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An Sophie von La Roche

[Frankfurt, Mitte Juni 1774.]

Liebe Mama ich begreiffe die Menschen nicht, ich muss mich noch so offt über sie wundern, und daran spür ich dass ich iung binn. [164] Sonst wenn ich von einem grosen Geiste hörte, so gab meine Einbildungskrafft dem Mann eine Stärcke, eine hohe Vorstellungsart, und übrige Apertinenzien, und nun wie ich sie kennen lerne die Herrn, ists mit ihnen nicht besser, als einem eingeschränkten Mädgen deren Seele überall anstöst, und deren Eitelkeit mit einem Winckgen zu beleidigen ist. Ich dachte Wieland sollte sich so albern nicht gebärden. Denn was ist an der ganzen Sache? Ich hab ihm ein Gartenhäusgen seines papiernen Ruhms abgebranndt, ihm ein wächsern Desert Parterrgen verheert, kommt er darüber auser sich, was wird er erst gegen das Schicksaal toben, das mit unerhörter Impertinenz den Seschianischen Pallast, mit soviel Kunstwerken und Kostbaarkeiten, die Arbeit sovieler Hundert Menschenseelen, in Vierundzwanzig Stunden in die Asche legt. Meinen Werther musst ich eilend zum Drucke schicken, auch dacht ich nicht dass Sie in der Lage seyen, meiner Empfindung, Im magination, und Grillen zu folgen.

Meine Schwester trägt gegenwärtig die Unbequemlichkeiten guter Hoffnung, ich habe wohl in zwey Monaten keinen Brief von ihr.

Die liebe Max seh ich selten, doch wenn sie mir begegnet ists immer eine Erscheinung vom Himmel.

Meine Mutter grüsst Sie herzlich.

Wann werden Sie kommen, und sich wieder überzeugen [165] dass Sie wohl bessere Söhne und Freunde haben, treuer aber keinen als

Ihren

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1774. An Sophie von La Roche. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6F16-A