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An Sulpiz Boisserée

[7. November 1830.]

Hiebey, mein Theuerster, die unvollständigen sibylinischen Blätter des Chaos; kein ganzes Exemplar ist nicht mehr vorräthig; im Anfang wurden wenige gedruckt, man ging noch überdieß etwas leichtsinnig damit um. Die Folge hoffe ununterbrochen übersenden zu können.

[8] Wenden Sie ja Ihre Aufmerksamkeit auf irgend einen interessanten Gegenstand und einige Stunden auf die Darstellung desselben, die Ihnen die Bedinungen, zu welchen die Beytretenden sich verpflichten. Für dießmal will ich von Ihnen nicht das strenge Geheimniß fordern, das hier am Orte unter den Mitgliedern möglichst bewahrt wird, nur geben Sie kein Blatt aus der Hand, damit nichts abgeschrieben oder wohl gedruckt werde. Hie und da ist es auswärtig geschehen und hat Verdrießlichkeiten und Ausschließungen nach sich gezogen. Hiebey muß ich bemerken: daß ich nur Mitglied bin und mit Redaction und Direction gar nichts zu thun habe. Diese sind ganz frauenzimmerlich, mitunter ein bißchen eigen.

Auch lege eine Nachbildung der drey Könige bey. Ich finde den Gedanken so schön, daß, wenn mit den jungen Künstler etwas zu thun wäre, ich einen ersuchen würde: diese Composition, aber genau diese, zu reproduciren und in's Vollkommene zu steigern. Die großen Alten scheuten sich nicht, dem Guten, Löblichen nachzugehen und, was einmal gelungen war, wieder hervozubringen, welches immer sehr viel vorausetzt; unsre Neuern sind dagegen lauter Originale, und doch können sie mitunter über das Buch Tobiä nicht hinauskommen, welches Rembrandt auf seine Weise unvergleichlich genutzt hat.

[9] Noch ein Wort von unserm Bildchen! Der Engel spricht dem Jüngsten in's Ohr, den Ältesten faßt er bey'm Kopfe, der Mittlere (zur Ausfüllung des Raums etwas lang gerathene) wendet sich aufwärts nach der Botschaft und scheint sie im Traum zu sehen und zu verstehen. Höchst merkwürdig ist die Caravane, die, schon aufgebrochen, in's Gebirg zieht; auch die Masse ist schon geistig aufgeregt und dirigirt.

Da ich entfernt bin von allem bedeutend Geleisteten, so halte ich mich an die geistreichen Vorsätze, von denen mich solche Blätter überzeugen. Auch hab ich das Glück, ganz unschätzbare Dinge, um derentwillen man länger leben möchte, in meinen Besitz gebracht. Den Genius der Poesie von Julius Roman. Gedanke! vor dem man die Kniee beugt, mit der sorgfältigsten Federausführung. ich besitze vielleicht hundert seiner Blätter, einige von ihm, viele nach ihm, aber als glücklichem Wurf ist diesem kaum eines zu vergleichen. Ich sehe deshalb sorgfältig nach und wäge die Motive mit Genauigkeit. Es ist eine angenehme Beschäftigung, das Vortreffliche mit dem Vortrefflichen zu vergleichen.

Nun aber will ich aufhören, damit das Paquet abgeschlossen werde. Lassen Sie bald von sich hören und, wo möglich, verleihen Sie mir auch irgend ein Bildliches, woran ich mich herzlich ergetzen kann. Von der Art sind denn doch Neureuthers Randzeichnungen. Ich habe gewünscht etwas von ihm zu [10] sehen, das nicht von mir veranlaßt worden, damit das Ich bey dem Urtheil ganz aus dem Spiel wäre; ein paar Tiroler Lieder sind mir dabey zu Hülfe gekommen. Soviel für dießmal. Möge Ihnen alles zu Theil werden.

und so fort an!

Weimar d. 4. Nov. 1830.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1830. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9B5B-2