1824, 18. November.


Mit Friedrich von Müller

Nachmittags von 4 bis 5 Uhr weilte ich bei Goethen. Ein Frankfurter, Herr Fellner, wurde angemeldet und abgeschlagen. »Man muß den Leuten abgewöhnen, einen unangemeldet zu überfallen, man bekommt doch immer andere fremde Gedanken durch solche Besuche, muß sich in ihre Zustände hineindenken. Ich will keine fremden Gedanken, ich habe an meinen eigenen genug, kann mit diesen nicht fertig werden.«

[106] Darauf theilt er den ausgesonnenen Plan zu Regulirung der vom Großherzog vergönnten öftern Benutzung der neuen Kunst- und Bücherschätze auf der Bibliothek mit. Nach einem gewissen Turnus sollen acht bis neun Familienhäupter, jedes alle drei bis sechs Wochen, eine Karte erhalten, auf welche sie dann mit einer beliebig gewählten Gesellschaft zwei Vormittagsstunden, des Montags oder Donnerstags, die ausgelegten literarischen Neuigkeiten beschauen mögen.

Goethe war heute ausnehmend mild, ruhig, innerlichst heiter.

Er kam bald wieder auf Lord Byron zu sprechen. »Byron,« sagte er, »stellt den alten Pope blos deßhalb so hoch, um an ihm eine unbezwingliche Mauer zum Hinterhalt zu haben. Gegen Pope ist Byron ein Riese, gegen Shakespeare aber freilich wieder nur ein Zwerg gewesen. Die Ode auf den Tod des Generals Moore ist eine der schönsten Dichtungen Byrons. Shelley muß ein armseliger Wicht sein, wenn er dieß nicht gefühlt hat, überhaupt scheine Byron viel zu gut gegen ihn gewesen. Daß Byron bei dem Gefangenen von Chillon Ugolino zum Vorbild genommen, ist durchaus nicht zu tadeln, die ganze Natur gehört dem Dichter an; nun aber wird jede geniale Kunstschöpfung auch ein Theil der Natur, und mithin kann der spätere Dichter sie so gut benutzen wie jede andere Naturerscheinung.

Mad. Louise Belloc hat sehr Unrecht, wenn sie[107] Thomas Moore der Byron'schen Lorbeerkrone würdig hält. Höchstens in einem Ragout dürfte Moore einzelne Lorbeerblätter genießen. An einem so herrlichen Gedicht, wie das Byron'sche auf General Moore, zehre ich einen ganzen Monat lang und verlange nach nichts anderem. Wäre Byron am Leben geblieben, er würde für Griechenland noch ein Lykurg oder Solon geworden sein.

Lord Stratfords Abreise von Konstantinopel ist sehr bedeutungsreich, ohne Zweifel ein Symptom, daß die Engländer die griechische Sache für gewonnen halten. Aus Europa kann man aber nun einmal die Türken doch nicht treiben, da keine christliche Macht Konstantinopel besitzen darf, ohne Herr der Welt zu werden, aber beschneiden, reduciren kann man die türkische Macht in Europa, so weit als die griechischen Kaiser in den letzten zwei Jahrhunderten.«

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1824. 1824, 18. November. Mit Friedrich von Müller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A4C8-5