[268] Vorbitte für einer armen Witwe
an das Dohmcapitul zu Halberstadt

Seyd mir gegrüßt, ihr Herren von dem Dohm!
Ehrwürdiger, als ehedem zu Rom,
Der Consul und Senat die Völker auszurüsten
Ins Capitol geeilt, um Nachbarn zu verwüsten;
Seyd mir gesegneter, als Herren zu Paris,
Die Ludewig versammlen ließ,
Im grossen Parlament, um alles Volk zu schätzen,
Den Krieg mit Nachdruck fortzusetzen;
Heil sey euch! mehr, als in dem kalten Norden
Den Ständen, die gemacht, daß Friedrichs naher Freund
In seiner Schwester Arm, ein Feind
Trotz seines Herzens ist geworden;
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Ich grüß euch mit dem besten Gruß,
Der einem Menschen-Freund gebühret;
Und meine Muse bringt vor euch ein Weib geführet,
Vom Grabe hergewankt, worauf sie weinen muß.
Ihr Mann war euer Syndicus!
Er starb im Sommer seiner Jahre,
Noch langes Leben sah' aus seinem Angesicht;
Ihn brach der Tod, wie Sturm die grade Tanne bricht,
Er fiel! die Wittwe raufte nicht,
Bey seiner ihr zu frühen Bahre
Aus tobendem Gefühl die Haare,
Sie schlug sich nicht an ihre Brust;
Nein, von zu grossen Schmerz durchdrungen
War sie erstarrt, sich selber nicht bewußt,
Denn ihr Verlust war nicht mit Zungen
Genug zu klagen, ach! die stumme Traurigkeit
Ward noch von Dichtern nicht gesungen,
Von Rednern nicht gesagt. Sie ist ein nagend Leid
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Und bricht gewaltiger hervor nach kurzer Zeit;
Sie strömt in ganzer Thränen-Quelle,
Die je ein Auge weinen kann;
Ein nahmenloser Gram liegt vor dem todten Mann
Am Herzen dieser Frau. Er wird ihr Schlafgeselle;
Der Mangel sitzt auf ihrer Schwelle;
Ihn, und acht Kinder sieht sie an,
So bald die Sonne blickt, die eher noch erscheinet,
Als diese Mutter Brodt für ihre Kinder hat.
Sie netzt den Flachs, indem sie weinet,
Spinnt, und verkauft das Garn dem Händler in der Stadt.
O der Verdienst macht kaum zween kleine Magen satt!
Er kleidet nicht den Sohn, den noch auf ihren Armen
Die Amme tragen muß. Er fodert das Erbarmen
Mit stammelnder Gewalt von dem, der fühlen kann.
Seht dies verlaßne Kind, seht diese Mutter an,
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Und gebt ihr einen Theil von dem, was der erworben
Der euch gedient, und ihr zu bald gestorben!
Ihr thuts, ihr seht herab, als wie der Menschenfreund,
Ein Engel niedersieht, wenn der Verlaß'ne weint.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Karsch, Anna Louisa. Gedichte. Auserlesene Gedichte. Vermischte Gedichte. Erstes Buch. Vorbitte für einer Witwe an das Dohmcapitul zu Halberstadt. Vorbitte für einer Witwe an das Dohmcapitul zu Halberstadt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8E78-D