1829, 13. April.


Mit Johann Peter Eckermann

Heute, nachdem Goethe über Tische mir manches gute Wort gesagt, erquickte ich mich zum Nachtisch noch an einigen Landschaften von Claude Lorrain. »Die Sammlung« [von Boydell], sagte Goethe, »führt den Titel ›Liber veritatis‹, sie könnte ebenso gut Liber naturae et artis heißen, denn es findet sich hier die Natur und Kunst auf der höchsten Stufe und im schönsten Bunde.«

Ich fragte Goethe nach dem Herkommen von Claude Lorrain, und in welcher Schule er sich gebildet. »Sein nächster Meister,« sagte Goethe, »war Antonio Tasso 1; dieser aber war ein Schüler von Paul Brill, sodaß also dessen Schule und Maximen sein eigentliches Fundament ausmachten und in ihm gewissermaßen zur Blüthe kamen; denn dasjenige, was bei diesen Meistern noch ernst und strenge erscheint, hat sich bei Claude [89] Lorrain zur heitersten Anmuth und lieblichsten Freiheit entfaltet. Über ihn konnte man nun weiter nicht hinaus.

Übrigens ist von einem so großen Talent, das in einer so bedeutenden Zeit und Umgebung lebte, kaum zu sagen, von wem es gelernt. Es sieht sich um und eignet sich an, wo es für seine Intentionen Nahrung findet. Claude Lorrain verdankt ohne Frage der Schule der Carracci ebenso viel wie seinen nächsten namhaften Meistern.

So sagt man gewöhnlich, Julius Roman war ein Schüler von Rafael, aber man könnte ebenso gut sagen, er war ein Schüler des Jahrhunderts. Nur Guido Reni hatte einen Schüler [Cantarini], der Geist, Gemüth und Kunst seines Meisters so in sich aufgenommen hatte, daß er fast dasselbige wurde und dasselbige machte, welches indeß ein eigener Fall war, der sich kaum wiederholt hat. Die Schule der Carracci dagegen war befreiender Art, sodaß durch sie jedes Talent in seiner angeborenen Richtung entwickelt wurde und Meister hervorgingen, von denen keiner dem andern gleich sah. Die Carracci waren zu Lehrern der Kunst wie geboren; sie fielen in eine Zeit, wo nach allen Seiten hin bereits das Beste gethan war und sie daher ihren Schülern das Musterhafteste aus allen Fächern überliefern konnten. Sie waren große Künstler, große Lehrer, aber ich könnte nicht sagen, daß sie eigentlich gewesen was man geistreich nennt. Es ist [90] ein wenig kühn, daß ich so sage, allein es will mir so vorkommen.«

Nachdem ich noch einige Landschaften von Claude Lorrain betrachtet, schlug ich ein Künstler-Lexikon auf, um zu sehen was über diesen großen Meister ausgesprochen. Wir fanden gedruckt: ›Sein Hauptverdienst bestand in der Palette.‹ Wir sahen uns an und lachten. »Da sehen Sie,« sagte Goethe, »wieviel man lernen kann, wenn man sich an Bücher hält und sich dasjenige aneignet, was geschrieben steht!«


Note:

1 Der... Nekrolog steht in der ›Allgemeinen Zeitung‹ 1830, Nr. 90-92.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1829. 1829, 13. April. Mit Johann Peter Eckermann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A780-B