[1.]

Palmström

Palmström steht an einem Teiche
und entfaltet groß ein rotes Taschentuch:
Auf dem Tuch ist eine Eiche
dargestellt, sowie ein Mensch mit einem Buch.
Palmström wagt nicht sich hineinzuschneuzen –
er gehört zu jenen Käuzen,
die oft unvermittelt-nackt
Ehrfurcht vor dem Schönen packt.
Zärtlich faltet er zusammen,
was er eben erst entbreitet.
Und kein Fühlender wird ihn verdammen,
weil er ungeschneuzt entschreitet.

Das böhmische Dorf

Palmström reist, mit einem Herrn v. Korf,
in ein sogenanntes Böhmisches Dorf.
Unverständlich bleibt ihm alles dort,
von dem ersten bis zum letzten Wort.
Auch v. Korf (der nur des Reimes wegen
ihn begleitet) ist um Rat verlegen.
Doch just dieses macht ihn blaß vor Glück.
Tiefentzückt kehrt unser Freund zurück.
Und er schreibt in seine Wochenchronik:
Wieder ein Erlebnis, voll von Honig!

[279] Nach Norden

Palmström ist nervös geworden;
darum schläft er jetzt nach Norden.
Denn nach Osten, Westen, Süden
schlafen, heißt das Herz ermüden.
(Wenn man nämlich in Europen
lebt, nicht südlich in den Tropen.)
Solches steht bei zwei Gelehrten,
die auch Dickens schon bekehrten –
und erklärt sich aus dem steten
Magnetismus des Planeten.
Palmström also heilt sich örtlich,
nimmt sein Bett und stellt es nördlich.
Und im Traum, in einigen Fällen,
hört er den Polarfuchs bellen.

Westöstlich

Als er dies v. Korf erzählt,
fühlt sich dieser leicht gequält;
denn für ihn ist Selbstverstehung,
daß man mit der Erdumdrehung
schlafen müsse, mit den Pfosten
seines Körpers strikt nach Osten.
Und so scherzt er kaustisch-köstlich:
Nein, mein Diwan bleibt – westöstlich!

[280] Bildhauerisches

Palmström haut aus seinen Federbetten,
sozusagen, Marmorimpressionen:
Götter, Menschen, Bestien und Dämonen.
Aus dem Stegreif faßt er in die Daunen
des Plumeaus und springt zurück, zu prüfen,
leuchterschwingend, seine Schöpferlaunen.
Und im Spiel der Lichter und der Schatten
schaut er Zeuse, Ritter und Mulatten,
Tigerköpfe, Putten und Madonnen ...
träumt: wenn Bildner all dies wirklich schüfen,
würden sie den Ruhm des Alters retten,
würden Rom und Hellas übersonnen!

Die Kugeln

Palmström nimmt Papier aus seinem Schube.
Und verteilt es kunstvoll in der Stube.
Und nachdem er Kugeln draus gemacht.
Und verteilt es kunstvoll, und zur Nacht.
Und verteilt die Kugeln so (zur Nacht),
daß er, wenn er plötzlich nachts erwacht,
daß er, wenn er nachts erwacht, die Kugeln
knistern hört und ihn ein heimlich Grugeln
packt (daß ihn dann nachts ein heimlich Grugeln
packt) beim Spuk der packpapiernen Kugeln ...

[281] Lärmschutz

Palmström liebt sich in Geräusch zu wickeln,
teils zur Abwehr wider fremde Lärme,
teils um sich vor drittem Ohr zu schirmen.
Und so läßt er sich um seine Zimmer
Wasserröhren legen, welche brausen.
Und ergeht sich, so behütet, oft in
stundenlangen Monologen, stunden–
langen Monologen, gleich dem Redner
von Athen, der in die Brandung brüllte,
gleich Demosthenes am Strand des Meeres.

Der vorgeschlafene Heilschlaf

Palmström schläft vor zwölf Experten
den berühmten Schlaf vor Mitternacht,
seine Heilkraft zu erhärten.
Als er, da es zwölf, erwacht,
sind die zwölf Experten sämtlich müde.
Er allein ist frisch wie eine junge Rüde!

Zukunftssorgen

Korf, den Ahnung leicht erschreckt,
sieht den Himmel schon bedeckt
von Ballonen jeder Größe
und verfertigt ganze Stöße
von Entwürfen zu Statuten
eines Klubs zur resoluten
Wahrung der gedachten Zone
vor der Willkür der Ballone.
[282]
Doch er ahnt schon, ach, beim Schreiben
seinen Klub im Rückstand bleiben:
dämmrig, dünkt ihn, wird die Luft
und die Landschaft Grab und Gruft.
Er begibt sich drum der Feder,
steckt das Licht an (wie dann jeder),
tritt damit bei Palmström ein,
und so sitzen sie zu zwein.
Endlich, nach vier langen Stunden,
ist der Albdruck überwunden.
Palmström bricht zuerst den Bann:
Korf, so spricht er, sei ein Mann!
Du vergreifst dich im Jahrzehnt:
Noch wird all das erst ersehnt,
was, vom Geist dir vorgegaukelt,
heut dein Haupt schon überschaukelt.
Korf entrafft sich dem Gesicht.
Niemand fliegt im goldnen Licht!
Er verlöscht die Kerze schweigend.
Doch dann, auf die Sonne zeigend,
spricht er: Wenn nicht jetzt, so einst –
kommt es, daß du nicht mehr scheinst,
wenigstens nicht uns, den – grausend
sag ich's –: Unteren Zehntausend! ...
Wieder sitzt v. Korf danach
stumm in seinem Schreibgemach
und entwirft Statuten eines
Klubs zum Schutz des Sonnenscheines.

[283] Das Warenhaus

Palmström kann nicht ohne Post
leben:
Sie ist seiner Tage Kost.
Täglich dreimal ist er ganz
Spannung.
Täglich ist's der gleiche Tanz:
Selten hört er einen Brief
plumpen
in den Kasten breit und tief.
Düster schilt er auf den Mann,
welcher,
wie man weiß, nichts dafür kann.
Endlich kommt er drauf zurück:
auf das:
»Warenhaus für Kleines Glück«.
Und bestellt dort, frisch vom Rost,
(quasi):
ein Quartal – »Gemischte Post«!
Und nun kommt von früh bis spät
Post von
aller Art und Qualität.
Jedermann teilt sich ihm mit,
brieflich,
denkt an ihn auf Schritt und Tritt.
Palmström sieht sich in die Welt
plötzlich
überall hineingestellt ...
[284]
Und ihm wird schon wirr und weh ...
Doch es
ist ja nur das – »W.K.G.«

Bona Fide

Palmström geht durch eine fremde Stadt ...
Lieber Gott, so denkt er, welch ein Regen!
Und er spannt den Schirm auf, den er hat.
Doch am Himmel tut sich nichts bewegen,
und kein Windhauch rührt ein Blatt.
Gleichwohl darf man jenen Argwohn hegen.
Denn das Pflaster, über das er wandelt,
ist vom Magistrat voll List – gesprenkelt.
Bona fide hat der Gast gehandelt.

Sprachstudien

Korf und Palmström nehmen Lektionen,
um das Wetter-Wendische zu lernen.
Täglich pilgern sie zu den modernen
Ollendorffschen Sprachlehrgrammophonen.
Dort nun lassen sie mit vielen andern,
welche gleichfalls steile Charaktere,
(gleich als ob's ein Ziel für Edle wäre),
sich im Wetter-Wendischen bewandern.
Dies Idiom behebt den Geist der Schwere,
macht sie unstet, launisch und cholerisch ...
Doch die Sache bleibt nur peripherisch.
Und sie werden wieder – Charaktere.

[285] Theater

Palmström denkt sich Dieses aus:
Ein quadratisch Bühnenhaus,
mit (v. Korf begreift es kaum)
drehbarem Zuschauerraum.
Viermal wechselt Dichters Welt,
viermal wirst du umgestellt.
Auf vier Bühnen tief und breit
schaust du basse Wirklichkeit.
Denn in dieser Quadratur,
wo pro Jahr ein Drama nur,
wird natürlich jeder Akt
höchst veristisch angepackt.
Mauern siehst du da von Stein,
Bäche murmeln quick und rein,
Erdreich riechst du schlecht und recht,
Gras und Baum blühn wurzelecht.
Alles steht hier für ein Jahr
und ist deshalb wirklich wahr.
Palmström macht sich ein Modell:
formt aus Rauschgold einen Quell
und aus Schächtelchen ein Dorf ...
und verehrt das Ganze Korf.

[286] Im Tierkostüm

Palmström liebt es, Tiere nachzuahmen,
und erzieht zwei junge Schneider
lediglich auf Tierkostüme.
So z.B. hockt er gern als Rabe
auf dem oberen Aste einer Eiche
und beobachtet den Himmel.
Häufig auch als Bernhardiner
legt er zottigen Kopf auf tapfere Pfoten,
bellt im Schlaf und träumt gerettete Wanderer.
Oder spinnt ein Netz in seinem Garten
aus Spagat und sitzt als eine Spinne
tagelang in dessen Mitte.
Oder schwimmt, ein glotzgeäugter Karpfen,
rund um die Fontäne seines Teiches
und erlaubt den Kindern ihn zu füttern.
Oder hängt sich im Kostüm des Storches
unter eines Luftschiffs Gondel
und verreist so nach Ägypten.

Die Tagnachtlampe

Korf erfindet eine Tagnachtlampe,
die, sobald sie angedreht,
selbst den hellsten Tag
in Nacht verwandelt.
Als er sie vor des Kongresses Rampe
demonstriert, vermag
niemand, der sein Fach versteht,
zu verkennen, daß es sich hier handelt –
[287]
(Finster wird's am hellerlichten Tag,
und ein Beifallssturm das Haus durchweht)
(Und man ruft dem Diener Mampe:
»Licht anzünden!«) – daß es sich hier handelt
um das Faktum: daß gedachte Lampe,
in der Tat, wenn angedreht,
selbst den hellsten Tag
in Nacht verwandelt.

Die Korfsche Uhr

Korf erfindet eine Uhr,
die mit zwei Paar Zeigern kreist
und damit nach vorn nicht nur,
sondern auch nach rückwärts weist.
Zeigt sie zwei, somit auch zehn;
zeigt sie drei, somit auch neun;
und man braucht nur hinzusehn,
um die Zeit nicht mehr zu scheun.
Denn auf dieser Uhr von Korfen,
mit dem janushaften Lauf,
(dazu ward sie so entworfen):
hebt die Zeit sich selber auf.

Palmströms Uhr

Palmströms Uhr ist andrer Art,
reagiert mimosisch zart.
Wer sie bittet, wird empfangen.
Oft schon ist sie so gegangen,
wie man herzlich sie gebeten,
ist zurück – und vorgetreten,
[288]
eine Stunde, zwei, drei Stunden,
je nachdem sie mitempfunden.
Selbst als Uhr, mit ihren Zeiten,
will sie nicht Prinzipien reiten:
Zwar ein Werk, wie allerwärts,
doch zugleich ein Werk – mit Herz.

Die Geruchs-Orgel

Palmström baut sich eine Geruchs-Orgel
und spielt drauf v. Korfs Nießwurz-Sonate.
Diese beginnt mit Alpenkräuter-Triolen
und erfreut durch eine Akazien-Arie.
Doch im Scherzo, plötzlich und unerwartet,
zwischen Tuberosen und Eukalyptus,
folgen die drei berühmten Nießwurz-Stellen,
welche der Sonate den Namen geben.
Palmström fällt bei diesen Ha-Cis-Synkopen
jedesmal beinahe vom Sessel, während
Korf daheim, am sichern Schreibtisch sitzend,
Opus hinter Opus aufs Papier wirft ...

Der Aromat

Angeregt durch Korfs Geruchs-Sonaten,
gründen Freunde einen »Aromaten«.
Einen Raum, in welchem, kurz gesprochen,
nicht geschluckt wird, sondern nur gerochen.
[289]
Gegen Einwurf kleiner Münzen treten
aus der Wand balsamische Trompeten,
die den Gästen in geblähte Nasen,
was sie wünschen, leicht und lustig blasen.
Und zugleich erscheint auf einem Schild
des Gerichtes wohlgetroffnes Bild
Viele Hunderte, um nicht zu lügen,
speisen nun erst wirklich mit Vergnügen.

Die unmögliche Tatsache

Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.
Wie war (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
möglich, wie dies Unglück, ja –:
daß es überhaupt geschah?
Ist die Staatskunst anzuklagen
in Bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?
Oder war vielmehr verboten
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln – kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht –?
Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!
[290]
Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.

Die Behörde

Korf erhält vom Polizeibüro
ein geharnischt Formular,
wer er sei und wie und wo,
welchen Orts er bis anheute war,
welchen Stands und überhaupt,
wo geboren, Tag und Jahr.
Ob ihm überhaupt erlaubt,
hier zu leben und zu welchem Zweck,
wieviel Geld er hat und was er glaubt.
Umgekehrten Falls man ihn vom Fleck
in Arrest verführen würde, und
drunter steht: Borowsky, Heck.
Korf erwidert darauf kurz und rund:
»Einer hohen Direktion
stellt sich, laut persönlichem Befund,
untig angefertigte Person
als nichtexistent im Eigen-Sinn
bürgerlicher Konvention
vor und aus und zeichnet, wennschonhin
mitbedauernd nebigen Betreff,
Korf. (An die Bezirksbehörde in – ).«
Staunend liest's der anbetroffne Chef.

[291] Die Mausefalle

1.

Palmström hat nicht Speck im Haus
dahingegen eine Maus.
Korf, bewegt von seinem Jammer,
baut ihm eine Gitterkammer.
Und mit einer Geige fein
setzt er seinen Freund hinein.
Nacht ist's und die Sterne funkeln.
Palmström musiziert im Dunkeln.
Und derweil er konzertiert,
kommt die Maus hereinspaziert.
Hinter ihr, geheimer Weise,
fällt die Pforte leicht und leise.
Vor ihr sinkt in Schlaf alsbald
Palmströms schweigende Gestalt.

2.

Morgens kommt v. Korf und lädt
das so nützliche Gerät
in den nächsten, sozusagen,
mittelgroßen Möbelwagen,
den ein starkes Roß beschwingt
nach der fernen Waldung bringt,
wo in tiefer Einsamkeit
er das seltne Paar befreit.
Erst spaziert die Maus heraus,
und dann Palmström, nach der Maus.
[292]
Froh genießt das Tier der neuen
Heimat, ohne sich zu scheuen.
Während Palmström, glückverklärt,
mit v. Korf nach Hause fährt.

Die weggeworfene Flinte

Palmström findet eines Abends,
als er zwischen hohem Korn
singend schweift,
eine Flinte.
Trauernd bricht er seinen Hymnus
ab und setzt sich in den Mohn,
seinen Fund
zu betrachten.
Innig stellt er den Verzagten,
der ins Korn sie warf, sich vor
und beklagt
ihn von Herzen.
Mohn und Ähren und Cyanen
windet seine Hand derweil
still um Lauf,
Hahn und Kolben ...
Und er lehnt den so bekränzten
Stutzen an den Kreuzwegstein,
hoffend zart,
daß der Zage,
noch einmal des Weges kommend,
ihn erblicken möge – und –
(.. Seht den Mond
groß im Osten..)

[293] Korfs Verzauberung

Korf erfährt von einer fernen Base,
einer Zauberin,
die aus Kräuterschaum Planeten blase,
und er eilt dahin,
eilt dahin gen Odelidelase,
zu der Zauberin ...
findet wandelnd sie auf ihrer Wiese,
fragt sie, ob sie sei,
die aus Kräuterschaum Planeten bliese,
ob sie sei die Fei,
sei die Fei von Odeladelise?
Ja, sie sei die Fei!
Und sie reicht ihm willig Krug und Ähre,
und er bläst den Schaum,
und sie da, die wunderschönste Sphäre
wölbt sich in den Raum,
wölbt sich auf, als ob's ein Weltball wäre,
nicht nur Schaum und Traum.
Und die Kugel löst sich los vom Halme,
schwebt gelind empor,
dreht sich um und mischt dem Sphärenpsalme,
mischt dem Sphärenchor
Töne, wie aus ferner Hirtenschalme
dringen sanft hervor.
In dem Spiegel aber ihrer Runde
schaut v. Korf beglückt,
was ihm je in jeder guten Stunde
durch den Sinn gerückt:
Seine Welt erblickt mit offnem Munde
Korf entzückt.
[294]
Und er nennt die Base seine Muse,
und sieh da! sieh dort!
Es erfaßt ihn was an seiner Bluse
und entführt ihn fort,
führt ihn fort aus Odeladeluse
nach dem neuen Ort ...

Professor Palmström

Irgendwo im Lande gibt es meist
einen Staat, von dem, was sich an Geist
irgendwo befindet und erweist,
doch noch nirgendwo Professor heißt,
eben zum Professor wird gemacht,
wie von wem, der unaufhörlich wacht,
ob er auch jeder Seele wird gedacht,
die der Menschheit Glück und Heil gebracht.
Solch ein Staat und solch ein Fürst, o denkt,
hat auch Palmströms Los zum Licht gelenkt,
hat ihm den Professorrang geschenkt
und das Kreuz für Kunst ihm umgehenkt.
Palmström gibt das Kreuz für Kunst zurück;
denn er trägt kein solches Kleidungsstück.
Den Professor nicht; denn man versteht:
Als Professor gilt erst ein Prophet.

Muhme Kunkel

Palma Kunkel ist mit Palm verwandt,
doch im übrigen sonst nicht bekannt.
Und sie wünscht auch nicht bekannt zu sein,
lebt am liebsten ganz für sich allein.
[295]
Über Muhme Palma Kunkel drum
bleibt auch der Chronist vollkommen stumm.
Nur wo selbst sie aus dem Dunkel tritt,
teilt er dies ihr Treten treulich mit.
Doch sie trat bis jetzt noch nicht ans Licht,
und sie will es auch in Zukunft nicht.
Schon daß hier ihr Name lautbar ward,
widerspricht vollkommen ihrer Art.

Der Papagei

Palma Kunkels Papagei
spekuliert nicht auf Applaus:
niemals, was auch immer sei,
spricht er seine Wörter aus.
Deren Zahl ist ohne Zahl:
denn er ist das klügste Tier,
das man je zum Kauf empfahl,
und der Zucht vollkommne Zier.
Doch indem er streng dich mißt,
scheint sein Zungenglied verdorrt:
gleichviel, wer du immer bist,
er verrät dir nicht ein Wort.

»Lore«

Wie heißt der Papagei? wird mancher fragen.
Doch nie wird jemand jemandem dies sagen.
Er ward einmal mit »Lore« angesprochen –
und fiel darauf in Wehmut viele Wochen.
Er ward erst wieder voll und ganz gesund
durch einen Freund: Fritz Kunkels jungen Hund.

[296] Lorus

Fritz Kunkels Pudel ward, noch ungetauft,
von einem Stiefmilchbruder Korfs gekauft.
Es trieb ihn, als er, hilfreich von Natur,
der sogenannten »Lore« Leid erfuhr,
sogleich zu ihr: worauf er, der nicht hieß,
sich ihr zum Troste »Lorus« taufen ließ:
den Namen also gleichsam auf sich nehmend –
und alle Welt durch diese Tat beschämend!
Korf selbst vollzog den Taufakt unverweilt.
Der Vogel aber war fortan geheilt.

Wort-Kunst

Palma Kunkel spricht auch. O gewiß.
Freilich nicht wie Volk der Finsternis.
Nicht von Worten kollernd wie ein Bronnen,
niemals nachwärts-, immer vorbesonnen.
Völlig fremd den hilflos vielen Schällen,
fragt sie nur in wirklich großen Fällen.
Fragt den Zwergen niemals, nur den Riesen,
und auch nicht, wie es ihm gehe, diesen.
Nicht vom Wetter spricht sie, nicht vom Schneider,
höchstens von den Grundproblemen beider.
Und so bleibt sie jung und unverbraucht,
weil ihr Odem nicht wie Dunst verraucht.

[297] Zäzilie

Zäzilie soll die Fenster putzen,
sich selbst zum Gram, jedoch dem Haus zum Nutzen.
Durch meine Fenster muß man, spricht die Frau,
so durchsehn können, daß man nicht genau
erkennen kann, ob dieser Fenster Glas
Glas oder bloße Luft ist. Merk dir das.
Zäzilie ringt mit allen Menschen-Waffen ...
Doch Ähnlichkeit mit Luft ist nicht zu schaffen.
Zuletzt ermannt sie sich mit einem Schrei –
und schlägt die Fenster allesamt entzwei!
Dann säubert sie die Rahmen von den Resten,
und ohne Zweifel ist es so am besten.
Sogar die Dame spricht, zunächst verdutzt:
So hat Zäzilie ja noch nie geputzt.
Doch alsobald ersieht man, was geschehn,
und spricht einstimmig: Diese Magd muß gehn.

Korf und Palmström wetteifern in Notturnos

Die Priesterin

Nachdenklich nickt im Dämmer die Pagode ...
Daneben tritt aus ihres Hauses Pforte
T'ang-ku-ei-i, die Hüterin der Orte
vom krausen Leben und vom grausen Tode.
Aus ihrem Munde hängt die Mondschein-Ode
Tang-Wangs, des Kaisers, mit geblümter Borte,
in ihren Händen trägt sie eine Torte,
gekrönt von einer winzigen Kommode.
So wandelt sie die sieben ängstlich schmalen
aus Flötenholz geschwungnen Tempelbrücken
zum Grabe des vom Mond erschlagnen Hundes –
[298]
und brockt den Kuchen in die Opferschalen –
und lockt den Mond, sich auf den Schrein zu bücken,
und reicht ihm ihr Gedicht gespitzten Mundes ...

v.K.

Der Rock

Der Rock, am Tage angehabt,
er ruht zur Nacht sich schweigend aus;
durch seine hohlen Ärmel trabt
die Maus.
Durch seine hohlen Ärmel trabt
gespenstisch auf und ab die Maus ...
Der Rock, am Tage angehabt,
er ruht zur Nacht sich aus.
Er ruht, am Tage angehabt,
im Schoß der Nacht sich schweigend aus,
er ruht, von seiner Maus durchtrabt,
sich aus.

P.

[299]

[2.] Der Wasseresel und anderes

Der Wasseresel

Der Wasseresel taucht empor
und legt sich rücklings auf das Moor.
Und ordnet künstlich sein Gebein,
im Hinblick auf den Mondenschein:
So daß der Mond ein Ornament
auf seines Bauches Wölbung brennt ...
Mit diesem Ornamente naht
er sich der Fingur Wasserstaat.
Und wird von dieser, rings beneidet,
mit einem Doktorhut bekleidet.
Als Lehrer list er nun am Pult,
wie man durch Geist, Licht und Geduld,
verschönern könne, was sonst nicht
in allem dem Geschmack entspricht.
Er stellt zuletzt mit viel Humor
sich selbst als lehrreich Beispiel vor.
»Einst war ich meiner Dummheit Beute«,
so spricht er – »und was bin ich heute?
Ein Kunstwerk der Kulturbegierde,
des Waldes Stolz, des Weihers Zierde!
Seht her, ich bing euch in Person
das Kunsthandwerk als Religion.«

[300] Das Perlhuhn

Das Perlhuhn zählt: eins, zwei, drei, vier ...
Was zählt es wohl, das gute Tier,
dort unter den dunklen Erlen?
Es zählt, von Wissensdrang gejückt,
(die es sowohl wie uns entzückt):
die Anzahl seiner Perlen.

Das Einhorn

Das Einhorn lebt von Ort zu Ort
nur noch als Wirtshaus fort.
Man geht hinein zur Abendstund
und sitzt den Stammtisch rund.
Wer weiß! Nach Jahr und Tag sind wir
auch ganz wie jenes Tier
Hotels nur noch, darin man speist –
(so völlig wurden wir zu Geist).
Im »Goldnen Menschen« sitzt man dann
und sagt sein Solo an ...

Die Nähe

Die Nähe ging verträumt umher ...
Sie kam nie zu den Dingen selber.
Ihr Antlitz wurde gelb und gelber,
und ihren Leib ergriff die Zehr.
Doch eines Nachts, derweil sie schlief,
da trat wer an ihr Bette hin
und sprach: »Steh auf, mein Kind, ich bin
der kategorische Komparativ!
[301]
Ich werde dich zum Näher steigern,
ja, wenn du willst, zur Näherin!« –
Die Nähe, ohne sich zu weigern,
sie nahm auch dies als Schicksal hin.
Als Näherin jedoch vergaß
sie leider völlig, was sie wollte,
und nähte Putz und hieß Frau Nolte
und hielt all Obiges für Spaß.

Der Salm

Ein Rheinsalm schwamm den Rhein
bis in die Schweiz hinein.
Und sprang den Oberlauf
von Fall zu Fall hinauf.
Er war schon weißgottwo,
doch eines Tages – oh! –
da kam er an ein Wehr:
das maß zwölf Fuß und mehr!
Zehn Fuß – die sprang er gut!
Doch hier zerbrach sein Mut.
Drei Wochen stand der Salm
am Fuß der Wasser-Alm.
Und kehrte schließlich stumm
nach Deutsch- und Holland um.

[302] Die Elster

Ein Bach, mit Namen Elster, rinnt
durch Nacht und Nebel und besinnt
inmitten dieser stillen Handlung
sich seiner einstigen Verwandlung,
die ihm vor mehr als tausend Jahren
von einem Magier widerfahren.
Und wie so Nacht und Nebel weben,
erwacht in ihm das alte Leben.
Er fährt in eine in der Nähe
zufällig eingeschlafne Krähe
und fliegt, dieweil sein Bett verdorrt,
wie dermaleinst als Vogel fort.

Anfrage

Der Ichthyologe Berthold Schrauben
will Umiges dem Autor glauben.
Er kennt dergleichen aus Oviden,
doch eines raubt ihm seinen Frieden:
Wo nämlich, fragt er, bleibt die Stelle
der Fischwelt obbenannter Quelle.
Verkörpert sie sich mit zum Raben –
oder verbleibt sie tot im Graben?
Persönlich sei er für das Erste,
dem Zweiten aber sei die mehrste
Wahrscheinlichkeit zu geben, da,
als seinerzeit die Tat geschah,
die Pica von dem mächtigen Feinde
in einen ohne Fischgemeinde
zunächst gedachten Wasserlauf
verwandelt worden sei, worauf
[303]
erst später jene, teils durch Neben–
gewässer, teils durch Menschenstreben,
als übliche Bewohnersphäre
ihm eingegliedert worden wäre.
Es sei für einen Fall wie diesen,
von Nennwert, nicht unangewiesen,
wenn er, empfänd man's gleich als Bürde,
bis auf den Grund durchleuchtet würde.

Antwort (i.A.)

»Sehr geehrter Herr! Gestatten
Sie der Gattin meines Gatten
seine Antwort mitzuteilen.
Er beglückwünscht sich zu solchen
Äußerungen, die gleich Dolchen
seiner Werke Brust durchwühlen.
Doch er ist zurzeit verhindert.
Nämlich (was den Vorwurf mindert)
durch Verfolgung jenes Falles –
statt nach rückwärts, wie Sie streben,
vorwärts: in das neue Leben
unsrer trefflichen Schalalster!
(Ach, mein Herr, ich wünsch es keinem.)
Folgender ›Entwurf zu einem
bürgerlichen Trauerspiele‹
gibt dem Ganzen eine Wende,
die uns, wie Sie (und wohl viele)
nicht ganz ungleichmütig fühlen
[304]
werden, lehrt, wie doch noch alles
recht in Blindheit lebt. Derweilen,
und mit Dank und Grüßen (falls der
Anteil an der Fisch-Allmende
wirklich echt in Ihren Zeilen!)
Ihre X. – Ich bin zu Ende.«

Entwurf zu einem Trauerspiel

Ein Fluß, namens Elster,
besinnt sich auf seine wahre Gestalt
und fliegt eines Abends
einfach weg.
Ein Mann, namens Anton,
erblickt ihn auf seinem Acker und schießt
ihn mit seiner Flinte
einfach tot.
Das Tier, namens Elster,
bereut zu spät seine selbstische Tat;
(denn – Wassersnot tritt
einfach ein).
Der Mann, namens Anton,
(und das ist leider kein Wunder) weiß
von seiner Mitschuld
einfach nichts.
Der Mann, namens Anton,
(und das versöhnt in einigem Maß),
verdurstet gleichwohl
einfach auch.

[305] Das Butterbrotpapier

Ein Butterbrotpapier im Wald,
da es beschneit wird, fühlt sich kalt ...
In seiner Angst, wiewohl es nie
an Denken vorher irgendwie
gedacht, natürlich, als ein Ding
aus Lumpen usw., fing,
aus Angst, so sagte ich, fing an
zu denken, fing, hob an, begann
zu denken, denkt euch, was das heißt,
bekam (aus Angst, so sagt' ich) – Geist,
und zwar, versteht sich, nicht bloß so
vom Himmel droben irgendwo,
vielmehr infolge einer ganz
exakt entstandnen Hirnsubstanz –
die aus Holz, Eiweiß, Mehl und Schmer,
(durch Angst), mit Überspringung der
sonst üblichen Weltalter, an
ihm Boden und Gefäß gewann –
[(mit Überspringung) in und an
ihm Boden und Gefäß gewann.]
Mithilfe dieser Hilfe nun
entschloß sich das Papier zum Tun,
zum Leben, zum – gleichviel, es fing
zu gehn an – wie ein Schmetterling ...
[306]
zu kriechen erst, zu fliegen drauf,
bis übers Unterholz hinauf,
dann über die Chaussee und quer
und kreuz und links und hin und her –
wie eben solch ein Tier zur Welt
(je nach dem Wind) (und sonst) sich stellt.
Doch, Freunde! werdet bleich gleich mir! –:
Ein Vogel, dick und ganz voll Gier,
erblickt's (wir sind im Januar ...) –
und schickt sich an, mit Haut und Haar –
und schickt sich an, mit Haar und Haut –
(wer mag da endigen!) (mir graut) –
(Bedenkt, was alles nötig war!) –
und schickt sich an, mit Haut und Haar – –
ein Butterbrotpapier im Wald
gewinnt – aus Angst – Naturgestalt ...
Genug!! Der wilde Specht verschluckt
das unersetzliche Produkt ...
[307]

[3.] Zeitgedichte

Der Ästhet

Wenn ich sitze, will ich nicht
sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte,
sondern wie mein Sitz-Geist sich,
säße er, den Stuhl sich flöchte.
Der jedoch bedarf nicht viel,
schätzt am Stuhl allein den Stil,
überläßt den Zweck des Möbels
ohne Grimm der Gier des Pöbels.

Die Oste

Er ersann zur Weste
eines Nachts die Oste!
sprach: »Was es auch koste!« –
sprach (mit großer Geste):
»Laßt uns auch von hinten
seidne Hyazinthen
samt Karfunkelknöpfen
unsern Rumpf umkröpfen!
Nicht nur auf dem Magen
laßt uns Uhren tragen,
nicht nur überm Herzen
unsre Sparsesterzen!
Fort mit dem betreßten
Privileg der Westen!
Gleichheit allerstücken!
Osten für den Rücken!«
Und sieh da, kein Schneider
sagte hierzu: Leider –!
[308]
Hunderttausend Scheren
sah man Stoffe queren ...
Ungezählte Posten
wurden schönster Osten
noch vor seinem Tode
»letzter Schrei« der Mode.

Die Schuhe

Man sieht sehr häufig unrecht tun,
doch selten öfter als den Schuhn.
Man weiß, daß sie nach ewgen Normen
die Form der Füße treu umformen.
Die Sohlen scheinen auszuschweifen,
bis sie am Ballen sich begreifen.
Ein jeder merkt: es ist ein Paar.
Nur Mägden wird dies niemals klar.
Sie setzen Stiefel (wo auch immer)
einander abgekehrt vors Zimmer.
Was müssen solche Schuhe leiden!
Sie sind so fleißig, so bescheiden;
sie wollen nichts auf dieser Welt,
als daß man sie zusammen stellt,
nicht auseinanderstrebend wie
das unvernünftig blöde Vieh!
O Ihr Marie, Sophie, Therese –
der Satan wird euch einst, der böse,
[309]
die Stiefel anziehn, wenn es heißt,
hinweg zu gehn als seliger Geist!
Dann werdet ihr voll Wehgeheule
das Schicksal teilen jener Eule,
die, als zwei Hasen nach sie flog,
und plötzlich jeder seitwärts bog,
der eine links, der andre rechts,
zerriß (im Eifer des Gefechts)!
Wie Puppen, mitten durchgesägte,
so werdet ihr alsdann, ihr Mägde,
bei Engeln halb und halb bei Teufeln
von niegestillten Tränen träufeln,
der Hölle ein willkommner Spott
und peinlich selbst dem lieben Gott.

Die Zeit

Es gibt ein sehr probates Mittel,
die Zeit zu halten am Schlawittel:
Man nimmt die Taschenuhr zur Hand
und folgt dem Zeiger unverwandt,
Sie geht so langsam dann, so brav
als wie ein wohlgezogen Schaf,
setzt Fuß vor Fuß so voll Manier
als wie ein Fräulein von Saint-Cyr.
Jedoch verträumst du dich ein Weilchen,
so rückt das züchtigliche Veilchen
mit Beinen wie der Vogel Strauß
und heimlich wie ein Puma aus.
[310]
Und wieder siehst du auf sie nieder;
ha, Elende! – Doch was ist das?
Unschuldig lächelnd macht sie wieder
die zierlichsten Sekunden-Pas.

Die Lämmerwolke

Es blökt eine Lämmerwolke
am blauen Firmament,
sie blökt nach ihrem Volke,
das sich von ihr getrennt.
Zu Bomst das Luftschiff »Gunther«
vernimmt's und fährt empor
und bringt die Gute herunter,
die, ach, so viel verlor.
Bei Bomst wohl auf der Weide,
da schwebt sie nun voll Dank,
drei Jungfraun in weißem Kleide,
die bringen ihr Speis und Trank.
Doch als der Morgen gekommen,
der nächste Morgen bei Bomst,
da war sie nach Schrimm verschwommen,
wohin du von Bomst aus kommst ...

Die Stationen

Überall, auf allen Stationen
ruft der Mensch den Namen der Station,
überall, wo Bahnbeamte wohnen,
schallt es Köpnick oder Iserlohn.
Wohl der Stadt, die Gott tut so belohnen:
Nicht im Stein nur lebt sie, auch im Ton!
Täglich vielmals wird sie laut verkündet
und dem Hirn des Passagiers verbündet.
[311]
Selbst des Nachts, wo sonst nur Diebe munkeln,
hört man: Kötzschenbroda, Schrimm, Kamenz,
sieht man Augen, Knöpfe, Fenster funkeln;
kein Statiönchen ist so klein – man nennt's!
Prenzlau, Bunzlau kennt man selbst im Dunkeln
dank des Dampfs verbindender Tendenz.
Nur die Dörfer seitwärts liegen stille ...
Doch getrost, auch dies ist Gottes Wille.

St. Expeditus

1.

Einem Kloster, voll von Nonnen,
waren Menschen wohlgesonnen.
Und sie schickten, gute Christen,
ihm nach Rom die schönsten Kisten:
Äpfel, Birnen, Kuchen, Socken,
eine Spieluhr, kleine Glocken,
Gartenwerkzeug, Schuhe, Schürzen ...
Außen aber stand: Nicht stürzen!
Oder: Vorsicht! oder welche
wiesen schwarzgemalte Kelche.
Und auf jeder Kiste stand
»Espedito«, kurzerhand.
Unsre Nonnen, die nicht wußten,
wem sie dafür danken mußten,
denn das Gut kam anonym,
dankten vorderhand nur IHM,
rieten aber doch ohn Ende
nach dem Sender solcher Spende.
[312]
Plötzlich rief die Schwester Pia
eines Morgens: Santa mia!
Nicht von Juden, nicht von Christen
stammen diese Wunderkisten –
Expeditus, o Geschwister,
heißt er, und ein Heiliger ist er!
Und sie fielen auf die Kniee.
Und der Heilige sprach: Siehe!
Endlich habt ihr mich erkannt.
Und nun malt mich an die Wand!
Und sie ließen einen kommen,
einen Maler, einen frommen.
Und es malte der Artiste
Expeditum mit der Kiste.
Und der Kult gewann an Breite.
Jeder, der beschenkt ward, weihte
kleine Tafeln ihm und Kerzen.
Kurz, er war in aller Herzen.

2.

Da auf einmal, neunzehnhundert-
fünf, vernimmt die Welt verwundert,
daß die Kirche diesen Mann
fürder nicht mehr dulden kann.
Grausam schallt von Rom es her:
Expeditus ist nicht mehr!
[313]
Und da seine lieben Nonnen
längst dem Erdental entronnen,
steht er da und sieht sich um –
und die ganze Welt bleibt stumm.
Ich allein hier hoch im Norden
fühle mich von seinem Orden,
und mein Ketzergriffel schreibt:
Sanctus Expeditus – bleibt.
Und weil jenes nichts mehr gilt,
male ich hier neu sein Bild: –
Expeditum, den Gesandten,
grüß ich hier, des Unbekannten.
Expeditum, ihn, den Heiligen,
mit den Füßen, den viel eiligen,
mit den milden, weißen Haaren
und dem fröhlichen Gebaren,
mit den Augen braun, voll Güte,
und mit einer großen Düte,
die den überraschten Kindern
strebt ihr spärlich Los zu lindern.
Einen güldnen Heiligenschein
geb ich ihm noch obendrein,
den sein Lächeln um ihn breitet,
wenn er durch die Lande schreitet.
[314]
Und um ihn in Engelswonnen
stell ich seine treuen Nonnen:
Mägdlein aus Italiens Auen,
himmlisch lieblich anzuschauen.
Eine aber macht, fürwahr,
eine lange Nase gar.
Just ins »Bronzne Tor« hinein
spannt sie ihr klein Fingerlein.
Oben aber aus dem Himmel
quillt der Heiligen Gewimmel,
und holdselig singt Maria:
Santo Espedito – sia!

Ein modernes Märchen

1. Früchte der Bildung

Schränke öffnen sich allein,
Schränke klaffen auf und spein
Fräcke, Hosen aus und Kleider,
nebst den Attributen beider.
Und sie wandeln in den Raum,
wie ein sonderbarer Traum,
wehen hin und her und schreiten
ganz wie zu benutzten Zeiten.
Auf den Sofas, auf den Truhn
sieht man sitzen sie und ruhn,
auf den Sesseln, an den Tischen
am Kamin und in den Nischen.
[315]
Seltsam sind sie anzuschaun,
kopflos, handlos, Männer, Fraun;
doch mit Recht verwundert jeden,
daß sie nicht ein Wörtlein reden.
Dieser Frack und jener Rock,
beide schweigen wie ein Stock,
lehnen ab, wie einst im Märchen,
sich zu rufen Franz und Klärchen.
Ohne Mund entsteht kein Ton,
lernten sie als Kinder schon:
Und so reden Wams und Weste
lediglich in stummer Geste.
Ein Uhr schlägt's, die Schränke schrein:
Kommt, und mög euch Gott verzeihn!
Krachend fliegen zu die Flügel,
und – nur eins hängt nicht am Bügel!

2. Not lehrt beten

Eine Spitzenbluse nämlich,
oh, entsetzlich und beschämlich,
hat sich bei der wilden Jagd,
wilden Heimjagd der Gespenster –
eine Spitzenbluse nämlich
hat sich bei der Jagd am Fenster–
haken heillos festgehakt.
Kalt bescheint der Mond die krause
Dulderin im dunklen Hause,
die vom Fenster fortstrebt, wie
wer da fliehen will im Traume,
doch kein Schrittchen rückt im Raume,
grell bescheint der Mond die grause
krasse, krause Szenerie ...
[316]
Da erscheint vom Nebenzimmer,
angelockt durch ihr Gewimmer:
denn sie schrie! die Bluse schrie!
da erscheint vom Nebenzimmer,
hergelockt durch ihr Gewimmer,
schwebt herein vom Nebenzimmer,
schlafgeschloßnen Auges – SIE.
Und sie hakt das arme Wesen –
hakt es ohne Federlesen
los und hängt es ans Regal;
schwebt dann wieder heim ins Neben-
zimmer, schwebt, wie eben Wesen,
die im Schlafe wandeln, schweben,
schwebt so wieder dann ins Neben-
zimmer heim und heim zum Herrn Gemahl.

Notizen
Erstdruck: Berlin (B.Cassirer) 1910. Hier nach der 7. und 8. Auflage, Berlin 1914. Die Mehrzahl der Gedichte entstand zwischen 1905 und 1910.
Lizenz
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link zur Lizenz

Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Morgenstern, Christian. Palmström. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3C01-E