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An Carl Friedrich Zelter

Auch von meiner Seite sey der schönste Dank erwidert, daß du meine Iphigenia aus Wort und Buchstaben wieder in's Leben des Geistes und Herzens hervorgerufen hast. Ich darf mich wohl erfreuen daß diese frühern Erzeugnisse immer von Zeit zu Zeit wieder auferstehen und fortwirken.

Und so sende denn auch ein paar Exemplare ältere Festgedichte, die bey Rauchs Gegenwart zur Sprache kamen. Sie sind fast ungekannt in dem Strom der [228] Vergessenheit hinabgeschwommen und bey ihrem ersten Erscheinen nicht beachtet worden, weil sie zu einer Zeit hervortraten wo der Haß gegen das Bestehende sich öffentlich zeigen durfte, wie er jetzt noch immer im Geheimen fortwühlt.

Gewiß freut es dich wenn ich vermelde daß die ganze zehnjährige Correspondenz mit Schiller von seiner und meiner Seite in meinen Händen und beynahe schon völlig redigirt sey. Tritt sie hervor so wird sie dem Einsichtigen den Begriff von einem Zustande geben und von Verhältnissen die so leicht nicht wiederkommen.

Soviel für dießmal, laß bald von dir hören. Ich befinde mich nach meiner Art ganz wohl, und werde dieß Jahr zu Hause bleiben.

treulichst

Weimar den 24. August 1824.

G.


Ein mächtiger Adler, aus Myrons oder Lysippus Zeiten, läßt sich so eben, zwei Schlangen in den Klauen haltend, auf einen Felsen nieder; seine Fittige sind noch in Thätigkeit, sein Geist unruhig, denn jene beweglich widerstrebende Beute bringt ihm Gefahr. Sie umringeln seine Füße, ihre züngelnden Zungen deuten auf tödliche Zähne.

Dagegen hat sich auf Mauergestein ein Kauz niedergesetzt, die Flügel angeschlossen, die Füße und[229] Klauen stämmig, er hat zwey Mäuse gefaßt, die ohnmächtig ihre Schwänzlein um seine Füße schlingen, indem sie kaum noch Zeichen eines piepsend abscheidenden Lebens bemerken lassen.

Man denke sich beide Kunstwerke neben einander! Hier ist weder Parodie noch Travestie, sondern ein von Natur Hohes und von Natur Niederes, beides von gleichem Meister im gleich erhabenen Styl gearbeitet; es ist ein Parallelismus im Gegensatz, der einzeln erfreuen und zusammengestellt in Erstaunen setzen müßte; der junge Bildhauer fände hier eine bedeutende Aufgabe.

(Hierher gehörte nun was über den Cyclops des Euripides zu sagen wäre.)

Eben so merkwürdig ist die Vergleichung der Ilias mit Troilus und Cressida; auch hier ist weder Parodie noch Travestie, sondern, wie oben zwey Naturgegenstände einander gegenüber gesetzt waren, so hier ein zwiefacher Zeitsinn. Das griechische Gedicht im hohen Styl, sich selbst darstellend, nur das Nothdürftige bringend und sogar in Beschreibungen und Gleichnissen allen Schmuck ablehnend, auf hohe mythische Ur-Überlieferungen sich gründend; das englische Meisterwerk dagegen darf man betrachten als eine glückliche Umformung, Umsetzung jenes großen Werkes in's Romantisch-Dramatische.

Hiebey dürfen wir aber nicht vergessen, daß dieses Stück, mit manchem andern, seine Herkunft aus abgeleiteten, [230] schon zur Prosa herabgezogenen, nur halbdichterischen Erzählungen nicht verläugnen kann.

Doch auch so ist es wieder ganz Original als wenn das Antike gar nicht gewesen wäre, und es bedurfte wieder einen eben so gründlichen Ernst, ein eben so entschiedenes Talent als des großen Alten, um uns ähnliche Persönlichkeiten und Charaktere mit leichter Bedeutenheit vorzuspiegeln, indem einer spätern Menschheit neuere Menschlichkeiten durchschaubar vorgetragen wurden.

W. d. 25. Aug. 1824.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1824. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-6FE8-3