b. 1
Heute bei Tische war die heiterste Gesellschaft. Außer den weimarischen Freunden waren auch einige[335] von Berlin zurückkehrende Naturforscher zugegen, unter denen Herr von Martius aus München, der an Goethes Seite saß, mir bekannt war. Über die mannigfaltigsten Dinge wurde hin und her gescherzt und gesprochen. Goethe war von besonders guter Laune und überaus mittheilend. Das Theater kam zur Sprache, die letzte Oper, ›Moses‹ von Rossini, ward viel beredet. Man tadelte das Sujet, man lobte und tadelte die Musik; Goethe äußerte sich folgendermaßen:
»Ich begreife Euch nicht, Ihr guten Kinder,« sagte er, »wie ihr Sujet und Musik trennen und jedes für sich genießen könnt. Ihr sagt, das Sujet tauge nicht, aber Ihr hättet es ignorirt und Euch an der trefflichen Musik erfreut. Ich bewundere wirklich die Einrichtung euerer Natur, und wie euere Ohren im Stande sind, anmuthigen Tönen zu lauschen, während der gewaltigste Sinn, das Auge, von den absurdesten Gegenständen geplagt wird.
Und daß euer ›Moses‹ doch wirklich gar zu absurd ist, werdet ihr nicht leugnen. Sowie der Vorhang aufgeht, stehen die Leute da und beten! Dies ist sehr [336] unpassend. Wenn du beten willst, steht geschrieben, so gehe in dein Kämmerlein und schleuß die Thür hinter dir zu. Aber auf dem Theater soll man nicht beten.
Ich hätte Euch einen ganz andern ›Moses‹ machen wollen und das Stück ganz anders anfangen lassen. Ich hätte Euch zuerst gezeigt, wie die Kinder Israel bei schwerem Frohndienst von der Tyrannei der ägyptischen Vögte zu leiden haben, damit es nachher desto anschaulicher würde, welche Verdienste sich Moses um sein Volk erworben, das er es aus so schändlichem Druck zu befreien gewußt.«
Goethe fuhr fort mit großer Heiterkeit die ganze Oper Schritt vor Schritt durch alle Scenen und Acte aufzubauen, immer geistreich und voller Leben, im historischen Sinne des Sujets und zum freudigen Erstaunen der ganzen Gesellschaft, die den unaufhaltsamen Fluß seiner Gedanken und den heitern Reichthum seiner Erfindungen zu bewundern hatte. Es ging alles zu rasch vorüber, um es aufzufassen, doch ist mir der Tanz der Ägypter im Gedächtniß geblieben, den Goethe nach der überstandenen Finsterniß als Freude über das wiedergegebene Licht eintreten ließ.
Das Gespräch lenkte sich von Moses zurück auf die Sündfluth, und so nahm es bald, durch den geistreichen Naturforscher angeregt, eine naturhistorische Wendung.
»Man will,« sagte Herr von Martius, »auf dem Ararat ein Stück von der Arche Noah's versteinert [337] gefunden haben, und es sollte mich wundern, wenn man nicht auch die versteinerten Schädel der ersten Menschen finden sollte.«
Diese Äußerung gab zu ähnlichen Anlaß, und so kam die Unterhaltung auf die verschiedenen Menschenrassen, wie sie als Schwarze, Braune, Gelbe und Weiße die Länder der Erde bewohnen, sodaß man mit der Frage schloß, ob denn wirklich anzunehmen, daß alle Menschen von dem einzigen Paare Adam und Eva abstammen.
Herr von Martius war für die Sage der Heiligen Schrift, die er als Naturforscher durch den Satz zu bestätigen suchte, daß die Natur in ihren Productionen höchst ökonomisch zu Werke gehe.
»Dieser Meinung,« sagte Goethe, »muß ich widersprechen. Ich behaupte vielmehr, daß die Natur sich immer reichlich, ja verschwenderisch erweise, und daß es weit mehr in ihrem Sinne sei, anzunehmen, sie habe statt eines einzigen armseligen Paares die Menschen gleich zu Dutzenden, ja zu Hunderten hervorgehen lassen.
Als nämlich die Erde bis zu einem gewissen Punkt der Reise gediehen war, die Wasser sich verlaufen hatten und das Trockene genugsam grünte, trat die Epoche der Menschwerdung ein, und es entstanden die Menschen durch die Allmacht Gottes überall, wo der Boden es zuließ, und vielleicht auf den Höhen zuerst. Anzunehmen, daß dieses geschehen, halte ich für vernünftig, [338] allein darüber nachzusinnen, wie es geschehen, halte ich für ein unnützes Geschäft, das wir denen überlassen wollen, die sich gern mit unauflößbaren Problemen beschäftigen und die nichts Besseres zu thun haben.«
»Wenn ich auch,« sagte Herr von Martius mit einiger Schalkheit, »mich als Naturforscher von der Ansicht Eurer Excellenz gern überzeugen ließe, so fühle ich mich doch als guter Christ in einiger Verlegenheit, zu einer Meinung überzutreten, die mit den Aussagen der Bibel nicht wohl zu vereinigen sein möchte.«
»Die Heilige Schrift,« erwiederte Goethe, »redet allerdings nur von Einem Menschenpaare, das Gott am sechsten Tage erschaffen, allein die begabten Männer, welche das Wort Gottes aufzeichneten, das uns die Bibel überliefert, hatten es zunächst mit ihrem auserwählten Volke zu thun, und so wollen wir auch diesem die Ehre seiner Abstammung von Adam keineswegs streitig machen. Wir andern aber, sowie auch die Neger und Lappländer, und schlanke Menschen, die schöner sind als wir alle, hatten gewiß auch andere Urväter; wie denn die werthe Gesellschaft gewiß zugeben wird, daß wir uns von den echten Abkömmlingen Adams auf eine gar mannigfaltige Weise unterscheiden und daß sie, besonders was das Geld betrifft, es uns allen zuvorthun.«
Wir lachten. Das Gespräch mischte sich allgemein; Goethe, durch Herrn von Martius zu Widersprüchen angeregt, sagte noch manches bedeutende Wort, das,[339] den Schein des Scherzes tragend, dennoch aus dem Grunde eines tiefern Hinterhalts hervorging.
Nach aufgehobener Tafel ließ sich der preußische Minister Herr von Jordan melden, und wir zogen uns in das angrenzende Zimmer.
1 Dieses Stück ist von Eckermann unterm 7. October aufgeführt, das darin erzählte Mittagsmahl ist aber wohl dasselbe, von welchem vorstehends unter a Soret richtig unterm 6. October berichtet; denn mir vorliegende Auszüge aus Goethes Tagebüchern besagen ausdrücklich am 7. October »Mittags für uns« und ferner wird darin am 6. October des auch von Eckermann erwähnten Besuchs des Herrn v. Jordan gedacht. Die Richtigkeit dieser Tagebuchauszüge durch Vergleich mit den Originalien festzustellen, verhindert die wiederholt erwähnte Clausur des Goethearchivs. S. auch unten S. 340, Z. 14.