1828, 23. October.


Mit Johann Peter Eckermann

Goethe sprach heute mit großer Anerkennung über eine kleine Schrift des Kanzlers, die den Großherzog Karl August zum Gegenstande hat und das thatenreiche Leben dieses seltenen Fürsten in gedrängter Kürze vorüberführt.

»Die kleine Schrift ist wirklich sehr gelungen,« sagte Goethe, »das Material mit großer Umsicht und großem Fleiß zusammengebracht, sodann alles vom Hauch der innigsten Liebe beseelt, und zugleich die Darstellung so knapp und kurz, daß That auf That sich drängt und bei dem Anblick einer solchen Fülle von Leben und Thun es uns zu Muthe wird, als würden wir von einem geistigen Schwindel ergriffen. Der Kanzler hat seine Schrift auch nach Berlin geschickt und darauf [157] vor einiger Zeit einen höchst merkwürdigen Brief von Alexander von Humboldt erhalten, den er nicht ohne tiefe Rührung habe lesen können. Humboldt war dem Großherzog während eines langen Lebens auf das innigste befreundet, welches freilich nicht zu verwundern, indem die reich angelegte tiefe Natur des Fürsten immer nach neuem Wissen bedürftig und gerade Humboldt der Mann war, der bei seiner großen Universalität auf jede Frage die beste und gründlichste Antwort immer bereit hatte.

Nun fügte es sich in der That wunderbar, daß der Großherzog gerade die letzten Tage vor seinem Tode in Berlin in fast beständiger Gesellschaft mit Humboldt verleben, und daß er über manches wichtige Problem, was ihm am Herzen lag, noch zuletzt von seinem Freunde Aufschluß erhalten konnte; und wiederum war er nicht ohne höhere günstige Einwirkung, daß einer der größten Fürsten, die Deutschtand je besessen, einen Mann wie Humboldt zum Zeugen seiner letzten Tage und Stunden hatte. Ich habe mir von dem Briefe eine Abschrift nehmen lassen und will Ihnen doch einiges daraus mittheilen.«

Goethe stand auf und ging zu seinem Pult, wo er den Brief nahm und sich wieder zu mir an den Tisch setzte. Er las eine Weile im stillen. Ich sah Thränen in seinen Augen. »Lesen Sie es für sich,« sagte er dann, indem er mir den Brief zureichte. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab, während ich las.

[158] – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ich gab Goethen über diesen herrlichen Brief meine innige Freude zu erkennen. »Sie sehen,« sagte Goethe, »was für ein bedeutender Mensch er war. Aber wie gut ist es von Humboldt, daß er diese wenigen letzten Züge aufgefaßt, die wirklich als Symbol gelten können, worin die ganze Natur des vorzüglichsten Fürsten sich spiegelt. Ja, so war er! Ich kann es am besten sagen, denn es kannte ihn im Grunde niemand so durch und durch wie ich selber. Ist es aber nicht ein Jammer, daß kein Unterschied ist und daß auch ein solcher Mensch so früh dahin muß? Nur ein lumpiges Jahrhundert länger, und wie würde er an so hoher Stelle seine Zeit vorwärts gebracht haben! – Aber wissen Sie was? Die Welt soll nicht so rasch zum Ziele als wir denken und wünschen. Immer sind die retardirenden Dämonen da, die überall dazwischen- und überall entgegentreten, sodaß es zwar im ganzen vorwärts geht, aber sehr langsam. Leben Sie nur fort, und Sie werden schon finden, daß ich recht habe.«

»Die Entwickelung der Menschheit,« sagte ich, »scheint aus Jahrtausende angelegt.«

»Wer weiß,« erwiderte Goethe, »vielleicht auf Millionen! Aber laß die Menschheit dauern so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen fehlen, die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei Noth, damit sie ihre Kräfte entwickele. Klüger und einsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und [159] thatkräftiger nicht oder doch nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles danach angelegt, und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese Verjüngungsepoche eintritt. Aber die dahin hat es sicher noch gute Weile, und wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende aus dieser lieben alten Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben.«

Goethe war in besonders guter, erhöhter Stimmung. Er ließ eine Flasche Wein kommen, wovon er sich und mir einschenkte. Unser Gespräch ging wieder auf den Großherzog Karl August zurück.

»Sie sehen,« sagte Goethe, »wie sein außerordentlicher Geist das ganze Reich der Natur umfaßte. Physik, Astronomie, Geognosie, Meteorologie, Pflanzen und Thierformen der Urwelt, und was sonst dazu gehört, er hatte für alles Sinn und für alles Interesse. Er war achtzehn Jahre alt, als ich nach Weimar kam, aber schon damals zeigten seine Keime und Knospen, was einst der Baum sein würde. Er schloß sich bald auf das innigste an mich an und nahm an allem, was ich trieb, gründlichen Antheil. Daß ich fast zehn Jahre älter war als er, kam unserm Verhältniß zugute. Er saß ganze Abende bei mir in tiefen Gesprächen über Gegenstände der Kunst und Natur und was sonst allerlei Gutes vorkam. Wir saßen oft tief in die [160] Nacht hinein, und es war nicht selten daß wir nebeneinander aus meinem Sofa einschliefen. Fünfzig Jahre lang haben wir es miteinander fortgetrieben, und es wäre kein Wunder wenn wir es endlich zu etwas gebracht hätten.«

»Eine so gründliche Bildung,« sagte ich, »wie sie der Großherzog gehabt zu haben scheint, mag bei fürstlichen Personen selten vorkommen.«

»Sehr selten!« erwiderte Goethe. »Es giebt zwar viele, die fähig sind über alles sehr geschickt mitzureden; aber sie haben es nicht im Innern und krabbeln nur an den Oberflächen. Und es ist kein Wunder, wenn man die entsetzlichen Zerstreuungen und Zerstückelungen bedenkt, die das Hofleben mit sich führt und denen ein junger Fürst ausgesetzt ist. Von allem soll er Notiz nehmen. Er soll ein bißchen das kennen und ein bißchen das, und dann ein bißchen das und wieder ein bißchen das. Dabei kann sich aber nichts setzen und nichts Wurzel schlagen, und es gehört der Fonds einer gewaltigen Natur dazu, um bei solchen Anforderungen nicht in Rauch aufzugehen. Der Großherzog war freilich ein geborener großer Mensch, womit alles gesagt und alles gethan ist.«

»Bei allen seinen höhern wissenschaftlichen und geistigen Richtungen,« sagte ich, »scheint er doch auch das Regieren verstanden zu haben.«

»Er war ein Mensch aus dem Ganzen,« erwiderte Goethe, »und es kam bei ihm alles aus einer einzigen[161] großen Duelle. Und wie das Ganze gut war, so war das Einzelne gut, er mochte thun und treiben was er wollte. Übrigens kamen ihm zur Führung des Regiments besonders drei Dinge zu statten. Er hatte die Gabe, Geister und Charaktere zu unterscheiden und jeden an seinen Platz zu stellen. Das war sehr viel. Dann hatte er noch etwas, was ebenso viel war, wo nicht noch mehr: er war beseelt von dem edelsten Wohlwollen, von der reinsten Menschenliebe, und wollte mit ganzer Seele nur das Beste. Er dachte immer zuerst an das Glück des Landes und ganz zuletzt erst ein wenig an sich selber. Edeln Menschen entgegenzukommen, gute Zwecke befördern zu helfen, war seine Hand immer bereit und offen. Es war in ihm viel Göttliches. Er hätte die ganze Menschheit beglücken mögen. Liebe aber erzeugt Liebe. Wer aber geliebt ist, hat leicht regieren.

Und drittens: er war größer als seine Umgebung. Neben zehn Stimmen, die ihm über einen gewissen Fall zu Ohren kamen, vernahm er die elfte, bessere in sich selber. Fremde Zuflüsterungen glitten an ihm ab, und er kam nicht leicht in den Fall, etwas Unfürstliches zu begehen, indem er das zweideutig gemachte Verdienst zurücksetzte und empfohlene Lumpe in Schutz nahm. Er sah überall selber, urtheilte selber und hatte in allen Fällen in sich selber die sicherste Basis. Dabei war er schweigsamer Natur, und seinen Worten folgte die Handlung.«

[162] »Wie leid thut es mir,« sagte ich, »daß ich nicht viel mehr von ihm gekannt habe als sein Äußeres; doch das hat sich mir tief eingeprägt. Ich sehe ihn noch immer auf seiner alten Droschke, im abgetragenen grauen Mantel und Militärmütze und eine Cigarre rauchend, wie er aus die Jagd fuhr, seine Lieblingshunde nebenher. Ich habe ihn nie anders fahren sehen als auf dieser unansehnlichen alten Droschke, auch nie anders als zweispännig. Ein Gepränge mit sechs Pferden und Röcke mit Ordenssternen scheint nicht sehr nach seinem Geschmack gewesen zu sein.«

»Das ist,« erwiderte Goethe, »jetzt bei Fürsten überhaupt kaum mehr an der Zeit. Es kommt jetzt darauf an, was einer auf der Waage der Menschheit wiegt; alles übrige ist eitel. Ein Rock mit dem Stern und ein Waagen mit sechs Pferden imponirt nur noch allenfalls der rohesten Masse, und kaum dieser. Übrigens hing die alte Droschke des Großherzogs kaum in Federn. Wer mit ihm fuhr, hatte verzweifelte Stöße auszuhalten. Aber das war ihm eben recht. Er liebte das Derbe und Unbequeme und war ein Feind aller Verweichlichung.«

»Spuren davon,« sagte ich, »sieht man schon in Ihrem Gedicht ›Ilmenau‹, wo Sie ihn nach dem Leben gezeichnet zu haben scheinen.«

»Er war damals sehr jung,« erwiderte Goethe; »doch ging es mit uns freilich etwas toll her. Er war wie ein edler Wein, aber noch in gewaltiger [163] Gärung. Er wußte mit seinen Kräften nicht wo hinaus, und wir waren oft sehr nahe am Halsbrechen. Auf Parforcepferden über Hecken, Gräben und durch Flüsse, und bergauf bergein sich tagelang abarbeiten, und dann Nachts unter freiem Himmel kampiren, etwa bei einem Feuer im Walde: das war nach seinem Sinne. Ein Herzogthum geerbt zu haben, war ihm nichts, aber hätte er sich eins erringen, erjagen und erstürmen können, das wäre ihm etwas gewesen.

Das Ilmenauer Gedicht,« fuhr Goethe fort, »enthält als Episode eine Epoche, die im Jahre 1783, als ich es schrieb, bereits mehrere Jahre hinter uns lag, sodaß ich mich selber darin als eine historische Figur zeichnen und mit meinem eigenen Ich früherer Jahre eine Unterhaltung führen konnte. Es ist darin, wie Sie wissen, eine nächtliche Scene vorgeführt, etwa nach einer solchen halsbrechenden Jagd im Gebirge. Wir hatten uns am Fuße eines Felsens kleine Hütten gebaut und mit Tannenreisern gedeckt, um darin auf trockenem Boden zu übernachten. Vor den Hütten brannten mehrere Feuer, und wir kochten und brieten was die Jagd gegeben hatte. Knebel, dem schon damals die Tabakspfeife nicht kalt wurde, saß dem Feuer zunächst und ergötzte die Gesellschaft mit allerlei trockenen Späßen, während die Weinflasche von Hand zu Hand ging. Seckendorff, der schlanke mit den langen seinen Gliedern, hatte sich behaglich am Stamm eines Baumes hingestreckt und summte allerlei Poetisches. Abseits in [164] einer ähnlichen kleinen Hütte lag der Herzog im tiefen Schlaf. Ich selber saß davor, bei glimmenden Kohlen, in allerlei schweren Gedanken, auch in Anwandlungen von Bedauern über mancherlei Unheil, das meine Schriften angerichtet. Knebel und Seckendorff erscheinen mir noch jetzt gar nicht schlecht gezeichnet, und auch der junge Fürst nicht in diesem düstern Ungestüm seines zwanzigsten Jahres:

Der Vorwitz lockt ihn in die Weite,
Kein Fels ist ihm zu schroff, kein Steg zu schmal,
Der Unfall lauert an der Seite
Und stürzt ihn in den Arm der Qual.
Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung
Gewaltsam ihn bald da, bald dort hinaus,
Und von unmuthiger Bewegung
Ruht er unmuthig wieder aus.
Und düster wild an heitern Tagen,
Unbändig ohne froh zu sein,
Schläft er, an Seel' und Leib verwundet und zerschlagen,
Auf einem harten Lager ein.

So war er ganz und gar. Es ist darin nicht der kleinste Zug übertrieben. Doch aus dieser Sturm- und Drangperiode hatte sich der Herzog bald zu wohlthätiger Klarheit durchgearbeitet, sodaß ich ihn zu seinem Geburtstage im Jahre 1783 an diese Gestalt seiner frühern Jahre sehr wohl erinnern mochte.

Ich leugne nicht, er hat mir anfänglich manche Noth und Sorge gemacht. Doch seine tüchtige Natur reinigte sich bald und bildete sich bald zum Besten,[165] sodaß es eine Freude wurde, mit ihm zu leben und zu wirken.«

»Sie machten,« bemerkte ich, »in dieser ersten Zeit mit ihm eine einsame Reise durch die Schweiz.«

»Er liebte überhaupt das Reisen,« erwiderte Goethe; »doch war es nicht sowohl um sich zu amusiren und zu zerstreuen, als um überall die Augen und Ohren offen zu haben und auf allerlei Gutes und Nützliches zu achten, das er in seinem Lande einführen könnte. Ackerbau, Viehzucht und Industrie sind ihm aus diese Weise unendlich viel schuldig geworden. Überhaupt waren seine Tendenzen nicht persönlich, egoistisch, sondern rein produktiver Art, und zwar produktiv für das allgemeine Beste. Dadurch hat er sich denn auch einen Namen gemacht, der über dieses kleine Land weit hinausgeht.«

»Sein sorgloses einfaches Äußere,« sagte ich, »schien anzudeuten, daß er den Ruhm nicht suche, und daß er sich wenig aus ihm mache. Es schien als sei er berühmt geworden ohne sein weiteres Zuthun, bloß wegen seiner stillen Tüchtigkeit.«

»Es ist damit ein eigenes Ding,« erwiderte Goethe. »Ein Holz trennt, weil es Stoff dazu in sich hat und ein Mensch wird berühmt, weil der Stoff dazu in ihm vorhanden. Suchen läßt sich der Ruhm nicht, und alles Jagen danach ist eitel. Es kann sich wohl jemand durch kluges Benehmen und allerlei künstliche Mittel eine Art von Namen machen; fehlt aber dabei [166] das innere Juwel, so ist es eitel und hält nicht auf den andern Tag.

Ebenso ist es mit der Gunst des Volks. Er suchte sie nicht und that den Leuten keineswegs schön; aber das Volk liebte ihn, weil es fühlte, daß er ein Herz für sie habe.«

Goethe erwähnte sodann die übrigen Glieder des großherzoglichen Hauses, und wie durch alle der Zug eines edeln Charakters gehe. Er sprach über die Herzensgüte des jetzigen Regenten, über die großen Hoffnungen, zu denen der junge Prinz berechtige, und verbreitete sich mit sichtbarer Liebe über die seltenen Eigenschaften der jetzt regierenden hohen Fürstin, welche im edelsten Sinne große Mittel verwende, um überall Leiden zu lindern und gute Keime zu wecken. »Sie ist von jeher für das Land ein guter Engel gewesen,« sagte er, »und wird es mehr und mehr, je länger sie ihm verbunden ist. Ich kenne die Großherzogin seit dem Jahre 1805 und habe Gelegenheit in Menge gehabt, ihren Geist und Charakter zu bewundern. Sie ist eine der besten und bedeutendsten Frauen unserer Zeit und würde es sein, wenn sie auch keine Fürstin wäre. Und das ist's eben, worauf es ankommt, daß wenn auch der Purpur abgelegt worden, noch sehr viel Großes, ja eigentlich noch das Beste übrigbleibe.«

Wir sprachen sodann über die Einheit Deutschlands, und in welchem Sinne sie möglich und wünschenswert.

»Mir ist nicht bange,« sagte Goethe, »daß Deutschland [167] nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das Ihrige thun. Vor allem aber sei es eins in Liebe untereinander, und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind; es sei eins, daß der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reiche gleichen Werth habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passiren könne. Es sei eins, daß der städtische Reisepaß eines weimarischen Bürgers von dem Grenzbeamten eines großen Nachbarstaats nicht für unzulänglich gehalten werde, als der Paß eines Ausländers. Es sei von Inland und Ausland unter deutschen Staaten überall keine Rede mehr. Deutschland sei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel, und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag.

Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe, und daß diese eine große Residenz wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volks gereiche, so ist man im Irrthum.

Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Körper mit vielen Gliedern verglichen, und so ließe sich wohl die Residenz eines Staates dem Herzen vergleichen, von welchem aus Leben und Wohlsein in die einzelnen nahen und fernen Glieder strömt. Sind aber die Glieder sehr ferne vom Herzen, so wird das zuströmende Leben [168] schwach und immer schwächer empfunden werden. Ein geistreicher Franzose, ich glaube Dupin, hat eine Karte über den Kulturzustand Frankreichs entworfen und die größere oder geringere Aufklärung der verschiedenen Departements mit hellern oder dunklern Farben zur Anschauung gebracht. Da finden sich nun besonders in südlichen, weit von der Residenz entlegenen Provinzen einzelne Departements, die in ganz schwarzer Farbe daliegen, als Zeichen einer dort herrschenden großen Finsterniß. Würde das aber wohl sein, wenn das schöne Frankreich statt des einen großen Mittelpunktes zehn Mittelpunkte hätte, von denen Licht und Leben ausginge?

Wodurch ist Deutschland groß als durch eine bewundernswürdige Volkskultur, die alle Theile des Reichs gleichmäßig durchdrungen hat? Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen sie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger sind? Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände, ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht.

Deutschtand hat über zwanzig im ganzen Reiche vertheilte Universitäten und über hundert ebenso verbreitete öffentliche Bibliotheken, an Kunstsammlungen und Sammlungen von Gegenständen aller Naturreiche gleichfalls eine große Zahl; denn jeder Fürst hat dafür [169] gesorgt, dergleichen Schönes und Gutes in seine Nähe heranzuziehen. Gymnasien und Schulen für Technik und Industrie sind im Überfluß da, ja es ist kaum ein deutsches Dorf, das nicht seine Schule hatte. Wie steht es aber um diesen letzten Punkt in Frankreich?

Und wiederum die Menge deutscher Theater, deren Zahl über siebzig hinausgeht, und die doch auch als Träger und Beförderer höherer Volksbildung keineswegs zu verachten. Der Sinn für Musik und Gesang und ihre Ausübung ist in keinem Lande verbreitet wie in Deutschland, und daß ist auch etwas!

Nun denken Sie aber an Städte wie Dresden, München, Stuttgart, Kassel, Braunschweig, Hannover und ähnliche; denken Sie an die großen Lebenselemente, die diese Städte in sich selber tragen; denken Sie an die Wirkungen, die von ihnen aus die benachbarten Provinzen ausgehen: und fragen Sie sich, ob das alles sein würde, wenn Sie nicht seit langen Zeiten die Sitze von Fürsten gewesen?

Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck sind groß und glänzend, ihre Wirkungen aus den Wohlstand von Deutschland gar nicht zu berechnen: würden sie aber wohl bleiben was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränetät verlieren und irgend einem großen deutschen Reiche als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? Ich habe Ursache, daran zu zweifeln.«

[170]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1828. 1828, 23. October. Mit Johann Peter Eckermann. TextGrid Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A2A9-C