6/1660.

An Charlotte von Stein

[Leipzig] den ersten Christtag Abends.

Ich habe meine Zeit heute recht sehr vergnügt zugebracht nur unterbrochen durch die Nachricht daß du[110] nicht wohl bist. Wie erfreulich war mir der Anblick deines Briefs, wie traurig der Inhalt. Laß mich dich wieder wohl finden und schone dich.

Wie süs ist es mit einem richtigen, verständigen, klugen Menschen umgehn, der weis wie es auf der Welt aussieht und was er will, und der um dieses Lebens anmutig zu geniesen keine superlunarische Aufschwünge nötig hat, sondern in dem reinen Kreise sittlicher und sinnlicher Reitze lebt. Dencke dir hinzu daß der Mann ein Künstler ist, hervorbringen, nachahmen und die Wercke andrer doppelt und dreyfach geniesen kann; so wirst du wohl nicht einen glücklichern dencken können. So ist Oeser und was müsste ich dir nicht sagen wenn ich sagen wollte was er ist. Wir haben ein Portefeuille aus Winckers Kabinet zusammen durchgesehen. Bey iedem Blat habe ich dich herbeygewünscht, immer eins köstlicher als das andre.


den dritten Feyertag frühe.

Es geht mir wohl und mein hiesiger Aufenthalt thut die gehoffte Würckung. Viele und merckwürdige Verhältnisse sind in dieses Städtgen eingesperrt und ich mache mich damit bekannt. Alles neue Figuren wohin ich sehe und niemand der mich näher angeht oder auf irgend eine Weise an mein innerstes rührt. Gestern as ich beym Commandanten Grafen Vitzthum in einer sehr bunten Gesellschafft, du sollst viele Schilderungen hören. Das Tableau hat nichts auserordentliches[111] aber viel guts. Gestern Abend war ich bey Bause wo sich auch eine Menge Menschen einfanden die ich auch auf die Täflein meines Geistes aufgezeichnet habe.

An Gemählden und Zeichnungen sehe ich was mein Herz erfreut. Bey Bausen spielten die Frauens und Mädgens schön Klavier besonders eine Mad. Neumann aus Dresden und Bausens ältste Tochter die besonders schön ist.

Heute Abend ist Ball wozu ich eingeladen bin. Es werden viele Menschen drauf seyn und ich will die Liste davon mitbringen.

Seit 69 da ich von hier wegging bin ich nie über ein paar Tage hier gewesen, auch hab ich nur meine alte Bekannte besucht und Leipzig war mir immer so eng wie iene erste Jahre. Diesmal mache ich mich mit der Stadt auf meine neue Weise bekannt und es ist mir eine neue kleine Welt.

Daß der weise Mambres tiefe Betrachtungen über sich und andre dabey macht ist leicht zu dencken.

Wann ich wieder abgehe weis ich nicht. Ich will den Kreis auslaufen, und wenn das Lied von vorne angeht empfehle ich mich.

Adieu meine innig Geliebte zu der ich immer meine Gedancken wende auf die ich alles beziehe. Wie du mir gegenwärtig alles bist so bist du es auch in der Abwesenheit. Lebe wohl. Grüse den Herzog. Es sollte mich wundern wenn er dir nichts [112] von iener Scene erzählt von der ich neulich schrieb. Laß dich aber nichts mercken. Allenfalls kannst du fragen: wie ich gewesen sey und hören. Adieu. Ich will mich nun umsehn und diesen Morgen noch viele Leute besuchen.

G.


Sonnabenbs d. 28. Dez. 82.

Der Tag wäre nun auch vorbey, er hat mich unterhalten. Bis man sich durch soviel neue Gesichter durchguckt und ihnen eine Idee abgewinnt. Es waren ohngefähr 180 Personen zugegen, schöne Gesichtgen mit unter und gefällige Menschen. Was sich der Mensch kümmerlich durch Stufen hinauf arbeiten muß! Ich dachte gestern warum hast du nun die Menschen vor 15 Jahren nicht so gesehen wie du sie ietzt siehst? Und es ist doch nichts natürlicher als daß sie sind was sie sind. Meine Gedancken waren immer bey dir und ich wiederhole dir immer: iemehr ich Menschen sehe desto mehr bin ich dein. Noch einige Tage bleib ich hier auch um deintwillen, denn ich war zuletzt unleidlich, es wollte gar nicht mehr fort. Wenn ich nicht immer neue Ideen zu bearbeiten habe werde ich wie kranck. Wie lieblich mich deine Liebe und Freundschafft begleitet kann ich dir nicht ausdrucken. Wenn ich nur alles Gute mit dir theilen könnte. Zwey Landschafften habe ich gesehen eine von Everdingen die andre von Ruisdal beyde gezeichnet, von der grösten Schönheit. Wie köstlich ists [113] wenn ein herrlicher Menschengeist ausdrucken kann was sich in ihm bespiegelt. Ich sehne mich recht nach dir und wenn ich bleiben will darf ich dein Bild nicht gar zu lebhafft werden lassen. Wenn du mir nur wieder geschrieben hast daß ich morgen einen Brief erhalte. Lebe wohl beste. Ich habe heute noch allerley Gänge zu thun.


Sonntags d. 29ten.

Nun habe ich meinen Plan gemacht und will bis aus den Mittwochen bleiben, da noch Abends Conzert ist, um auch dieser Feyerlichkeit beyzuwohnen und Leipzig von mehr Seiten zu sehen. Gestern habe ich recht schöne Data zu meinem Wilhelm gesammelt und verschiedne Lücken die mir fehlten ergäntzt. Ich sehe und höre vielerley. Mit unterläufft freylich ein Augenblick langer Weile und offt offt reisst das Verlangen zu dir an meinem Herzen.

Ich wünschte mich ein viertel Jahr hier aufhalten zu können denn es stickt unglaublich viel hier beysammen. Die Leipziger sind als eine kleine moralische Republick anzusehn. Jeder steht für sich, hat einige Freunde und geht in seinem Wesen fort, kein Obrer giebt einen allgemeinen Ton an, und ieder produzirt sein kleines Original, er sey nun verständig, gelehrt, albern, oder abgeschmackt, thätig, gutherzig, trocken oder eigensinnig, und was der Qualitäten mehr seyn mögen. Reichthum, Wissenschafft, Talente, Besitztühmer aller Art geben dem Ort eine Fülle die [114] ein Fremder wenn er es versteht sehr wohl geniessen und nutzen kann. Er muß sich nur im allgemeinen halten, und keinen Antheil an ihren Leidenschafften, Händeln, Vorliebe und Abscheu nehmen. Es leben hier einige Personen im Stillen, die, wenn ich so sagen darf vom Schicksal in Pension gesetzt worden sind, von denen ich grosen Vorteil ziehen würde wenn es mir die Zeit erlaubte.

Von dem allgemeinen Betragen gegen mich kann ich sehr zufrieden seyn. Sie bezeigen mir den besten Willen und die gröste Achtung dagegen bin ich auch freundlich, aufmercksam, gesprächig, und zuvorkommend gegen iedermann. Es ist gar schön an einem Orte fremd seyn, und doch so nothwendig eine Heimath zu haben. O liebe Lotte ich bin dir mein Glück zu Hause, und mein Vergnügen auswärts schuldig, denn die Stille, der Gleichmuth mit dem ich empfange und gebe ruht auf dem Grunde deiner Liebe. Lebe wohl. Heute hoffe ich auf einen Brief von dir, auf Nachricht daß du dich wohl befindest. Adieu meine theure meine einzige! Mein Leben und Talismann.

G.


Grüse den Herzog und sag ihm daß ich Donnerstagas von hier weggehe wahrscheinlich aber erst Freytags komme weil wir andern diesen Weeg nicht in Einem Tage enden können.

Grüse Steinen und die Kinder und die Kleine.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1782. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7338-E