1815, 30. August.


Mit August und Theodor Kestner

Mittwoch den 30. August 1815 war einer meiner merkwürdigsten Tage. Von Bruder Theodor hörte ich, daß Goethe wahrscheinlich noch in Frankfurt sei und auf der sogenannten Gerbermühle bei Oberrad auf dem Wege nach Offenbach bei einem Freunde, dem Dr. Willemer, wohne. Es blieb nun, da er so entfernt von der Stadt und sein Hereinkommen unbestimmt war, nichts übrig, als ihn zu besuchen. Ich richtete daher mein Augenmerk auf meinen Freund Christian Schlosser, den ich mich freute seit Rom wiederzusehen, und hoffte bei ihm Hülfe zu Ausführung meines Plans zu finden. Ich traf ihn auf seiner Wohnstube mit einem gewissen Dr. Seebeck, einem Physiker und Optiker .... Um 4 Uhr war der Wagen da und wir fuhren nach Oberrad, wo wir an dem, nach der Gerbermühle führenden Wege zur Linken aufstiegen und an dem Main heraus sehr bald bei der Gerbermühle ankamen.

Der Bediente empfing uns an der Hausthür. Wir baten, dem Herrn Geheimen Rath aufwarten zu dürfen. [219] Der Bediente kehrte zurück mit der Nachricht: »es wird Ihro Excellenz viel Ehre sein.« Durch eine dunkle Treppe wurden wir in seine Wohnstube geführt, die für eine Gartenwohnung sehr groß und lang war. Er kam uns von der entgegengesetzten Seite entgegen und schien im Nebenzimmer sich angekleidet zu haben. Sein Anstand war würdig mit Absicht, aber sein Benehmen sehr freundlich, ja zuvorkommend; er half selbst die Stühle zusammenholen, indem er uns zum Sitzen nöthigte. Vorher fragte er, wer von uns beiden der Dr. Kestner aus Frankfurt sei.

Ich machte die Introduction damit, daß ich eines Briefes erwähnte, der mir von Frau von Beaulieu an ihn mitgegeben sei, den ich aber unglücklicherweise verloren habe. Sehr verbindlich erwiderte er darauf, daß ich auch ohne diesen mich eines freundlichen Empfangs habe versichert halten können. Dann richtete ich ihm eine Empfehlung meiner Mutter aus, indem ich mir Hoffnung gemacht, ihn in Wiesbaden anzutreffen. Er fragte nach ihrem Befinden und ob meine Geschwister noch vollzählig wären, indem er freundlich hinzufügte, daß unser seliger Vater ihm unsere sämmtlichen Silhouetten geschickt habe, als wir noch böse Buben gewesen, und daß er uns daher schon alle kenne. Dann kam die Rede auf Silhouetten, und er äußerte [sein Bedauern], daß diese ehemals gangbare Art, sich ein Andenken zu geben, so ganz abgekommen sei; denn es wäre doch ein treuer Schatten des Freundes gewesen.

[220] Nach einem kurzen Gespräch verschiedenen Inhalts nöthigte er uns darauf in den Garten. Beim Hinabsteigen in denselben wurde die Ältlichkeit seiner körperlichen Bewegungen sichtbar. Dieses schien ihm unangenehm; denn er nöthigte uns sehr angelegentlich, als wir zu seinen beiden Seiten ihn aus der Stubenthür begleiteten, die Treppe hinabzugehen, indem er folgen werde.

Der Garten bestand in einem Bosquet, an dem Main gelegen, und hier kamen wir zuerst durch einen Schattengang an einen freien Platz nah am Flusse, wo wir einen Kaufherrn, Herrn Nicolaus Schmidt aus Frankfurt antrafen, den Goethe bewillkommnete und »Du« nannte; er wird ein Jugendbekannter von ihm sein. Hier blieb er einige Augenblicke stehen und wies uns weiter zur Gesellschaft der Damen auf einem andern Platz, die zum Theil zur Willemer'scher Familie gehörten, zum Theil zum Besuch da waren.

Nachdem wir hier vorgestellt waren, kam Goethe uns nach und nahm sich so unserer Unterhaltung an, wie es dem gebührt, der Besuch bekommt. Er war dabei körperlich in einer beständigen Beweglichkeit und Unruhe, aber ohne schnelle Bewegungen. Anfangs theilte dann und wann eine Dame das Gespräch; doch hörte diese bald auf und er ging zwischen uns auf dem, von Bäumen umgebenen Platze, der nach dem Wege zu eine freie Seite hatte, auf und ab, oder, blieb er eine Weile stehn, so wiegte er doch den Oberkörper [221] auf den Füßen und lehnte sich zuweilen an. Die Hände hatte er meistens eingesteckt, entweder in die Tasche seines dunkelblauen Überrocks, der ihm schon wenigstens neun bis zehn Monate gedient hatte, oder in den Busen.

Während Theodor mit einem andern Herrn redend auf und ab ging, wurde mir das Gespräch mit Goethe etwa eine halbe Stunde allein zutheil. Es lenkte sich dieses auf Frau von Beaulieu und ihre Töchter [erster Ehe, Gräfinnen v. Egloffstein], von denen er mit vielem Interesse sprach, aber stets mit voller BeSonnenheit und einer großen Abgemessenheit. Er verbreitete sich mit gerechtem Lobe über das Talent der Comtesse Julie Egloffstein und äußerte, sie leiste alles, was man ohne höhere Leitung eines solchen hübschen Talentes erwarten könne. Ich erwiderte, daß ich die Wohlthätigkeit der Einwirkung eines geschickten Lehrers nicht verkenne, aber daß uns die Höhe der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts und früher beweise, daß in den wesentlichsten Theilen der Darstellung schon etwas Großes geleistet werden könne ohne völlige Correctheit der Zeichnung, und daß diese ohne die Kraft der Darstellung, die in jener Zeit geherrscht habe, für sich allein nach meinem Ermessen keinen großen Werth habe; ich führte den Masaccio an. Er billigte meine Erhebung jener Kunstepoche, aber wollte, den vorliegenden Fall betreffend, doch nicht davon abgehn, daß mehr Studium in der Zeichnung erforderlich sei, und hörte mit vieler [222] Freundlichkeit, daß es schon länger unter ihre Lieblingsideen gehört habe, in Weimar unter seiner Einwirkung sich in der Kunst zu üben. Ich erzählte, daß sie neuerlich manche Portraits mit großem Glück gemacht habe. Er fragte: »Alle mit Bleistift?« Ich bejahte es, und er rühmte ihre Geschicklichkeit, den Bleistift zu behandeln. Doch kam mir vor, als ob er gewünscht hätte, sie möge auch in andern Manieren Portraits machen.

Als im Gespräch eine Stille eintrat, erwähnte ich Christian Schlosser und meine Freude, ihn seit meinem Leben mit ihm Rom zum ersten Mal wiedergesehen zu haben. Er lobte ihn und seinen beharrlichen Eifer in seinen Wissenschaften und seiner Ausbildung. Ich erwähnte Overbeck's schöne Zeichnung. Auch er lobte die Composition und die große Sauberkeit ihrer Ausführung; ich stimmte ein, doch setzte ich hinzu, daß zwar eine Reminiscenz des Raphael in dem ähnlichen Bilde aus dem Palast Borghese unverkennbar sei 1, aber dennoch in der Composition mehreres Eigenthümliche bleibe. »Kann man denn anders,« erwiderte er, »als in den schönen Gedanken Raphael's fallen?« Er hörte dann mit Interesse von mir, daß ich Overbeck aus seiner früheren Zeit kenne und er mir persönlich den angenehmsten Eindruck gemacht habe. Dann fragte er [223] nach seiner Ausbildung und hörte von seinem Geburtsorte Lübeck – wo er bei der brennendsten Begierde zur Kunst eine sehr mittelmäßige Anweisung gehabt – von wo er nach Wien unter Fügner's Leitung gekommen. Dann fragte er, ob nicht ein Verwandter des Overbeck Künstler gewesen; ich sagte ihm, daß sein Vater der bekannte Dichter gewesen, welches ihm neu war. Als ich diesen an einigen kleinen Gedichten bezeichnete, schien er zu glauben, ich wolle ihn herabsetzen und erwähnte mit einem Lobe, welches nicht gar sehr erhebt, die Overbeck'schen Gedichte; er nannte sie »gar brave Gedichte«, welche eine lobenswerthe moralische Tendenz hätten und wies dabei auf die Zeit hin, in welcher sie entstanden. Bei Gelegenheit des Overbeck erzählte ich, daß dieser mir in seinen Briefen aus Wien einen gewissen Pforr als einen sehr talentvollen Freund erwähnt, der gleichfalls das historische Fach zu dem seinigen genommen. Goethe ergriff diesen Namen und lobte sehr einige Zeichnungen von ihm zum »Götz von Berlichingen«, die sehr originell und kräftig und von vieler Erfindung wären. Leider sei dieser junge Mann gestorben. Die Rede kam dann auf Cornelius, von welchem Schlosser eine Zeichnung hat. Auch diesen lobte Goethe, aber mehr schien ihm Pforr am Herzen zu liegen.

An allen diesen drei Künstlern lobte er das Studium der alten Meister und erhob die höhere Leitung, die an ihrer Ausbildung bemerkbar sei. Als hierauf die Rede auf Riepenhausens fiel, die ich als meine Freunde [224] erwähnte, schien er sie gegen die andern herabsetzen zu wollen, und sagte, es sei noch immer das ungewöhnliche Talent, dem kein anderes vorgesetzt werden könne, an ihnen bemerkbar, aber ihre früheren Arbeiten hätten mehr versprochen, als sie nachher erfüllt; es fehle an der Ausbildung nach großen Mustern. Ich konnte leider nicht widersprechen und hob aus allen Kräften ihre ökonomisch beschränkte Lage hervor, die sie stets gedrückt habe, weshalb sie ein großes Stück ihres Lebens schon hätten verlieren müssen; bloß ihrer Hände Arbeit hätte sie ernähren müssen, und sie hätten während meines Dortseins die elendesten Aufträge anzunehmen nicht ausschlagen können, da sie niemals so glücklich gewesen wären, eine Pension zu erhalten oder einen Mäcen zu finden. Er hörte mich, wie es schien, mit Theilnahme, aber doch nicht so lebhaft an, daß er ihnen einen Mäcen verschaffen wird.

Während dieser Gespräche machte ich die Bemerkung, wie in unseren Zeiten ein Talent zur bildenden Kunst eine doppelte Hülfe bedürfe, da ein jeder mit der Zeit zu kämpfen habe, welche der Kunst ungünstig zu sein scheine, und berührte das Problem, daß in der guten Zeit, worin die Kunst geblüht habe, selbst mittelmäßige Talente etwas Gutes hervorgebracht hätten, sie mochten wollen oder nicht, als: Lorenzo di Credi und selbst Perugino. »Ja!« antwortete er mit einem Lächeln der Zustimmung, »die Fluth trägt das Schiff, aber wer wird es selbst tragen können? Es ist dergleichen geschehen[225] – die Argonauten haben es selbst getragen – aber nur gar wenigen ist dieses gegeben.«

Er fragte nach Sartorius und seiner Frau und hörte mit Theilnahme, daß ihre Gesundheit leide, und gebrauchte mehrere freundliche Ausdrücke bei ihnen. Ich bedauerte, ihm nichts Specielles von ihnen beiden sagen zu können, weil ich erst in der Nacht in Göttingen angekommen und früh weitergereist war.

Der Abschied war, wie andre Leute von Lebensart sich dabei benehmen, mit einigen verbindlichen Äußerungen über die gemachte Bekanntschaft, welchen er noch hinzufügte, daß er den Herrn Doctor noch bei sich zu sehen hoffe, um zu hören, daß ich in Wiesbaden wohl angekommen sei.


Note:

1 Wohl lo sposalizio sowie Overbeck's Geschichte Josephs gemeint.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1815. 1815, 30. August. Mit August und Theodor Kestner. TextGrid Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A5E9-6