98. Stille Gedanken von Gott, dessen Eigenschaften und Vollkommenheiten

Vorbericht

Soll ich's sagen? Ja, ich will es. Vielleicht werde ich dadurch einen mehr Erleuchteten und mehr Begabten aufmuntern zu einer Arbeit, wozu ich zu gering und zu schwach bin. Ich habe in meinem kurzen Lauf viel Großes von Gott aus [544] Gnaden erkannt und von ihm unterm Kreuz viel Gutes erfahren. Merkt's, aus Gnaden! Deswegen lag mir seit mehr als zwanzig Jahren im Gemüte, daß ich noch gern vor meinem Hingang meinem Gott ein hundertfältiges Lobopfer bringen möchte für alle seine mir zu erblicken und zu erfahren gegebenen Barmherzigkeiten. Ich gedachte nämlich hundert Loblieder zu verfertigen 1. von Gott und seinen Vollkommenheiten, 2. von den Werken der Schöpfung, 3. von den Wundern seiner Vorsehung und Regierung, 4. von der Erlösung durch Christus, 5. von deren Ausführung in uns. Manche andere Arbeit und mein kränkelndes sechsundsechzigjähriges Alter benehmen mir die Hoffnung, auf dieser Seite der Ewigkeit an dergleichen weiter zu gedenken. Ich liefere nun hier in einem einzigen Liede den kurzen Begriff des ersten Teils, welcher erste Teil so viele Lieder ausmachen sollte, als man hier Verse siehet. Ein kurzer Begriff so großer und vieler Sachen kann nicht die Deutlichkeit einer ausführlicheren Abhandlung haben, erfordert aber eben darum ein mehreres stilles Nachdenken. Mit dem Lobe dieses großen Gottes wünsche ich hier mein Leben zu beschließen und erwarte von seiner Barmherzigkeit eine unendlich selige Ewigkeit, diesem meinem Gott meine Gelübde vollkommen bezahlen zu können und mit den verklärten Heiligen ihm mehr als ein hundertfältiges Lobopfer zu bringen. Amen, Halleluja!

[545] Mel.: Ich bin ja, Herr, in deiner Macht ...


1. Gott ist

Gott ist, Gott ist, Halleluja!
Des bin ich froh, du Gott, bist da,
Notwendig, wahr und lauter Wesen.
»Ich bin«, sprichst du; o ja, du bist!
Hört's, Engel, Mensch, und was da ist:
Wär' Gott nicht, ihr wärt nie gewesen.
Wohl mir, mein Gott, daß ich dich weiß,
Mein Nichts gesteh, dein Dasein preis',
Halleluja! Halleluja!

2. Unbegreiflich

Ich kenne dich, mein Gott, doch nein,
Du kennst das, was du bist, allein.
Ich wollt' in deinen Tempel treten,
Doch bleib' ich schon beim Eingang stumm,
[546]
Sink' gar vorm dunkeln Heiligtum,
Will nichts mehr sehn, nur tief anbeten:
Dir ziemt die Unbegreiflichkeit,
O heil'ge, süße Dunkelheit,
Halleluja! Halleluja!

3. Geist und Leben

Du bist ein Geist, nicht grob sichtbar,
Ein Denken und ein Leben gar,
Das unbeschränkt, frei, ganz vollkommen,
Der allen Geistern Leben gibst
Und den, der geistlich lebet, liebst,
Des Herz der Grobheit ist entnommen;
Wir sehn nur Schildereien hier,
Im Geist und Wahrheit dient man dir,
Halleluja! Halleluja!

4. Licht

O Licht, du Licht- und Lebensbrunn,
Der Freundlichkeit, der Freuden Sonn'!
Man schaut's verhüllt, gebückt man's ehret.
Von Jesus strahlt dein Widerschein
So lieblichsanft ins Herz hinein;
Bleib' ich nun stille zugekehret,
[547]
So macht dies Licht dem Licht mich gleich
Und gibt des Lichtes Freudenreich,
Halleluja! Halleluja!

5. Einig

Du, unser Gott, bist Gott allein,
Und neben dir kann keiner sein,
In dir beruhst du, hast's in Einem.
Nur Eins ist not! rufst du mir zu,
Der Götzen Meng' bringt keine Ruh;
Drum dien' ich dir und sonst auch keinem.
Mein Geist, mein Herz, Sinn und Verstand
Sei dir, dem Einen, zugewandt,
Halleluja! Halleluja!

6. Dreieinig

Du schaust, du liebst im Gottheitsthron
Dich selbst. Dies Selbst ist dein selbst Sohn,
Dein Herz, dein's Herzens Wohlgefallen,
So daß du selbst, dein heil'ger Geist,
Wie im Triumph aus beiden fleußt
Mit ew'gem Lieb's- und Freudewallen.
Dein'n Sohn, o Vater, gabst du mir,
Dein Geist reißt mich von all'm zu dir.
Halleluja! Halleluja!

7. Allgenugsam

Was du nicht bist, kannst du entbehrn,
Dein Denken, Lieben und Begehrn
Hat alles schon vollkommen drinnen.
[548]
Du bist dir g'nug, doch suchst du mich;
Ich such' und kann nicht missen dich,
Was hülf's, könnt' ich die Welt gewinnen!
In mir und all'm ist Dürftigkeit,
Du bist mein' Allgenugsamkeit.
Halleluja! Halleluja!

8. Ewig

Du bist dir selbst der Ort, die Zeit,
Der Anfang und die Ewigkeit,
Ohn' Anfang, ohne End' und Schranken.
Dein prächtig's Heiligtum bist du,
Besitzt dich ganz in einem Nu
Ohn' alle Ändrung, ohne Wanken.
Verlass' ich Zeit und Ort und mich,
Gott-Ewigkeit, dann find' ich dich.
Halleluja! Halleluja!

9. Beständig

Unwandelbar bist du allein,
Du gibst Bestehn und standhaft sein,
Drum wird dein Werk auch nicht vergehen.
Dein fest Gesetz die Welt regiert,
[549]
Mich ohne Zwang zum Wohlsein führt;
Ich folg', drum muß mein Glück bestehen.
Ob Licht und Trost und Kraft mich läßt,
Dein Gnaden-Salzbund bleibt doch fest.
Halleluja! Halleluja!

10. Frei

Du denkst, du lebest für und für
Höchst frei, vergnügt und leicht in dir;
Ich ehr' dein freies Gottesleben.
Dein frei Belieben war's auch nur,
Zu stellen dar die Kreatur
Und deine Freiheit mir zu geben.
Ich fiel in Zwang und Sklaverei;
Dir lebend, leb' ich wieder frei.
Halleluja! Halleluja!

11. Allgegenwärtig

Du bist ganz überall, ganz hier;
Ich bete an und mich verlier,
Ich kann so hoch, so tief nicht denken.
[550]
Was ist, hat in dir sein Bestehn,
Doch wird dein Nahsein nicht gesehn,
Du mußt dich offenbar'n und schenken.
Mein Gott, mein Heil, ach, wann geschicht's?
Bist du bei mir, dann fürcht' ich nichts.
Halleluja! Halleluja!

12. Groß und hoch

Du Hoher und Erhabener,
Du Großer, ja, du Größester,
Kein Geist erreicht dein hohes Denken.
Ein Stäublein ist dir alle Welt,
Das deine Hand formiert und hält;
Wie tief muß dann ich Wurm mich senken!
Und doch ist Kleinheit groß bei dir,
Du suchst sie, und du wohnst in ihr.
Halleluja! Halleluja!

13. Der Herr

Du bist der Herr mit Nachdruck nur,
Selbstherrscher aller Kreatur;
Du denkst, du sprichst, so muß es werden.
Die höchsten Geister huld'gen dir,
Sonn', Mond, und alles schmiegt sich hier;
Mensch, rebellierst du, Wurm der Erden?
Mein gnäd'ger Herr, nimm du mich an,
Mein Alles sei dir untertan!
Halleluja! Halleluja!

[551] 14. Selig

Aus dir, in dir, von Ewigkeit
Besitzt du alle Seligkeit,
O Freud', o Lust, o Triumphieren,
O Wonn', o Ruh, nur dir bewußt!
Zur Not nicht, zu belieb'ger Lust
Dir Mensch und Engel jubilieren.
Du hast's, mir fehlt's, du bist allein
Mein' ew'ge Ruh, mein Seligsein.
Halleluja! Halleluja!

15. Gut

Du, Gott, bist gut, machst alles gut,
Du tust uns Gut's. Wer's hat, wer's tut,
Der hat's aus dir, dem Gutheitsbrunnen.
Dein Brunn quillt stets für jedermann;
Wer glaubt's, wie nah man's haben kann?
Mensch, kehr dich doch zur Gutheitssonnen!
Es taugt nicht in noch außer mir;
Ich hab's nur gut, so gut, bei dir.
Halleluja! Halleluja!

16. Liebe

Du bist die Lieb' und liebst dich rein;
Nichts kann so gut, nichts schöner sein,
Bist selbst dein hohes Lieb'sgenießen.
Dein Lieb'smagnet zieht uns auch an,
Du machst uns lieblich, liebst uns dann;
Wir soll'n mit dir in Eins zerfließen.
[552]
O Lieb'striumph, o Wonn', o Lust!
Ach Mensch, ach Mensch, wär' dir's bewußt!
Halleluja! Halleluja!

17. Allmächtig

Herr, deine Macht ist Allmacht ja,
Durch deinen Will'n steht alles da,
Es steht, es geht nach deinen Winken.
Hör's, hoher Geist, hör's, starker Mann,
Gott schafft's, wenn man was Rechtes kann,
Sonst müßt dein' Macht in Ohnmacht sinken!
Ich lass' mich dir; Herr, deine Macht
In meiner Schwachheit werd' vollbracht!
Halleluja! Halleluja!

18. Allwissend

Allwissend wirst du auch genannt;
All' deine Werk' sind dir bekannt,
Mein Tun, mein Reden und mein Denken.
Du prüfst es, was ich such' und mein',
Du weißt mein Elend, meine Pein;
Ich seh' auf dich, will mich nicht kränken.
Dein'm Aug' befehl' ich meinen Weg
Und nichts dein'm Aug' Mißfällig's heg'.
Halleluja! Halleluja!

19. Weise

Untadlig weisester Verstand,
Des Urgrund dir allein bekannt,
Von Weisheit zeugt dies Kunstgebäude;
[553]
Wie weislich bin ich selbst gemacht,
Wie weislich werd' ich wiederbracht,
Wie weislich sproßt aus Angst die Freude!
All's, was du machst, ist weis' und schön,
Ich glaub's, auch wo ich's nicht kann sehn.
Halleluja! Halleluja!

20. Heilig

Die Seraphim dir rufen zu:
»O Heilig, Heilig, Heil'ger du!«
Wo soll denn ich Unreiner bleiben?
Du machst dich Sündern nicht gemein,
Und wer wird ohne Tadel sein? –
Ich will mich Christus einverleiben;
Dem hang' ich an, so nimmt er's hin
Und heiligt mich nach seinem Sinn.
Halleluja! Halleluja!

21. Wahrheit

Gedicht und Traum ist mir zu schlecht;
Du bist und gibst die Wahrheit recht,
Die Aug' und Herz und all's vergnüget.
Dein Wort und was dein Mund verspricht,
Ist Wahrheit und fehlt nimmer nicht;
Du bist kein Menschenkind, das lüget.
Viel tausend haben's drauf gewagt;
Auch mir, auch mir ist's zugesagt.
Halleluja! Halleluja!

[554] 22. Geduldig und langmütig

Du trägst die Bösen; o Geduld!
Du strafst nicht bald, nicht wie's verschuld't,
Dein Wohltun unermüdet bleibet.
Du rufst und lockst so gütiglich,
Du wartest so langmütiglich,
Bis sich das Herz dir ganz verschreibet.
O Gotteslangmut, o Geduld,
Ich brauch' noch täglich deiner Huld.
Halleluja! Halleluja!

23. Gerecht

Dein Werk, dein Weg, Gesetz, Gericht,
Ich mag's begreifen oder nicht,
Ist ziemend, gut, gerecht und heilig.
Nach Stand, nach Tat, wird 's Recht gestellt;
Wie Sünd' und Unrecht dir mißfällt,
Zeigt uns dein's Sohnes Leiden freilich.
In ihm, durch ihn, will ich allein
Mit leiden, mit gerecht auch sein.
Halleluja! Halleluja!

24. Barmherzig

O Gottes Herz, Barmherzigkeit,
Mein sanfter Trost in höchstem Leid,
Wo blieb' ohn' dich ich armer Sünder?
Du gabst dein'n Sohn für uns in 'n Tod,
Du siehst mit Wehmut unsre Not,
[555]
Du suchst, du pflegst die kranken Kinder.
Gib mir dein Herz, mach meins auch warm,
Und wann ich sterb', dich mein erbarm!
Halleluja! Halleluja!

25. Gnädig

Du Gnädigstfreundlicher uns liebst,
Uns gern für Recht nur Gnade gibst;
Durch Gnade bin ich tief gezogen,
Nur Gnade tilget Schuld und Sünd',
Durch sie bin ich dein Gnadenkind.
Dein Herz bleibt unverdient gewogen;
Ich ess' und trink' nur Gnade hier,
Von Gnade sing' ich ewig dir.
Halleluja! Halleluja!

26. Unsterblich

Du bist, du warst, wirst immer sein;
Unsterblichkeit hast du allein,
Mein Geist, dein Hauch, hat s' durch dein Geben.
Es mag vergehn die ganze Welt,
Ob auch mein's Leibes Bau zerfällt,
Du sagst mir zu unsterblich's Leben:
Der schlecht gesäte Leib soll schön,
Der Geist unendlich fröhlich stehn.
Halleluja! Halleluja!

[556] 27. Herrlich

Gott, du bist ganz Vollkommenheit;
Dies Ganze ist dein' Herrlichkeit,
Vor der sich bücken alle Chöre
Zum Lob dein'r höchsten Majestät,
Der'n Stimm durch alle Welten geht:
»Nicht uns, nicht uns, Gott sei die Ehre,
Nur dein ist alle Herrlichkeit!«
So schrei ich mit in Ewigkeit.
Halleluja! Halleluja!

28. Anfang und Ende

Mein Anfang und mein End' bist du,
Der wahre Zielpunkt meiner Ruh,
Mein's Herzens Schatz, mein's Geistes Speise;
Mein Woll'n, mein Lieben richt auf dich,
Mein Sinn dich meine lauterlich!
Nach dir, mein'r Heimat, geht die Reise,
Ich leb' in dir, mein'm Element,
Ich sterb' in dir, mein'm sel'gen End'.
Halleluja! Halleluja!

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Tersteegen, Gerhard. 98. Stille Gedanken von Gott. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-4ACC-2