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An Christiane von Goethe

[Naumburg, 17. April 1813.]

Denen lieben Personen, die uns von Weimar weggetrieben haben, sind wir schon einen sehr angenehmen Morgen schuldig geworden. Vor Seebachsburg begegnete uns ein Regiment Husaren, ihre Hütten und Zelte fanden wir leer; es sah aus, als wenn der Krieg für immer von uns Abschied nehmen wollte. Die Jenaischen Boten brachten Blumen und Packete vor wie nach und als wir nach Roßla zu einlenkten fanden wir alles im tiefsten Frieden; freylich stiller als im Frieden, denn wir vermißten die Fuhrleute die sonst um diese Zeit auf die Leipziger Messe zogen. Das Wetter bewölkte und entwölkte sich, zum Regen konnte es nicht kommen. Die Luft war warm und angenehm. Mein Begleiter erzählte mir eine alte Geisterlegende, die ich sogleich als wir in Eckartsberge still hielten rhytmisch ausbildete. Sie wird Herrn Riemer gesendet werden mit der Bitte, solche vorzulesen, aber nicht aus Handen zu geben. Auf immer gleich ruhigem Wege kamen wir vor der Mittagsstunde im Scheffel an, wo uns ein alter Keller mit großer Gemüthsruhe in den bekannten alten Zimmern empfing, uns jedoch nachher mit Gemüthlichkeit, als er merkte daß wir gemüthlich seyen, die neuesten Kriegsereignisse erzählte. Die Pässe wollten ihm gar nicht [317] ernsthaft vorkommen, doch versprach er, wenn wir es verlangten, sie vidiren zu lassen.

Da es Morgens früh gar zu sehr gestaubt hatte, gingen wir nach dem Dom, um Regen zu erbitten; allein der Himmel erhörte uns zu früh, und wir wären beynach tüchtig durchgenetzt worden. Wir gelangten jedoch glücklich in das altheilige, nunmehr vermodernde Gebäude, woraus wir gern einiges durch Kauf, Tausch oder Plünderung an uns gebracht hätte. Unter den Schnitzwerken der Chorstühle sind sehr hübsche Gedanken. Ein ganz dürrer, rebenartiger Stab schlängelt sich und wird durch mitumschlungene Acanthartige Blätter belebt. Noch sehr schöne gemalte Fensterscheiben sind übrig, ein Teppich, von dem die Theile der Figuren und des Grundes einzeln verfertigt, und hernach mehr zusammengestrickt als genäht sind. Manches Größere und Kleinere von Bronze. das Bild einer heiligen Schustertochter, die zum Wahrzeichen den Schuh nach von der Hand trägt. Ein Graf hatte sie wegen ihrer großen Schönheit geehelicht. Er starb früh und sie nahm den Schleyer. Sie muß sehr hübsch gewesen seyn, da sie, nicht zum besten gemalt, etwas aufgefrischt und noch ein wenig lackirt, doch immer noch reizend genug aussieht. Was aber besonders Freund Meyern zu erzählen bitte, ist folgendes. Das steinerne Bild eines Bischofs, Gerhard von Goch, hat mich in Erstaunen gesetzt; das heißt das Gesicht. Er ward 1414 installirt, [318] zog auf's Concilium zu Costnitz 1416 und ist derjenige, dem die Naumburger ihre Angst und wir das vortreffliche Schauspiel, die Hussiten, verdanken. Er starb 1422. Nun aber kommt die Hauptsache. Das Gesicht nämlich ist so individuell, charakteristisch, in allen seinen Theilen übereinstimmend, bedeutend und ganz vortrefflich. Die übrige Figur ist stumpf und deutet auf keinen sonderlichen Künstler. Nun erkläre ich mir dieses Wunder daraus, daß man sein Gesicht nach dem Tode abgegossen und ein nachahmungsfähiger Künstler diesen Abguß genau wiedergegeben habe. Dieses wird mir um so wahrscheinlicher, weil in den Augen eine Art von falscher Bewegung erscheint, und auch die Züge des untern Gesichts, bey sehr großer Natürlichkeit, doch nicht lebendig sind. Uralte Hautreliefs, gleichzeitig mit dem Kirchenbau. Sie stellen in einem Fries die Passion vor, sind höchst merkwürdig. Ich erinnere mich keiner ähnlichen. Doch konnte ich sie nicht scharf genug sehn und wüßte nichts weiter darüber zu sagen: denn wir eilten freylich wieder aus dem Heiligthume, wo es aus mehr als eine Ursache feucht, kalt und unfreundlich war. Solche Räume, wenn sie nicht durch Meßopfer erwärmt werden, sind höchst unerfreulich. An sehr schönen und eleganten, zwischen die catholischen Pfeiler eingeschobenen protestantischen Glasstühlen ist ein Mangel, so daß die Honoratioren sich nicht zu beschweren haben. Auf mein Befragen[319] versicherte mir der Künstler, der Prediger habe sich in diesem weiten und wunderlich durchbrochenen Raum gar nicht anzugreifen, wenn er nur deutlich articulire und das letzte Wort so genau ausspreche wie das erste. Das ist also ohngefähr, wie auf den Weimarischen Theater und wie überall, und hieraus kann man sehen was Reisen für einen großen Nutzen bringt. Übrigens sind die Merkwürdigkeiten unerschöpflich. Das Wichtigste, ein sonst höchst bewallfahrtetes wunderthätiges Marienbild steht nur in einer protestantischen Ecke und der Küster versicherte, der Kopf sey hohl, mit Wasser gefüllt hätten muthwillige Fischlein im Gehirn schwimmend, zu gelegener und ungelegener Zeit, Thränen auspreßt. Ich habe Sünder gekannt mit hohlen Köpfen, denen auch solche Fischlein im Gehirn schwimmend, zu gelegener und ungelegener Zeit, Thränen auspreßten. Ich übergehe einige andre Hauptnebenpuncte, als die Bestien am Gesims, welche Wasser spieen, wenn's regnete, zur Ergetzung der Christenheit, und was dem sonst mehr seyn mag.


Dresden den 21. April.

Vorstehendes war gleich den 17. Abends in Naumburg geschrieben und sollte, zum Beweis meines Wohlbefindens, sogleich abgehn; allein de Postcurs war gehemmt und wir mußten das Blättchen mit uns nehmen. Am Ostertage hatten wir auf dem Wege nach Leipzig trübes und stürmisches Wetter, fortdauernd,[320] vortrefflichen Weg, aber so menschenleer, daß man in der Wüste fahren zu glaubte. Der Himmel heiterte sich auf und schon um 12 Uhr zogen wir in Leipzig im Hôtel de Saxe ein. In Markranstädt hatten wir einige Russen gesehn, die sich mit irgend einer Art von Spiel divertirten. Ein sehr gutes Essen stellte uns wieder her, wir durchzogen die Stadt, die gerade wegen des schneidenden Winters nicht erfreulich war. Abends gingen wir in's Declamatorium des Herrn Solbrig. Hohler, geist- und geschmackloser ist mir nicht leicht etwas vorgekommen; das Publicum aber hat mir gefallen. Es mochten gewiß an 300 rh. eingekommen seyn, sie applaudirten aber nur ein einzig Mal, als er den Kaiser Alexander hoch leben ließ. Hätte der arme Schlucker sein Handwerk verstanden, so hätte er gleich Wohl auf Cameraden! auf's Pferd, auf's Pferd! angestimmt, und hätte gewiß große Sensation erregt. Dagegen fing er mit jämmerlichen Ton das elendeste jammervollen deutschen Lieder zu recitiren an: Ich habe geliebet, nun lieb ich nicht mehr. Er rührte sich aber hierauf, so wie nach andern ähnlichen Dingen keine Hand weiter und wir machten uns in Zeiten davon. Dagegen schrieben wir zu unserer Lust die von August erzählte Todtentanzlegende in paßlichen Reimen auf. Sie soll dem Prinzen Bernhard dedicirt und übersendet werden. An Spargel und an sonstigem Guten hat es auch nicht gefehlt.

[321] Montag den 19. fuhren wir ohne irgend ein Ereigniß, bey guten und leeren Straßen auf Wurzen, wo wir neben der Fähre eine ganz neue Militärbrücke fanden. In Oschatz fanden wir einen leidlichen Gasthof zum Löwen und schrieben daselbst eine Parodie des Solbrigschen Lieds, sie beginnt: Ich habe geliebt, nun lieb ich erst recht! und so geht es denn weiter. Von Leipzig heraus war die Gegend beschneyt und bereist, das thauete aber weg und verlor sich; von einer gar freundlichen Abendsonne beleuchtet sahen wir das schöne Elbthal vor uns und gelangten zu rechter Zeit nach Meißen in den Ring. Ein großes Fourage Magazin gegenüber versorgten unzählige Fuhren, weshalb die Wagen den ganzen Platz einnahmen. Eine Wittwe mit zwey Töchtern versorgte den Gasthof in dieser schweren Zeit, die jüngste erinnerte mich an euere glückliche Art zu seyn. Sie erzählte die Verbrennung der Brücke mit großer Gemüthruhr und wie die Flamme in der Nacht sehr schön ausgesehn habe. Die zusammenstürzende Brücke schwamm brennend fort und landete am Holzhof, weil aber nichts das mindeste Lüftchen wehte, so erlosch alles nach und nach. In anderthalb Stunden war das ganze Feuerwerk vorbey. Ferner erzählte sie von den Kranken und Gefangenen, die sie gespeiset hätte, von der Einquartierung in den letzten Zeiten, wie die Cosacken ihre Pferde abgesattelt, sich in Kähne gesetzt und die Pferde nachschwimmen lassen. Das war alles [322] vorübergegangen und Meißen befand sich vor wie nach. Dieß ist's was am meisten aufheitert, wenn man am Orte kommt, wo der Krieg wirklich getobt hat, und doch noch alles auf den Füßen findet.

Dienstag der 20. war ein sehr angenehmer und unterrichtender Tag. Vor allen Dingen bestiegen wir das Schloß und besahen uns zuerst die Porcellanfabrik. Die Vorrathssäle nämlich. Es ist eigen und beynach unglaublich, daß man wenig darin findet, was man in seiner Haushaltung besitzen möchte. Das Übel liegt nämlich darin. Weil man zuviel Arbeiter hatte (es waren vor 20 Jahren über 700) so wollte man sie beschäftigen und ließ immer von allem was gerade Mode war, sehr viel in Vorrath arbeiten. Die Mode veränderte sich, der Vorrath blieb stehn. Man wagte nicht, diese Dinge zu verauctioniren oder in weite Weltgegenden um ein Geringes zu versenden und so blieb alles beysammen. Es ist die tollste Ausstellung von allem was nicht mehr gefällt und nicht mehr gefallen kann, und das nicht etwa eins, sondern in ganzen Massen zu hunderten ja zu tausenden. Jetzt sind der Arbeiter etwa über 300. Hauptmann von Wedel, ein Bruder unsers guten Oberforstmeisters, hat die Direction, freute sich einen Weimaraner zu sehn und war äußerst gefällig. Hinter den wohlgeputzten Scheiben einer Wohnung auf dem Schloßplatze sahen wir eine von den lieblichsten Erscheinungen. Ein schönes Mädchen, von etwa 4 Jahren, [323] wurde eben zum 3. Feyertage von der Mutter angezogen und stand auf dem dunkeln Grunde wie ein Porträtchen, das van Dyk und Rubens nicht schöner hätten malen können. Die Schönheit des Kindes, die günstige Beleuchtung, der dunkle Grund, der Firnis des Glases, alles trug dazu bey, daß man sich nicht satt sehen konnte, und als ihr nun die Mutter das Halskräuschen umlegte, war das Bildchen völlig fertig. Während der ganzen Zeit sah sie uns an und schien beynah zu empfinden, daß es was artiges sey, so aufmerksam angesehen zu werden. Der Dom, der auf demselben Platze steht, hat aus mehreren Ursachen äußerlich nichts Anziehendes, inwendig aber ist es das schlankste schönste aller Gebäude jener Zeit, die ich kenne, durch keine Monumente verdüstert, durch keine Emporkirchen verderbt, gelblich angestrichen, durch weiße Glasscheiben erhellt, nur das einzige Mittelfenster des Chors hat sich bunt erhalten. In eben dem Chor waren wir auffallend und neu die aus Stein gehauenen Baldachine über den Sitzen der Domherrn. Es sind Capellen und Burgen die in der Luft schweben und das Geistliche mit dem Ritterlichen wechselt immer ab. Eine höchst schickliche Verzierung, wenn man denkt, daß die Domherren altritterlichen Geschlechts waren und die Capellen ihren Thürmen verdankten. Ich habe mir gleich eine Zeichnung davon gemacht, die den ganzen Begriff giebt, den man durch Beschreibung niemandem geben kann.

[324] Zum Frühmahl ward ein Karpfen mit pohlnischer Sauce genossen, wie er uns den Abend vorher schon trefflich geschmeckt hatte. Ich besah noch die Pfeiler der abgebrannten Brücke und fuhr um halb 1 ab. Bey halb gedecktem Himmel war die Luft kühl und doch Sonnenblicke so reichlich, daß wir die vergnüglichste Fahrt hatten. Wir zogen über die neugeschlafene Schiffbrücke und dann an dem rechten Ufer der Elbe hin, das über alle Begriffe cultivirt und mit Häusern bebaut ist, die erst einzeln, dann mehrere Stunden lang zusammenhängend, eine unendliche Vorstadt bilden. In der Neustadt fanden wir alles auf dem alten Fleck, der metallne König galoppirte nach wie vor auf derselben Stelle unversehrt. In Weimar hätten Sie ihm schon durch die Explosion der Brückenbogen einen Arm weggeschlagen. Schon 1/2 Stunde von der Stadt begegneten uns reichliche Spaziergänger, sogar eine lesende Dame; auf der Brücke aber erschien der 3. Feyertag in seinem völligen Glanze, unzählige Herren und Damen spazierten hin und wieder. Die beyden gesprengten Bogen sind durch Holzgerippe wieder hergestellt, aber nicht bis zur Höhe der steinernen Brücke, weswegen man hinunter und wieder hinauf fahren muß. Was diesen Mißstand veranlaßt, erfuhren wir nicht. Auch die Stadt war sehr belebt. In der Moritzstraße hielten Russen, erwartend eine selige Bequartierung. Uns aber ging's wunderlich; denn als ich an der Wohnung des Prinzen Bernhard [325] anfuhr, begegnete mir Hauptmann Verlohren und erzählte, daß er eben das Haus geräumt und für die Hoheit eingerichtet habe. Ich bewunderte die gute Austheilung und anständige Einrichtung, fand auch Körners und andere Damen daselbst, welche diese Anstalten beurtheilen wollten und billigten. Hauptmann Verlohren verschaffte uns sogleich ein ander Quartier in der 1. Etage seiner Wohnung, bey Herrn Hofrath von Burgsdorf. Wir sind auf das allerbequemste eingerichtet, finden gute Bedienung, herrliches und nicht zu theures Essen in einem nahen traiteuerhause, unser Wein hat bis heute gehalten, der Rack natürlich auch. Herrn von Ende besuchte ich heute früh, sodann Körners, wo ich Herrn Arndt antraf, der sich als Patriot durch Schriften bekannt gemacht. Und so weit wären wir gekommen, bis zu halb 3 nach Tische den 21. April. Leider ist nun der Wein ausgegangen und der doppelt so theure schmeckt nicht. Nun wünscht man recht wohl zu leben und hofft auf die Fortsetzung.

G.


[Dresden, 25. April 1813.]

Mittwoch den 21. Nachmittag gingen wir zu den Mengsischen Gypfen, waren mehrere Stunden vollkommen vergnügt und belehrten uns auf's beste. Viele Russen gingen auf und ab und ließen sich von dem Inspector was vorerzählen. Ein junger hübscher Officier hielt sich in der Gegend wo ich war und als ich es bemerkte redete ich ihn an. Er nannte sich einen [326] Herrn von Nolten, der Name war mir bekannt. Einer seiner Verwandten hat eine Zeitlang in Jena, Weimar und Rudolfstadt gelebt. Vielleicht erinnert ihr euch dessen. Ich sagte, wenn er nach Weimar käm, sollte er mein Haus besuchen, es ist gar nicht unmöglich und wer weiß, was so eine Bekanntschaft für Nutzen bringen kann.

Regierungsrath Graff von Königsberg, dessen sich August erinnern wird, ist hier bey der Verwaltungscomission angestellt. Er hatte sehr große Freude mich zu sehn. Abends gingen wir in's Schauspiel. Cosi fan tutte, italiänisch, war angekündigt. Nein! so ein Schreckniß ist mir niemals angekommen. Alte vermagerte, ja lahme Frauen, statt der lustigen Dirnen, Liebhaber, steif und stockig über alle Begriffe, der Buffo nicht der Rede werth; der Gesang gerade nicht schlecht, aber unerfreulich. Mir ward so angst, daß ich mich flüchtete wie die Officiere in's Schiff stiegen. Auf dem Rückwege begegnete mir ein großer Volksauflauf über den weg ein schöner Postzug hervorragte, eine treffliche Reisechaise mit Bache und auf dem Bocke der Hofmockel. Der Wagen hielt vor einem Hause, ich drängte mich durch's Volk und sah Schwebeln ausstiegen, den 4. April hatte er in Weimar von mir Abschied genommen. Herr von Ende und Verlohren haben sich seiner angenommen, er hat einen Arzt und gute Wartung.

[327] Des Nachts gegen 11 weckte mich eine fürchterliche Erscheinung. Die Straße war von Fackellicht erhellt, und ein wildes Kriegsgetöse hatte mich aus dem Schlafe geschreckt. Eine Collone hatte in der Straße Halt gemacht. Es war eine unangesagte Einquartierung. Ganz verwünscht sah es aus, wenn sich die Thore der großen Häuser auftheten und 10. 20. 30 bey Fäckelschein in ein Gebäude einstürzten. Doch sind die Wirthe das nun schon gewohnt, sie haben Stuben und Lager wie sie konnten eingerichtet, Essen halten sie schon gekocht parat und wärmen es nur. Dicke Grütze, Rindfleisch und Sauerkraut, Kartoffelsalat mit viel Zwiebeln und Knoblauch, Branntewein sind die Hauptingredienzien des Gastmahls. Donnerstag den 22. gingen wir nach dem Kupferstichkabinett, wo wir uns an großen Bänden nach Raphael gar trefflich ergetzten, alte Bekanntschaften erneuerten und neue ganz unvermuthet machten. Nach Tisch auf die Gallerie. Die besten Sachen sind auf Königstein geflüchtet, aber an dem was zurück blieb hätte man ein Jahr zu sehn; doch war das erste was uns der Inspector Demiany verkündigte, daß Director Riedel auf dem Königstein sey, um alles wieder herbeyzuholen. Das wollen wir denn auch abwarten und als ein Glückszeichen ansehn.

Dresden ist freylich jetzt sehr lebhaft; wenn man denkt, daß er schon für sich im Gewissen 40000 Einwohner hat, was dieses schon in Friedenszeiten für[328] eine Bewegung giebt, und was für Bedürfnisse für eine solche Menge müssen zusammengeschafft werden. Nächstens soll eine Übersicht des Wochenmarkts folgen insofern es möglich ist.

Auffallend war folgende Erscheinung: Chorschüler, aber nicht etwa in langen Mänteln wie sonst, sondern in knappen schwarzen Fracks und überhaupt schwarz gekleidet, etwa 30 an der Zahl, gingen, 4 Mann hoch, Arm in Arm, mit großen Stürmern auf den Köpfen, der Präfect voraus durch die Straßen. Sie marschirten nach der Melodie eines Gassenhauers, der ohngefähr so heißen mag:


So gehen wir gessaten
Wir lustigen Cameraden
Und ziehen frank und frey
Und was man uns genommen
Das haben wir nicht bekommen,
Und wenn uns nun der Teufel holt,
So sind wir auch dabey.

Vor den ansehnlichsten Häusern und auch vor dem unsern machten sie Fronte, sangen einen Vers desselben Lieds oder auch eines etwas ernsteren und dann zogen sie weiter. Der militärische Geist war auch schon völlig in diese Schwarzröcke gefahren.

Daß die Cosacken, die auf dem Markte halten, von allen Menschen umgeben und angestaunt werden, ohne sich in ihrer Gemüthsruhe im mindesten stören zu lassen, darf ich kaum sagen; aber wie lief jung [329] und alt zusammen als sie ein Cameel mitbrachten, zum ächten asiatischen Wahrzeichen.

Ich sah mehrere dieser seltsamen Fremdlinge vor einem Laden stehn, wo Nürnberger Tand feil war. Sie kauften Nadelbüchsen und hatten große Freude an den Pferdchen, besonders an den bespannten Kutschen. Sie unterhielten sich darüber, deuteten auf alles ganz nah mit einer gewissen naiven Anmuth hin, berührten aber nichts.

Auf demselben Spaziergang kaufte ich einen Fündling. Ihr müßt aber nicht erschrecken, als wenn die Familie vermehrt werden sollte, vielmehr dient Herrn Riemer zur Nachricht, daß es ein seltsames Gestein sey, dem man keinen Namen geben kann und das sich vielleicht nur einmal findet. Daß Truppen, besonders aber Officiere zu Pferd und zu Fuß in Wagen und aufwagen hin und her zeihen, läßt sich denken. An Fourage Fuhren fehlt es nicht, vom Lande kommen viele Menschen herein und es ist ein großes Treiben den ganzen Tag. Dazwischen fehlt es nicht an Orgelmännern, seltsam gekleideten Kinder die Kunststücke machen, und sonst an Buden und Läden, wo, wie an der Messe allerley Wunderliches zu sehn ist.

Ich habe mir einen Plan von Dresden angeschafft und mache mir nach demselben mit der Stadt und den Vorstädten bekannt. Bewegung und Zerstreuung thun mir gar wohl. Ich fange nun erst an, mich wieder zu erkennen. Geht es auch euch gut, so bleibt [330] mir nichts weiter zu wünschen. Ich habe noch nicht viel Personen gesehn und ist auch nicht viel Freude dabey. Man hört nichts, als was man leider schon mit sich selbst hat abthun müssen. Das Vergangene zu hören ist ekelhaft, und wer wüßte von der Zukunft was zu sagen. Proclamationen, Befehle, Gedichte und Flugschriften giebt's unzählige. Für August wird eine vollständige Sammlung gemacht.

Wenn es dir, mein liebes Kind so gut geht als du es um mich sonst und jetzt verdienst; so kannst du zufrieden seyn. Die Bewegung und Zerstreuung hat mich bald wieder hergestellt. Lebe recht wohl und liebe mich.

[Dresden] d. 25. Apr. 1813.

G.


Beyliegende Blätter giebst du nicht aus der Hand vorlesen könnt ihr daraus nach Belieben und Schicklichkeit. Gedichte kommen nächstens.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1813. An Christiane von Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8007-6