3/651.

An Charlotte von Stein

Donnerst. d. 4. Dez. 77. [Gosla]r.

Von hier wollt ich Ihnen zu erst schreiben, Sie sehn aber aus dem Bleystifft Blättgen dass ich früher laut worden bin. Ein ganz entsezlich Wetter hab ich heut ausgestanden was die Stürme für Zeugs in diesen Gebürgen ausbrauen ist unsäglich, Sturm Schnee, Schlossen, Regen, und zwey Meilen an einer Nordwand eines Waldgebürgs her, alles fast ist nass, und erhohlt haben sich meine Sinne kaum nach Essen, Trincken, drey stunden Ruhe u.s.w. – – Mein Abenteuer hab ich bestanden, schön, ganz, wie ich mir's vorauserzählt, wie Sie's sehr vergnügen wird zu hören, denn Sie allein dürfens hören, auch der Herzog und so muss es Geheimniss seyn. Es ist niedrig aber schön, es ist nichts und viel, – die Götter wissen allein [190] was sie wollen, und was sie mit uns wollen, ihr Wille geschehe.

Hier bin ich nun wieder in Mauern und Dächern des Alterthums verschenckt. Bey einem Wirthe der gar viel väterlichs hat, es ist eine schöne Philisterey im Hause, es wird einem ganz wohl. – – Wie sehr ich wieder, auf diesem duncklen Zug, Liebe zu der Classe von Menschen gekriegt habe! die man die niedre nennt! die aber gewiss für Gott die höchste ist. Da sind doch alle Tugenden Beysammen, Beschräncktheit, Genügsamkeit, Grader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden – Dulden – Ausharren in un – – ich will mich nicht in Ausrufen verlieren.

Ich trockne nun iezt an meinen Sachen! – sie hängen um den Ofen. Wie wenig der Mensch bedarf, und wie lieb es ihm wird wenn er fühlt wie sehr er das wenige bedarf. – Wenn Sie mir künftig was schencken, lassen Sie's etwas seyn was man auf so einer Reise braucht. – Nur das stück Papier wo die Zwiebacke in gewickelt waren, zu wie vielerley mir's gedient hat! – Es kan nicht fehlen dass Sie hier nicht lachen und sagen: Schlieslich wirds also den Weeg alles Papiers gehn! – Genug es ist so – – – Ihre Uhr ist denn doch ein hübsch Vermächtniß. – – –

Ich weis nun noch nicht wie sich diese Irrfahrt endigen wird, so gewohnt bin ich mich vom Schicksaale [191] leiten zu lassen, dass ich gar keine Hast mehr in mir spüre, nur manchmal dämmern leise Träume von Sorglichkeit wieder auf, die werden aber auch schwinden. (NB. ich rede hier von einer kindischen Sorglichkeit, nie übers ganze, sondern über einzelne kleine Fälle.)

d. 5. Dez. Guten Morgen noch bey Lichte. Es regnet gar arg, und niemand reisst ausser wen Noth treibt, und dringend Geschäfft, und mich treiben seltsame Gedancken in der Welt herum. Adieu. Grüsen Sie Steinen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1777. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8ABC-4