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An Carl Friedrich Zelter

Du hast vollkommen recht, mein Bester! Wenn ich das Uhrwerk meiner Lebensbetriebe nicht gehörig in Ordnung hielte, so könnt ich in einem dergleichen leidigen Falle kaum weiter existiren. Dießmal aber hat der Zeiger nur einige Stunden retardirt, und nun ist alles wieder im alten mäßigen Gange.

Jedoch hab ich dir vom Verlauf des Novembers noch einiges zu bekennen. Das Außenbleiben meines Sohns drückte mich, auf mehr als Eine Weise, sehr heftig und widerwärtig; ich griff daher zu einer Arbeit, die mich ganz absorbiren sollte. Der vierte Band[40] meines Lebens lag, über zehn Jahre, in Schematen und theilweiser Ausführung, ruhig aufbewahrt, ohne daß ich gewagt hätte Arbeikt wieder vorzunehmen. Nun griff ich sie mit Gewalt an, und es gelang so weit, daß der Band, wie er liegt, gedruckt werden könnte, wenn ich nicht Hoffnung hätte den Inhalt noch reicher und bedeutender, die Behandlung aber noch vollendeter darzustellen.

So weit nun betracht ich's in vierzehn Tagen, und es möchte wohl kein Zweifel seyn, daß der unterdrückte Schmerz und eine so gewaltsame Geistesanstrengung jene Explosion, wozu sich der Körper disponirt finden mochte, dürften verursacht haben. Plötzlich, nachdem keine entschiedene Andeutung, noch irgend ein drohendes Symptom vorausging, riß ein Gefäß in der Lunge und der Blutauswurf war so stark: daß, wäre nicht gleich und kunstgemäße Hülfe zu erhalten gewesen, hier wohl die ultima linea rerum sich würde hingezogen haben. Nächstens noch von andern Dingen, worauf ich den vergangenen sonnenlosen Sommer aufmerksamen Fleiß gewendet, zu vorläufiger und, wie ich fernerhin hoffe, zu künstiger Zufriedenheit.

Weimar den 10. December 1830.

Schon manchmal hab ich bedacht, wie wir beiden gleichsam an die entgegengesetzten Enden der socialen Welt angewiesen sind; du, in die kreiselnde Bewegung einer volkreichen Königstadt verschlungen, hast alles [41] persönlich zu bestehen, unterrichtest und lehrst, gibst und genießest, arbeitest und vollbringst, versammelst und diridirt, gebietest und herrschest und was nicht alles; hiezu noch der Familiencirkel und fremde Gelage gerechnet, da gibt es denn schon etwas auszuhalten. Indessen ich einsam, wie Merlin vom leuchtenden Grabe her, mein eignes Echo ruhig und gelegentlich, in der Nähe, wohl auch in die Ferne vernehmen lasse.

Von dieser Betrachtung laß uns zum gemeinsamen, nciht unbedeutenden Geschäft hinüber gehen, zu dessen völliger Einleitung ich nächstens einen Aufsatz vorlege, ihn, der weiteres Vorschreiten befördern wird, deiner Einstimmung empfehlend.

Der getreue Eckart ist mir von großer Beyhülfe. reinen und redlichen Gesinnungen treu, wächst er täglich an Kenntniß, Ein- und Übersicht und bleibt, wegen fördern Theilnahme, ganz unschätzbar; so wie Riemer, von seiner Seite, durch gesellige Berichtigung, Reinigung, Revision und Abschluß der Manuscripte, so wie der Druckbogen mir Arbeit und Leben erleichtert. Möge uns beiden so viel Kraft und Behagen verliehen seyn, um bis an's Ende wirksam auszudauern.

Deshalb denn, manchmal zurückschauend, in diesem

Gänsespiel getrost Vorwärts.

Weimar den 14. December 1830.

J. W. v. Goethe. [42]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1830. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-96F2-7