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An die Lesegesellschaft in Mainz

Einer hochansehnlichen und gegen mich so freundlich und liebevoll gesinnten Lesegesellschaft zu Maynz statte hierdurch den verbindlichsten Dank ab für den erquicklichen Festglanz, den Sie über meinen Tag verbreiten wollen. Sie waren in der freylichen Stunde gewiß überzeugt, daß ich alles empfinden würde, wie es gegeben worden, und daß in einem solchen Falle nur die treulichste Erwiderung Platz greifen kann.

Lassen Sie mich aber zugleich die Wirkung Ihres lieblichen Festes auf deutsche Gemüther überhaupt aussprechen und zu Ihrer Kenntniß bringen, was der öffentliche Bericht in edlen Seelen aufregte, mit denen ich zu jener Zeit in Carlsbad zufällig verbunden lebte.

Wir dürfen uns nicht läugnen, daß seit vielen Jahren unter wohlgesinnten Deutschen nur mit Betrübniß der guten Stadt Maynz gedacht ward. Wechselnde Kriegsereignisse, Entfremdung und Annäherung, Zerstören und Wiederherstellen, alles gab dem nahen wie dem fernen Beobachter nur ein verworrenes Bild. Auch zuletzt, bey örtlicher unveränderlicher Lage, deutet jede neue Befestigungsanstalt abermals auf künftiges Kriegsunheil, so wie das Staatsverhältniß dem wackern Deutschen, der sich gern am Entschiedenen hält, unfaßlich und trübe scheint.

[62] Diese Vorstellungsweise, sie treffe nun mit dem eigentlichsten Zustande zusammen oder nicht, gewöhnt die Geister an eine düstere Ansicht, die ich nicht geschildert hätte, könnte ich nicht hinzufügen, daß es den deutsch gesinnten Maynzern zu größer Freude gediehen wäre, wenn sie das auf einmal erhellende, aufheiternde Licht hätten beobachten können, welches durch ihr Fest in patriotischen Gemüthern sich aufthat. Meine Persönlichkeit war verschwunden; ihre geistige frohe Theilnahme an dem Reinen, Natürlichen, allgemein Menschlichen, was ich immer darzustellen bemüht gewesen, trat hervor und schien das linke Rheinufer erst eigentlich zurückzugeben. Man erfreute sich des Zeugnisses einer im Stillen bestehenden Einheit deutschen Denkens und Empfindens. Mit dem größten Vergnügen konnte ich gewahr werden, von welchem Sinne sie alle durchdrungen seyen, und es durfte mich nicht schmerzen, daß man über der Freude, eine solche überrheinische Brüderlichkeit entdeckt zu haben, mein eigenes Glück beynahe zu schätzen vergaß, der ich bestimmt gewesen, eine so erfreuliche Offenbarung zu veranlassen.

Mit wiederholtem Dank und den aufrichtigsten Wünschen

ergebenst

Weimar den 10. October 1819.

J. W. v. Goethe. [63]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1819. An die Lesegesellschaft in Mainz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-96CC-E