[345] 3. Die Lügenkäther

Das Mittelalter hat trotz seiner barbarischen Gesetze mehr Nachsicht und Humor für Originale gehabt als unser gleichmachendes Zeitalter. Till Eulenspiegel, dessen sämtliche Streiche doch am Ende darauf hinausliefen, andern einen Schabernack zuzufügen, ist im Leben belacht, im Tode mit Ehren bestattet und nach dem Tode noch in Druck und Bild verewigt worden; die Lügenkäther aber, die nicht viel Schlimmeres getan, ist in Verachtung im Zuchthaus gestorben; fragt sich nun, welche Auffassung die richtigere ist.

Die Käther 1 wäre sicherlich ein ergiebiges Studium für Doktor Scheve gewesen, denn ein auffallenderes Beispiel [345] eines angeborenen, fast unvertilgbaren Hanges als ihre Lügenlust ist mir nie vorgekommen. Sie hat nicht gelogen, um irgend einen Zweck für sich zu erreichen, gar selten hat sie auch nur vorübergehenden Vorteil davon gehabt; nein, sie log, rein um zu lügen, und weder Strenge noch Güte konnten sie je davon abbringen. Freilich fürchte ich, die letztere sei gar wenig bei ihr versucht worden; sie wuchs auf als ein Kind der Armut und Schande, verachtet und versäumt, und wenn es eine Lösung gibt für das psychologische Rätsel, das sie darbietet, so liegt sie wohl nur in ihrem Drang, sich durch ihre Lügen wenigstens augenblicklich wichtig zu machen.

Bis zu den ersten Anfängen läßt sich ihre Lügenkrankheit nicht verfolgen; auf ihren Schulzeugnissen stand zwar alljährlich: bedenklicher Hang zur Unwahrheit; aber einzelne Fälle wurden doch erst bekannt, als Käther der Öffentlichkeit, das heißt den Gerichten übergeben wurde. Nur wenige Beispiele unter den vielen, die man sich von ihr erzählte, sind mir noch gegenwärtig; aber sie reichen hin zum Beleg für ihre seltsame Krankheit.

Der Bauer auf dem Steinhof hatte einen reichen kinderlosen Vetter in Eßlingen, auf dessen Erbe schon viele schöne Pläne gemacht worden waren. Eines Morgens erschien ein schwarzgekleidetes Mädchen auf dem Hof und meldete den Tod des Vetters und ihren Auftrag, zur Leiche auf den folgenden Tag zu laden. Der Schmerz war mäßig; doch wurden in der Eile die schwarzen Kleider hervorgesucht, die Nähterin mußte herbei, damit sie Flor um Hut und Ärmel mache. Die Bäuerin beschloß selbst mitzugehen, auch Hannesle und Peter sollten mit, weil es so schön aussehe, wenn Kinder »in der Klag« vorausgingen. Man nahm beim Krämer noch eine Zitrone, mit Nägelein besteckt, mit und stellte ein Kistchen hinten aufs Bernerwägele, im Fall man die wichtigsten Sachen gleich aufpacken dürfe.

Unter erbaulichen Gesprächen über die Vergänglichkeit alles Irdischen, und wie man eben nichts mitnehmen könne im Tod, und unter Beratungen, ob man des Vetters Geld vorerst in [346] Zins tun oder gleich Güter darum kaufen wolle, erreichte die Familie endlich Eßlingen und fuhr an des Vetters Haus vor. Es war gar still, wie es sie bei einem Leichenhaus natürlich dünkte. Der Bauer spannte aus, und die Bäuerin schritt indes mit den Buben in geziemendem Ernst die stillen dunkeln Treppen hinauf und öffnete das Zimmer. Da saß der Herr Vetter in seinem schwarzsaffianenen Lehnstuhl, vor sich ein Tischchen mit Bier, Brot und einem reichgefüllten Schinkenteller, das hinlänglich seine volle Gesundheit beurkundete. Die Buben starrten ihn an mit offenen Mäulern, die Bäuerin schrie laut auf: »Ja Herr Jemer, sind Sie denn nicht gestorben, Herr Vetter?« – »Was G'schwätz!« erhob sich der vom Stuhl, »seh' ich aus, als ob ich g'storben wär?«, und darauf folgten noch ein paar kräftige Flüche. Die Bäuerin faßte sich und drückte sich nun sehr wortreich über ihr Vergnügen aus, daß der Herr Vetter doch noch am Leben sei, und erzählte, was sie gesagt und was ihr Mann gesagt und was die Schwieger gesagt, als ihnen die fälschliche Todesnachricht vom Herrn Vetter zugekommen, und erschöpfte sich in Vorschlägen zu allerlei schauderhaften Strafen, die man der betrüglichen Botschafterin antun sollte.

Der Bauer hatte indes schon unten erfahren, wie vergeblich seine Reise sei, und benahm sich von Anfang an gescheiter; Hannesle machte noch einen großen Unschick, indem er fragte: »Mutter, krieg' ich jetzt kein neu Häs 2 aus Herrn Vetters Sonntagsrock?« Die Püffe, die er bekam, halfen nicht mehr dazu, den Herrn Vetter milder zu stimmen, der gar nie an seinen Tod gemahnt werden wollte. Die Unterhaltung und Bewirtung fiel äußerst frugal aus, zumal als vollends des Vetters Haushälterin nach Hause kam und den Zweck der Reise erfuhr. Die Flöre wurden in der Stille abgetan; die Bäuerin band sich das farbige Schnupftuch ihres Mannes als Halstuch um, und noch hoch am Tage, in sehr nüchterner Stimmung, kam die Trauergesellschaft nach Hause zurück, neben dem Ärger [347] über die vergebliche Reise noch mit der schweren Sorge im Herzen, der Vetter werde ihnen am Ende das Erben für alle Zeit unmöglich machen. Erst spät kam zur Entdeckung, daß die Lügenkäther von Weindorf die trügliche Bötin gewesen war.

Solche Trauerbotschaften brachte sie an verschiedene Orte zu verschiedenen Zeiten und wußte dabei die letzten Tage des Hingeschiedenen und die näheren Umstände des Todes so rührend darzustellen, daß alles zusammen weinte. Ein alter Vater wanderte einmal sieben Stunden weit zur Leiche seines Sohnes, der Mühlknecht war, und wäre fast gestorben vor Schreck und Freude, als ihm der Totgeglaubte rüstig und gesund, lustig mit der Peitsche knallend, mit dem vollen vierspännigen Mühlwagen entgegenfuhr.

Frau Frey in R. trieb einen kleinen Handel mit Blumen und Gemüse. Käther kam zu ihr, sich für die Amtsbötin von Weindorf ausgebend, und bestellte für die Sternwirtin tausend Gemüsesetzlinge und hundert Levkojenstöckchen; sie wollte sie im Augenblick abholen. Die gute Frau ließ sich's sauer werden und war schlimmer dran als der Rübezahl, bis sie endlich die tausend Setzlinge gezählt hatte; sie legte immer wieder ein paar dazu, damit's nicht zu wenig seien. Wer aber nicht kam, das war die angebliche Bötin, und am Abend waren die Pflanzen trotz aller Sorgfalt der Frau Frey jämmerlich verwelkt.

In das Dorf Steinbach kam eines Sommermorgens ein anständig gekleidetes Mädchen, die sich die Tochter des Käsers von Weindorf nannte. Ihr Vater habe eine ungeheure Bestellung auf Käse erhalten, da der König nach dem Manöver jedem Soldaten einen Käslaib mit nach Haus gebe. Nun bezahle ihr Vater gern acht Kreuzer für die Maß Milch (ein damals unerhörter Preis), nur möchten sie die Weiber alle in eine große Kufe zusammenschütten; in einer Stunde komme ihr Vater mit einem Faß, um sie zu holen. Nun strömte es mit Milch von allen Seiten herbei; die Käserstochter stand mit einem Papier daneben, notierte die Namen und die Quantität Milch, die jede brachte; dann ging sie eilig fort, um den Vater zu benachrichtigen, damit er gleich komme.

[348] Der Käser kam nicht, die Milch ward sauer; man schickte einen Expressen ab, den Käser zu holen; der kam mit der Botschaft zurück, daß alles erlogen sei. Der Käser zu Weindorf habe gar keine Tochter, es werde die Lügenkäther gewesen sein.

Die empörten Weiber schlugen sich vor der Milchkufe fast tot im Kampf um den Anteil an Rahm, der jeder gebühre; mehr als die Hälfte ging bei der Schlacht zugrunde, und fast hätte man Militärmacht gebraucht, um die Balgerei zu schlichten, in die sich auch die Männer gemischt hatten.

Die Käther durfte froh sein, vor der aufgeregten Volkswut im Gefängnis geborgen zu werden; wenn man den Steinbachern die Lynchjustiz überlassen hätte, wäre sie schlimm weggekommen.

In einem Dienst behielt man sie natürlich nicht, da sie in keinem das Lügen lassen konnte. Sie kam zuerst ins Ortsgefängnis, dann ins Kreisgefängnis; dann avancierte sie wegen wiederholter Rückfälle ins Zuchthaus. Auch dort tat sie ihr Möglichstes im Lügen. Anfangs entdeckte sie vorgebliche Komplotte; als ihr das gar zu schlimm bekam, beschränkte sie sich darauf, abenteuerliche Träume zu erzählen und die Mitgefangenen gegeneinander zu verhetzen.

Sie war für keine Art von Vorstellungen empfänglich, hat nie Besserung versprochen noch gehalten. War sie aus dem Zuchthaus frei, so suchte sie so bald als möglich aus dem Heimatort, in den sie verwiesen war und wo die allgemeine Verachtung auf ihr lastete, zu entweichen, und trat dann in entfernteren Gegenden wieder irgend einen Lügenzug an. Ein Beispiel ihrer Fertigkeit, das ziemlich heiter endete, will ich zum Schluß noch anführen.

Ein Pfarrer vom Schwarzwald, den eine Familienangelegenheit in die Residenz geführt hatte, begegnete daselbst mit Erstaunen einem reichen Hofbauer aus seinem Dorf, der sonst unzertrennbar mit seinem Grund und Boden verwachsen schien. »Was tut denn Ihr hier, Braun?« fragte er verwundert, »und dazu noch Eure Frau?« – »Oh, Herr Pfarrer, wir haben einen traurigen Anlaß; unser Hansjörg, der hier Soldat ist, [349] hat uns verbieten lassen, er lieg' auf den Tod krank, und er möcht' uns nur noch einmal sehen. Da sind wir denn fort miteinander und haben mitgenommen, was aufs Wägele ging, Schnitz und Eier und Schmalz und eine Henne, daß man ihm auch noch eine Güte antun kann, und jetzt sind wir auf dem Weg in die Kaserne; die Füße tragen uns fast nimmer.« Das Weib begleitete seine Rede nur mit Schluchzen. Der Pfarrer bot ihnen an, sie zum Sohn zu begleiten. Auf dem Weg zur Kaserne begegneten ihnen noch da und dort Bauersleute, Väter, Mütter, Ehepaare, und auf Befragen führte alle derselbe Zweck hierher, einen todkranken Sohn beim Militär zu besuchen. Dem Pfarrer fiel das als sonderbar auf, dem Bauern nicht; »'s muß scheint's eben eine Viehseuch' in der Kasern' sein,« meinte er, »das kommt manchmal vor.«

Im Hof der Kaserne trafen sie noch einige gebeugte Eltern und ein paar Obermänner und einen Leutnant, die mit hellem Lachen dabeistanden. »Wollt ihr auch zu kranken Söhnen?« rief man ihnen lachend entgegen. – »Freilich,« entgegneten sie, empört über die Roheit. – »Nun, gebt mal die Namen an!« kommandierte der Leutnant. Das geschah. »Und jetzt, Müller,« zum Obermann, »rufen Sie mal die Bengel herbei!« Die Leute wußten nicht, wie ihnen geschah, und wollten gegen die Härte protestieren, die Kranken herbeizurufen, als auf einmal in militärischer Haltung und geschlossener Reihe die Beweinten einhermarschierten und ihre guten, heimatlichen Dickköpfe unter dem Tschako den gebeugten Eltern erfreut und verwundert zuwendeten. Nun gab's ein Vergnügen und Erstaunen und ein Durcheinandergeschrei, bis jedes erzählen wollte, was man ihm ausgerichtet und was es dabei gedacht und gesagt und was die daheim denken und sagen werden.

Dem Leutnant wurde es zu toll; er nahm's auf sich, den Wiedergeretteten einen Urlaub für diesen Tag zu bewilligen, und riet ihnen, sich in einen öffentlichen Biergarten zu begeben, wo sie Raum und Muße finden würden, sich auszusprechen.

Da zogen sie denn hin; die mitgebrachten Vorräte für die Kranken wurden zu großem Vergnügen der Gesunden herbeigeholt. [350] Die Freude über das fröhliche Wiedersehen ließ den Ärger über die trügliche Botschaft nicht zu sehr aufkommen; sie öffnete alle Herzen, die Reichern teilten den Ärmern mit. Die Frau Wirtin mußte Küchlein backen, und der Tag, der den Eltern so traurig angebrochen, endete in allgemeinem Vergnügen und blieb den Söhnen lange ein Lichtpunkt in dem einförmigen Kasernenleben.

Diesmal hatte sich's die Lügenkäther sauer werden lassen; sie war in einem Tag in mehr als zehn, zum Teil entlegenen Ortschaften herumgekommen, hatte sich kaum Zeit zu einem Imbiß genommen und selten einen Lohn gefordert. Ein unglückliches Opfer ihres dämonischen Hanges, ist sie noch jung im Zuchthaus gestorben.

Fußnoten

1 Katharine.

2 Anzug.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Erzählungen. Bilder und Geschichten aus Schwaben. Vom Dorf. 3. Die Lügenkäther. 3. Die Lügenkäther. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A75F-E