1828, Ende September.
Abend bei Goethe
Wie wir zurückkamen [von Tiefurt] war Coudray auf den Abend zu Goethe eingeladen. Er rieth mir [Hr. Koenig], auf eine nachfolgende Einladung gefaßt zu sein; es seien Fremde da, und wenn Goethe vernähme, daß ich von Frauenpriesnitz zurück sei, würde [381] er mich zu den andern bitten lassen .... Wie vorausgesagt, ward ich, bald nachdem Coudray von Hause fortgegangen war, von einem Bedienten eingeladen und abgeholt.
Die Treppe stieg es sich ganz bequem hinauf, nur war es mir unbehaglich, daß ich aus Achtung vor Goethes Widerwillen gegen Augengläser an der Stubenthür meine Brille einstecken mußte: nicht, weil ich nunmehr das auf der Thürschwelle eingelegte berühmte Salve übersah, sondern weil ein Kurzsichtiger beim Eintritt in eine Gesellschaft, die er zumal beim Kerzenlichte nicht schnell und aus der Ferne individualisiren kann, leicht befangen und linkisch erscheint. Der erste Eindruck eines Menschen war aber bei Goethes Empfindungsweise haftend.
Meine Anrede schnitt der Geheimrath mit einer Handbewegung und einigen Empfangsworten ab, die mir vergessen sind. Ich reihte mich also, da ich ihn eben im Gespräch mit einem Fremden unterbrochen hatte, den schwarzgekleideten Freunden an, die seitwärts in ehrerbietiger Ferne standen: es waren außer Coudray: Riemer, Meyer und Eckermann. Der eine von beiden Fremden war der Maler R[ösel] aus Berlin, der andere mir unbekannt. Mit diesem unterhielt sich Goethe fortwährend in der Fensternische, indeß Thee herumgegeben wurde.
Nach dem Thee nahmen alle Platz um den Tisch, und R. legte die Skizzen vor, die er aus seiner Reise,[382] besonders am Rhein, mit Bleifeder rasch entworfen, oder – wie er sich ausdrückte – ›geknackert‹ hatte. Überhaupt machte dieser launige Maler einen ergötzlichen Contrast zu dem ernsten Dichter: klein und verwachsen raschelte er hin und her, wenn Goethe hoch und aufrecht durch das Zimmer wandelte. Ebensosehr stach seine Unruhe und sein lebhafter Witz gegen Goethes Gemessenheit und heitere Bemerkungen, das schnelle, laute Sprechen des Berliners gegen den tiefen, gehaltenen Ton des Frankfurters ab. Ruhig sitzt der Alte da und überschaut von seinem etwas erhöhten Stuhle mit festem Auge den Tisch, während R., kaum über den Tisch hervorragend, seine Brille bald auf die Nase fallen läßt, um ein Blatt seines Skizzenbuches auszusuchen, bald über die Stirne zurückschiebt, um mit freiem Blick eine Bemerkung an den Geheimrath zu richten. Doch er selbst scheint am wenigsten um die Geheimrathschaft des Wirthes bekümmert: seine Bewegungen, sein lautes Lachen, seine Anreden und Erwiderungen überspringen alle Rangstufen, auf denen Goethes Hausfreunde sich leis und lauschend untergeordnet haben, ohne sich zuhause zu fühlen. Mir selbst waren die zur Schau circulirenden Blätter sehr willkommen, um unter so gutem Vorwande meine Brille hervorzuholen, und über die ›geknackerten‹ Zeichnungen hinweg nach Goethe zu schielen, der nirgends etwas Geknackertes an sich hatte. Dieser reicht die beschauten und besprochenen Blätter mit den fast [383] pedantisch wiederholten Worten zurück: »Sie sollen bedankt sein!« – »Sie sollen belobt sein, wie immer!«
Eine seltene Paste, die R. vorwies, händigte ihm Goethe mit den Worten wieder ein: »Da! Heben Sie es sorgfältig wieder auf!« – »Nicht wahr,« lachte R., »damit Sie nicht in unrechte Hände kommen?« – »Nein,« lächelte der Alte, »weil sie vielleicht nicht in den rechten ist.«
Bei dieser Gelegenheit rühmte R. unbefangen genug seine, besonders in Italien verübten Kunstdiebereien, erzählte, wie er die Aufseher trunken gemacht habe, sodaß Sie dann im Dusel nicht bemerkt hätten, was ihm in die Taschen gefallen sei. Goethe erwiederte mit der Nachsicht, die er selbst bisweilen für sich nöthig gehabt haben soll: »Bei Dienstboten werden gefundene Eßwaren nicht für gestohlen angesehen; so sind auch solche Kunstsachen gleichsam für Leckerbissen zu achten, die man sich zueignet, ohne des Diebstahls schuldig zu werden. Ja, manchem erzeigt man eine unerkannte Wohlthat, wenn man sie ihm entwendet und ihn dadurch von der Verantwortlichkeit befreit, nichts davon zu verstehen.«
Unter den Seltenheiten, die R. zu besitzen sich rühmte, prahlte er auch sehr mit einem Ei aus Herculanum, – dem einzigen, daß man in Deutschland habe – es sei aber leicht wie Luft. »Es ist also nicht viel auszubrüten darin,« erwiederte Goethe; »auch wäre wohl dazu erst ein herculanisches Huhn beizubringen.« [384] R. war sehr heiser und ward es durch sein vieles Reden immermehr; hierüber von Goethe wohlwollend berufen, wies er ein Blatt seiner Skizzen vor, indem er sagte: »Sehen Sie hier die classische Stelle, wo ich den Schnupfen geholt habe, – diesen schlechten Referendar, der doch Assessor geworden, obschon er im Maturitätsexamen durchgefallen ist.« Auf diesen in Berlin vielleicht üblichen Wortwitz versetzte Goethe ganz trocken: »Das haben Künstler voraus, daß sie an ungesunde Orte geführt werden.« Mit Eitelkeit versetzte R.: »Mancher aber holt sich dort einen Schnupfen, ohne daß er die Stelle so bezeichnen kann.«
Nach aufgehobener beschauender Sitzung, während kalter Punsch und Gebackenes umgereicht wurde, unterhielt sich Goethe eine Weile mit mir über Hanau und Frankfurt. So konnte ich mir den verehrten Mann recht in nächster Nähe betrachten. Er fragte nach den jetzt in beiden Städten befindlichen Kunstgegenständen und Künstlern und wollte namentlich von einem Maler hören, den er, wie er vielleicht nur den Schein annahm, eben nicht nennen konnte. Jetzt fühlt er den Puls deiner Kunstkennerschaft! dachte ich bei mir selbst. Er konnte diesen Puls unmöglich fieberhaft finden. Indeß war auch mein augenblickliches Interesse mehr darauf gerichtet, den Blick, die Mienen, die Sprache des Dichters zu beobachten, um mir ein lebendiges Bild einzuprägen, als vor seinen Fragen nach Gemälden mit Ehren zu bestehen. So fiel mir denn [385] wirklich nicht ein, daß er vielleicht von Oppenheimer hören wollte – dem aus Hanau gebürtigen, in Frankfurt angesiedelten jungen Maler, der kurz vorher dem Dichter Skizzen aus ›Hermann und Dorothea‹ gewidmet und übersendet hatte.
Wie es nun Zeit zu gehen war, entließ uns der Geheimrath. Wir schieden – die Fremden mit Verneigungen, die Hausfreuude mit Bücklingen.
[386]