508. Westerstede.

a.

Das alte Westersteder »Kaspelleed« sagt von Westerstede:
In Westerstede steiht de hoge Torn,
Dar sgall dat gansse Kaspel bi versorn.

Das soll wohl auf die großen Kosten hinweisen, welche das ganze Kirchspiel für den Bau des Turmes zu Westerstede aufbringen mußte. Dafür ist aber auch der Turm der ansehnlichste im ganzen Ammerlande geworden, und selbst die Ostfriesen beneideten die Westersteder um ihren Turm, den sie seiner Höhe wegen, die vordem noch beträchtlicher war als jetzt, den Kiek-int-Land nannten. In ihrer Mißgunst machten die Ostfriesen einst einen Anschlag, wie sie den Turm zerstören könnten, und zogen einmal in der Nacht mit so viel Ochsen, als sie auftreiben konnten, und einem langen dicken Tau nach Westerstede. Heimlich banden sie das Tau an die Spitze des Turmes und ließen nun die Ochsen, ein Gespann hinter dem andern, mit aller Macht an dem Tau ziehen. Aber als die ersten Paare so stark zogen, baumelten hinten, ehe die Treiber sich dessen versahen, die Ochsen an dem straff gezogenen Seile ihnen über den Köpfen, und je strammer die vordersten Ochsen zogen, desto höher gingen die hintersten in die Luft, und die Treiber vorne merkten zuerst nichts davon, denn so lang war der Zug, daß sie das Geschrei der letzten Treiber nicht hören konnten. Erst als das Tau immer straffer und straffer wurde und immer weiter nach vorne ein Gespann nach dem andern in die Höhe ging, kamen sie dahinter. Sie ließen nun ab von ihrem Unternehmen und machten sich schleunigst davon, ehe die Westersteder wach würden, habens auch nachher nicht wieder versucht. Leute, welche sich eines guten Augenmaßes [267] rühmen, wollen indessen behaupten, die Spitze des Turmes sei seit jener Zeit etwas geneigt. Einige schreiben übrigens das verfehlte Unternehmen nicht den Ostfriesen, sondern den Apern zu.

Westersteder Kaspelleed

(Oldenb. Volksbote, 1843.)

1.
Ik weet wol, ik weet wol, wo god wahnen is,
To Hollwege, to Hollwege, wenn't Sommer is.
Chor: To Hollwege, to Hollwege, wenn't Sommer is. 1
2.
De Halstruppers de hewwt de fetten Swien,
De Moorborgers driewt se henin. 2
Chor: De Moorborgers usw.
3.
De Halsbecker hewwt de hogen Schauh,
De Eggeloger snören se to.
Chor: De Eggeloger usw. 3
4.
To Jühren steit dat hoge Holt,
To Linswege sünd de Derens stolt.
Chor: To Linswege usw.
5.
Dat Garnholt ist ja ook nich groot,
Doch ett et so gern Stutenbrod. 4
Chor: Doch ett et usw.
6.
To Hülstee sünd de Straten deep,
To Westerstee sünd de Maikens leep.
Chor: To Westerstee usw. 5
7.
De Fikensolter hewwt de snippern Schauh,
Darmit treet se när Westersteer Karken to. 6
Chor: Darmit treet usw.
[268] 8.
To Mansie gaht de Stakenhauers ut,
To Ocholt staht de Sögen Hus. 7
Chor: To Ocholt staht usw.
9.
De Tossholter flickt de Stavelken-Schauh,
Det weert de Howikers selten froh. 8
Chor: Det weert usw.
10.
De Seggeners hewwt enen hollen Boom,
Darin hangt se ähren Sadel un Toom. 9
Chor: Darin hangt se usw.
11.
To Westerloy sünd de Grawen terbraken,
To Lindern sünd de Dooren geschlaten. 10
Chor: To Lindern usw.
12.
To Borgforde dar staht de hogen Poppeln,
Dar geiht dat ganze Kaspel by in Koppeln. 11
Chor: Dar geiht usw.
13.
To Westerstee dar steiht de hoge Thoren,
Dar schall dat ganze Kaspel by versoren. 12
Chor: Dar schall usw.

Fußnoten

1 Hollwege hat eine anmutige Lage, die Wege waren früher abscheulich, im Winter fast unbrauchbar, daher leitet man den Namen des Dorfes.

2 Halstrup hatte früher schöne Holzung und Schweinemast. Die Moorburger trieben die Schweine, die in ihren Bezirk kamen, in den Schüttstall.

3 Hohe Schuhe Zeichen des Wohlstandes. Das Zuschnüren deutet vielleicht minder Wohlstand, Abhängigkeit oder dergl. an.

4 Essen von Stutenbrot weist auf Wohlstand hin, möglicherweise lebten sie auch über ihre Kräfte.

5 Gegenseitiger Vorwurf der beiden Gemeinschaften infolge alter Grenzstreitigkeiten.

6 Die Junker von Fiksenolt trugen Schuhe mit Schnippen und Schnäbeln. Sie brüsteten sich damit, daß ihre Vorfahren für die Westersteder Kirche viel getan hätten.

7 Wer junges Holz verkauft, bevor es ausgewachsen, erhält den Spottnamen Stakenhauer. Söge = Sau. Ocholt wird Sögenhus genannt wegen der alten Sage, daß die benachbarten Dörfer Howiek und Ocholt, ersteres von dem Geschrei der Ferkel, das andere vom Klageton der Sau ihren Namen erhalten hätten. Vermutlich stand früher für Hus Hud = Wache, d.h. zu Ocholt stehen die Schweine Wache.

8 Stavelken-Schauh = Stiefel-Holzschuhe, Holzschuhe mit ledernen Schäften. Der 2. Vers hat früher wahrscheinlich geheißen: Dat weet de Howiker Holt-Dings-Frohn = das weiß der Howiker Holzgerichts-Frohn, soll heißen: Der Holzaufseher weiß, wie sehr die Holzungen von den Stiefelholzschuhen zu leiden haben.

9 Die Junker von Seggern waren nachlässige Leute und hängten Sattel und Zaum statt an den gehörigen Ort, in einem hohlen Baum auf.

10 Im Jahre 1456 fielen die Friesen über Westerloy in das Kirchspiel Westerstede ein; ein Teil wurde von den Westerstedern niedergemacht, der übrige in den Pässen von Mansie und Lindern, wo die Westersteder ihnen durch Verhaue die Wege oder Tore verschlossen hatten, erschlagen oder gefangen genommen.

11 Deutet hin auf alte Gerichts- oder Volksversammlungen unter den Pappeln. Vgl. auch S. 274.

12 Bezieht sich wohl auf den teuren Unterhalt des Turmes. Siehe das vorhin Gesagte.

[269] b.

Zwischen den Familien der Junker zu Fikensholt und Wittenheim hatte eine lange Feindschaft bestanden, bis endlich der Junker von Fikensholt sich entschloß, die Tochter des Junkers von Wittenheim zur Gemahlin zu nehmen und dadurch den Familienhaß zu beseitigen. Als am Hochzeitstage die Braut nach Fikensholt kam, fiel ihr auf, daß nicht nur die Türen, sondern auch viele Fenster des Schlosses offen standen und unter den Bedienten auf dem Hofe eine bedeutende Verwirrung sich kund gab. Nur ein Mohr, der Leibbediente des Junkers, empfing sie an der Zugbrücke vor dem Schlosse und überreichte ihr auf einem Sammetkissen ein kostbares Perlengeschmeide. Die Braut ward ängstlich und fragte: »Du bringst Perlen? Perlen bedeuten Tränen«, und wie sie in den Hof hineintrat, erhielt sie die Nachricht, ihr Bräutigam sei vor wenigen Augenblicken gestorben. Die Haushälterin des Junkers hatte ihn aus Eifersucht vergiftet. Ein großes Ölgemälde, die Braut in Lebensgröße vorstellend, wie ihr der Mohr das Geschmeide überreicht, ist noch auf dem Schlosse zu Fikensholt und wird als ein Inventarienstück desselben betrachtet. In Westerstede aber hat sich das Sprichwort gebildet: »He kummt to lat as die Brut van Fikensholt.«

c.

Der letzte katholische Priester zu Westerstede war bei seinen Pfarrkindern sehr beliebt, und als er nach der Reformation von seiner Stelle gedrängt wurde, um einem lutherischen Prediger Platz zu machen, erbot sich die Dorfschaft Hollwege, ihn bis an sein seliges Ende zu verpflegen. Der alte Priester hielt sich indes ausnehmend frisch und gesund. Den Hollwegern, welche auf seinen baldigen Tod mochten gerechnet haben, wurde allmählich die Zeit lang, und da die Kosten immer kein Ende nahmen, ließen sie endlich den Greis durch einen gedungenen Strolch erschlagen. Damit die Tat nicht ruchbar werde, mußte der Leichnam heimlich weggeschafft werden. Die Hollweger trugen ihn daher in dunkler Nacht zum Dorfe hinaus. Wie sie aber bei dem Hause eines Schusters vorbeikamen, klopften sie den Schuster aus dem Bette und bestellten für »Oll Heer«, der zufällig bei ihnen sei, ein Paar Schuhe, er könne gleich das Maß nehmen. Der Schuster öffnete das Fenster, und die da draußen hoben den Leichnam auf die Fensterbank, setzten ihn dorthin und stellten ihm, damit er nicht umfalle, einige Stützen unter, dann schlichen sie davon. Bald war der Schuster fertig und sagte dies dem Oll Heer, [270] der sein Bein noch immer ausgestreckt hielt; aber er bekam keine Antwort. Der Schuster sprach zum zweiten Male und lauter; aber keine Antwort erfolgte. Als auch die dritte Anrede vergeblich blieb, lief dem Schuster die Galle über; zornig stieß er den Leichnam aus dem Fenster und rief: »Meinst du, daß ich deinetwegen die ganze Nacht das Fenster offen halten soll?« und machte das Fenster zu. Der Leichnam fiel schwer nieder und blieb still liegen. Da ward es dem Schuster ängstlich, und als er nach einer Weile zusah und den steifen Leichnam fand, glaubte er, daß infolge seines Stoßes Oll Heer das Genick gebrochen habe. Nun war er in großer Not. Er beratschlagte mit seiner Frau, und es ward für gut befunden, daß der Leichnam noch in selbiger Nacht beiseite geschafft werde. So nahm denn der Schuster den Toten auf die Schulter und trug in ins Lengener Moor, um ihn dort in einen Torfspitt zu versenken. Als er seinem Ziele nahe war, kamen ihm zwei Männer entgegen mit Speck, den sie in derselben Nacht gestohlen hatten. Wie diese in der Stille der Nacht auf dem wilden Moor einen Mann kommen sahen, der einen Mann auf der Schulter trug, hielten sie es für Spuk, warfen den Speck fort und machten, daß sie davonkamen. Der Schuster aber verrichtete das Werk, das ihn hergeführt hatte, nahm dann den Speck zu sich und ging damit nach Hause. Als ihn dort seine Frau fragte, wie er den alten Herrn los geworden sei, erwiderte er: »Den habe ich für zwei Seiten Speck umgetauscht«, und legte ihr den Speck auf den Tisch.

d.

Unter dem allgemeinen Namen Ordinärgefälle wird auf dem Ammerlande auch »Hühnerkorn« bezahlt und steht unter dieser Bezeichnung bei den einzelnen Pflichtigen im Erdbuche aufgeführt. Von dieser Leistung sind in Hollwege frei die Hausmannsstellen Oeltjen, Wiemken und Lanje. Als einst die Frucht, von jedem Hausmann ein Scheffel, abgeholt wurde, brachte der Besitzer von Wiemken Stelle einen Scheffel Roggen vom Boden, sprach zu dem Einsammler: »Wat seggt ji, is dat Höhnerkoorn?« streute den Roggen auf die Diele und rief: »Tüt, Tüt, Tüt! wenn't Höhnerkoorn is, dann schall't ok Höhnerkoorn bliwen!« Ebenso machten es auf seinen Rat die beiden andern, und seitdem ist der Roggen nicht mehr abgeholt und auch nicht in die Erdbücher eingetragen worden.


Vgl. 504b.

[271] e.

Als die Bauerschaften Linswege und Hollwege einst von einem schweren Hagelwetter waren befallen worden, wallfahrteten sämtliche Bauern nach dem Kloster Rastede und übertrugen demselben den Zehnten von ihren Ländereien, damit die Klostermönche solches Unglück künftig durch ihre Fürbitte abwenden möchten. Nur zwei Witwen blieben zu Hause, weil ihnen das Wetter zu schlecht und der Weg zu lang war. Seitdem und bis auf den heutigen Tag müssen nun sämtliche Bauern von Linswege und Hollwege die Zehntgelder, die an Stelle der Zehnten getreten sind, bezahlen; nur die beiden Stellen, auf denen damals jene Witwen saßen, sind frei geblieben. – Zwerge in Linswege: 257h, n.

f.

Die Stelle, wo früher die Burg der Edeln von Mansingen gestanden hat, ist noch durch zwei Hügel zu erkennen und wird jetzt Hammjeborg genannt. Sie liegt zwischen Mansie und Fikensholt in der Nähe des Baches am Rande des Gehölzes; einige prächtige Buchen krönen die Hügel. In den Hügeln sollen reiche Schätze vergraben sein, aber es ist noch niemand gelungen, etwas davon zu heben. Einst hatten einige Leute sich des Nachts zur Stelle begeben und begannen schweigend nach den Schätzen zu graben, denn ohne das strengste Schweigen kann ein solches Werk keinen Erfolg haben. Wie sie am besten Arbeiten waren, kam eine Kutsche, mit vier Pferden bespannt, in höchster Eile durch Wiese und Wald daher gefahren, sauste vorüber und verfolgte den alten Steinweg, der unter der Erde verborgen liegen soll. Den Schatzgräbern wurde es unheimlich, aber lautlos fuhren sie in ihrer Arbeit fort. Bald stießen sie denn auf eine große eiserne Kiste. Schon hatten sie die Kiste an dem Rande der Grube, da erblickten sie einen schwarzen Reiter auf einem riesigen Hahne mit rotgelben, wie Feuerflammen leuchtenden Federn. Dem Hahne waren die Füße zusammengebunden, so daß er nur hüpfend sich fortwärts bewegen konnte, und nach jedem dritten oder vierten Sprunge fiel er mit seinem Reiter hin und mußte von diesem wieder aufgerichtet werden. Dieser Reiter nun fragte die beiden Schatzgräber, welche den Schatz noch über dem Loche hielten: »Kann ich die Kutsche noch wohl einholen?« Da antwortete der eine verwundert und unwillig: »Magst den Düwel koenen!« und in demselben Augenblicke entrollte ihnen die Kiste und sank in die Tiefe. Vgl. 505d, o. – Wie [272] die Bauern von Mansie undHüllstede von dem schreiend Ding heimgesucht wurden: 186r.

g.

In Seggern, am Wege, der von der Chaussee nach Ocholt führt, sollen früher viele Menschen ermordet sein, weshalb es noch dort spukt. Einst war daselbst ein armer Reisender umgebracht; man fand des Morgens die Leiche an einem Baum und darunter einen Zettel, auf welchem geschrieben stand:


Ich habe diesen gehangen
Und nur einen Stüber erlangen,
Gott sei mir Sünder gnädig!

h.

Zwischen Westerloy und Moorburg, aber etwas mehr nach Westen hin, liegt zwischen der Ive, einem Bache, und dem wilden Moor ein hübsches Gehölz namens Ihorst. Früher stand dort der Sage nach ein festes Haus zum Schutze gegen die benachbarten ostfriesischen Häuptlinge, und Spuren ehemaliger Pflugkultur auf einigen Landflächen sprechen wenigstens dafür, daß der Ort vor Zeiten bebaut gewesen. Der letzte Junker von Ihorst, so erzählt die Sage weiter, lag in Fehde mit dem Junker von Stickhausen und hatte das Glück, ihm in einem Treffen eine Niederlage beizubringen. Indessen konnte er sich nicht verhehlen, daß sein Gegner, wenn er alle seine Hilfsmittel zusammenfasse, ihm überlegen sei, sein eigenes Haus einem kräftigen Angriffe desselben nicht zu widerstehen vermöge. So rüstete er sich zwar zur Verteidigung, versenkte aber seine Schätze, um sie keinenfalls in die Hände seines Feindes gelangen zu lassen, in einen tiefen Brunnen. Der Häuptling von Stickhausen erschien auch bald vor der Burg, stürmte und eroberte sie, und der Junker von Ihorst ward erschlagen. Sein Sohn aber entkam nach dem Münsterlande, wo er einen andern Sitz erwarb und nach dem früherenIhorst (Ihorst in der Gemeinde Holdorf) nannte. Das alte Ihorst ward nach der Eroberung so zerstört, daß keine Spur mehr von dem Hause und den Befestigungen zu sehen ist. Auch der Brunnen, in welchem die Schätze noch verborgen liegen, ist verschüttet, und seine Stelle unbekannt. Aber noch steht seine Mauer, die von Grausteinen aufgeführt ist, und wenn es gelänge, die Mauern aufzufinden, würde man auch an die Schätze kommen können.

i.

Wenn man von Westerstede nach Burgforde geht und ungefähr vor dem Wirtshause links vom Wege abbiegt, so [273] gelangt man auf eine Viehweide, der man sofort etwas Ungewöhnliches ansieht. Um die Weide stehen neben starken Eichen hochragende Pappeln und breite Kastanien, und auf der Weide selbst befinden sich einige Obstbäume; der Boden der Weide ist etwas hügelig. Diese Weide heißt Wittenheim. 1 Früher standen auf derselben drei prächtige Häuser, zu welchen eine grade, ziemlich lange Allee führte. Eins der Häuser war mit einer Uhr versehen, deren Zifferblatt grade vor dem Wege saß, und deren Schlag man in Linswege hören konnte. Der Garten war überaus schön angelegt, am schönsten aber war in demselben eine Grotte, mit bunten Steinchen ausgepflastert und mit Rosen, Geisblatt und anderem Strauch- und Rankenwerk um- und überwachsen. Zu Wittenheim wohnte in der dänischen Zeit ein Rat von Witken, der zugleich Amtmann, Richter und Amtseinnehmer war. Er war ein harter, stolzer Mann und drückte die Eingesessenen nach seinem Wohlgefallen, denn ein höheres Gericht war schwer zugänglich, und der Weg nach Kopenhagen weit. Um seine Besitzung Wittenheim instand zu setzen, mußte das ganze Kirchspiel Hofdienste tun:


To Burgforde dar staht de hogen Poppeln,
Dar geiht dat ganze Kaspeln by in Koppeln.

Einst hatte von Witken Gelüste nach einem Hering, und das zu einer Zeit, wo im ganzen Kirchspiel kein Hering aufzutreiben war. So mußte denn ein Bauer zu Hüllstede mitten in der dringendsten Arbeit einhalten und seinem Amtmann in Hofdienst einen Hering von Oldenburg holen. 2 Mit den Bauern zu Hüllstede konnte sich von Witken überhaupt nicht vertragen, und er tat ihnen so viel zuleide und zu Verdrusse, als er nur konnte. Als einmal zwei Knaben aus Hüllstede auf einer Weide, die am Oldenburger Wege lag, die Kühe hüteten, kam ein Jude mit einer Menge Vieh des Weges, um nach dem Oldenburger Markte zu ziehen. Er bat die Knaben, [274] ihm eine Strecke weit das Vieh treiben zu helfen, und bot ihnen 48 Grote, wenn sie bis Blexhaus mitgingen. Die Knaben taten es, allein als sie zu Blexhaus angekommen waren, wollte er ihnen das Geld nicht geben, sondern nötigte sie mit nach Elmendorf, dort wolle er ihnen die 48 Grote auszahlen. In Elmendorf weigerte er sich abermals und vertröstete sie auf Gristede. Aber auch hier zahlte er nicht, sondern verlangte, sie sollten mit nach dem Timper gehen. Im Gristeder Fohrt aber wurden die Jungen ungeduldig; sie verlangten ihr Geld, und als der Jude nicht zahlen wollte, ergriffen sie ihn und prügelten ihn tüchtig durch. Der Jude in seiner Angst stellte sich tot. Die Knaben glaubten wirklich, ihn totgeschlagen zu haben, schleppten ihn über einen Erdwall am Wege und verscharrten ihn im Laube. Als der Jude merkte, daß die Knaben sich entfernt hatten, stand er auf und ging nach Wittenheim zu Witken und verklagte sie, und Witken, da er hörte, daß die Täter Söhne seiner Feinde seien, nahm die Klage an. Die Knaben wurden vorgeladen, leugneten aber die Tat hartnäckig, bis endlich Witken sagte: »Man Jungens, wenn ick in jo Stä wäsen weer, denn harr ick 'n ganz dod un nich halfdod slan.« Da antwortete der jüngere von den beiden: »Wi meenden ok, dat he dod weer!« Durch dieses Wort ward er gefangen, und Witken sprach das Urteil, und zwar ein Todesurteil, über beide aus. Sie sollten mit dem Schwerte hingerichtet werden, und das Schaffot sollte stehen dicht vor des Hausmanns Bunjes Hause zu Hüllstede. Alle Vorstellungen blieben fruchtlos, und von Kopenhagen kam auf den Bericht des alten Witken die Bestätigung des Urteils. Nur das erreichte der Bauer Bunjes, daß das Schaffot nicht vor seinem Hause errichtet wurde; aber er hatte auch eine Reise nach Kopenhagen zum Könige machen müssen, um dies durchzusetzen. Die Hinrichtung ist erfolgt hinter Hüllstede zur Hüllsteder Diele, und alte Leute haben noch die Pfähle von dem Blutgerüste gekannt. 3 – Zuweilen war der alte Witken in seinem Zorn fast wunderlich. So war einst ein Stier zu Wittenheim stößig geworden und hatte ein Kind getötet. Da verurteilte [275] der Alte denselben zum Hungertode. Der Stier wurde in Ketten gelegt und bekam keine Nahrung mehr. Als der Hunger sich einstellte, fing das Tier an zu brüllen, aber es blieb dabei, dem Stiere wurde keine Nahrung mehr gereicht, und er mußte Hungers sterben. 4 – Dabei führte der alte Witken selbst ein ruchloses Leben. Obwohl er eine angetraute Frau hatte, hielt er es doch mit leichtfertigen Weibern. Einst fischten zwei Leute aus Linswege heimlich in dem Graben, der um Wittenheim war. Es war Nachtzeit und heller Mondschein. Der eine fühlt etwas Schweres im Netze und zieht auf, da sieht der andere, daß ein kleines Kind im Netze liegt. Schnell heißt er den ersten das Netz umkehren, und beide fliehen, sind auch nicht wieder hingewesen nach Wittenheim, Fische zu stehlen. – Der alte Witken hat in eins seiner Bücher geschrieben:


Witkens Stamm stehet fest,
Wenn gleich Sturm und Wetter bläst;

aber der Stamm hat nicht lange gedauert. Der Pastor Köppen, der damals in Westerstede stand, hat das Ende kommen sehen. Als dieser einst nach Linswege fuhr, um die dortige Schule zu besuchen, kam er bei Wittenheim vorbei. Es war Pfingsten, und alles grünte, blühte und duftete aufs herrlichste. Der Pastor ließ halten, stieg vom Wagen ab und sprach nach Wittenheim hin: »Heute blühest du wie ein Lorbeerkranz, aber du wirst verwelken!« Und in der Kirche predigte er eines Sonntags: »Ich erlebe den Tag nicht mehr; aber es sind unter euch welche, meine Zuhörer, die es noch erleben werden, daß von Wittenheim kein Stein mehr auf dem andern sein wird, denn es ist ein Ort wie Sodom.« 5 Und er behielt Recht, denn es war unter seinen Zuhörern ein gewisser Schnitker aus Linswege, der als Greis noch die völlige Zerstörung Wittenheims erlebt hat. Übrigens weiß man noch von einem Wahrzeichen. Als einst der Schreiber von Wittenheim von Westerstede nach Hause ging, ließ er sich von einem Manne geleiten. Auf dem Esche sahen sie eine glühende Schlange in der Luft schweben. »Ist das nicht grade über unserm Garten?« fragte der Schreiber, und sein Begleiter mußte es bejahen. Zuerst [276] verging Witkens Stamm. Witken hatte bemerkt, daß ihm Geld aus der Amtskasse gestohlen wurde, konnte aber den Dieb anfangs nicht entdecken. Da bohrte er ein Loch durch die Decke des Zimmers und schaute, wenn er die Zeit passend hielt, vom Boden aus mit einem Auge hindurch. Auf diese Weise gewahrte er einmal, daß sein einziger Sohn an das Fenster in der Nähe des Geldkastens kam, eine Scheibe herausschnitt und mit der Hand hindurch und in den Kasten langte und sich von dem Gelde herausnahm. Der Vater beschloß, seinen Sohn exemplarisch zu bestrafen. Er nahm zwei Feuersteine, spitzte die Kanten zu und zwang seinen Sohn, alle Tage zwei Stunden lang mit bloßen Knien auf diesen Steinen zu liegen, und setzte dies vierzehn Tage hindurch fort. Anfangs ging dies noch; bald jedoch begannen die Knie zu schwellen, und der Knabe mußte die größten Schmerzen aushalten. Der Vater war nicht zu bewegen, die Strafzeit zu kürzen oder die Strafe selbst zu mildern, indem er die Auslegung eines Tuches gestattete. Der Sohn hielt die Strafe aus, und seine Knie wurden wieder geheilt. Aber hernach ist er fortgewandert und auch nie wieder gekommen. Ein einzigesmal hat der Vater einen Brief von ihm erhalten, ohne daß der Sohn seinen Aufenthaltsort darin angab. In dem Briefe stand: »Wenn du mich besuchest, so mußt du zu meiner Linken bleiben und darfst nicht zu meiner Rechten kommen.« – Als der alte Witken gestorben war, wohnte ein Rat Bohlken auf Wittenheim. Auch Bohlken war ein eigener Mann. In seinen freien Stunden trieb er Drechsler- und Tischlerarbeit. Er hat die Pfeiler im Altargeländer der Westersteder Kirche gedrechselt. Einige Zeit vor seinem Tode zimmerte er sich seinen eigenen Sarg zurecht und pflegte fortan in demselben seine Mittagsruhe zu halten. Als einst eine Bauernfrau, die man in sein Zimmer gewiesen hatte, ihn so erblickte, fiel sie vor Schrecken mit einem lauten Schrei in Ohnmacht. Bohlken erwachte und beruhigte sie, indem er sagte: »Es ist ja nur mein Ruhebettlein, in welchem ich lange zu ruhen gedenke.« Nach Rat Bohlken bewohnte ein Jäger das Gut, verließ es aber bald wieder, weil die Gebäude bereits einzustürzen drohten. So stand denn das Gut mit seinem Inventar verlassen da, und schlechte Leute benutzten die Zeit, um von den Sachen zu entwenden, was ihnen gut schien. Als einmal ein gewisser Struß im Begriff war, einen kupfernen Kessel fortzutragen, kamen andere Diebe darüber [277] zu und wollten ihm die Beute abjagen. Da entfloh Struß und lief mit dem Kessel mitten durch den Graben, der das Gut umgab. Seitdem kam in dieser Gegend das Sprichwort auf: »Lik to, lik an, as Struß mitn Kätel.« Die Gebäude fielen nun in der Tat allmählich ein, und zwar stets bei stillem Wetter, wenn eine warme Sonne schien. Endlich tat die Regierung ein Einsehen. Die Trümmer der Gutsgebäude wurden vollends abgerissen, und was von beweglichen Sachen noch da war, in öffentlicher Vergantung verkauft. Manche der letzteren, als Bücher, zinnerne Teller u. dgl., sind daher noch in einzelnen Bauernhäusern der Umgegend zu finden. So ging das Gut Wittenheim zugrunde. (Ausnahmsweise sei daran erinnert, daß vorstehendes Sage und nicht Geschichte ist. Vgl. noch 35g.)

Wegen Hauwiek und Ocholt s. 204h, 615a-o.

Fußnoten

1 Die Viehweide ist seit 1890 verschwunden, und sind darauf hübsche Anlagen geschaffen. Auch die Pappeln sind fort, nur die Kastanien stehen noch und eine alte Esche. Reste der alten Gebäude, mächtige Granitsteine, sind bis dahin nicht weggeräumt, sondern erinnern noch an die alte Herrlichkeit Wittenheims.

2 Wenn die Frösche stark quakten, mußten die Eigenhörigen oder Leibeigenen das Wasser schlagen, damit der Junker schlafen könne.

3 Als der eine Junge hingerichtet werden sollte, hat er seinem Vater die Mütze gegeben mit den Worten: »Da Vader, hebt ji min Mütz!« Das Blut ist meterhoch emporgespritzt zum Zeichen, daß die Knaben unschuldig waren.

4 Seitdem sieht man als Spuk bei Wittenheim ein Mädchen auf einen Stier reiten.

5 »Wittenheim wird zur Strafe bei Sonnenschein umfallen«, war der Schluß der Rede.


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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Strackerjan, Ludwig. 508. Westerstede. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-3240-E