaufmann Arm in Arm täglich in der Alameda spazierte, ihn fortriß in die lustigen Gelage der bis zum tollen Übermut leichtsinnigen Kameraden.

[501]

Edgar bemerkte wohl, wie ihn manche seltsame Gestalten mit mißtrauischen Blicken verfolgten, und es fiel ihm nicht wenig aufs Herz, als er, mit dem Obristen in eine Posada eintretend, ganz deutlich hinter sich zischeln hörte: ›Aqui esta el traidor!‹ (da ist der Verräter).

Don Rafaele wurde immer kälter und einsilbiger gegen Edgar, bis er zuletzt sich gar nicht mehr sehen und ihm sagen ließ, er könne von nun an, statt daß er sonst mit ihm allein gegessen, mit dem Obristen La Combe speisen.

Eines Tages, als der Dienst den Obristen abgerufen und Edgar sich allein in dem Zimmer befand, klopfte es leise an der Tür, und Pater Eusebio trat herein. Eusebio fragte nach Edgars Gesundheit, und sprach dann von allerlei gleichgültigen Dingen, bis er plötzlich innehielt und Edgarn tief ins Auge blickte, dann rief er tief bewegt: ›Nein, Don Edgar! Ihr seid kein Verräter! Es ist des Menschen Natur, daß er im wachen Traum, im betörenden Wahnsinn des Fiebers, wenn der Lebensgeist im harten Kampf begriffen mit der irdischen Hülle, wenn die stärker gespannten Fibern nicht mehr den fortbrausenden Gedanken zu hemmen vermögen – ja – daß er dann sein Innerstes zu erschließen gezwungen! Wie oft hab' ich, Don Edgar, an Eurem Lager Nächte durchwacht, wie oft habt Ihr mich unbewußt in Eure tiefste Seele blicken lassen! Nein, Don Edgar, Ihr könnt kein Verräter sein. Aber seht Euch vor – seht Euch vor!‹ Edgar beschwor Eusebio, ihm zu sagen, welcher Verdacht auf ihm laste, welche Gefahr ihm drohe. ›Nicht verhehlen‹, sprach Eusebio, ›nicht verhehlen will ich Euch, daß Euer Umgang mit dem Obristen La Combe und seinen Gefährten Euch verdächtig gemacht hat, daß man fürchtet, Ihr könntet, wenn auch nicht aus bösem Willen, doch im fröhlichen Übermut bei irgendeinem lustigen Gelage, wenn Ihr zu viel des starken spanischen Weins genossen, die Geheimnisse dieses Hauses verraten, in die Euch Don Rafaele eingeweiht. Ihr seid allerdings in einiger Gefahr! Doch‹, fuhr Eusebio, da Edgar [502] nachdenklich schwieg, nach einer Weile mit niedergesenktem Blicke fort, ›doch gibt es ein Mittel, Euch aller Gefahr zu entreißen, Ihr dürft Euch nur dem Franzosen, ganz in die Arme werfen, er wird Euch fortschaffen aus Valencia.‹ ›Was sagt Ihr?‹ fuhr Edgar heftig auf, ›Ihr vergeßt, daß ich ein Deutscher bin! Nein, lieber vorwurfsfrei sterben, als Rettung suchen in elender Schmach!‹ ›Don Edgar!‹ rief der Mönch begeistert, ›Don Edgar, Ihr seid kein Verräter!‹ Dann drückte er Edgarn an die Brust und verließ mit Tränen in den Augen das Zimmer.

Noch in derselben Nacht, Edgar war einsam geblieben, der Obrist nicht zurückgekehrt, hörte Edgar Tritte sich nähern, und Don Rafaels Stimme rief: ›Macht auf, Don Edgar, macht auf!‹ Als Edgar öffnete, stand Don Rafaele vor ihm, mit einer Fackel in der Hand, neben ihm Pater Eusebio. Don Rafaele lud Edgarn ein, ihm zu folgen, da er einer wichtigen Beratung im Gewölbe des Franziskaner-Klosters beiwohnen müsse. Schon waren sie im unterirdischen Gange, Don Rafaele schritt mit der Fackel voraus, als Eusebio Edgarn leise zuflüsterte: ›O Gott, Don Edgar, Ihr geht zum Tode, Ihr könnet nicht mehr entrinnen!‹

Edgar hatte in manchem mörderischen Kampf sich fröhlichen Todesmut erhalten, doch hier mußte ihn wohl alle Bangigkeit, aller Schrecken des Meuchelmords, der auf ihn wartete, durchbeben, so daß ihn Eusebio mit Mühe aufrecht erhielt. Und doch gelang es ihm, da der Gang noch weit, nicht allein Fassung zu gewinnen, sondern auch zum festen Entschluß zu kommen, der ihn zum gefährlichen Spiel bestimmte. Als die Türen des Gewölbes sich öffneten, erblickte Edgar den furchtbaren Empecinado, aus dessen Augen Wut und Rache blitzten. Hinter ihm standen mehrere Guerillas und einige Franziskaner-Mönche. Nun ganz ermutigt, trat Edgar keck und fest dem Haupt der Guerillas entgegen und sprach ernst und ruhig: ›Es schickt sich sehr gut, daß ich Euch heute zu Gesicht [503] bekomme, Don Empecinado, schon wollt' ich Don Rafaele ein Gesuch vortragen, dessen Gewährung ich nun von Euch selbst einholen kann. Ich bin – Vater Eusebio, mein Arzt und treuer Pfleger, wird es mir bezeugen – nun ganz genesen, ich fühle mich ganz erkräftigt und vermag die langweilige Ruhe meines Aufenthalts unter verhaßten Feinden nicht länger zu ertragen. Ich bitte Euch, Don Empecinado, laßt mich auf den Euch bekannten Schleichwegen hinausbringen, damit ich zu Euern Haufen stoße und Taten vollbringe, nach denen meine ganze Seele dürstet.‹ ›Hm‹, erwiderte Empecinado mit beinahe hämischem Ton, ›haltet Ihr es denn noch mit dem wahnsinnigen Volke, das lieber in den Tod gehen als der großen Nation huldigen will? haben Euch Eure Freunde nicht eines Bessern belehrt?‹ ›Euch ist‹, sprach Edgar gefaßt, ›Euch ist der deutsche Sinn fremd, Don Empecinado, Ihr wißt nicht, daß der deutsche Mut, der in heller reiner Naphthaflamme unauslöschbar fortbrennt, daß die deutsche felsenfeste Treue der undurchdringliche Harnisch ist, von dem alle vergifteten Pfeile der Arglist und Bosheit wirkungslos abprallen. Ich bitte Euch nochmals, Don Empecinado, laßt mich hinaus ins Freie, damit ich die gute Meinung bewähre, die ich wohl schon verdient zu haben glaube!‹ Empecinado blickte Edgarn verwundert an, während ein dumpfes Murmeln durch die Versammlung lief. Don Rafaele wollte mit Empecinado sprechen, er wies ihn zurück, näherte sich Edgarn, faßte seine Hand und sprach bewegt: ›Ihr waret wohl heute zu etwas anderm berufen – doch – Don Edgar! denkt an Euer Vaterland! die Feinde, die es in Schmach versenkten, stehen auch hier vor Euch; denkt daran, daß zu dem Phönix, der mit leuchtendem Gefieder aus den Flammen emporsteigen wird, die hier gen Himmel lodern, auch Eure deutschen Brüder aufblicken werden, so daß dann die Verzweiflung glühende Sehnsucht werden muß, Todesmut und Todeskampf gebärend.‹ ›Ich habe‹, erwiderte Edgar sanft, ›ich habe das alles bedacht, [504] ehe ich mein Vaterland verließ, um mein Blut für Eure Freiheit zu verspritzen, mein ganzes Wesen löste sich auf in Rachedurst, als Don Baldassare de Luna sterbend in meinen Armen lag.‹ ›Ist es Euch‹, rief nun Empecinado wie plötzlich in Zorn auflodernd, ›ist es Euch Ernst, so müßt Ihr noch in dieser Nacht fort – in diesem Augenblick – Ihr dürft nicht mehr zurück in Don Rafaeles Haus.‹ Edgar erklärte, daß dies eben sein Wunsch sei, und sogleich wurde er von einem Mann, der, Isidor Mirr geheißen, später sich zu einem Haupt der Guerillas emporschwang, und dem Pater Eusebio fortgebracht.

Nicht herzlich genug konnte auf dem Wege der gute Eusebio Edgarn seine Teilnahme an seiner Rettung versichern. ›Der Himmel‹, sprach er, ›nahm sich Eurer Tugend an und senkte den Mut in Eure Brust, der mir als ein göttliches Wunder erschien.‹ Viel näher vor Valencia, als geahnt worden, als der Feind wohl träumen mochte, fand Edgar den ersten Haufen Guerillas, dem er sich anschloß.

Ich schweige von Edgars kriegerischen Abenteuern, die manchmal einem ritterhaften Fabelbuch entlehnt scheinen möchten, und komme gleich zu dem Augenblick, als Edgar ganz unverhofft den Don Rafaele Marchez unter den Guerillas erblickte. ›Man hat Euch wirklich unrecht getan, Don Edgar‹, sprach Don Rafaele. Edgar drehte ihm den Rücken.

Sowie die Dämmerung einbrach, geriet Don Rafaele in eine Unruhe, die immer mehr und mehr stieg, bis zur qualvollsten Angst. Er lief hin und her, stöhnte, seufzte, hob die Hände gen Himmel, betete. ›Was ist dem Alten?‹ fragte Edgar. ›Es ist ihm gelungen‹, erwiderte Isidor Mirr, ›nachdem er selbst sich fortgeschlichen, seine besten Habseligkeiten aus Valencia zu retten und auf Maultiere laden zu lassen, die erwartet er in dieser Nacht und mag wohl Böses fürchten.‹ Edgar wunderte sich über Don Rafaeles Geiz, der ihn alles übrige vergessen zu lassen schien. Es war Mitternacht, der Mond leuchtete hell durch das [505] Gebirge, als man aus der Schlucht herauf ein starkes Schießen vernahm. Bald hinkten schwerverwundete Guerillas hinan, welche verkündeten, daß der Trupp, der Don Rafaeles Maultiere geführt, ganz unerwartet von französischen Jägern überfallen worden sei. Beinahe alle Kameraden wären niedergemacht, die Maultiere schon in des Feindes Gewalt. ›Heiliger Gott, mein Kind, mein armes unglückliches Kind!‹ So kreischte Don Rafaele auf und sank besinnungslos zu Boden.

›Was ist da zu tun?‹ rief Edgar laut, ›auf – auf – Brüder, hinab in die Schlucht – hinab, den Tod unserer Tapfern zu rächen, den Hunden die gute Beute aus den Zähnen zu reißen.‹ ›Der brave Deutsche hat recht!‹ rief Isidor Mirr, ›der brave Deutsche hat recht!‹ erscholl es ringsumher, und hinab in die Schlucht ging es wie brausender Gewittersturm!

Nur noch wenige Guerillas wehrten sich im Todesmut der Verzweiflung. Mit dem Schrei: ›Valencia!‹ stürzte sich Edgar in den dicksten Haufen der Feinde, und mit dem todverkündenden Gebrüll blutdürstiger Tiger stürzten die Guerillas ihm nach, stießen den von jähem Todesschreck gelähmten Feinden ihre Dolche in die Brust, schlugen sie nieder mit den Büchsenkolben. Die schnell Entrinnenden trafen wohlgezielte Schüsse. Das waren die Valencier, die die Kürassiere des General Moncey auf dem Marsche einholten, ihnen in die Flanke sprangen, sie, ehe ihnen die Besinnung kam, mit Dolchstößen niedermachten und, Meister der Waffen und Pferde, zurückkehrten in ihre Schlupfwinkel.

Schon war alles entschieden, als Edgar aus dem tiefsten Dickicht heraus ein durchdringendes Geschrei vernahm; schnell eilte er hin und gewahrte, wie ein kleiner Mensch, den Zügel des Maultiers, das hinter ihm stand, zwischen den Zähnen, mit einem Franzosen rang. In demselben Augenblick, ehe noch Edgar hervorgekommen, stieß der Franzose den Kleinen mit einem Dolch, den er ihm wahrscheinlich [506] entwunden, nieder und wollte nun das Maultier fortzerren, tiefer in den Wald hinein. Edgar schrie laut auf, der Franzose schoß, fehlte, Edgar rannte ihm sein Bajonett durch den Leib. Der Kleine winselte. Edgar hob ihn auf, machte mit Mühe den Zügel los, in den er krampfhaft gebissen, und wurde nun erst, als er ihn auf das Maultier legen wollte, gewahr, daß eine verhüllte Gestalt darauf saß, die, niedergebeugt, den Hals des Tieres umklammert hatte und leise wimmerte. Hinter dem Mädchen, das war die Gestalt, der Stimme nach zu urteilen, legte nun Edgar den kleinen wunden Menschen, fußte die Zügel des Maultiers, und so ging's hinauf zu dem Waffenplatz, wo Isidor Mirr, da sich kein Feind mehr spüren lassen, mit den Kameraden schon angekommen.

Man hob den Kleinen, der ohnmächtig geworden vom Blutverlust, unerachtet die Wunde nicht tödlich schien, und dann das Mädchen hinab von dem Maultiere. Aber in dem Augenblick stürzte Don Rafaele ganz außer sich, laut schreiend: ›Mein Kind – mein süßes Kind!‹ herbei. Er wollte die Kleine, kaum acht bis zehn Jahre schien das Mädchen alt zu sein, in seine Arme schließen, doch als nun der helle Fackelglanz Edgarn ins Gesicht leuchtete, fiel er plötzlich diesem zu Füßen und rief: ›O Don Edgar, Don Edgar, vor keinem Sterblichen hat sich dieses Knie gebeugt, aber Ihr seid kein Mensch, Ihr seid ein Engel des Lichts, gesandt, mich zu retten vor tötendem Gram, trostloser Verzweiflung! O Don Edgar, hämisches Mißtrauen wurzelte in dieser unheilbrütenden Brust! O fluchwürdiges Unternehmen, Euch, den Edelsten der Menschen, Ehre und Mut im treuesten Herzen, stürzen zu wollen in schmachvollen Tod! Stoßt mich nieder, Don Edgar, nehmt blutige Rache an mir Elenden! Niemals könnt Ihr vergeben, was ich tat.‹

Edgar, im vollen Bewußtsein, nichts mehr vollbracht zu haben, als was Pflicht und Ehre geboten, fühlte sich gepeinigt von Don Rafaeles Betragen. Er suchte ihn auf alle [507] nur mögliche Weise zu beschwichtigen, welches ihm endlich mit Mühe gelang.

Don Rafaele erzählte, daß der Obrist La Combe ganz außer sich gewesen über Edgars Verschwinden, daß er, geschehenes Unheil ahnend, im Begriff gestanden, das ganze Haus durchwühlen und ihn, den Don Rafaele, selbst zur Haft bringen zu lassen. Dies habe ihn genötigt zu fliehen, und nur den Bemühungen der Franziskaner sei es gelungen, auch die Tochter, den Diener und manches, dessen er bedurfte, herauszuschaffen aus Valencia.

Man hatte unterdessen den wunden Diener sowie auch Don Rafaeles Tochter weiter fortgeschafft; Don Rafaele, zu alt, die kühnen Züge der Guerillas mitzumachen, sollte ihnen folgen. Beim wehmütigen Scheiden von Edgar händigte er ihm einen Talisman ein, der ihn aus mancher, dringenden Gefahr rettete.« – – So endigte Euchar seine Erzählung, die die Teilnahme der ganzen Gesellschaft erregt zu haben schien.

Der Dichter, der sich von seinem Stickhusten erholt hatte und wieder hereingetreten war, meinte, daß in Edgars spanischen Abenteuern viel guter Tragödienstoff enthalten, nur wünsche er einen geziemlichen Zusatz von Liebe und einen tüchtigen Schluß, einen honetten Mord, hinlänglichen Wahnsinn, Schlagfluß oder sonst dergleichen. »Ach ja, Liebe!« sprach ein Fräulein, indem sie verschämt errötete; »ein hübsches Liebesabenteuer fehlte Ihrer sonst sehr artigen Erzählung, lieber Baron.« »Habe ich,« erwiderte Euchar lächelnd, »habe ich denn aber, meine Gnädige, einen Roman auftischen wollen? waren es nicht die Schicksale meines Freundes Edgar, von denen ich sprach, und dessen Leben in den wilden Gebirgen Spaniens war leider ganz arm an Abenteuern der Art.« »Ich glaube,« murmelte Viktorine dumpf vor sich hin, »ich glaube diesen Edgar zu kennen, der arm geblieben, weil er die reichste Gabe verschmähte.«

Keiner war aber so in Enthusiasmus geraten, als Ludwig. [508] Der rief überlaut: »Ja, ich kenne sie, die verhängnisvolle ›Profecia del Pirineo‹ des göttlichen Don Juan Bautista de Arriaza! O – sie goß Flammen in mein Inneres, ich wollte hin nach Spanien, wollte in den heißen Kampf treten, hätt' es nur im Zusammenhange der Dinge gelegen. Ha! ich kann mich ganz in Edgars Lage versetzen, wie hätte ich in dem fatalen Augenblick im Franziskaner-Gewölbe zu dem furchtbaren Empecinado gesprochen!« Ludwig begann nun eine Rede, die so pathetisch war, daß alles in Erstaunen geriet und nicht genug Ludwigs Mut, seine heroische Entschlossenheit bewundern konnte. »Aber es lag nicht im Zusammenhange der Dinge,« unterbrach ihn die Präsidentin, »doch mag es in diesem Zusammenhange liegen oder vielmehr sich wohl schicken, daß ich eben heute meinen lieben Gästen eine Unterhaltung zugedacht, die der Erzählung unsers Euchar einen ganz charakteristischen erheiternden Schluß gibt.«

Die Türen öffneten sich, herein trat Emanuela, und hinter ihr der kleine verwachsene Biagio Cubas, mit der Chitarre in den Händen, sich auf seltsame Weise verbeugend. Doch mit jener unbeschreiblichen Anmut, die die Freunde Ludwig und Euchar schon im Park bewundert, trat Emanuela in den Kreis, verbeugte sich und sprach mit holder süßer Stimme, daß sie gekommen, vor der Gesellschaft ein Talent zu zeigen, das vielleicht nur durch seine Fremdartigkeit ergötze.

Das Mädchen schien seit den wenigen Tagen, da die Freunde sie sahen, größer, reizender, vollendeter im Wuchs geworden zu sein, auch war sie sehr sauber, beinahe reich gekleidet. »Nun kannst du,« zischelte Ludwig dem Freunde ins Ohr, während Cubas unter hundert sehr possierlichen Gebärden die Anstalten zum Fandango zwischen neun Eiern traf, »nun kannst du ja deinen Ring wieder fordern, Euchar!« »Hasenfuß,« erwiderte dieser, »du siehst ihn ja an meinem Finger, ich hatte ihn mit dem Handschuh abgestreift und fand ihn eben in dem Handschuh noch[509] denselben Abend wieder.« Emanuelas Tanz riß alles hin, denn niemand hatte Ähnliches jemals gesehen. Während Euchar den ernsten Blick unabgewandt auf die Tänzerin richtete, brach Ludwig los in laute Ausrufe des höchsten Entzückens. Da sprach Viktorine, neben der er saß, ihm ins Ohr: »Heuchler, Sie wagen es, mir von Liebe vorzureden, und sind verliebt in das kleine trotzige Ding, in die spanische Seiltänzerin? Wagen Sie es nicht mehr, sie anzuschauen.« Ludwig wurde nicht wenig verlegen über Viktorinens ungeheure Liebe zu ihm, die so ohne alle vernünftige Ursache aufflammen konnte in Eifersucht. »Ich bin sehr glücklich,« lispelte er vor sich selbst hin, »aber es geniert.«

Nachdem der Tanz geendigt, nahm Emanuela die Chitarre und begann spanische Romanzen heitern Inhalts. Ludwig bat, ob es ihr nicht gefallen wolle, jenes hübsche Lied zu wiederholen, das sie seinem Freunde Euchar vorgesungen; Emanuela begann sogleich:


»Laure l'immortal al gran Palafox« etc.


Immer glühender wurde ihre Begeisterung, immer mächtiger ihrer Stimme Klang, immer stärker rauschten die Akkorde. Endlich kam die Strophe, die des Vaterlandes Befreiung verkündet, da fiel ihr strahlender Blick auf Euchar, ein Tränenstrom stürzte ihr aus den Augen, sie sank nieder auf die Knie. Schnell sprang die Präsidentin hinzu, hob das Mädchen auf, sprach: »Nicht weiter, nicht weiter, mein süßes holdes Kind!« führte sie zum Sofa, küßte sie auf die Stirne, streichelte ihr die Wangen.

»Sie ist wahnsinnig, sie ist wahnsinnig!« rief Viktorine Ludwigen ins Ohr; »du liebst keine Wahnsinnige – nein! – sag' es mir, sag' es mir gleich auf der Stelle, daß du keine Wahnsinnige zu lieben vermagst!« »Ach Gott, nein, nein!« erwiderte Ludwig ganz erschrocken. Er konnte sich in den Ausbruch der heftigsten Liebe Viktorinens gar nicht recht finden.[510] Während die Präsidentin Emanuelen süßen Wein und Biskuit einnötigte, damit sie sich nur erhole, wurde auch der wackre Chitarrist Biagio Cubas, der in einer Ecke des Zimmers niedergesunken war und sehr geschluchzt hatte, mit einem tüchtigen Glase echten Xeres bedient, das er mit einem fröhlichen: »Doña, viva listed mil años!« bis auf den letzten Tropfen leerte.

Man kann denken, daß die Frauen nun herfielen über Emanuele und sie mit Fragen bestürmten nach ihrem Vaterlande, ihren Verhältnissen u.s.w. Die Präsidentin fühlte die peinliche Lage des Mädchens zu sehr, um sie nicht gleich daraus zu befreien, dadurch, daß sie den festgeschlossenen Kreis in mancherlei Wirbel aufzulösen wußte, in denen sich nun alle, selbst die Pikettspieler drehten. Der Konsistorial-Präsident meinte, die kleine Spanierin sei ein schmuckes allerliebstes Ding, nur ihr verwünschtes Tanzen sei ihm in die Beine gefahren, und ihm manchmal so schwindlig zumute geworden, als ländre mit ihm der leidige Satan. Das Singen sei dagegen ganz was Apartes gewesen und habe ihn sehr ergötzt.

Graf Walther Puck war andrer Meinung. Er verachtete Emanuelens Gesang, da ihm das Trillo gemangelt, und rühmte dagegen höchlich ihren Tanz, den er, wie er sich ausdrückte, ganz deliziös gefunden. Er bezog sich darauf, daß er sich auf so etwas sehr gut verstehe, da er sonst es dem besten Ballettmeister gleich getan. »Kannst du,« sprach Graf Walther Puck, »kannst du es dir vorstellen, Bruder Konsistorial-Prä sident, daß ich, als ein juveniler Ausbund aller Geschwindigkeit und Stärke, den Fiocco sprang und mit dem zartesten der Beine ein neun Fuß über meiner Nasenspitze aufgehängtes Tamburin hinabschlug? Und was den Fandango zwischen Eiern betrifft, so hab' ich tanzend oft mehr Eier zerstampft, als sieben Hennen des Tages legen konnten.« »Alle Teufel, das waren Kunststücke!« schrie der Konsistorial-Präsident. »Und da«, fuhr der Graf fort, »der gute Cochenille sehr [511] amön das Flageolett bläst, so tanze ich noch zuweilen ausgelassen nach seinem Pfeiflein, wiewohl nur in meinem Zimmer ganz insgeheim.« »Das glaub' ich,« rief der Konsistorial-Präsident laut lachend, »das glaub' ich, Bruder Graf!« Unterdessen war Emanuele mit ihrem Cubas verschwunden.

Als die Gesellschaft sich trennen wollte, sprach die Präsidentin: »Freund Euchar! ich wette, Sie wissen noch mehr Interessantes von Ihrem Freunde Edgar! Ihre Erzählung war ein Bruchstück, das uns alle so gespannt hat, daß wir eine schlaflose Nacht haben werden. Nicht länger als bis morgen abend gönne ich Ihnen Frist, uns zu beruhigen. Wir müssen mehr erfahren von Don Rafaele, Empecinado, den Guerillas, und ist es möglich, daß Edgar sich verlieben kann, so halten Sie damit nicht zurück.« »Das wäre herrlich!« rief es von allen Seiten, und Euchar mußte versprechen, sich am folgenden Abend mit dem zur Ergänzung seines Bruchstücks nötigen Material einzufinden.

Auf dem Heimwege konnte Ludwig nicht genug von Viktorinens bis an Wahnsinn grenzender Liebe zu ihm sprechen. »Aber«, rief er, »sie hat mir durch ihre Eifersucht mein eignes Innres aufgeschlossen, ich habe einen tiefen Blick hineingetan und gefunden, daß ich Emanuelen unaussprechlich liebe. Ich werde sie aufsuchen, ihr meine Liebe gestehen – sie an mein Herz drücken!« »Tue das, mein Kind«, erwiderte Euchar gelassen.

Als am andern Abend die Gesellschaft bei der Präsidentin versammelt, verkündigte sie mit Bedauern, daß Baron Euchar ihr geschrieben, wie ihn ein unvorhergesehenes Ereignis genötigt, plötzlich abzureisen, weshalb er die Ergänzung des Bruchstücks bis zu seiner Rückkunft verschieben müsse.

Euchars Rückkehr. Szenen einer durchaus glücklichen Ehe. Beschluß der Geschichte

Zwei Jahre mochten vergangen sein, als vor dem »Goldnen Engel«, dem vornehmsten Wirtshaus in W., ein [512] stattlicher, schwer bepackter Reisewagen hielt, aus dem ein junger Mann, eine verschleierte Dame und ein alter Herr stiegen. Ludwig kam gerade des Weges und konnte nicht unterlassen, stehenzubleiben und die Ankömmlinge mit der Lorgnette zu betrachten. In dem Augenblick drehte sich der junge Mann um und stürzte mit dem Ausruf: »Ludwig, mein Ludwig, sei mir tausendmal gegrüßt!« Ludwigen in die Arme. –

Der war aber nicht wenig verwundert, so ganz unerwartet seinen Freund Euchar wiederzusehen. Denn niemand anders war der junge Mann, der aus dem Reisewagen gestiegen. »Bester,« sprach Ludwig, »wer ist denn die verschleierte Dame, wer der alte Herr, der mit dir gekommen? – Alles erscheint mir so seltsam und – da kommt ja noch ein Packwagen heran, und auf ihm sitzt – hilf Himmel! – seh' ich recht?« –

Euchar nahm Ludwigen unter den Arm, führte ihn einige Schritte über die Straße fort und sprach: »Du wirst alles zu seiner Zeit erfahren, geliebter Freund, aber für jetzt sage mir nur, was mit dir vorgegangen? – Du siehst leichenblaß aus, das Feuer deiner Augen ist erloschen, du bist, aufrichtig sag' ich's dir, um zehn Jahre älter geworden. Hat dich eine schwere Krankheit heimgesucht? Drückt dich sonst ein böser Kummer?« »Ach nein,« erwiderte Ludwig, »ich bin vielmehr der glücklichste Mensch unter der Sonne und führe ein wahres Schlaraffenleben in lauter Liebe und Lust. Denn wisse, seit länger als einem Jahr hat mir die himmlische Viktorine ihre zarte liebe Hand gereicht. Dort das schöne Haus mit den hellen Spiegelfenstern ist meine Residenz, und du könntest nichts Gescheiteres tun, als gleich mit mir kommen und mich besuchen in meinem irdischen Paradiese. Wie wird sich mein gutes Weib freuen, dich wiederzusehen. Überraschen wir sie!« Euchar bat nur um Frist, die Kleider zu wechseln, und versprach dann zu kommen und zu vernehmen, wie sich alles zu Ludwigs Glück gefügt.

[513] Ludwig empfing den Freund unten an der Treppe und bat so leise als möglich aufzutreten, da Viktorine häufig, und jetzt eben stärker, an nervösen Kopfschmerzen leide, die sie in solch reizbaren Zustand versetzten, daß sie die leisesten Tritte im Hause vernehme, unerachtet ihre Gemächer im entferntesten Teile des Flügels befindlich. Beide schlichen nun sachte, sachte über die mit Decken belegten Stufen durch den Korridor und in Ludwigs Zimmer hinein. Nach herzlichen Ergießungen der Freude des Wiedersehens zog Ludwig an der Schelle, rief aber auch gleich: »Gott! – Gott! was hab' ich getan – ich Unglücklicher!« und hielt beide Hände vors Gesicht. Es dauerte auch nicht lange, so stürzte ein schnippisches Ding von Kammermädchen hinein und schrie Ludwigen mit gemeinem kreischenden Ton an: »Herr Baron, was fangen Sie an? wollen Sie die arme Frau Baronin töten, die schon in Krämpfen liegt?« »Ach Gott,« lamentierte Ludwig, »bestes Nettchen, in der Freude hab' ich nicht daran gedacht! Nun – hier der Herr Baron, mein bester Herzensfreund ist angekommen – seit Jahren haben wir uns nicht gesehen – ein alter intimer Freund deiner Frau – bitte sie, flehe sie an, daß sie vergönne, ihn ihr vorzustellen. Tue das, bestes Nettchen!« Ludwig drückte ihr Geld in die Hand, und sie verließ mit einem schnippischen: »Ich will sehen, was zu machen ist«, das Zimmer.

Euchar, der hier einen Auftritt sah, wie er sich nur zu oft im Leben begibt und daher in hundert Romanen und Komödien aufgetischt wird, hatte seine besonderen Gedanken über des Freundes häusliches Glück. Er fühlte mit Ludwig die Pein des Moments und begann sich nach gleichgültigen Dingen zu erkundigen. Ludwig ließ sich aber gar nicht darauf ein, sondern meinte, es sei ihm doch gar zu merkwürdig in der Zwischenzeit ergangen, und das müsse er erzählen.

»Du erinnerst,« begann er, »du erinnerst dich gewiß jenes Abends bei der Präsidentin Veehs, als du die [514] Geschichte aus dem Leben deines Freundes Edgar erzähltest. Du erinnerst dich auch, wie dann Viktorine in Eifersucht erglühte und ihr von Liebe zu mir entflammtes Herz ganz und gar erschloß. Und ich Tor, ich gestand dir's ja, ich Tor verliebte mich sehr in die kleine spanische Tänzerin und las wohl in ihren Blicken, daß ich nicht hoffnungslos liebe. Du wirst bemerkt haben, daß, als sie beim Schluß des Fandango die Eier in eine Pyramide zusammenschob, die Spitze dieser Pyramide mir, der ich gerade in der Mitte des Kreises hinter dem Stuhle der Veehs stand, zugerichtet war. Nun, konnte sie besser ausdrücken, wie sehr ich sie interessiere? Ich wollte den andern Tag das liebe Ding aufsuchen, aber es lag nicht im Zusammenhang der Dinge, daß es geschah. Ich hatte die Kleine beinahe ganz vergessen, als der Zufall –«

»Der Zusammenhang der Dinge«, fiel ihm Euchar ins Wort.

»Nun ja wohl,« sprach Ludwig weiter, »genug, ich ging einige Tage darauf durch unsern Park, vor dem Wirtshause vorüber, wo wir damals unsere kleine Spanierin zum erstenmal sahen. Da sprang die Wirtin – du glaubst gar nicht, was die gute Frau, die mir damals Essig und Wasser für mein wundes Knie reichte, für ein Interesse für mich gefaßt hatte – ja, die Wirtin sprang auf mich zu und fragte sehr angelegentlich, wo denn die Tänzerin mit ihrem Begleiter geblieben sei, die ihr so vielen Besuch verschafft, sie ließe sich schon seit mehreren Wochen gar nicht sehen. Ich wollte mir andern Tages alle Mühe geben zu erforschen, ob sie noch im Orte oder nicht, es lag aber nicht im Zusammenhang der Dinge, daß es geschah. Mein Herz bereute auch jetzt gar sehr die Torheit, die ich begehen wollen, und wandte sich wieder ganz der himmlischen Viktorine zu. In ihr nur zu reizbares Gemüt war aber mein Attentat der Untreue so tief eingedrungen, daß sie mich gar nicht sehen, nichts von mir hören wollte. Der liebe Cochenille versicherte, daß sie in tiefe Melancholie [515] verfallen, daß sie oft in Tränen ersticken wolle, daß sie ganz trostlos rufe: "Ich habe ihn verloren, ich habe ihn verloren!" Du kannst denken, welche Wirkung dies auf mich machte, wie ich ganz aufgelöst war in Schmerz über das unglückliche Mißverständnis. Cochenille bot mir seine Hilfe an, er wollte die Komtesse auf schlaue Weise von meiner wahren Gesinnung unterrichten, ihr meine Verzweiflung schildern, ihr sagen, daß ich nicht mehr derselbe sei, daß ich auf den Bällen höchstens viermal tanze, im Theater gedankenlos in die Kulissen hineinstarre, meinen Anzug vernachlässige u.s.f. Ich ließ ihm reichlich Goldstücke zufließen, und er brachte mir dafür jeden Morgen eine neue Hoffnung. Endlich ließ sich Viktorine wieder sehen. Ach, wie schön sie war! O Viktorine, mein holdes, liebes, süßes Weib, die Anmut selbst und die Güte!«-

Nettchen trat herein und kündigte Ludwigen an, daß die Frau Baronin ganz erstaunt wären über die seltsamen Einfälle, die den Herrn Baron heute betörten. Erst klingelten Sie, als sei Feuer im Hause, und dann verlangten Sie, daß die todkranke Frau von Besuchen belästigt werden solle. Sie könne heute niemanden sehen und ließe sich bei dem fremden Herrn entschuldigen. Nettchen sah Eucharn starr in die Augen, maß ihn von Kopf bis zu Fuß und verließ dann das Zimmer.

Ludwig sah schweigend vor sich nieder und fuhr dann etwas kleinlaut fort: »Du glaubst gar nicht, mit welcher beinahe verhöhnenden Kälte mir Viktorine begegnete. Hätten nicht die früheren Ausbrüche der glühendsten Liebe mich überzeugt, daß die Kälte erheuchelt, um mich zu strafen, in der Tat, ich wäre in manche Zweifel geraten. Endlich wurde ihr die Verstellung zu schwer, ihr Betragen freundlicher und freundlicher, bis sie zuletzt auf einem Ball mir ihren Shawl anvertraute. Da war mein Triumph entschieden. Ich arrangierte jene verhängnisvolle Seize zum zweitenmal, tanzte göttlich mit ihr, mit [516] ihr, der Himmlischen, flüsterte ihr, auf der rechten Fußspitze balancierend und die Holde umfangend, zu: ›Göttliche, himmlische Komteß, ich liebe Sie unaussprechlich, ich bete Sie an – Sein Sie mein, Engel des Lichts!‹ – Viktorine lachte mir ins Gesicht, das hielt mich aber nicht ab, den andern Morgen zu schicklicher Zeit, das heißt um ein Uhr hinzugehen, mir durch meinen Freund Cochenille den Zutritt zu ihr zu verschaffen und sie anzuflehen um ihre Hand. Sie sah mir schweigend ins Gesicht, ich warf mich vor ihr nieder, faßte die Hand, die mein werden sollte, bedeckte sie mit glühenden Küssen. Sie ließ das geschehen, aber es wurde mir in der Tat seltsam zumute, als ihr ernster, starrer Blick mir wie ohne Sehkraft, als sei sie ein lebloses Bild, schien. Doch endlich traten ein paar große Tränen ihr in die Augen, sie drückte mir die Hand so heftig, daß ich, da ich gerade einen wunden Finger, hätte aufschreien mögen, stand auf, verließ, das Schnupftuch vor dem Gesicht, das Zimmer. – Mein Glück war mir nicht zweideutig, ich eilte zum Grafen und hielt um die Tochter an. ›Schön, sehr schön, allerliebst, bester Baron‹, sprach der Graf, wohlgefällig lächelnd, ›aber haben Sie der Gräfin schon etwas merken lassen, sind Sie geliebt? ich bin, als ein wahrer Tor, ungemein portiert für die Liebe!‹ Ich erzählte dem Grafen, wie es sich mit der Seize begeben. Seine Augen funkelten vor Freude. ›Das ist deliziös, das ist ganz deliziös‹, rief er ein Mal über das andere. ›Wie war die Tour, bester Baronetto?‹ fragte er mich dann. Ich tanzte die Tour und blieb stehen in der Stellung, wie ich sie erst beschrieben. ›Scharmant, englischer Freund, in der Tat ganz scharmant‹, rief der Graf voll Entzücken, schellte, schrie laut zur Tür hinaus: ›Cochenille, Cochenille!‹

Als Cochenille gekommen, mußte ich ihm die Musik zu meiner Seize vorsingen, die ich selbst komponiert. ›Nehmen Sie Ihr Flageolett zur Hand, Cochenille, und blasen Sie dasjenige, was der Herr Baron Ihnen vorgesungen.‹

[517] So sprach der Graf. Cochenille führte gut genug aus, was ihm geboten, ich mußte mit dem Grafen tanzen, seine Dame vorstellen, und, ich hätt' es dem Alten nicht zugetraut, auf der rechten Fußspitze schwebend, flüsterte er mir zu: ›Auserwähltester der Barone, meine Tochter Viktorine ist die Ihrige!‹

Die holde Viktorine zierte sich, wie das nun einmal Mädchen zu tun pflegen. Sie blieb stumm und starr, sagte nicht nein, nicht ja und betrug sich überdem gegen mich so, daß aufs neue meine Hoffnungen sanken. Dazu kam, daß ich eben jetzt erfuhr, wie damals, als ich in der Seize die Cousine faßte statt Viktorinen, die Mädchen den heillosen Spaß verabredet hatten, um mich auf entsetzliche Weise zu mystifizieren. In der Tat, ich wurde ganz betrübt und wollte beinahe meinen, daß es im Zusammenhang der Dinge läge, mich bei der Nase herumführen zu lassen. – Unnütze Zweifel – ehe ich mir's versah – ganz unerwartet, gerade als ich in das tiefste Leid versunken, bebte das himmlische Ja! von den süßesten Lippen! – Nun wurde ich recht gewahr, welchen Zwang sich Viktorine angetan, denn sie war nun so ausgelassen lustig und heiter, wie man sie niemals gesehen. Daß sie mir die unschuldigste Liebkosung versagte, daß ich kaum ihre Hand zu küssen wagen durfte – nun, das war wohl übertriebene Sprödigkeit. Manche von meinen Freunden wollten mir zwar allerlei dummes Zeug in den Kopf setzen, der Tag vor meiner Vermählung war aber dazu bestimmt, die letzten Zweifel aus meiner Seele zu vertilgen. – Am frühen Morgen eilte ich zu meiner Braut. Ich fand sie nicht in ihrem Zimmer. Auf ihrem Arbeitstisch liegen Papiere. – Ich werfe einen Blick darauf, es ist Viktorinens saubere, niedliche Handschrift – ich lese – es ist ein Tagebuch – o Himmel – o all ihr Götter! jeder Tag gibt mir einen neuen Beweis, wie glühend, wie unaussprechlich mich Viktorine von jeher liebte – der kleinste Vorfall ist aufgezeichnet, und immer heißt es: ›Du verstehst dies Herz[518] nicht – Unempfindlicher! soll ich, im Wahnsinn der Verzweiflung alle Scham verleugnend, dir zu Füßen sinken, dir sagen, daß ohne deine Liebe mir das frische Leben Grabesnacht dünkt?‹ – Und in diesem Ton ging es weiter fort! – Eben an dem Abende, als ich in Liebe entbrannte zur kleinen Spanierin, lese ich: ›Alles ist verloren – er liebt sie, nichts ist gewisser. Wahnsinniger, weißt du nicht, daß der Blick des liebenden Weibes das Innerste zu durchschauen vermag?‹ – Ich lese das laut; in dem Augenblicke tritt Viktorine hinein, mit dem Tagebuch in der Hand stürze ich vor ihr nieder, schreie: ›Nein, nein, niemals liebte ich jenes seltsame Kind, du, du allein warst mein Abgott immerdar!‹ – Da starrt mich Viktorine an, ruft mit einer gellenden Stimme, die mir noch in die Ohren klingt: ›Unglückseliger, dich habe ich nicht gemeint!‹ verläßt mich schnell, in das andre Zimmer eilend. – Vermagst du dir es zu denken, daß weibliche Ziererei so weit gehen kann!« –

Nettchen kam in diesem Moment und erkundigte sich im Namen der Frau Baronin, woran es denn liege, daß der Herr Baron ihr nicht den Fremden zuführe, sie warte schon eine halbe Stunde vergebens auf den ihr zugedachten Besuch. »Ein herrliches, treffliches Weib,« sprach der Baron gerührt, »sie opfert sich für meine Wünsche.« Euchar verwunderte sich nicht wenig, die Baronin völlig angekleidet, beinahe geputzt anzutreffen.

»Hier bringe ich dir unsern teuern Euchar, wir haben ihn wieder!« so rief Ludwig; als aber Euchar sich der Baronin näherte, ihre Hand faßte, überfiel sie ein heftiges Zittern, und mit einem leisen: »O Gott!« sank sie ohnmächtig in den Lehnsessel.

Euchar, der die Pein des Augenblicks nicht zu ertragen vermochte, entfernte sich schnell. »Unglückseliger,« sprach er zu sich selbst, »nein! du warst nicht gemeint!« Er übersah nun das grenzenlose Elend, in das Mißverständnisse der unbegreiflichen Eitelkeit den Freund gestürzt hatten, [519] er wußte nun, wem Viktorinens Liebe gegolten, und fühlte sich auf seltsame Weise bewegt. Jetzt erst wurde ihm mancher Moment klar, den er in seiner unbefangenen Geradheit nicht beachtet, jetzt erst durchschaute er die leidenschaftliche Viktorine ganz und gar und begriff selbst kaum, daß er ihre Liebe nicht geahnt. Jene Momente, in denen sich Viktorinens Liebe beinahe rücksichtslos offenbarte, gingen ihm hell in der Seele auf, und er empfand lebhaft, daß gerade dann ein seltsamer unerklärlicher Widerwille gegen das schöne holde Mädchen ihn in die unmutigste Stimmung versetzt hatte. Diesen bittern Unmut richtete er nun gegen sich selbst, indem ihn tiefes Mitleiden für die Arme, über die ein finstrer Geist gewaltet, durchdrang.

Gerade denselben Abend war die Gesellschaft bei der Präsidentin Veehs versammelt, der Euchar vor zwei Jahren von Edgars Abenteuern in Spanien erzählt hatte. Man empfing ihn mit dem fröhlichsten Jubel, doch wie ein elektrischer Schlag traf es ihn, als er Viktorinen erblickte, die er durchaus nicht vermutet. Keine Spur von Krankheit war an ihr zu bemerken, ihre Augen strahlten feurig wie sonst, und ein sorgfältig gewählter geschmackvoller Putz erhöhte ihre Schönheit und Anmut. Euchar, von ihrer Gegenwart gepeinigt, schien, wie es sonst gar nicht seine Art war, gedrückt, verlegen. Viktorine wußte geschickt sich ihm zu nähern, faßte plötzlich seine Hand, zog ihn beiseite, sprach ernst und ruhig: »Sie kennen meines Mannes System vom Zusammenhange der Dinge. Den wahren Zusammenhang unsers ganzen Seins bilden, denk' ich, die Torheiten, die wir begehen, bereuen und wieder begehen, so daß unser Leben ein toller Spuk scheint, der uns, unser eigenes Ich rastlos verfolgt, bis er uns zu Tode neckt und hetzt! – Euchar! ich weiß alles, ich weiß, wen ich noch diesen Abend sehen werde – ich weiß, daß Sie erst heute mich verstanden haben. – Nicht Sie, nein, ein böser Geist nur brachte bittern hoffnungslosen Schmerz über mich! – [520] Der Dämon ist gewichen in dem Augenblick, als ich Sie wiedersah! – Frieden und Ruhe über uns, Euchar!« – »Ja,« erwiderte Euchar gerührt, »ja, Viktorine, Frieden und Ruhe über uns, die ewige Macht läßt kein mißverstandenes Leben ohne Hoffnung.« – »Es ist nun alles vorüber und gut«, sprach Viktorine, drückte eine Träne aus dem Auge und wandte sich zur Gesellschaft.

Die Präsidentin hatte das Paar beobachtet und flüsterte nun Eucharn zu: »Ich habe ihr alles gesagt, tat ich recht?« »Muß ich,« erwiderte Euchar, »muß ich mich denn nicht allem unterwerfen?«

Die Gesellschaft nahm nun, wie es wohl zu geschehen pflegt, einen neuen Anlauf zur Freude und Verwunderung über Euchars unverhoffte Rückkunft und bestürmte ihn mit Fragen, wo er gewesen, was sich mit ihm unter der Zeit begeben.

»Eigentlich«, hob jetzt Euchar an, »bin ich nur gekommen, um das vor zwei Jahren gegebene Wort zu lösen, nämlich noch manches von meines Freundes Edgar Schicksalen zu erzählen, ja jene Erzählung ordentlich abzurunden und ihr einen Schlußstein zu geben, den der Herr Dichter dort damals vermißte. Darf ich nun noch versichern, daß keine finstere Gewölber, keine Mordtaten und dergleichen fürder vorkommen werden, ja daß dagegen nach dem Wunsche der Damen von hinlänglich romantischer Liebe die Rede sein wird, so kann ich wohl auf einigen gerechten Beifall hoffen.« Alle applaudierten sehr und rückten schnell in einen engen Kreis zusammen. Euchar nahm den Rednerstuhl ein und begann ohne weiteres:

»Die seltsamen, zum Teil märchenhaften Kriegesabenteuer, welche Edgar bestand, während er mit den Guerillas focht, übergehe ich und bemerke nur, daß der Talisman, den ihm Don Rafaele Marchez bei dem Abschiede einhändigte, ein kleiner Ring mit geheimnisvollen Chiffern war, der ihn als einen in die geheimsten Bündnisse [521] Eingeweihten bezeichnete, ebendaher ihm aber überall bei den Kundigen das unbedingteste Vertrauen erwarb und ferner eine Gefahr, der ähnlich, der er in Valencia ausgesetzt gewesen, unmöglich machte. Später begab er sich zu den englischen Truppen und focht unter Wellington. Keine feindliche Kugel traf ihn mehr, frisch und gesund kehrte er nach dem beendigten Feldzuge in sein Vaterland zurück. Den Don Rafaele Marchez hatte er weder selbst wiedergesehen, noch von seinen Schicksalen weiter etwas vernommen. Längst war Edgar in seiner Vaterstadt, als ihm eines Tages der kleine Ring des Don Rafaele, den er beständig am Finger trug, auf besondere Weise abhanden gekommen war. Den andern Morgen in aller Frühe trat ein kleiner seltsamer Mensch ins Zimmer, hielt ihm den verlornen Ring vor Augen und fragte, ob es nicht der seinige sei. Sowie Edgar dies aber freundlich bejahte, rief der Mensch ganz außer sich auf spanisch: ›O Don Edgar, Ihr seid es – Ihr seid es, es ist gar kein Zweifel mehr!‹ Nun kamen Edgar des kleinen Menschen Gesichtszüge, seine Gestalt ins Gedächtnis zurück, es war Don Rafaeles treuer Diener, der mit dem Löwenmut der Verzweiflung Don Rafaeles Kind zu retten trachtete. ›Um aller Heiligen willen, Ihr seid der Diener des Don Rafaele Marchez! ich kenne Euch wieder – wo ist er? ha! eine seltsame Ahnung will sich bewähren!‹ So rief Edgar, doch der Kleine beschwor ihn, nur gleich mit ihm zu gehen!

Der Kleine führte Edgarn in die entfernteste Vorstadt, stieg mit ihm herauf bis zur Bodenkammer eines elenden Hauses. Welch ein Anblick! Siech, abgezehrt, alle Spuren des tötenden Grams auf dem todbleichen Antlitz, lag Don Rafaele Marchez auf einem Strohlager, vor dem ein Mädchen – ein Kind des Himmels, kniete! Sowie Edgar eintrat, stürzte das Mädchen auf ihn zu, riß ihn hin zu dem Alten, rief mit dem Ton des inbrünstigsten Entzückens: ›Vater – Vater, er ist es, nicht wahr, er ist es?‹ ›Ja‹, sprach der Alte, indem seine erloschenen Augen aufleuchteten,[522] und er mühsam die gefalteten Hände zum Himmel erhob, ›ja, er ist es, unser Retter! – O Don Edgar, wer hätt' es gedacht, daß die Flamme, die in mir aufglühte für Vaterland und Freiheit, sich verderblich gegen mich selbst richten sollte!‹

Nach den ersten Ausbrüchen des höchsten Entzückens, des tiefsten Schmerzes erfuhr Edgar, daß es der ausgedachtesten Bosheit der Feinde Don Rafaeles gelungen war, ihn nach hergestellter Ruhe der Regierung verdächtig zu machen, die das Verbannungsurteil über ihn aussprach und sein Vermögen konfiszierte. Er geriet in das tiefste Elend. Die fromme Tochter, der treue Diener ernährten ihn durch Gesang und Spiel.« – »Das ist Emanuele, das ist Biagio Cubas«, rief Ludwig laut, und alle riefen ihm durcheinander nach: »Ja ja, das ist Emanuele – das ist Cubas!«

Die Präsidentin gebot Ruhe, indem der Redner, wenn sich auch manches nach und nach aufzuklären scheine, doch nicht unterbrochen werden dürfe, vielmehr zum völligen Schluß der Geschichte kommen müsse. Übrigens glaube sie zu erraten, daß Edgar, sowie er die holde Emanuele erblickt, in die glühendste Liebe gekommen. »So ist es,« nahm Euchar das Wort, indem eine leichte Röte sein Gesicht überflog, »so ist es in der Tat. Schon früher, als er das wunderbare Kind schaute, durchbebten süße Ahnungen seine Brust, und das noch nie gekannte Gefühl der inbrünstigsten Liebe entzündete sein ganzes Wesen! – Edgar mußte, konnte helfen. Er brachte den Don Rafaele, Emanuelen sowie den treuen Cubas (ich selbst half das vermitteln) auf das Gut seines Oheims. Don Rafaeles Glücksstern schien nun wieder aufgehen zu wollen, denn bald darauf erhielt er einen Brief von dem frommen Vater Eusebio, in dem es hieß, daß die Brüder, bekannt mit den verborgenen Winkeln seines Hauses, den nicht unbeträchtlichen Schatz an Gold und Juwelen, den er vor seiner Flucht eingemauert, in das Kloster geborgen hätten, und [523] daß es nur darauf ankäme, ihn durch eine sichere Person abholen zu lassen. Edgar entschloß sich, augenblicklich mit dem treuen Cubas hinzureisen nach Valencia. Er sah seinen frommen Pfleger, den Vater Eusebio, wieder, Don Rafaeles Schatz wurde ihm ausgehändigt. Doch er wußte, daß wohl mehr als aller Reichtum dem Rafaele Marchez seine Ehre galt. Es gelang ihm, in Madrid der Regierung die völlige Unschuld Don Rafaeles darzutun, der Bann wurde aufgehoben.«

Die Türen gingen auf, hinein trat eine prächtig gekleidete Dame, hinter ihr ein alter Mann von hohem stolzen Ansehen. Die Präsidentin eilte ihnen entge gen, führte die Dame in den Kreis – alle waren von ihren Plätzen aufgestanden – und sprach: »Donna Emanuela Marchez, die Gemahlin unsers Euchar – Don Rafaele Marchez!«

»Ja,« sprach Euchar, indem die Seligkeit des gewonnenen Glücks aus seinen Augen leuchtete, auf seinen Wangen schimmerte in glühendem Rot, »ja, es blieb wirklich nur noch übrig zu sagen, daß der, den ich Edgar nannte, niemand anders ist als ich selbst.« Viktorine schloß die in dem mächtigsten Liebreiz strahlende Emanuela in die Arme, drückte sie heftig an ihre Brust, beide schienen sich schon zu kennen, Ludwig sprach aber, indem er einen etwas trüben Blick auf die Gruppe warf: »Das alles lag im Zusammenhang der Dinge!«


Die Freunde waren mit Sylvesters Erzählung zufrieden und stimmten vorzüglich darin überein, daß Euchars Schicksale in Spanien während des Befreiungskrieges, so episodisch sie eingeflochten schienen, doch der Kern des Ganzen wären und deshalb von guter Wirkung, weil alles darin auf wahrhaft historischer Basis beruhe.

»Es ist,« nahm Lothar das Wort, »es ist gar nicht zu bezweifeln, daß die Geschichte Eigentümliches darbietet, das der ohne Halt im Leeren schwebende Geist zu schaffen sich vergebens bemüht. Ebenso gibt das geschickte [524] Benutzen der historisch wahren Gebräuche, Sitten, herkömmlichen Gewohnheiten irgendeines Volkes oder einer besondern Klasse desselben der Dichtung eine besondere Lebensfarbe, die sonst schwer zu erlangen. Doch sag' ich ausdrücklich, das geschickte Benutzen, denn in der Tat, das Erfassen des geschichtlich Wahren, der Wirklichkeit in einer Dichtung, deren Begebnisse ganz der Phantasie angehören, ist nicht so leicht, als mancher wohl denken möchte, und erfordert allerdings ein gewisses Geschick, das nicht jedem eigen, und ohne welches statt einer frischen Lebendigkeit nur ein mattes schielendes Scheinleben zutage gefördert wird. So kenne ich Dichtungen, vorzüglich von schriftstellerischen Frauen, in denen man jeden Augenblick gewahrt, wie in jenen Farbentopf getunkt und doch am Ende nichts herausgebracht wurde, als ein wirres Gemengsel von bunten Strichen, da, wo es abgesehen war auf ein recht lebendiges Bild.«

»Ich gebe«, sprach Ottmar, »dir vollkommen recht, und nachdem ich flüchtig an einen gewissen Roman einer sonst genugsam geistreichen Frau gedacht, dem es trotz aller Pinselei aus jenem Farbentopfe durchaus an aller Lebendigkeit, an aller poetischen Wahrheit mangelt, und ihn schnell wieder vergessen, will ich dir nur sagen, daß gerade das Geschick, die Wirklichkeit, das geschichtlich Wahre aufzufassen, die Werke eines Dichters auszeichnen mag, der seit nicht gar langer Zeit unter uns bekannt worden. Ich meine den engländischen Walter Scott. Zwar las ich erst seinen ›Astrologen‹, aber – ex ungue leonem. – Gleich die Exposition in diesem Roman ist gegründet auf schottische Sitten, dem Lande eigentümliche Einrichtungen, aber ohne diese zu kennen, wird man von der frischen Lebendigkeit aller Gebilde ergriffen auf wunderbare Weise, und um so mehr ist diese Exposition durchaus meisterhaft zu nennen, als man, wie durch einen Zauberschlag, versetzt wird – ich bediene mich, da keine Frauen zugegen, eines zweiten lateinischen Ausspruchs – medias [525] in res. Dabei besitzt Scott eine seltene Kraft, mit wenigen starken Strichen seine Figuren so hinzustellen, daß sie alsbald lebendig herausschreiten aus dem Rahmen des Gemäldes und sich bewegen in dem eigentümlichsten Charakter. Scott ist eine herrliche Erscheinung in der englischen Literatur, er ist ebenso lebendig als Smollet, wiewohl viel klassischer und edler, doch fehlt ihm nach meiner Meinung das Brillantfeuer des tiefen Humors, der aus Sternes und Swifts Werken hervorblitzt.«

»Mir,« begann Vinzenz, »mir geht es zurzeit ebenso wie dir, Ottmar! Nur den ›Astrologen‹ allein habe ich von Scotts Werken gelesen, aber auch mich hat der originelle Roman gar sehr angesprochen, der in seinem methodischen Fortschreiten einem Knäuel zu vergleichen, der ruhig abgewickelt wird, und dessen festgesponnener Faden niemals reißt. Was mir zu tadeln, aber recht aus der englischen Lebensweise hervorzugehen scheint, ist, daß, außer der in der Tat erhaben grauenhaften Zigeunerin, die jedoch nicht sowohl ein Weib als eine gespenstische Erscheinung zu nennen, die Weiber flach und blaß gehalten sind. Die beiden Mädchen im ›Astrologen‹ gemahnen mich an die Frauenzimmer auf den englischen kolorierten Kupferstichen in punktierter Manier, die sich alle ähnlich, das heißt, ebenso hübsch als ganz bedeutungslos sind, und denen man es ansieht, daß aus dem kleinen zugespitzten Mündchen nichts weiter hervorzukommen wagt, als das unschuldigste: ›Ja, Ja‹ und ›Nein, Nein‹, da alles übrige vom Übel. Hogarths Milchverkäuferin ist der Prototypus aller dieser Geschöpflein. Es fehlt jenen beiden Mädchen der eigentliche Geist, der göttlich belebende Atem.«

»Möchte man«, sprach Theodor, »nicht dagegen den Weibern eines unserer geistreichsten Dichter, vorzüglich wie sie in ältern Werken vorkommen, etwas mehr Körper wünschen, da sie oft im Anschauen zerfließen zu Nebelgebilden? – Nun, wir wollen dennoch beide, diesen heimischen Dichter sowie jenen fremden, deshalb recht [526] hoch ehren und lieben, weil sie Wahres und Herrliches schaffen.«

»Sehr merkwürdig«, nahm Sylvester das Wort, »ist es doch, daß, irre ich nicht, mit Walter Scott beinahe zu gleicher Zeit ein engländischer Dichter auftrat, der in ganz anderer Tendenz das Große, Herrliche leistet. Es ist Lord Byron, den ich meine, und der mir kräftiger und gediegener scheint als Thomas Moore. Seine ›Belagerung von Korinth‹ ist ein Meisterwerk voll der lebendigsten Bilder, der genialsten Gedanken. Vorherrschend soll sein Hang zum Düstern, ja Grauenhaften und Entsetzlichen sein, und seinen ›Vampir‹ hab' ich gar nicht lesen mögen, da mir die bloße Idee eines Vampirs, habe ich sie richtig aufgefaßt, schon eiskalte Schauer erregt. Soviel ich weiß, ist ein Vampir nämlich nichts anders als ein lebendiger Toter, der Lebendigen das Blut aussaugt.«

»Hoho,« rief Lothar lachend, »ein Dichter wie du, mein teurer Freund Sylvester, muß wohl bewandert sein in allen möglichen Zauber- und Hexengeschichten und andern Teufeleien, ja, sich selbst was weniges auf das Zaubern und Hexen verstehen, da solches zu manchem Dichten und Trachten nützlich. Was nun insonderheit den Vampirismus betrifft, so will ich dir, damit du meine ungemeine Belesenheit in derlei Dingen erkennen mögest, gleich ein anmutiges Werklein anführen, aus dem du dich auf das vollständigste über diese dunkle Materie belehren kannst. Der vollständige Titel dieses Werkleins heißt: M. Michael Ranfts, Diaconi zu Nebra ›Traktat von dem Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern, worin die wahre Beschaffenheit derer Hungarischen Vampirs und Blutsauger gezeigt, auch alle von dieser Materie bisher zum Vorschein gekommene Schriften rezensiert werden.‹ – Schon dieser Titel wird dich von der Gründlichkeit des genannten Werks überzeugen, und du wirst daraus entnehmen, daß ein Vampir nichts anders ist, als ein verfluchter Kerl, der sich als Toter einscharren läßt und demnächst aus [527] dem Grabe aufsteigt und den Leuten im Schlafe das Blut aussaugt, die dann auch zu Vampirs werden, so daß nach den Berichten aus Ungarn, die der Magister beibringt, sich die Bewohner ganzer Dörfer umsetzten in schändliche Vampirs. Um einen solchen Vampir unschädlich zu machen, muß er ausgegraben, ihm ein Pfahl durchs Herz geschlagen und der Körper zu Asche verbrannt werden. Diese scheußlichen Kreaturen erscheinen oft nicht in eigner Gestalt, sondern en masque. So heißt es, wie ich mich sehr lebhaft erinnere, in einem Briefe, den ein Offizier aus Belgrad an einen berühmten Doktor nach Leipzig schrieb, um sich nach der eigentlichen Natur des Vampirismus zu erkundigen, ungefähr: ›In dem Dorfe, Kinklina genannt, hat es sich zugetragen, daß zwei Brüder von einem Vampir geplaget worden, weswegen einer um den andern gewachet, da es denn wie ein Hund die Türe geöffnet, auf Anschreien aber gleich wieder davongelaufen, bis endlich einmal beide eingeschlafen, da es denn dem einen in einem Augenblick einen roten Fleck unter dem rechten Ohr gesauget, worauf er denn in drei Tagen davon gestorben.‹ Zum Schluß sagt der Offizier: ›Weil man nun hier ein ungemeines Wunder daraus machet, als unterstehe mich, Dero Partikular-Meinung mir gehorsamer auszubitten, ob solches sympathetischer, teuflischer oder astralischer Geister Wirkung sei, der ich mit vieler Hochachtung verharre etc.‹ Nimm dir ein Beispiel an diesem wißbegierigen Offizier. – Jetzt fällt mir sogar sein Name ein; es war der Fähndrich des Prinz Alexandrinischen Regiments, Sigismund Alexander Friedrich von Kottwitz. Überhaupt beschäftigte sich damals das Militär ganz ungemein mit dem Vampirismus. Eben in Magister Ranfts Werk befindet sich nämlich ein in gerichtlicher Form von Regimentsärzten in Gegenwart zweier Offiziere eben jenes Alexandrinischen Regiments aufgenommener Akt über die Auffindung und Vernichtung eines Vampirs. Unter andern heißt es in diesem Akt: ›Weil sie nun daraus ersehen, daß er ein [528] wirklicher Vampir sei, so haben sie demselben einen Pfahl durchs Herz geschlagen, wobei er einen wohlvernehmlichen Gächzer getan und häufiges Geblüte von sich gelassen.‹ – Ist das nicht merkwürdig und lehrreich zugleich?« »Es mag,« erwiderte Sylvester, »es mag sich das alles im Magister Ranft nur abenteuerlich oder vielmehr aberwitzig ausnehmen, indessen erscheint, hält man sich an die Sache selbst, ohne den Vortrag zu beachten, der Vampirismus als eine der furchtbar grauenhaftesten Ideen, ja, das furchtbar Grauenhafte dieser Idee artet aus ins Entsetzliche, scheußlich Widerwärtige.«

»Und,« fiel Cyprian dem Freunde ins Wort, »und demunerachtet kann aus dieser Idee ein Stoff hervorgehen, der von einem phantasiereichen Dichter, dem poetischer Takt nicht fehlt, behandelt, die tiefen Schauer jenes geheimnisvollen Grauens erregt, das in unserer eigenen Brust wohnt und, berührt von den elektrischen Schlägen einer dunkeln Geisterwelt, den Sinn erschüttert, ohne ihn zu verstören. Eben der richtige poetische Takt des Dichters wird es hindern, daß das Grauenhafte nicht ausarte ins Widerwärtige und Ekelhafte; das dann aber meistenteils zugleich aberwitzig genug erscheint, um auch die leiseste Wirkung auf unser Gemüt zu verfehlen. Warum sollte es dem Dichter nicht vergönnt sein, die Hebel der Furcht, des Grauens, des Entsetzens zu bewegen? Etwa weil hie und da ein schwaches Gemüt dergleichen nicht verträgt? Soll starke Kost gar nicht aufgetragen werden, weil einige am Tische sitzen, die schwächlicher Natur sind oder sich den Magen verdorben haben?«

»Es bedarf,« nahm Theodor das Wort, »es bedarf deiner Apologie des Grauenhaften gar nicht, mein lieber phantastischer Cyprianus! Wir wissen ja alle, wie wunderbar die größten Dichter vermöge jener Hebel das menschliche Gemüt in seinem tiefsten Innern zu bewegen wußten. Man darf ja nur an Shakespeare denken! – Und wer verstand sich auch darauf besser, als unser herrliche Tieck [529] in mancher seiner Erzählungen. Ich will nur des ›Liebeszaubers‹ erwähnen. Die Idee dieses Märchens muß in jeder Brust eiskalte Todesschauer, ja der Schluß das tiefste Entsetzen erregen, und doch sind die Farben so glücklich gemischt, daß trotz alles Grauens und Entsetzens uns doch der geheimnisvolle Zauberreiz des Tragischen befängt, dem wir uns willig und gern hingeben. Wie wahr ist das, was Tieck seinem Manfred in den Mund legt, um die Einwürfe der Frauen gegen das Schauerliche in der Poesie zu widerlegen. Ja, wohl ist das Entsetzliche, was sich in der alltäglichen Welt begibt, eigentlich dasjenige, was die Brust mit unverwindlichen Qualen foltert, zerreißt. Ja, wohl gebärt die Grausamkeit der Menschen, das Elend, was große und kleine Tyrannen schonungslos mit dem teuflischen Hohn der Hölle schaffen, die echten Gespenstergeschichten. Und wie schön sagt nun der Dichter: ›In dergleichen märchenhaften Erfindungen aber kann ja dieses Elend der Welt nur wie von muntern Farben gebrochen hineinspielen, und ich dächte, auch ein nicht starkes Auge müßte es auf diese Weise ertragen!‹« – »Oft schon«, sprach Lothar, »gedachten wir des tiefen genialen Dichters, dessen Anerkennung in seiner ganzen hohen Vortrefflichkeit der Nachwelt vorbehalten bleibt, während schnell aufflackernde Irrlichter, die mit erborgtem Glanz das Auge im Augenblick zu blenden vermochten, ebenso schnell wieder verlöschen. – Übrigens meine ich, daß die Phantasie durch sehr einfache Mittel aufgeregt werden könne, und daß das Grauenhafte oft mehr im Gedanken als in der Erscheinung beruhe. Kleists ›Bettelweib von Lokarno‹ trägt für mich wenigstens das Entsetzlichste in sich, was es geben mag, und doch, wie einfach ist die Erfindung! – Ein Bettelweib, das man mit Härte hinter den Ofen weiset, wie einen Hund, und das, gestorben, nun jeden Tag über den Boden wegtappt und sich hinter den Ofen ins Stroh legt, ohne daß man irgend etwas erblickt! – Doch ist es auch freilich die wunderbare Färbung des 530 [530] Ganzen, welche so kräftig wirkt. Kleist wußte in jenen Farbentopf nicht allein einzutunken, sondern auch, die Farben mit der Kraft und Genialität des vollendeten Meisters auftragend, ein lebendiges Bild zu schaffen wie keiner. Er durfte keinen Vampir aus dem Grabe steigen lassen, ihm genügte ein altes Bettelweib.« – »Es ist,« nahm Cyprian das Wort, »es ist mir bei dem Gespräch über den Vampirismus eine gräßliche Geschichte eingefallen, die ich vor langer Zeit entweder las oder hörte. Doch glaube ich beinahe das letztere, denn wie ich mich erinnere, setzte der Erzähler hinzu, daß die Geschichte sich wirklich zugetragen, und nannte die gräfliche Familie und das Stammhaus, wo sich alles begeben. Sollte die Geschichte dennoch gedruckt und euch bekannt sein, so fallt mir nur gleich in die Rede, denn es gibt nichts Langweiligeres, als sich längst bekannte Dinge auftischen zu lassen.« – »Ich merke,« sprach Ottmar, »daß du wieder etwas sehr Tolles und Greuliches zu Markte bringen wirst; denke wenigstens an den heiligen Serapion, sei so kurz, als du nur vermagst, um unsern Vinzenz zu Worte kommen zu lassen, der, wie ich merke, schon ungeduldig darauf harrt, uns das längst versprochene Märchen mitzuteilen.«

»Still, still«, rief Vinzenz. »Nichts Besseres kann ich mir wünschen, als daß Cyprian einen rechten schwarzen Teppich als Hintergrund aufhänge, auf dem dann die mimisch-plastische Darstellung meiner bunten und, wie ich meine, genugsam bocksspringenden Figuren sich ganz hübsch ausnehmen muß. Darum beginne, o mein Cyprianus, und sei düster, schrecklich, ja entsetzlich, trotz dem vampirischen Lord Byron, den ich nicht gelesen.«

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TextGrid Repository (2012). Hoffmann, E. T. A.. Erzählungen, Märchen und Schriften. Die Serapionsbrüder. Vierter Band. Achter Abschnitt. Der Zusammenhang der Dinge. Der Zusammenhang der Dinge. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6B09-5