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An Sulpiz Boisserée

Seit den 28. September bin ich wieder in Jena, wo ich auch Ihren lieben Brief erhalte, mit meiner Badecur wohl zufrieden, und habe, bey entschiedener Einsamkeit in Böhmen, manches gefördert.

Lassen Sie mich aber meine Erwiederung umgekehrt beginnen und sagen daß die Schattirung und Colirirung des Domrisses mich doppelt freut, weil der Gedanke von Ihnen ausgegangen. Was wir haben ist ein schätzbarer Versuch; wenn man so fort fahren könnte, würde gewiß das Erfreulichste sich zeigen. Es müßten Tapeziert und Theatermahler im besten Sinn zusammen wirken, daß es zuletzt eine Art Fabrikarbeit wäre; so könnte erreicht werden was man wünscht. Die unsrigen haben zur Probe sich wacker gehalten. Durch die verziert ausgeschnittene Spitze blickt der blaue Himmel durch. Bey Wiederholung machte man vielleicht noch andere Stellen durchsichtig. Zum hiesigen ersten Versuch gehörte Kenntniß und Praxis, um die Schatten richtig zu werfen, wobey der Grundriß gute Dienste leisten; so daß nun das Bild wirklich wie perspectivisch gezeichnet aussieht. Die fehlenden Statuen sind im alten Sinne eingezeichnet und überhaupt nichts versäumt. Unser Oberbaudirector Coudray mit einige Gehülfen hat das Werk vollbracht und wird es schwerlich zum zweytenmale[76] unternehmen, denn nun müßte Technik und Handwerk eingreifen. In Berlin hat Schinkel ein gleiches für den König gearbeitet, das meine Kinder bey ihrer letzten Sommerreisen gesehen haben.

Nun aber fließt so eben ein Bach bey mir vorüber, den ich gar zu gern auf Ihre Mühle leiten möchte. Ich erwerbe zufällig ein altes Manuscript, klein Quart, 84 Blätter, mit Abbreviaturen, consequent und also leserlich geschrieben, wenn es mir gleich stellenweise noch Mühe macht. Es enthält die Legende der heiligen drey Könige und ihres Sternes, vom Ausgang der Kinder Israel aus Aegypten an bis zur fortwährenden Verehrung ihrer Reste in Cöln.

Zu welcher Zeit das vorliegende Manuskript geschrieben ist, will ich nicht gleich entschieden: das Original aber mag, nach innern deutlichen Kennzeichen, zu Anfang des 15. Jahrhunderts verfaßt seyn. Jetzt ist nur die Frage; ob es bekannt ist oder nicht? und deshalb will ich davon in meinem nächsten Stücke Kunst und Alterthum sprechen; vielleicht wissen Sie darüber Auskunft zu geben.

Mag es seyn daß die Überraschung dieses Fundes mich dafür einnimmt, oder weil es an die Reise von Montevilla sogleich erinnert; Geschichte, Überlieferung, Mögliches, Unwahrscheinliches, Fabelhaftes mit Natürlichem, Wahrscheinlichem, Wirklichem bis zur letzten und individuellsten Schilderung zusammen geschmolzen, entwaffnet wie ein Mährchen alle Kritik. Genug ich [77] meine nicht, daß irgend etwas Anmuthigeres und Zierlicheres dieser Art mir in die Hände gekommen wäre.

Weder Pfaffthum noch Philisterey noch Beschränktheit ist zu spüren, die Art, wie der Verfasser sich Glauben zu verschaffen sucht und dann doch auf eine mäßige Weise das Zutrauen seiner Hörer mißbraucht, ohne daß man ihn geradezu für einen Schelm halten kann, ist allerliebst; genug ich wüßte kein Volksbuch neben dem dieses Büchlein nicht stehen könnte.

Mehr sag ich nicht und lege nur Anfang und Schluß bey, woraus hervorgeht, daß das Büchlein eigentlich für Cöln geschrieben ist, und es frägt sich hauptsächlich, ob ein Bischof dieses Namens damals existirt habe und ob man den Dom, wie an andern Orten, die Münster-Kirche genannt hat?

Alles übrige, was Sie freundlich sagen und melden, leg ich im Herzen treulich nieder. In diesen Tagen geh ich nach Weimar zurück, um den Winter dort zuzubringen, darum es mir jetzt hier noch bunt vor Geist und Augen hergeht.

Indessen Sie im Besitz der herrlichsten Kunstwerke sind, ergötz ich mich an Kupferstichen, die mir in ziemlicher Anzahl von mehreren Seiten zukommen. Und wenn es auch nur ein Augenreiz wäre, daß man in einsamen Stunden soviel sich vorüber gehen lassen kann, das wäre schon von großem Werth und [78] Einfluß. Von Martin Schön erhielt ich mehrere bedeutende Blätter. Hätte der Unselige statt der detestablen Passion nur immer die drey Könige wiederholt, so würde man sein liebenswürdiges Talent gewiß erkennen. Eine seiner klugen und unklugen Jungfrauen ist zu mir gekommen; es ist nicht möglich besser zu denken, als diese beyden Blätter gedacht sind. Ich wiederhole mein Glück auf! bey euren Niederdeutschen, in Sinne felix colonia!

Drey ernste Könige mit Gefolg und Schätzen nach Blieben, herrliche Mutter und Kind mit ärmlicher Umgebung, fromme tüchtige Ritter, eilftausend hübsche Mädchen, das ist doch noch ein Element worin der Künstler sich ergehen und fromm mit den Fröhlichen seyn kann.

Beyliegendes zu geneigter Aufnahme und Austheilung.

freundlichst

verbunden

Jena den 22. October 1819.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1819. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-946E-3