107. Die weiße Jungfrau auf der Heldenburg.

1.

Auf der Heldenburg bei Salzderhelden läßt sich von Zeit zu Zeit eine weiße Jungfrau sehen. Sie hat ein weißes Kleid an und ein Schlüsselbund an der Seite. Ihr Haar ist blond, und in der Hand trägt sie einen Blumenstrauß. Sie winkt dem Menschen, der sie erblickt. Fragt dieser: was muß ich thun, um dich zu erlösen? so gibt sie auf, eine gewisse Blume zu pflücken, deren Standort sie bezeichnet. Ein Mensch ging hin zu der bezeichneten Stelle; als er aber hinkam, hatte er alles vergessen, was er thun sollte. Da rief sie jammernd aus: o weh meiner armen Seele, nun muß erst wieder der Baum zu der Wiege wachsen, worin das Kind groß gewiegt wird, welches mich erlösen kann!

[78] Zuletzt ist sie dem Pastor Thiele erschienen, als dieser nach der Confirmation mit den Kindern nach dem Heldenberge ging, und zwar an der Stelle, wo früher das kleine Holz war. Sie winkte, aber der Pastor sagte: »Kinder kommt, laßt uns nach Hause gehn«, und ging fort.

2.

Einst bat die weiße Jungfrau auf der Heldenburg einen Ritter sie doch zu erlösen; zu dem Ende müsse er sie zwölf Mal um einen gewissen Busch herumtragen. Der Ritter ging darauf ein und versuchte es. Zehn Mal hatte er sie schon glücklich herumgetragen; da aber ward sie so furchtbar schwer, daß er nur noch ein halbes Mal mit ihr herumkam und dann gänzlich erschöpft zu Boden sank. Darauf entwich die Jungfrau vor seinen Augen durch die Luft; der Ritter aber ward krank und starb bald nachher.

3.

Auf der Heldenburg erscheint alle sieben Jahre eine weiße Jungfrau mit einem Schlüsselbunde in der Hand. Geht ein Mensch vorbei, so winkt sie ihm drei Mal. Nun kam ein Bauer daher und sah sie; als sie ihm winkte, fragte er sie, was sie wolle. Sie heißt ihn mitgehn und führt ihn zu einem Hügel, wo sie eine Thür aufschließt, die man vorher nicht sehen konnte. Der Bauer geht mit ihr in den Hügel und sieht da eine Menge Schätze aufgehäuft. Sie gibt ihm davon so viel er nur tragen kann, und spricht: »wenn du nicht thust, was ich dir sage, so werden deine Schätze wieder verschwinden und du wirst wieder so arm werden, wie du gewesen bist; wenn du aber meine Wünsche erfüllst, so werden dir alle Schätze gehören, die ich dir eben gezeigt habe.« Von da nimmt sie ihn mit auf den Burghof und bittet er möge ihr den Kopf abhauen, er müsse aber eilen, damit er noch vor zwölf Uhr damit fertig werde. Er will dieß Anfangs nicht thun, weil sie seine Wohlthäterin ist, auch hat er keine Barte bei sich; sie sagt ihm aber, er möge es nur thun, sie würde dadurch erlöst und er würde reich sein auf Lebenszeit. Nun geht er fort und holt eine Barte aus seinem Hause; als er damit auf den Burghof zurückkommt, ist auch die Jungfrau noch da. Jetzt will er ihr eben den Kopf abhauen, da schlägt es aber zwölf und mit einem Male ist die Jungfrau verschwunden und er steht wieder auf demselben Platze, von wo aus er sie zuerst gesehen hatte. Neben sich hörte er eine Stimme, die sprach zu ihm: »nun muß ich wieder sieben Jahre warten, bis ein anderer [79] kommt, der mich erlösen kann; denn du hast dich zu lange aufgehalten.« Die Schätze des Bauern waren wieder verschwunden.

4.

Alle Jahre kommt einmal eine Nonne (weiße Jungfrau) zwischen 11 und 12 Uhr zu dem sogenannten Nonnengange im Amtsgarten auf der Heldenburg und sieht nach den Schätzen, welche sie dort vergraben hat. Geht man über den Nonnengang hin, so klingt der Boden. Jetzt ist der Gang zugemauert.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 107. Die weiße Jungfrau auf der Heldenburg. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B907-1