1831, 17. Februar.


Mit Johann Peter Eckermann

Mit Goethe zu Tische. Ich bringe ihm seinen ›Aufenthalt in Karlsbad‹ vom Jahre 1807, dessen Redaction ich am Morgen beendigt. Wir reden über kluge Stellen, die darin als flüchtige Tagesbemerkungen vorkommen. »Man meint immer,« sagte Goethe lachend, »man müsse alt werden um gescheidt zu sein; im Grunde aber hat man bei zunehmenden Jahren zu thun, sich so klug zu erhalten als man gewesen ist. Der Mensch wird in seinen verschiedenen Lebensstufen wohl ein anderer, aber er kann nicht sagen, daß er ein besserer werde, und er kann in gewissen Dingen so gut in seinem zwanzigsten Jahre recht haben als in seinem sechzigsten.

Man sieht freilich die Welt anders in der Ebene, anders auf den Höhen des Vorgebirgs, und anders auf den Gletschern des Urgebirgs. Man sieht auf dem einen Standpunkt ein Stück Welt mehr als auf dem andern; aber das ist auch alles, und man kann nicht sagen, daß man auf dem einen mehr recht hätte als auf dem andern. Wenn daher ein Schriftsteller aus verschiedenen Stufen seines Lebens Denkmale zurückläßt, so kommt es vorzüglich darauf an, daß er ein angeborenes Fundament und Wohlwollen besitze, daß er auf jeder Stufe rein gesehen und empfunden, und daß er ohne Nebenzwecke gerade und treu gesagt habe[19] wie er gedacht. Dann wird sein Geschriebenes, wenn es auf der Stufe recht war, wo es entstanden, auch ferner recht bleiben, der Autor mag sich auch später entwickeln und verändern wie er wolle.«

Ich gab diesen guten Worten meine vollkommene Beistimmung. »Es kam mir in diesen Tagen ein Blatt Maculatur in die Hände,« fuhr Goethe fort, »das ich las. Hm! sagte ich zu mir selber, was da geschrieben steht, ist gar nicht so unrecht, du denkst auch nicht anders und würdest es auch nicht viel anders gesagt haben. Als ich aber das Blatt recht besehe, war es ein Stück aus meinen eigenen Werken; denn da ich immer vorwärts strebe, so vergesse ich was ich geschrieben habe, wo ich denn sehr bald in den Fall komme, meine Sachen als etwas durchaus Fremdes anzusehen.«

Ich erkundigte mich nach dem ›Faust‹, und wie er vorrücke. »Der läßt mich nun nicht wieder los,« sagte Goethe, »ich denke und erfinde täglich daran fort. Ich habe nun auch das ganze Manuscript des zweiten Theils heute heften lassen, damit es mir als eine sinnliche Masse vor Augen sei. Die Stelle des fehlenden vierten Actes habe ich mit weißem Papier ausgefüllt, und es ist keine Frage, daß das Fertige anlockt und reizt, um das zu vollenden, was noch zu thun ist. Es liegt in solchen sinnlichen Dingen mehr als man denkt, und man muß dem Geistigen mit allerlei Künsten zu Hilfe kommen.«

[20] Goethe ließ den gehefteten neuen ›Faust‹ hereinbringen, und ich war erstaunt über die Masse des Geschriebenen, das im Manuscript als ein guter Folioband mir vor Augen war.

»Es ist doch alles –« sagte ich – »seit den sechs Jahren gemacht, die ich hier bin, und doch haben Sie bei dem andern Vielen, was seitdem geschehen, nur sehr wenige Zeit darauf verwenden können. Man sieht aber, wie etwas heranwächst, wenn man auch nur hin und wieder etwas hinzuthut.«

»Davon überzeugt man sich besonders wenn man älter wird,« sagte Goethe, »während die Jugend glaubt es müsse alles an Einem Tage geschehen. Wenn aber das Glück mir günstig ist, und ich mich ferner wohl befinde, so hoffe ich in den nächsten Frühlingsmonaten am vierten Act sehr weit zu kommen. Es war auch dieser Act, wie Sie wissen, längst erfunden, allein da sich das Übrige während der Ausführung so sehr gesteigert hat, so kann ich jetzt von der frühern Erfindung nur das Allgemeinste brauchen, und ich muß nun auch dieses Zwischenstück durch neue Erfindungen so heranheben, daß es dem andern gleich werde.«

»Es kommt doch in diesem zweiten Theil –« sagte ich – »eine weit reichere Welt zur Erscheinung als im ersten.«

»Ich sollte denken,« sagte Goethe. »Der erste Theil ist fast ganz subjectiv; es ist alles aus einem befangenern, leidenschaftlichern Individuum hervorgegangen[21] welches Halbdunkel den Menschen auch so wohlthun mag. Im zweiten Theile aber ist fast gar nichts Subjectives, es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftlosere Welt, und wer sich nicht etwas umgethan und einiges erlebt hat, wird nichts damit anzufangen wissen.«

»Es sind darin einige Denkübungen,« sagte ich, »und es möchte auch mitunter einige Gelehrsamkeit erfordert werden. Es ist mir nur lieb, daß ich Schellings Büchlein über die Kabiren gelesen, und daß ich nun weiß, wohin Sie in jener famosen Stelle der ›Classischen Walpurgisnacht‹ deuten.«

»Ich habe immer gefunden,« sagte Goethe lachend, »daß es gut sei, etwas zu wissen.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1831. 1831, 17. Februar. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A350-C