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An Charlotte von Stein

[Clausthal, 7. – 9., Altenau, 9. December 1777.]

**l. d. 7. Dez. Abends. Schöne Mondnacht und alles weis im Schnee. Sie sehen wohl dass ich auf den Bergen bin weil ich in so wenig Stunden das Clima so sehr verändern kann. Aber nicht allein Clima. Ich hab Ihnen viel zu erzählen wenn ich [193] wiederkomme. Wenn ich nur hernach erzählen kan. Den sonderbaaren dramatisch-ministerialischen Effeckt den die Welt auf mich macht durch die ich ziehe!! Das schönste von dieser Wallfahrt ist dass ich meine Ideen bestätigt finde auf iedem Schritt, über Wirthschafft, es sey ein Bauergut oder ein Fürstenthum, und dass sie so simpel sind, dass man gar nicht zu reisen brauchte wenn man bey sich was lernte. Nur die Einsamkeit will mir doch nicht recht, ich habs sonst besser gekonnt, bey euch verwöhn ich mich, ich möchte doch in manchen Stunden zu Hause seyn.

d. 8. Dez. Nachts. Diesmal bring ich Sie um eine Menge toller Ideen. heute den ganzen Tag schwäzz ich mit Ihnen was ich des Abends schreiben wollte. Und nun unterhält mich die Menschenwirthschafft durcheinander so sehr dass ich nur gute Nacht sagen kann. Gute Nacht Liebste.

d. 9. Es ist gar schön. Der Nebel legt sich in leichte Schneewolcken zusammen, die Sonne sieht durch. und der Schnee über alles macht wieder das Gefühl von Fröhligkeit. In meiner Verkappung seh ich täglich wie leicht es ist ein Schelm zu seyn, und wieviel Vortheile einer der sich im Augenblick verläugnet, über die harmlose Selbstigkeit der Menschen gewinnen kann. Niemand macht mir mehr Freude als die Hundsfütter, die ich nun so ganz vor mir gewähren, und ihre Rolle gemächlich ausspielen lasse. Der [194] Nuzzen aber den das auf meinen phantastischen Sinn hat, mit lauter Menschen umzugehn die ein bestimmtes, einfaches, daurendes, wichtiges Geschäfft haben, ist unsäglich. Es ist wie ein kaltes Bad, das einen aus einer bürgerlich wollüstigen Abspannung, wieder zu einem neuen kräfftigen Leben zusammen zieht.


d. 9. Dez. Abends*** au.

Was die Unruhe ist die in mir stickt mag ich nicht untersuchen, auch nicht untersucht haben. Wenn ich so allein bin, erkenn ich mich recht wieder wie ich in meiner ersten Jugend war, da ich so ganz allein unter der Welt umhertrieb. Die Menschen kommen mir noch eben so vor, nur macht ich heut eine Betrachtung. Solang ich im Druck lebte, solang niemand für das was in mir auf und abstieg einig Gefühl hatte, vielmehr wie's geschieht, die Menschen erst mich nicht achteten, dann wegen einiger widerrennender Sonderbaarkeiten scheel ansahen, hatte ich mit aller Lauterkeit meines Herzens eine Menge falscher, schiefer Prätensionen – Es lässt sich nicht so sagen, ich müsste ins Detail gehn – da war ich elend, genagt, gedrückt, verstümmelt wie Sie wollen. Jetzt ists kurios besonders die Tage her in der freywilligen Entäuserung was da für Lieblichkeit für Glück drinne steckt.

Die Menschen streichen sich recht auf mir auf, wie auf einem Probirstein, ihre Gefälligkeit, Gleichgültigkeit, Hartleibigkeit und Grobheit, eins mit dem andern [195] macht mir Spaß – Summa Summarum es ist die Prätension aller Prätensionen keine zu haben.

Liebes Gold! Ich hab an keinem Orte Ruh, ich habe mich tiefer ins Gebürg gesenckt, und will morgen von da in seltsame Gegenden streifen, wenn ich einen Führer durch den Schnee finde. Um halb viere fangts schon hier an Nacht zu seyn, und das ist nach der Uhr des platten Lands gewiss erst drey.

Ich dencke des Tags hundertmal an den Herzog und wünsche ihm den Mitgenuss so eines Lebens, aber den rechten leckern Geschmack davon kan er noch nicht haben, er gefällt sich noch zu sehr das natürliche zu was abenteuerlichem zu machen, statt dass es einem erst wohl thut wenn das abenteuerliche natürlich wird.

Es ist eben die Zeit, wenig Tage auf ab, dass ich vor neun Jahren kranck zum Todte war, meine Mutter schlug damals in der äusersten Noth ihres Herzens ihre Bibel auf und stand, wie sie mir nachher erzählt hat: »Man wird wiederum Weinberge pflanzen an den Bergen Samariä, pflanzen wird man und dazu pfeifen.« Sie fand für den Augenblick Trost, und in der Folge manche Freude an dem Spruche.

Sie sehn was für Zeug mir durcheinander einfällt.

Dass ich iezt um und in Bergwercken lebe, werden Sie vielleicht schon errathen haben. Gestern Liebste hat mir das Schicksaal wieder ein gros Compliment gemacht. Der Geschworne ward einen Schritt vor mir von einem Stück Gebürg das sich ablöste zu [196] Boden geschlagen, da er ein sehr robuster Mann war so stemmte er sich da es auf ihn fiel, dass es sich in mehr Stücken auseinanderbrach, und an ihm hinabrutschte, es überwältigte ihn aber doch, und ich glaubte es würde ihm wenigstens die Füsse sehr beschädigt haben, es ging aber so hin, einen Augenblick später so stund ich an dem Fleck, denn es war eben vor einem Ort den er mir zeigen wollte, und meine schwanke Person hätt es gleich niedergedrückt, und mit der völligen Last gequetscht. Es war immer ein Stück von fünf, sechs Zentnern. Also dass Ihre Liebe bey mir bleibe, und die Liebe der Götter.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1777. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9871-8