112. Die weiße Jungfrau auf der Burg Eberstein.
Auf der Burg Eberstein bei dem Dorfe Negenborn läßt sich eine weiße Jungfrau sehen. Sie trägt eine goldene Schanne mit goldenen Ketten, woran zwei goldene Eimer hängen, die ganz [84] mit Gold gefüllt sind. Diese Last muß sie tragen, bis sie erlöst wird. Einst war zur Zeit der Heuernte ein Mann aus Negenborn, Namens Karl, Nachts auf der Wiese geblieben, um das Heu zu bewachen; er hatte sich in einen Heuhaufen gelegt und war eingeschlafen. Zwischen 11 und 12 Uhr rief eine Stimme: Karl, Karl! er wachte auf und die weiße Jungfrau stand vor ihm. Sie sprach zu ihm, auf ihre Last hinweisend, das alles solle er haben und glücklich sein, wenn er sie erlöse; nur dürfe er sich nicht fürchten, und wenn auch Himmel und Hölle gegen ihn wären, es würde ihm doch nichts zu Leide geschehn. Zugleich forderte sie ihn auf mit ihr zu gehn. Er war auch dazu bereit und so führte sie ihn auf den Eberstein. Hier sah er ein großes Feuer angezündet, um welches zwölf große und starke Kerle standen, die einen Ochsen brieten. Als diese ihn erblickten, sprach einer zu den andern: »wen sollen wir dann braten, wenn wir mit dem Ochsen fertig sind?« »Dann wollen wir,« erwiederten diese, »den rothen da nehmen,« indem sie auf Karl hinwiesen, der eine rothe (oder roth gefütterte) Jacke anhatte. Als dieser das hörte, warf er sogleich seine Jacke und alles fort und lief davon. Die weiße Jungfrau aber schrie laut auf und sprach, nun müsse sie wieder noch hundert Jahre ihre Last tragen, ehe sie einer erlösen könne, und auch dann sei es noch zweifelhaft, ob sie erlöst werde, da dieser es wieder eben so machen könne, wie er. In Hohlenberg (dem Dorfe, wohin Negenborn eingepfarrt ist) stehe auf der Mauer des Kirchhofes eine kleine Linde, diese müsse erst zu einem Baume herangewachsen sein und daraus eine Wiege gemacht werden; wer in dieser Wiege gewiegt sei, der könne sie erst wieder erlösen.