1178. Die kreißende Zwergin.

(S. Schambach u. Müller S. 134.)


In Wulsten lebte vor Zeiten ein wohlhabender Bauer, der aber allmälig mehr und mehr zurückkam, ohne daß er irgend wie daran schuld gewesen wäre. [944] Denn er arbeitete mit seiner Frau nach wie vor fleißig fort, aber es half ihm nichts, weil ein Unsegen auf ihm zu ruhen schien und ihm namentlich immer seine Pferde verloren gingen, so daß er stets neue anschaffen mußte. Kaum hatte er wieder Pferde gekauft, so fingen sie auch schon an abzumagern, mochte er ihnen auch noch so reichliches und noch so gutes Futter geben, so daß eins nach dem andern dem Abdecker übergeben werden mußte. Auf diese Weise geschah es, daß der Bauer ein Stück nach dem andern aus dem Hause verkaufen mußte, so daß zuletzt alle Kammern ausgeleert waren; nur die Schlüssel zu den leeren Kammern waren noch übrig. Dabei zeigten die Pferde stets, so mager sie auch waren, einen unersättlichen Hunger, so daß der Bauer kaum noch wußte, womit er sie füttern sollte. Als einst die Zeit der Heuernte herangekommen war, hörte der treue Knecht, der im Stalle schlief, daß die Pferde in der Nacht vor Hunger stampften und scharrten. Er sprach zu ihnen: »Ich wollte Euch wohl gern etwas zu fressen geben, wenn ich nur etwas hätte.« Da erwiderte eins der Pferde, das älteste von allen im Stalle: »Wie geht das zu?« »Ja, ich weiß es nicht,« sprach der Knecht, »der Herr holt alle Tage so viel herunter, aber bei Euch hilft ja Alles nichts, Ihr werdet ja doch von Tage zu Tage magerer!« Da sprach das Pferd: »So will ich Dir etwas sagen, thue aber genau, was ich Dir sage. Wenn Du heute beim Heuen Durst bekommst, so bitte den Herrn um ein Glas Bier; er wird Dir zwar erwidern, er habe kein Geld; er möge doch die Schlüssel zu den leeren Kammern zusammenbinden, damit zum Wirth gehen und eine Flasche Bier dafür kaufen.« Als nun der Knecht an diesem Tage mit seinem Herrn beim Heuen war und vom Sonnenbrande gequält argen Durst litt, sagte er zu seinem Herrn, er möge doch die Schlüssel zu den leeren Kammern in ein Bund binden, damit zum Dorfwirth gehen und eine Flasche Bier dafür kaufen; diese wollten sie dann mit einander austrinken. Der Herr that so, wie es ihm der Knecht angegeben hatte. In der nächsten Nacht hörte die Frau des Bauern, welche zugleich die Hebamme im Dorfe war und oben schlief, an die Hausthür klopfen. Sie vermuthete sogleich, daß eine kreißende Frau ihrer begehre, ging also schleunigst hinunter und öffnete die Thür. Da stand ein kleines Männchen vor ihr und forderte sie auf, ihm nach seinem Hause zu folgen, wo seine Frau in Kindesnöthen liege. Die Frau war auch gleich bereit und folgte dem Zwerge, der sie in ihren Pferdestall führte. Hier öffnete er eine Fallthür unter der Krippe, die vorher noch nie ein Mensch gesehen hatte, und vor den Augen der Frau zeigte sich eine Treppe von einigen Stufen, auf der sie mit dem Zwerge hinabstieg. Am Ende der Stufen angelangt, stand sie vor einem hohen Gewölbe, in welches sie eintrat, worin Alles höchst sauber und reinlich gehalten war. Auf einem Ruhebette an der Wand lag die Kreißende, die ihres Beistandes bedurfte; der Zwerg hatte sich auf der entgegengesetzten Seite niedergesetzt und schaute mit keinem Blicke zu seiner Frau herüber. Als die Hebamme das Kind glücklich zur Welt gebracht hatte, wollte sie sich wieder entfernen, der Zwerg aber erhob sich von seinem Sitze und hieß sie noch bleiben, erst müsse sie ihren Lohn haben. Zugleich zeigte er ihr in den Ecken des Gemaches vier Haufen, jeder etwa einen Scheffel groß, von denen sie vorher nichts gesehen hatte und forderte sie auf, sich einen davon zu nehmen. Der Haufen in der einen Ecke bestand aus reinem Golde, der in der andern aus Silber, [945] der in der dritten aus Kupfer, der in der vierten aus Kehricht. Die Frau dachte in ihrer Angst, sie sei doch verloren und wählte den Kehrichthaufen. Der Zwerg ermahnte sie nun, diesen ja ganz zu nehmen und nichts davon liegen zu lassen. Dies that sie auch und nahm Alles in ihre Schürze. Darauf begleitete sie der Zwerg zurück bis zu der Fallthür, hier blieb er stehen und sagte ihr, sie hätte eine glückliche Wahl getroffen, denn wenn sie das Gold genommen hätte, so würde sie jetzt das Gegentheil davon, werthlosen Kehricht, so aber, da sie den Kehricht genommen, werde sie gediegenes Gold haben; nur dürfe sie nicht eher die Schürze öffnen und hineinsehen, als bis sie wieder in ihrem Hause angelangt sei. »Wir haben,« setzte er noch hinzu, »aus Euren Früchten den Kern herausgesogen und sind dadurch reich geworden; Eure Pferde aber haben nur die Hülsen bekommen, davon sind sie so mager und dürr, und Ihr seid arm geworden. Jetzt habt Ihr Euren ganzen Reichthum wieder, und Ihr werdet wieder glücklich sein, wir aber ziehen fort von hier in eine andere Gegend!« Nach diesen Worten schloß er die Thür hinter sich zu. Die Frau ging nun hin zu ihrem Manne, der unten im Hause schlief, weckte diesen und sagte ihm, nun würden sie wohl wieder glücklich werden. Dann erzählte sie ihm Alles, was ihr begegnet war; zugleich öffnete sie ihre Schürze und zeigte ihm den in gediegenes Gold verwandelten Kehricht. Von der Zeit an gediehen auch den Leuten die Pferde wieder.


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TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. 1178. Die kreißende Zwergin. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-4D4A-1