200. Prinzeßin Ilse.

Mündlich.

1.

Auf dem Ilsenstein lebte vor langen Jahren ein Ritter, der hatte eine wunderschöne Tochter, Namens Ilse,[176] die liebte den Ritter, der in der Burg auf dem gegenüberliegenden Westerberg wohnte. Damals aber waren die beiden Berge noch nicht durch das jetzt dazwischenliegende Thal getrennt. Der Vater der Prinzeßin Ilse wollte nun aber eine Heirat zwischen den beiden nicht zugeben, und da sie sich deßen ungeachtet beide fast täglich sahen, schlug er, der ein gewaltiger Riese war, die Felsen mitten durch, daß das Thal entstand. Da stürzte sich Ilse verzweiflungsvoll hinab in den unten brausenden Fluß und gab ihm den Namen, und seitdem erscheint sie nun oft in langem weißen Gewande mit breitem schwarzen Hut und man heißt sie nur schlechthin die Junfer. In früherer Zeit sah man sie jeden Morgen zu einem Steine bei der zweiten Ilsebrücke hinabsteigen, in dem war eine große Vertiefung, in welcher auch beim trockensten Wetter Waßer stand, und darin wusch sie sich. Jetzt ist der Stein aber fortgeschafft und da erscheint sie denn auch nicht mehr im Thale. Zum letztenmale soll sie sich vor dreihundert Jahren und zwar an einem Himmelfahrtstage haben sehen laßen, darum hat man auch lange Zeit an diesem Tage dort ein Fest gefeiert, zu dem die Leute weit und breit aus der ganzen Umgegend zusammengekommen sind, wobei denn zugleich ein Markt gehalten wurde. Es sind auch dabei zwei Musikchöre auf den Ilsenstein und auf den Westerberg, in dem der verzauberte Prinz sitzt, gezogen, die haben dort schöne Musik gemacht; jetzt aber ist das Fest mehr und mehr in Abnahme gekommen, und man musicirt nur noch an diesem Tage im Gasthofe zu den Forellen. Allgemein aber glaubt man, daß die Prinzeßin an einem Himmelfahrtstage gen Himmel fahren werde, und noch vor wenigen Jahren haben die Bauern von Stunde zu Stunde darauf geharrt. – Man hält auch in Ilseburg den Himmelfahrtstag [177] so heilig, daß man glaubt, wer an ihm etwas nähe oder flicke, der werde vom Blitz erschlagen.

2.

Ein Schäfer treibt einmal mit seiner Heerde über den Ilsestein fort und ruht dabei, auf seine Keule gestützt, an einem Spring ein wenig aus, da öffnet sich auf einmal der Berg, denn in seiner Keule war, ohne daß er's wußte, eine Springwurzel, und vor ihm steht die Prinzeßin. Die heißt ihn folgen, und als er drinnen ist, sagt sie ihm, er solle soviel von dem Golde nehmen, als er nur wolle; der Schäfer steckt sich auch alle Taschen voll, und als er nun genug hat, will er gehn; da ruft die Prinzeßin: »Vergiß das beste nicht,« und da er denkt, sie meine, er habe noch nicht genug, füllt er auch noch den Hut; sie meinte aber seine Keule mit der Springwurzel, die er gleich beim Eintritt an die Wand gestellt hatte. Als er nun aber hinausgehen will, da schlägt die Klippe plötzlich zu und schlägt ihn mitten durch.

3.

Einem Heijungen (Pferdejungen) waren einmal ein Paar Pferde fortgelaufen und wie er nun ausgeht, um sie zu suchen, und sich dabei am Ilsestein hinsetzt und weint, daß er sie nicht finden kann, öffnet sich auf einmal der Berg und vor ihm steht die Prinzeßin und fragt ihn, weshalb er weine. Da klagt er ihr sein Leid und sie heißt ihn folgen. Darauf gehn sie in den Berg hinein und kommen in einen großen Stall, darin stehn eine Menge Pferde und auch seine Braunen, die er suchte. Da war er gar froh und wollte sie hinausführen. Die Prinzeßin sagte ihm aber, er könne sie nicht wieder bekommen; indeß wolle sie ihm soviel Gold dafür geben, daß er wohl hundert andre dafür kaufen könne. Und damit [178] füllt sie ihm sein Ränzel, befiehlt ihm aber, es nicht eher zu öffnen, als bis er über die dritte Ilsebrücke fort sei. Er war aber ein neugieriger Bursche und wollte gern wißen, wieviel sie ihm gegeben, und als er an die zweite Brücke kömmt, kann er es nicht länger aushalten, öffnet das Ränzel und – findet nichts als Pferdemist darin. Was, denkt er, sollst du damit, und schüttet alles in die Ilse; aber da geht's kling kling! da sieht er schnell nach, ob nicht noch etwas im Ränzel geblieben, und da saß auch noch etwas, das sind lauter Pistolen gewesen.


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TextGrid Repository (2012). Kuhn, Adalbert. 200. Prinzeßin Ilse. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-C933-B