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An Carl Friedrich Zelter

Da mir nun bekannt geworden daß ganz Europa, eben so wie mein Klostergarten, durch den Schnee nivellirt sich behelfen muß so hab ich mich um desto eher zu bescheiden, da ich nicht aufgefordert werde den Fuß vor die Thüre zu setzen. Daher will ich nun, bey klarer nächtlicher Weile, wo Frau Venus, noch immer heiter und niedlich, am westlichen Himmel über den Hörnern des jungen Mondes glänzt, sodann auch Orion und sein Hund, blinkenden Halsbandes,[221] von Osten her, über meinen dunklen Fichten-Horizont, prächtig heraussteigt; hiedurch aufgeregt dir ein munterfreundliches Wort in deine wohlerleuchtete und bewegte Stadt hinsenden, dabey auch vor allem zu deinen letzten Blättern bemerken:

Daß Freunde, besonders in unserem Alter, wohl thun nicht ein äußeres strittiges Vorkömmniß unter sich sogleich fallen zu lassen, sondern in Betrachtung darüber fortfahren sollen. Deshalb sind mir alle deine Worte über den fraglichen aristotelischen Casus höchst willkommen, sie commentiren deine und meine Überzeugung auf die vollständigste Weise. Auch sind solche Differenzen deshalb wichtig, weil, genau besehen, es nicht ein einzelner Fall ist über den gestritten wird, sondern es stehen zwey Partheyen gegen einander, zwey Vorstellungsarten, die sich in Einzelnen bestreiten, weil sie sich im Ganzen beseitigen möchten. Wir kämpfen für die Vollkommenheit eines Kunstwerkes, in und an sich selbst, jene denken an dessen Wirkung nach außen, um welche sich der wahre Künstler gar nicht bekümmert, so wenig als die Natur wenn sie einen Löwen oder einen Colibri hervorbringt. Trügen wir unsre Überzeugung auch nur in den Aristoteles hinein, so hätten wir schon recht, denn sie wäre ja auch ohne ihn vollkommen richtig und probat; wer die Stelle anders auslegt mag sich's haben.

Zum Scherz und Überfluß laß mich, in Gefolg des Vorigen, erwähnen: daß ich, in meinen Wahlverwandtschaften, [222] die innige wahre Katharsis so rein und vollkommen als möglich abzuschließen bemüht war; deshalb bild ich mir aber nicht ein, irgend ein hübscher Mann könne dadurch von dem Gelüst nach eines andern Weib zu blicken gereinigt werden. Das sechste Gebot, welches, schon in der Wüste, dem Glohim-Jehova so nöthig schien, daß er es, mit eigenen Fingern, in Granittafeln einschnitt, wird in unsern löschpapiernen Katechismen immerfort aufrecht zu halten nöthig sein.

Verzeihung dieses! denn die Sache ist von so großer Bedeutung, daß Freunde sich immer darüber berathen sollten; ja ich füge Folgendes hinzu: es ist ein gränzenloses Verdienst unsres alten Kant um die Welt, und ich darf auch sagen um mich, daß er, in seiner Kritik der Urteilskraft, Kunst und Natur kräftig nebeneinander stellt und beiden das Recht zugesteht: aus großen Principien zwecklos zu handeln. So hatte mich Spinoza früher schon in dem Haß gegen die absurden Endursachen gegläubiget. Natur und Kunst sind zu groß um auf Zwecke auszugehen, und haben's auch nicht nöthig, denn Bezüge gibt's überall und Bezüge sind das Leben.

Kaum bin ich aber so weit gelangt, so fängt schon ein andrer Berliner wieder Händel mit mir an. Herr Spiker möchte auch wohl an mir zum Ritter werden. Wollten doch die guten Menschen, die mich gewöhnlich ignoriren wenn sie mich benutzen, mich gleichfalls ruhen lassen wenn sie mich nicht brauchen [223] können, es hinge von ihnen ab ihre Rechnung recht kräftig und überzeugend auszusprechen und Anhänger zu finden so viel es geben wollte. Ich habe jene Ansicht absurd gefunden, es einmal ausgesprochen und sprech es wieder aus. Doch muß man sich darüber nicht verwundern noch erzürnen: finden sich doch wackere Geistliche, welche das hohe Lied Salomonis auf das heilige Verhältniß Christi zu seiner bräutlichen Kirche deuten.

Indessen fand ich mich veranlaßt das Original wieder nachzusehen, auf das man sich immer gerne hinleiten läßt. Ich dictirte über diesen Punct einige Seiten, die ich dir wohl schicke, unter dem Beding daß du sie niemand sehen lassest; denn wer will sich mit dieser kranken Armseligkeit weiter einlassen.

Ich wiederhole das oben Gesagte: überzeuge man sich immer mehr daß diese Differenzen auf eine ungeheure Kluft hindeuten, welche die Menschen von einander trennt; ja es ist nicht Eine Kluft, es sind Klüfte, über die man in jüngerer Zeit wegspringt oder Brücken schlägt, im Alter aber, als zur Befestigung des Zustandes gegeben, berechnen muß.

Ich habe freylich gut meine Zugbrücken aufziehen, auch schiebe ich meine Fortificationen immer weiter hinaus; du hingegen mußt immer im Felde liegen und dich, nach deiner Weise, in der einmal gegebenen Richtung, durchschlagen, das kleidet dich so gut daß man nicht wünschen kann es möge anders seyn. Zugleich [224] erndtestdu großen und unschätzbaren Genuß, von dem wir andern leider ausgeschlossen sind.

Die anhergesendeten Briefe vom Jahre 1828 sind angekommen und werden, mit den meinigen durchschossen, sorgfältig abgeschrieben. Ich freue mich darauf auch diese paar Jahre wie die übrigen geheftet zu sehen. Diese dreyßigjährige Sammlung gewinnt ein so hübsches Ansehen, daß ein ägyptischer königlicher Bücherfreund sie in seine Sammlung aufzunehmen kaum verschmäht hätte.

Melde mir ja vom Alten und Neuen, auch vom Augenblick Mannichfaltiges; der Bärenpelz hat, besonders bey jetziger Witterung, auch hier gute Wirkung gethan.

So weit waren wir als dein Werthes vom 25. ankommt; was ich oben gesagt gilt auch hier, du thust sehr wohl, mäßig auch gegen wunderlich widerwärtig-denkende Menschen zu verfahren Mach ich's doch auch so mit Gegenwärtigen ja mit Abwesenden und habe nichts weiter davon als den lieben Frieden, da du dir an einem schönen Abend doch noch immer einmal ein gut Glas Wein, von irgend einer hübschen Ellebogennachbarin einschenken läßt.

Im Bourrienne hab ich nicht fortlesen können; das zupft alles an dem frischgestickten, frühabgelegten Kaisermantel und denkt dadurch etwas zu werden; wie Böttiger jubilirte als der Doge von Venedig [225] abgesetzt wurde, eben als wenn sein Vordermann gestorben wäre und er nunmehr avancirte.

Die neuere Geschichte Frankreichs von Bignon will ich nicht eben rathen als Lectüre vorzunehmen; er ist jedoch ein wahrer und gründlicher Napoleoniste; als vieljähriger Diplomat ist er in dem Fall tiefer in die Hauptanlässe und Wirkungen hineinzusehen. Das mag denn alles gelten, wie die Bemühungen der Astronomen, deren Beobachten und Rechnen wir nicht schelten wollen, da sie uns denn doch zuletzt den Begriff des Unbegreiflichen etwas näher bringen.

und so fort an!

Weimar den 29. Januar 1830.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1830. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8147-C