Friedrich Maximilian Klinger
Vorrede zu den Romanen

[7] Ich wagte in den folgenden Bänden, was, so viel mir bekannt ist, kein Schriftsteller vor mir gewagt hat, ich faßte den wenigstens kühnen Entschluß, auf einmal den Plan zu zehen ganz verschiednen Werken zu entwerfen, und zwar so, daß jedes derselben ein für sich bestehendes Ganze ausmachte und sich am Ende doch alle zu einem Hauptzweck vereinigten.

Diese so sehr verschiednen Werke sollten meine aus Erfahrung und Nachdenken entsprungene Denkungsart über die natürlichen und erkünstelten Verhältnisse des Menschen enthalten, dessen ganzes moralische Dasein umfassen und alle wichtige Seiten desselben berühren. Gesellschaft, Regierung, Religion, Wissenschaften, hoher idealischer Sinn, die süßen Träume einer andern Welt, die schimmernde Hoffnung auf reinres Dasein über dieser Erde sollten in ihrem Werte und Unwerte, in ihrer richtigen Anwendung und ihrem Mißbrauche aus den aufgestellten Gemälden hervortreten, die natürlich ebenso vielseitig werden mußten, als sie sich uns in der moralischen Welt durch ihren schneidenden Kontrast auffallend darstellen. Daher nun der bloß scheinbare Widerspruch dieser Werke unter- und gegeneinander, welcher manchen Leser irreleiten könnte; und darum scheint oft das folgende Werk niederzureißen, was das vorhergehende so sorgfältig aufgebaut hat. Beides ist hier Zweck; und da uns die moralische Welt in der Wirklichkeit so viele verschiedne, oft bis zur Empörung widersprechende Seiten zeigt, so mußte eine jede, weil jede in der gegebenen Lage die wahre ist, so und nicht anders aufgefaßt werden. Hier nun muß die Erfahrung und nicht die Theorie das Urteil sprechen; denn die Widersprüche selbst zu vereinigen oder das Rätsel selbst zu lösen, geht über unsre Kräfte, sollte und mußte über unsre Kräfte gehen. Auch dieses sollte hervorspringen. Wie es übrigens in der Welt, die wir die moralische nennen, hergehen sollte, habe ich nicht unterlassen anzuzeigen, und meine frommen Wünsche darüber liegen so klar am Tage wie die jedes andern Gutmeinenden; auch werden sie wohl das Schicksal aller frommen Wünsche haben. Doch Wahrheit und Mut sind des Mannes herrlichster Wert, und darum stellte ich den Menschen in diesen Werken [7] bald in seiner glänzendsten Erhabenheit, in seinem idealischsten Schwünge, bald wieder in seiner tiefsten Erniedrigung, seiner flachsten Erbärmlichkeit auf. Hier leuchtet ihm die Tugend vor, das einzige wahre Bild der Gottheit, durch welches sie sich uns allein offenbarte; dort folgt er dem trugvollen, täuschenden bunten Götzen, dem Wahne, den er selbst geschaffen hat. Und so findet der Leser in diesen Werken den rastlosen, kühnen, oft fruchtlosen Kampf des Edeln mit den von diesem Götzen erzeugten Gespenstern; die Verzerrungen des Herzens und des Verstandes; die erhabenen Träume; den tierischen, verderbten, den reinen und hohen Sinn; Heldentaten und Verbrechen; Klugheit und Wahnsinn; Gewalt und seufzende Unterwerfung; und, um es mit einem Worte zu bezeichnen, die ganze menschliche Gesellschaft mit ihren Wundern und ihren Torheiten, ihren Scheußlichkeiten und ihren Vorzügen; aber auch das in jedem dieser Werke vorzüglich bemerkte Glück der natürlichen Einfalt, Beschränktheit und Gnügsamkeit, auf welche hinzudeuten ich nirgends unterlassen habe. Ist das Streben des Edeln und Guten etwas anders als ein immerwährendes Ringen nach dem Glücke, das uns die Natur zudachte! Freilich ist die Forderung des Weisen an diese unsre Gnügsamkeit, Unterwerfung, Geduld und Beschränktheit eins der Dinge, woraus sich gar vieles folgern ließe, und man möchte beinahe sagen, die Weisen suchten mehr durch diese Vermahnung den so sehr verwickelten Handel von sich abzulehnen als ihn zu entscheiden; aber wenn nun selbst die Weisen nicht mehr als dieses vermögen? Wir, die wir den Glauben (mit dem wir es nicht zu tun haben), den Heilbalsam der heutigen Philosophie, weder brauchen wollten noch konnten, wir mußten nach völliger Anerkennung der allgewaltigen Notwendigkeit unsre verwickelten Darstellungen endlich und zu allerletzt auf die Fragen (von welchen wir in den ersten ausgingen) zurückführen: Warum? Wozu? Wofür? Wohin? Wir ließen sie den Genius der Menschheit selbst tun; er erhielt keine Antwort, vermutlich darum, weil eine zu klare dem diesem Genius untergeordneten Geschlechte doch zu nichts nützen würde, wenn es dasselbe nicht gar um alle Selbständigkeit und dadurch um allen [8] Wert brächte. In diesem düsteren Dunkel, das der Widerschein des von der Erde entferntesten Gestirns kaum zu berühren scheint, steht das Wunder um so erhabener da; so wie uns der gewaltige nackende Felsen am Meer nie größer erscheint, als wenn wir ihn, in die Nacht des Sturms gehüllt, auf Augenblicke von den Blitzen des Himmels erleuchtet sehen.

So steht nun das ganze Menschengeschlecht in seiner Größe, Herrlichkeit und Erhabenheit, in seiner Niedrigkeit, Torheit und Erbärmlichkeit, mit allen hohen Tugenden, Eigenschaften und Fähigkeiten, seinen scheußlichen Lastern, widrigen Verzerrungen und dem ganzen Gefolge aller Mißbräuche seiner Fähigkeiten auf diesem so wunderbaren, sonderbaren als schaudervollen Schauplatze, und über dem Schauplatze herrscht tiefes, zermalmendes Schweigen auf alle obige Fragen, das nur der Träge, Feige, Niedrige und Schlechte mißversteht und mißbraucht, da nichts diese Fragen beantwortet als unsre moralische Kraft, und auch sie nur ganz durch reines tätiges Wirken. Denn nur eben dieses Schweigen konnte die moralische Welt zu unserm erworbenen Eigentum und durch das Erwerben zum verdienten Genuß der Erkenntnis des errungenen Zwecks unsers Daseins machen. Unser immer geistiger Sinn sollte uns durch unser moralisches Wirken zu eigner, wahrer, faßlicher Offenbarung werden; und daß wir dies nur daraus erkennen, nur darin den Zweck unsers Daseins fanden, finden könnten und sollten, macht eben den sonst nur mit unerforschlichen Geheimnissen, unauflöslichen Rätseln, peinigenden Zweifeln, mit Furcht, Qual, Unsicherheit und Ungewißheit von der Geburt umgebenen und umschlungenen Sohn der Erde zum Wundersohn einer höhern, unbegreiflichen Schöpfung. So findet der tätige Edle, Gute und Weise in diesem Leben, welches die Erscheinungen der Welt sonst zur unauflöslichen Aufgabe machen, einen Lichtweg zu erhabenen Gedanken, hohen Gefühlen, schönen Taten und knüpft durch jeden erhabenen Gedanken, jedes hohe Gefühl, jede schöne Tat die Verbindung mit dem Erhabensten, dem Unbegreiflichen fester, der sich ihm durch Tat – also durch die Fähigkeit, so denken, so fühlen und wirken zu können – so deutlich offenbaret[9] hat, daß er, durch sein Denken, Wirken, durch die Ahndungen einer geistigen, höhern Welt und das Sehnen nach ihr beseelt, sich selbst mutig und hoffnungsvoll in unabhängiger Selbständigkeit auf diesem geheimnisvollen Schauplatz der Erde trägt, tragen kann und soll. Und auch nur so beweist er, daß ihn ein wirkender, schaffender Geist beseelt, daß er dieses selbst ist und frei – würdig seines Urhebers – die Gewalt der physischen Notwendigkeit allein anerkennend.

Sapienti sat! – Wird man es mir nach dieser Äußrung verargen, wenn ich mich mit einem alten, kahlen Spruche von diesem Schlachtfelde zurückziehe? Ich glaube den Kampf so redlich als mutig geführt zu haben, wende ihm unverletzt den Rücken und erwarte den glücklichern Sieger auf diesem gefährlichen, schlüpfrigen Felde, welches, um kühn zu reden, keine körperlichen Leichname, sondern feige, trauernde, mißmutige, klagende und verzweifelnde Geister bedecken. Mir gelang es auf meinem Wege, mich darüber emporzuheben.

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TextGrid Repository (2012). Klinger, Friedrich Maximilian. Vorrede zu den Romanen. Vorrede zu den Romanen. Vorrede zu den Romanen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B292-3