97. Das Jungfernloch.

Ertingen.


Ist eine Höhle im Oberland. Auf dem Berg, in welchem sie sich befindet, stand vor Zeiten ein Schloß. Zwei Schwestern, von welchen die eine blind war, hausten in der Burg. Da wollte die Sehende mit der Blinden einsmals [69] abtheilen, um ihr Geld besonder zu haben. Nahm d'rum ein Viertel und maß das Geld darin. Als sie dasselbe vollgefüllt, sagte sie zu der blinden Schwester: Da fühle nun her, ob das Viertel nach Recht eben abgestrichen. Die Blinde tastete hin und sprach: das Maß ist recht. Dies behielt die Sehende für sich. Abermals sezte sie das Viertel an den Geldhaufen, aber verkehrt, daß der Boden nach oben sah, belegte diesen mit Geldstücken und forderte ihre blinde Schwester wieder auf, hinzutasten, ob recht gemessen wäre. Diese meinte, es wäre das Viertel voll und bejahte die Frage ihrer Schwester. So bekam die Sehende fast alles Geld. Da nun dieses geizige Burgfräulein starb und die Burg gebrochen worden, mußte sie im Berg bei ihrem gestohlenen Reichthum »geisten«. Alle Jahr an einem gewissen Tag schloß sich der Berg auf, und wer die Pforte des Berges fand, konnte zu den Schätzen kommen und sich deren verschaffen. Begab es sich auf eine Zeit, daß der Berg grade offen stund und ein armes Bettelweib mit ihrem Kind am Berg Erdbeeren suchte. Die verwunderte sich ob der nie gesehenen Thüre und ging in den Berg. Da kam sie zu dem Burgfräulein und sah die Schätze. Die Geistin lud das Weib ein, mitzunehmen, was sie mochte, damit dieselben als Almosen der Hartherzigen Erlösung erwirken möchten. Das arme Weib sezte ihr Kind auf die Erde und nahm sich eine Schürze voll Goldes. Als sie vor dem Berge, war sie wol reich, hatte aber ihr Kind drin sitzen lassen und nun voll Jammer. Nirgends fand sich die Pforte wieder. Nach Umfluß eines Jahres kam sie voll Trauer wieder zum Berg und siehe, er war offen. In der Erwartung, ihr Kind als Leichnam zu sehen, trat sie ein. Aber der Kleine saß munter bei den Schätzen und spielte mit den glitzigen Sachen. Er [70] war nur etwas aus dem Kittelein gewachsen. Da lächelte das Burgfräulein, gab dem Weib das Kind zurück und dazu noch viel Kostbarkeiten. Das Bettelweib theilte jedermänniglich von ihrem Reichthum mit, die arme Seele im Berge bekam den Frieden und war durch die Wohlthaten des reichgewordenen Bettelweibes erlöst 1.

Fußnoten

1 Vgl. ähnliche Sagen von Kindern, die man verloren glaubt, Th. Vernaleken, Myth. u. Bräuche S. 25. Nr. 4. 129. (Aus Mähren und Böhmen eine ähnliche Sage.) Schönwerth II. 241.

Von der blinden Schwester hat J.V. Zingerle eine ganz ähnliche Sage S. 221. Nr. 393. Vgl. ferner Wolf, Beiträge II. S. 198. Panzer I. S. 2. 28. 74. II. S. 56. 138. 139. 140. 141. 143. Schönwerth II. S. 385. 386.


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TextGrid Repository (2012). Birlinger, Anton. 97. Das Jungfernloch. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-073F-D