Bahrdt/Semler, Glaubensbekenntnisse

1.

[1]
(D.)Doctor Carl Friedrich Bahrdts

[2]

[3] An
92 (Se.)Seine Römisch-Kaiserliche auch in Germanien
und zu Jerusalem (Königl.)Königliche Majestät
allerunterthänigst übergebne
Erklärung
und
Bekenntniß
zufolge
93höchstvenerirlichen Reichshofrathsconclusi
vom 27. Merz 1779.

1,
2,
[4]
[5] Allerdurchlauchtigster,
Großmächtigster und Unüberwind-
lichster Kayser,
auch in Germanien und zu Je-
rusalem König,
Allergnädigster Kayser, König und
94Herr Herr!

(Ew.)EuerEure (Kayserl.)Kayserliche Majestät haben, aus einer vom 95 Reichsbüchercommissarius von Scheben, wegen 96meiner Uebersetzung des Neuen Testaments, unter dem Titel: die neusten Offenbahrungen Gottes, geschehenen [6] 97Anklage, vermittelst eines höchstvenerirlichen Reichshofrathsconclusi vom 4ten Februar 1778 98 (Sr.)Seiner (Churfürstl.)Churfürstlichen Durchlaucht zu Pfalz die 99Einziehung der noch vorfindlichen Exemplarien des gedachten Buchs und dem Büchercommissarius die 100Einholung theologischer Gutachten von Göttingen und Würzburg anzubefehlen, zugleich aber meine 101einstweilige Amtssuspension und die Einstellung alles auf Religion bezughabenden Lehrens und Bücherschreibens zu verordnen, und hierauf, durch ein zweytes Conclusum von 27 Merz (a. c.)anni currentis mit Verwerfung meiner allerunterthänigsten Bitte um Communikation der Klage und Vernehmung meiner weitern Vertheidigung, mich meines Amtes, so mir 102der mit den Episcopal gerechtsamen versehene protestantische Reichsgraf von Leiningen Dagsburg übertragen hatte, und um dessen Fortsezung 103meine Gemeine (Ew.)EuerEure (Kayserl.)Kayserliche Majestät flehentlich gebeten hatte, gänzlich zu entsezen, und mir alles Lehren und Bücherschreiben auf immer zu verbieten, anbey aber, 104sub poena einer gänzlichen Verwei[7]sung aus den Gränzen des (H. R.)Heiligen Römischen Reichs, 105eine über meine wahren und nach dem Vorgeben meiner Kläger hinter so zweydeutige Ausdrücke versteckten Lehrsätze abgefaßte Druckschrift und Bekänntniß der Gottheit Christi und der (H.)Heiligen Dreyeinigkeit, in termino duorum mensium, mir aufzulegen sich allergnädigst bewogen gesehen.

Wie ich nun beyden höchstvenerirlichen Conclusis mich sogleich demüthigst unterworfen, auch mein Amt bereits verlassen, und alles, was mir, 106meiner Gattinn und vier kleinen unerzognen Kindern bisher Quell des Unterhalts und der Verpflegung gewesen war, so gar mein im Gräflichen Leiningischen 107Schlosse Heidesheim mit einem Aufwande von mehr als 6000 (Rthlr.)Reichsthalern errichtetes und von tausend gutdenkenden Menschen gebilligtes Erziehungsinstitut mit dem Rücken angesehen, und ohne alle bestimmte Aussichten, mich 108in ein ander Land gezogen habe; also eile [8] ich nunmehro auch noch diejenige Erklärung und Bekänntniß meiner Lehrsätze, (Ew.)EuerEurer Kayserlichen Majestät zu Füßen zu legen, welche Allerhöchstdieselben von mir zu fodern geruhet haben.

(Ew.)EuerEurer Kayserlichen Majestät großer, durchdringender Geist und erhabnes, huldvolles, gerechtigkeitliebendes Herz, beydes so allgemein verehrt, läßt mich hoffen, daß Allerhöchstdieselben meiner allerwilligste Unterwerfung mit Gnaden und Wohlgefallen vermerken, und meine nachstehende offenherzige Erklärung nach den Gesetzen der Menschenliebe und der christlichen Duldung aufnehmen und beurtheilen werden.

Ich finde mich aber zu einer so offenherzigen und freymüthigen Erklärung jetzo verpflichteter als jemals. Denn wenn ich 109in meinen zeitherigen Schriften, besonders in denen, welche das Unglück hatten, meinen Klägern und Richtern zu mißfallen, mich ja einiger zweydeutigen und nicht genug bestimmten Ausdrücke bedient habe, [9] 110 um der Schwachen zu schonen, und nicht, durch 111übereilte Bekanntmachung meiner Einsichten in Dingen, die nach meiner Ueberzeugung das Wesen der Religion nichts angehen, den Nuzen und Eindruck zu schwächen, den ich durch einen guten Vortrag der mir wesentlichen Religionswahrheiten stiften zu können glaubte; so ist es gegentheils, bey diesem meinem Bekenntniß, unverletzliche und heilige Pflicht, meine Ueberzeugungen frey und ohne alle Zurückhaltung, offenherzig zu entdecken, und meinen allerhöchsten Richtern die reinste Wahrheit aus dem innersten meines Herzens vorzulegen, gewiß, daß (Ew.)EuerEurer Kayserlichen Majestät, den ehrlichen Mann, der mit Muth und Entschlossenheit, erkannte Wahrheit sagt, mit mehr Gnade anblicken werden, als den Heuchler, der, um des Brods willen, seinem Regenten leugt, und mit Verletzung seines Gewissens Menschengunst zu erschleichen sucht.

Ich gestehe also, daß ich schon seit einiger Zeit überzeugt gewesen, es enthalte un[10]ser protestantisches Religionssystem Lehrsäze, welche weder in der Schrift noch in der Vernunft einigen Grund haben und die theils der Gottseeligkeit schaden, theils, durch ihr der Vernunft Anstößiges, die Quelle des Unglaubens und der Religionsverachtung bey Tausenden sind.

112 Unter diese Lehrsätze rechne ich: Die – von der Erbsünde – von der Zurechnung der Sünde Adams – von der Nothwendigkeit einer Genugthuung – von der blos und allein durch den heiligen Geist in dem sich leidend verhaltenden Menschen zu bewirkenden Bekehrung – von der ohne alle Rücksicht auf unsere Besserung und Tugend geschehen sollenden Rechtfertigung des Sünders vor Gott – von der Gottheit Christi und des heiligen Geistes 113im Athanasianischen Sinn – von der Ewigkeit der Höllenstrafen – und einige andere.

Ich habe zwar, wie es von einem Doctore (Theol.)Theologiae 114Augustanae confessionis [11] ohnehin zu erwarten stehet, gegen diese vorgedachten Lehrsätze, – vor dem Volk – (weder im Predigen noch Catechisiren,) niemalen directe gelehret, sondern sie entweder gar übergangen oder doch so davon gesprochen, daß ihr schädliches abgesondert und ihr irriges gemildert worden: (davon meine 115Predigten über die Person und das Amt Jesu ein Beyspiel sind:) folglich bin ich auch noch nie von den eigentlichen Verpflichtungen eines protestantischen Lehrers abgewichen, sondern habe mit Klugheit und Vorsicht die Gesetze des Staats mit der Gewissensfreyheit zu vereinigen gesucht:fest überzeugt, daß streitige Religionspunkte nie in den 116 Volksunterricht gehören, und daß folglich auch von solchen kirchliches Lehramt verwaltet werden kann, welche von der 117 Systemsreligion in ihren Ueberzeugungen abweichen, dagegen aber desto eifriger an der reinen Christusreligion halten, und dieselbe gründlich vorzutragen wissen.

[12] Ich muß es also nun schon ferner wagen, bey dieser mir zur Pflicht gemachten öffentlichen Erklärung meiner Privatüberzeugungen freymüthig zu gestehen, daß ich die oberwähnten Lehrsätze, nach meiner geringen Einsicht, für schriftwidrig halte und als die Quelle eines doppelten Uebels ansehe.

Einmal empören sie die gesunde Vernunft, und haben so wenig Beweise für sich, daß es kein Wunder ist, wenn zu allen Zeiten, der selbstdenkende und prüfende Theil der Menschen, dieselben anstößig fand, und wenn die meisten davon, um jener Lehrsätze willen, welche die auf ihren Posseß trotzende Geistlichkeit, (die eben nicht immer das Vorurtheil der Gelehrsamkeit, Geistesstärke und der kaltblütigen Prüfungsgabe für sich gehabt hat,) 118die Welt als alleinseeligmachende Glaubenswahrheiten aufdringen wollte, die ganze Religion verwarf. Daher man jene Lehrsätze mit Recht als den Hauptgrund des [13] 119überall einreissenden Unglaubens ansieht, welcher sich von den Höfen bis in die Hütten des ärmsten Volks ausbreitet, und bald alle Religion in der Welt verdrängen wird, wenn dem Uebel durch keine andere als gewaltsame und freyheitkränkende Mittel gesteuert wird.

Und eben so gewiß scheint es mir, daß die meisten der obgedachten Lehrsätze der Tugend und Gottseeligkeit 120Schaden. Denn so bald man die Menschen überredet, daß (z. B.)zum Beispiel a) jeder von Natur und von Mutterleibe an mit allen Neigungen zu allem Bösen behaftet und ein gebohrner Feind Gottes ist; daß er b) zur Befreyung von diesem Elende und zur Besserung seines Herzens und Lebens nichts wirken könne, sondern lediglich den Beystand des heiligen Geistes dazu erflehen müsse; daß Gott c) auch auf alle gute Werke des Menschen und auf allen seinen Eifer in der Gottseeligkeit nichts rechne, sondern 121 Vergebung der Sünden und ewige Selig[14]keit ihm schenke, nicht, wegen seiner Besserung und Tugend, sondern wegen eines für unsere Sünde geschehenen Menschenopfers und wegen der an unserer statt geleisteten Tugend des Geopferten – wenn man, sage ich, die Menschen dergleichen überredet; so ists unmöglich, daß ächte Reue über die Sünde und Abneigung gegen das Laster entstehen kann; so ists unvermeidlich, daß das Herz gegen die Tugend kalt und gleichgültig werde, und aller Eifer der Gottseeligkeit ermatte; und es lehrts auch leider die Erfahrung genug, daß das heutige Christenthum fast alle Kraft zur Heiligung der Menschen verlohren hat, und daß seine Zöglinge in Absicht auf Tugend und Glückseeligkeit oft 122sehr weit hinter einen auch nur gemeinen Heiden stehen.

Ach, allergnädigster Kayser, König und Herr! wie blutet mir das Herz, wenn ich denke, wie werth, wie hochgeachtet das Evangelium Jesu Christi unter den aufge[15]klärtesten Menschen in allen Welttheilen seyn könnte, was für Siege es über Unglauben und Laster erringen, wie ganz anders als bisher es auf die Besserung und Heiligung der Menschen wirken, und was für in die Augen fallende Einflüsse auf Moralität und Glückseeligkeit dasselbe zeigen würde, wenn es von allen Unrath menschlicher Hypothesen und Meinungen gereiniget und zu seiner ursprünglichen Lauterkeit und Einfalt zurückgeführt würde.

O möchten doch (Ew.)EuerEure (Kayserl.)Kayserliche Majestät von Gott auserkohren seyn, alle diejenigen vor der Wuth der Verfolgung zu schützen, welche Kraft und Muth haben an diesem großen Anliegen der Menschheit zu arbeiten, den 123 unübersehligen Wust der Systemsreligion zu untersuchen und das reine Gold der göttlichen und seeligmachenden Christusreligion wieder herauszufinden.

Möchte unter Allerhöchstdero Regierung der Tag anbrechen, da in dem christlichen [16] Europa alle die für Christen gehalten und in den Rechten des Staats und der Menschheit geschützt werden, welche Jesum Christum verehren und seine Lehren befolgen – ohne gezwungen zu seyn, sich 124Kefisch oder Paulisch oder Papisch oder Calvinisch oder Luthrisch zu nennen und auf Menschenwort zu schwören.

Und möchten doch Allerhöchstdieselben geruhen, mit Langmuth und Schonung auf mich unschuldig Verfolgten vom Thron der Majestät herabzublicken, und nun mein Glaubensbekenntniß in Gnaden von mir anzunehmen.

Was ich glaube und nicht glaube.

  • 1.
    Ich glaube, daß ich und alle Menschen Sünder sind, welche der Gnade und Erbarmung Gottes bedürfen. Daß aber dieses (daß wir Sünder sind) uns angebohren sey und daß alle Menschen mit der Neigung zu allem Bösen auf die Welt kommen, [17] daran zweifle ich. Vielmehr scheinen mir die Menschen an ihrem Verderben selbst Schuld zu haben. Denn ich bemerke in ihnen von Natur so viel herrliche Anlagen zur Tugend, so viel angebohrne, edle Gefühle und Neigungen, daß vielleicht nur eine 125andere Erziehungsmethode und von Tyranney und Luxus mehr entfernte Lebensart nöthig wäre, um der Menschheit ihre ursprüngliche Güte wiederzugeben. [“]
  • 2. „Ich glaube, daß der Mensch, so wie er alles Gute Gott zu verdanken hat, auch all sein moralisches Gute, was in ihm ist, der Gnade Gottes schuldig sey. Daß aber Gott die Besserung der Menschen selbst wirke, und der Mensch nichts thue, als Gott stille halte, ist wider die Schrift, und beruhet dieser Irrthum gröstentheils auf dem 126Wort Gnade , welches die meisten Lehrer der Kirche bisher gemisdeutet haben. [“]
  • 3. „Ich glaube, daß uns Gott 127aus blosser Gnade unsre Sünden vergiebt, und daß unsere Tugend und unser Eifer im Guten, da er selbst im Grunde Wohlthat Gottes und mit so viel Mängeln und Unvollkommenheiten befleckt ist, einer ganzen Ewigkeit voll Lohn und [18] Seeligkeit nicht werth sey: Daß aber doch unsere Besserung und Tugend auf der einen Seite die Bedingung sey, unter welcher uns Gott Vergebung der Sünde und ewige Seeligkeit um Christi willen ( (d. h.)das heißt weil er diese Gnadengeschenke allen Tugendhaften durch Jesum Christum verheißen und versiegelt hat) ertheilet, und daß sie auf der andern Seite die natürliche Quelle der höchsten Seeligkeit ist, aus welcher dieselbe von selbst erfolget. Daß aber Gott blos um eines Menschenopfers willen mir meine Sünden vergebe, und um einer fremden Tugend willen die Flecken der Meinigen übersehe, das ist wider meine Vernunft, und habe ich auch nie etwas davon in (h.)heiliger Schrift gefunden. [“]
  • 4. „Ich glaube, daß Gott den Aposteln seinen Geist gegeben hat; daß aber dieser Geist eine dritte Person in der Gottheit sey, davon bin ich nicht überzeugt: vielmehr finde ich in heiliger Schrift keine andre Bedeutung von dem 128 πνευμα αγιων als diese beyden: daß es entweder göttlich gewirkte Gaben, Talente und Kräfte anzeigt, oder das nomen Dei selbst, welcher diese Gaben mittheilt. [“]
  • [19] 5. „Ich glaube, daß Gott in und mit Christo war, und daß wir folglich alle den Sohn zu ehren verbunden sind, wie wir den Vater ehren: allein wie Gott in Christo war, ob 129nach Athanasius Vorstellungsart (welche ich gerade für die schlechteste halte) oder nach Arius oder Sabellius oder eines andern Meynung, das ist für den Zweck der Religion (d. h.)das heißt für die Besserung und Beruhigung der Menschen, sehr gleichgültig, und sollte nie mit kirchlicher Autorität entschieden, sondern jedem überlassen werden, wie er sichs denken will. Indessen scheint mir so viel aus Vernunft und Schrift bis zur höchsten Evidenz erweißlich, daß Christus und der einige Gott Jehovah, den er seinen Vater nennt, sehr verschieden sind, und daß wenigstens Christus nicht in dem nämlichen Sinne Gott heisse, in welchen es der einige Gott Jehovah heißt; wie er sich denn selbst über diese Benennung 130 Joh. 10. deutlich und ehrlich genug erklärt hat; wenn er denen, die ihm Gotteslästerung vorwarfen, sagt: – Wenn die Schrift alle die Gott nennt, προς ους ο λογος θεου εγενετο , (d. h.)das heißt die göttliche Aufklärungen zu Belehrung der Menschen erhalten haben, wie könnte ich mir über diese Benennung ei[20]nen Vorwurf machen, 131(ον ο πατηρ ηγιασε ) da mich der Vater so ganz besonders ausgezeichnet hat. [“]
  • 6. „Daß für Christen der Glaube an Jesum Christum die unausbleibliche Bedingung der Seeligkeit sey, ist unleugbar. Allein daß sich diese Verbindlichkeit auch auf die 132 Nichtchristen erstrecke, halte ich für unvernünftig, unmenschlich und schriftwidrig. Und 133daß dieser Glaube in einer Ergreifung und Zueignung des Verdienstes Christi bestehe, halte ich für eben so falsch. Wenigstens steht im neuen Testament so wenig von diesem Begrif des Glaubens, daß es mir ein Räthsel ist, wie die Lehrer der Kirche je haben drauf fallen können. Der Glaube an Christum ist Annehmung und Befolgung der Lehre Jesu, und festes Vertrauen auf seine mit seinem Tode besiegelten Verheißungen einer künftigen Seeligkeit der Tugendhaften. [“]
  • 7. „Daß Gott alle Tugendhafte in einem andern Leben höchstseelig machen werde, glaube ich; daß er aber eben so geneigt sey, die Bösen in alle Ewigkeit zu martern und dem Teufel zu übergeben, glaube ich nicht. Denn er selbst sagt: 134ich bin ein eifriger Gott, der über [21] die, so mich hassen, die Sünde der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied , aber denen, so mich lieben und meine Gebote halten, denen thue ich wohl bis ins tausende Glied. Daraus schliesse ich gegen die, welche Gott gern eben so strafgierig als gütig machen möchten: wie sich verhält 4 gegen 1000, so verhält sich Gottes Neigung zu strafen, gegen seine Neigung zu belohnen. [“]
  • 8. „Daß es Engel und Teufel giebt, mag wahr seyn: Daß sie aber das sind, wofür das Kirchensystem sie ausgiebt – daß sie leiblich die Menschen besizen, daß sie sich als Gespenster zeigen, daß sie in die Seelen der Menschen wirken, und böse Gedanken und Vorsätze hervorbringen können, dazu habe ich nie einen hinreichenden Grund gefunden, es zu glauben. [“]
  • 9. „Daß die göttlichen Schriften neuen Testaments göttliche Belehrungen der Menschen zur Glückseeligkeit enthalten, denen wir alles Vertrauen und allen Gehorsam schuldig sind, davon bin ich gewiß; daß aber 135Gott alle in diesen Schriften enthaltene Worte eingegeben habe, davon habe ich noch nie einen befriedigenden Beweis gelesen. [“]
  • 10. „Daß alle Christen die Religionslehren der Schrift, welche ohne Kunstauslegung darin[22]nen zu finden sind, zu glauben und zu befolgen verbunden sind, ist gewiß, daß aber der Kirche, (darunter ich mir doch eigentlich nichts als 136den großen Haufen {plurima vota} der Geistlichkeit denke, die, wie schon oben gesagt worden, zu keiner Zeit das Vorurtheil der tiefen Einsicht, Gelehrsamkeit und unpartheyischen Prüfungsgabe, gehabt hat) das Recht zustehe, mir, aus den Sätzen der Schrift künstlich gefolgerte Lehren und Begriffe aufzudringen, das glaube ich nicht. Wenigstens wäre dieß ganz wider die Grundsätze des 137 Protestantismus, welcher im deutschen Reich mit dem Catholicismus gleiche Herrschaft und Rechte behauptet. Denn nach diesen Grundsätzen bin ich in Absicht auf meinen Glauben an keines Menschen Ansehn gebunden, sondern habe das Recht, 138alles zu prüfen, und nur das zu behalten, wovon ich mich aus Gottes Wort überzeugt fühle. Und dieses Recht erstreckt sich bey protestantischen Lehrern noch weiter als bey gemeinen Protestanten. Denn als ein solcher bin ich ein Theil der repräsentirenden Kirche, und bin daher nicht nur verpflichtet, die Lehrsätze meiner Kirche zu prüfen, sondern auch das Resultat meiner Prüfung, wenn [23] es von Wichtigkeit ist, meinen Glaubensbrüdern vorzulegen, wie ich bisher in einigen meiner Schriften gethan habe, auch fernerhin thun werde, und in diesem meinem öffentlichen Bekenntniß jezt zum erstenmale vor dem allerhöchsten Richterstuhle thun zu können, gewürdiget werde. [“]

(Ew.)EuerEure (Kaiserl.)Kaiserliche Majestät gestatten mir allergnädigst, nun dieser meiner Erklärung und Bekenntniß nur dieses einzige noch hinzuzufügen, was in der That der allergrößten Aufmerksamkeit werth ist: daß es mir höchstwahrscheinlich ist, es sey dieß zugleich das Bekenntniß eines sehr großen und ansehnlichen Theils der deutschen Nation.

Tausend und aber Tausend denken so wie ich; nur daß sie keine Gelegenheit oder Verbindlichkeit oder auch nicht genug Freymüthigkeit haben mögen, es laut zu sagen.

Tausend und aber Tausend wünschen, sehnen sich mit mir, nach Reforme, nach Freyheit – weil sie sehen, daß diese Freyheit das sichere und entscheidende Mittel seyn [24] werde, den Sieg der Religion Jesu allgemein zu machen, allen Unglauben zu beschämen, und in kurzem eine 139allgemeine Verbrüderung aller Religionspartheyen zu stiften.

Tausend und aber Tausend flehen mit mir um die 140 Rechte der Menschheit und des Gewissens, und stimmen in meine allerunterthänigste Bitte, daß (Ew.)EuerEure (Kayserl.)Kayserliche Majestät, mit 141Zuziehung der Stände des Reichs, ein Mittel ausfindig machen möchten, wodurch die beyden Stüzen der öffentlichen Glückseeligkeit – Gewissensfreyheit und Kirchenfriede – vereinigt und in ewiger Verbindung erhalten werden könnten.

Ich ersterbe in allertiefster Submission

(Ew.)EuerEurer (Kayserl.)Kayserlichen Majestät

allerunterthänigster Knecht,
(D.)Doctor [Carl] Friedrich Bahrdt.
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,

2.

[I]
(D.)Doctor Joh. Sal. Semlers

Halle,
im Verlag der 142 Hemmerdeschen Buchhandlung, 1779.textgrid:3rnn5
[II]

[III]

Es ist wol nicht nötig, mich weitläuftig und künstlich erst zu rechtfertigen, daß ich auf das 143 bahrdische Glaubensbekentnistextgrid:3rnj8 eine öffentliche Antwort ertheile. Ich wil also auch nicht umständlich anfüren, daß ich von mehrern dazu ersucht worden bin; die nicht sowol erst erfaren wolten, ob ich auch unter den 144angeblichen Tausenden seie, welche eben diese Lehrsätze vorziehen, und sogar eine neue algemeine Religionsform zu wünschen für wichtig halten; als vielmehr hoffeten, daß ich zu einer ehrlichen Untersuchung und eben so freien [IV] Beurtheilung ganz gewis bereit und willig seyn würde; wonach allerdings kein unansehnlicher Nutzen für unsre Zeitgenossen in mehr als einer Absicht, zu erwarten seyn könte. Eben so freie Beurtheilung des Bekäntnisses, ohne Zurückhaltung, muß doch wenigstens eben sowol auf unserer Seite rechtmäßig heissen: als der (Hr.)Herr Verfasser sich eine in der That sehr grosse Freiheit erlaubet hat. Alle billigen und noch unparteiischen Leser werden es also nicht übel deuten, daß gerade ich, hier, 145an eben dem Orte, meine Beurtheilung öffentlich bekant mache, wo sich der (Hr.)Herr Verfasser für jetzt aufhält; es konte dis in mehr als einer Rücksicht wirklich vortheilhaft oder nötig heissen, da ohnehin manche seltsame Gerüchte sich ausgebreitet haben, denen man sogar eine furchtbare Stellung oder einen solchen Zusammenhang geben wolte, der 146unserer Universität nachtheilig heissen solte. Je gewisser es ist, daß eine rechtmäßige wünschenswerthe 147 Toleranz bey uns, und besonders, [V] was unsere theologische Lehrart betrift, sich schon lange ausgezeichnet hat, vor vielen andern teutschen Universitäten, wenn auch ich insbesondre schon eben so lange von manchen Eiferern übel und unfreundlich darüber beurtheilet worden bin: desto ausgemachter ist es wol auch, daß niemand unter uns den (Hrn.)Herrn Verfasser um dieses Uebertrits willen zur 148 socinianischen Partey, zu drücken und zu verfolgen gesonnen seie; wir behalten alle Menschenliebe und Achtung, die wir in änlichem Falle uns je wünschen mögen. Indessen wird auch dis 149kein Beweis einer Verfolgung heissen können, wenn man geradehin und öffentlich dieses Bekentnis historisch unrichtig, unzuverläßig, und in Absicht des geäusserten Widerspruchs wider 150die augspurgische Confeßion, und wider alle feierliche Grundsätze der 151drey Religionsparteien im römischen Reiche, ungegründet nent; auch die Wünsche für eine ganz andre Vereinigung dieser drey Parteien, durch eine 152vierte Religionsform, als [VI] unthunliche, und unnötige, übereilte ansiehet. Gerade diese Freiheit, solchen öffentlichen Aufsätzen, eben so öffentlich zu widersprechen, gehört noch mehr zu den Rechten dieser Kirchen, als zu der Pflicht, die man der Untersuchung des Wahren, oder vorzüglich Wahren schuldig ist. Wenn also sonst es unsern höchsten Obern nicht zuwider ist, und sie es der öffentlichen Geselschaft nicht nachtheilig erachten: wird es mir und andern öffentlichen Lehrern gar nicht entgegen seyn, daß der (Hr.)Herr Verfasser nun mit mehrern sich über seine übereilte Sätze und Aufgaben, oder Behauptungen, gelegentlich erklärt; damit auch andre Zeitgenossen Gelegenheit haben, Gründe von beiden Seiten zu lesen und zu beurtheilen; so wenig auch, auf Seiten des (Hrn.)Herrn Verfassers irgend etwas neues vorgebracht worden ist oder werden kan.

Ich wil mich hier nicht insbesondre darüber heraus lassen, daß ich alle Entwürfe ei[VII]nes algemeinen Systems, oder Lehrbegrifs für alle Christen, ganz und gar für ungegründet halte; es ist meine Beurtheilung, der ich mich nicht schäme; indem solche Entwürfe stets local sind und bleiben; aller gute Unterricht aber darauf mitgehet, den fähigen Zeitgenossen in Absicht eigener Einsichten und Urtheile beförderlich zu seyn; folglich ihre Gewissensfreiheit in immer grössere Uebung zu setzen; und nun werden diese wol aus ihrer eigenen Erfarung wissen, wie es mit eigenen Erkentnissen zugehet, und werden niemanden, der mitdenken kan, ihre moralische Geschichte oder ihre Einsicht aufdringen. Mit vieler Aufmerksamkeit habe ich daher stets Studiosos Theologiä davon zu überzeugen gesucht, daß sie die Mannichfaltigkeit und Ausdenung der moralischen Welt, nach Ost und West, Süden und Norden, nach allen Strichen und Climatibus, und die Mannichfaltigkeit aller ihrer Veränderungen hinlänglich überdenken, und danach ihr Lehramt gewissenhaft und mit [VIII] Zuversicht einst füren möchten. Alles, was zur eigentlichen Theologie gehört, seie Vorbereitung zu ihrer besondern Geschicklichkeit und Gewissenhaftigkeit; beides müsse sie, als Lehrer, von den andern Zeitgenossen gar sehr unterscheiden. Alle geschickte und gewissenhafte Lehrer aller drey grossen Kirchenparteien kämen darin überein, daß die eigentlichen unmittelbaren Grundartikel des christlichen Glaubens, oder der christlichen Religion, wie sie eine christliche Fertigkeit und Glückseligkeit gewähret, allen Parteien wirklich gemein seien und bleiben, obgleich in sehr verschiedenen Gesichtspuncten; und darauf gründe sich theils eine wahre Verträglichkeit und redliche geselschaftliche Verbindung, theils auch die feierlichen öffentlichen Religionsrechte, nachdem man der 153 Unionsarbeiten müde geworden. Die besondern Bestimmungen, in sogenanten 154 symbolischen Büchern seit dem 16ten Jahrhundert, beschrieben die jetzige wirkliche Verschiedenheit aller dieser Christen, [IX] in Absicht der bey ihnen, wirklich eingefürten, localen Denkungsart und Lehrart; mit ausdrücklicher neuen äusserlichen Verbindung einer jeden solchen besondern Religionspartey. Diese äusserliche Verbindung beruhe auf den obrigkeitlichen Rechten, und könne in Absicht des einheimischen Gebrauchs und Verhältnisses so und so von der Obrigkeit und Kirchengeselschaft streng fortgesetzt, oder aber etwas abgeändert werden; wenn sie gleich in dem ersten Verhältnis, gegen Juden und Heiden, und gegen gewesene Kirchengewalt der Päbste, ein für allemal unveränderlich bleibe. Unter dieser Anleitung bleibe das noch so verschiedene Gewissen der Christen ungekränket und unbeeinträchtiget; die Abwechselung der historischen Erkentnis frey und vor GOtt unsündlich; entstehende Zweifel würden leicht gehoben, oder so weit zurück gesetzt, daß sie den Christen nicht in moralische Gefar und Unordnung füren könten. Ein Lehrer könne also, ohne geradehin gleichgültig oder gottlos zu denken, gar [X] wohl einsehen, daß 155auch Socinianer, Arianer, Sabellianer wirklich zu Christen gehörten, und keinen Haß oder Abscheu um der Religion willen bey andern Christen verdienten; ob sie gleich in der öffentlichen Geselschaft der im Staate grössern oder schon aufgenommenen Partey, eben so wenig mit diesen Christen einerley äusserliche Rechte hätten und haben könten, die ihnen auch Gewissens wegen gar nicht nötig seien, als Juden und Muhammedaner, und heidnische Völker, die auch christliche Unterthanen seyn könten. Diese meine Lehrart ist so wenig der Intoleranz bisher beschuldiget worden, daß ich vielmehr häufig nachtheilige und widrige Urtheile mir damit zugezogen habe. Ich fürchte also nicht, daß meine Antwort an sich selbst als ein Beweis der Intoleranz mit einigem Schein möge angesehen werden; da es zu den im römischen Reich ausgemachten Rechten aller drey Parteien, also auch der lutherischen Kirche gehört, über ihre symbolischen Bücher und Lehrschriften von Zeit zu Zeit schriftliche Er[XI]läuterungen, Bestätigungen und Vertheidigungen öffentlich drucken zu lassen; wodurch Lehrer und Mitglieder gewis sind, daß sie noch zu derselben äusserlichen Kirchengeselschaft gehören, und ihre feierlichen Rechte behaupten. Desto besondrer ist mein Schicksal, daß mich manche so leicht zu ihrer Partey rechnen; zu einer Partey, die von vielen für eine neue, gleichsam aufwachsende bessere Geselschaft angesehen wird, weil sie die augspurgische Confeßion nicht behalten, sie für ein Hindernis einer Universalreligion, und die Wünsche und Beförderungen für diese Universalreligion, als ein grosses Verdienst um die ganze Menschenwelt, ansehen und anrechnen. So setzte mich erst vor kurzem 156 (Hr.)Herr Lavater, in grossem heftigen Eifer, auf der letzten Zürchischen Synode in eine Klasse mit (Hrn.)Herrn Steinbart; und beschrieb mich vornemlich, als einen arglistigen höchst gefärlichen 157 Naturalisten. Andere aber glaubten schon lange, ich wäre doch wol ein Socinianer, oder [XII] Arianer, (manche denken noch dazu, es seie, beides beisammen, desto ärger; um mich desto gräulicher zu beschreiben.) Ich bin aber weder ein Naturalist, was es auch für grosse Ansprüche auf Einsicht begreifen mag; noch ein Socinianer oder Arianer; ich bin ein ehrlicher treuer lutherischer Professor, der seinen 158 Eid zu bereuen oder zu brechen gar keine Ursache hat; es mag manchem lieb seyn oder nicht. Ich lehre und schreibe mit und in gutem Gewissen, und bestrebe mich, daß mein Leben und Wandel auch selbst gut christlich seie und andern nützlich werde. Ich denke, wenn unter allen Parteien alle Lehrer und Mitglieder ebenfals ein gut christlich gemeinnütziges Leben beweisen: so wäre dis für sie alles, und für andre so viel, daß niemand Ursache hätte, die Unarten und wissentlichen Laster der Menschen, in der Religionslehre zu suchen; worin der (Hr.)Herr Verfasser dieses Bekentnisses ganz gewis sich völlig irret; und wie ich hoffe, den grossen Irtum geständig seyn wird.

[XIII] Ich kan aber diese Vorrede nicht schliessen, ohne 159unsre und alle Studiosos Theologiä öffentlich mit aller Aufrichtigkeit und Herzensöfnung zu ermahnen, wie ich es so herzlich gerne, und ohne Affectation, bey aller Gelegenheit in Vorlesungen thue: daß sie des Berufs ja wohl wahr nehmen mögen, in den sie einwilligen, wenn sie sich zum öffentlichen Lehramt für unsre Zeitgenossen zubereiten lassen wollen. Schon 160 Epictetus sahe das Lehramt eines Philosophen für so wichtig an, daß er forderte: ein solcher muß eine so grosse Sache ja nicht ohne GOtt sich vorsetzen; er muß sich durchaus immer mehr übertreffen; er ist ein Bote GOttes, der den Menschen bekant machen sol, in was für grossen Irtümern sie stecken – er muß alles durch sein gutes Beispiel klar machen; sein Gemüt muß reiner seyn als die Sonne – Wie groß! wie stark gesagt! 161Mag Epictet, wie manche glauben, dis aus der christlichen Forderung und Belehrung entlehnet oder gelernet und selbst aufrichtig gebil[XIV]liget haben; unter Christen muß die Anforderung an einen, der ein christlicher öffentlicher Lehrer werden wil, wahrlich doch nicht geringer seyn. Der gewisse Einflus GOttes, der die christliche Religion in der Welt zu einem besondern Mittel grosser Absichten gebrauchet, lebendige starke Vorstellung davon, muß den Jüngling bewahren für aller sinlichen Unordnung und Zerrüttung, für schändlicher Wollust und Frechheit, für aller Verunreinigung des Gewissens in Werken der Finsternis! Wo wil sonst der Mann entstehen und gebildet werden, den der Lehrer an sich untadelhaft zeigen muß, 162wie Paulus forderte, er muß ἀνεπιληπτος seyn. ἀνεπιληπτος fordert alle Zeitgenossen, alle Bekanten, alle Freunde auf, die unserm Leben auf der Universität und in der Geselschaft zugesehen haben. Wie klug, wie bedächtig muß alle Zeit eingetheilet werden, um den ganzen Grund einer solchen Gelehrsamkeit und moralischen Ordnung so gewis zu legen, als zur Festigkeit des Charakters und des würdigen Ver[XV]haltens nötig ist! Wie selbst bekant muß man seyn mit den wirklichen moralischen Folgen der gesunden Ueberlegung und treuen [Betrachtung] der christlichen Wahrheiten, um diese grosse so nötige Erfarung nicht selbst zu entberen, und nicht auf Mittel einst zu fallen, sich fortzuhelfen, welche weder 163 Socrates noch Epictet sich verstattet oder zu gute gehalten hätten; um nicht sich wiegen und wägen zu lassen von allerley Wind der Lehre. Wer die Universitätszeit nicht volkommen zweckmäßig anwendet, und für Kopf und Herz so sorget, als es einst die redlichen Zeitgenossen voraussetzen: wird zu spät seinen Trost oder Beystand aus Büchern oder Zufällen suchen.

Und nun wünsche ich, daß Studiosi Theologiä, da sie jenes neue Glaubensbekentnis gelesen haben, auch mit eignen Nachdenken meine Antwort lesen; ihre gewissenhafte Beurtheilung üben, ohne sich zu übereilen, um mit reinem guten Gewissen einst treue fruchtreiche [XVI] Lehrer der protestantischen Kirche zu seyn und zu bleiben; selbst 164 himmelfest gewis davon, daß sie nicht 165 ‘Heuchler sind, die ums Brots willen ihrem Regenten lügen, und mit Verletzung des Gewissens Menschengunst zu erschleichen suchen’; wie in diesem Bekäntnis sehr unbilliger und unglimpflicher Weise andere Lehrer beschrieben werden, die nicht so ungewis und wankend in ihrer gelehrten Einsicht zu seyn Ursache haben, als dessen (Hr.)Herr Verfasser haben muste. In dem Falle, worin ich bin, und ein jeder treuer Lehrer ist, der seiner Religionsgeselschaft nicht lügen wil, ist an Menschengunst nicht zu denken; da gilt kein schleichen oder erschleichen; wir wollen nicht schleichen und heucheln, 166 οὐκ ἐσμεν ὑποστολης. Halle den 17ten Aug. 1779.

(D.)Doctor Joh. Sal. Semler.
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,

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Ohnerachtet es keinen sonderlichen Zusammenhang und Einflus haben kann, auf den richtigen Verstand und die billige Aufname dieser kleinen Schrift, unter was für Umständen und Gründen ich mich entschlossen haben möchte, sie drucken zu lassen: so halte ich doch dafür, es werde den meisten Lesern sogar lieb seyn, wenn ich auch hiervon einige Nachricht mittheile. Ueberhaupt ist gar nicht die bahrdische Schrift selbst, in Absicht meiner, von einigem wichtigen Zusammenhange, der mich dazu gleichsam bringen könte; wenn ich gleich mich gar wohl erinnere, in der letzten Zeit, als der (Hr.)Herr Verfasser noch in 168 Heidesheim war, unvermutet ein kurzes Schreiben von ihm erhalten zu haben, worin die so unangenehme Lage angezeigt war, welche nach dem kaiserlichen Reichshofrathsconcluso entstehe, und eine baldige [2] Entfernung mit sich bringe. Zugleich wurde darin angezeiget, daß der (Hr.)Herr Verfasser sein Glaubensbekentnis werde drucken lassen, worin solche Aeusserungen vorkämen – 169Ich habe sogleich wieder geantwortet, und meine grosse Befremdung geäussert, über eine so unerwartete Entschliessung; und dawider kürzlich vorgestellet, daß ja die ganze ehemalige Uneinigkeit der christlichen Parteien über die Vorstellung von Christo damalen und nur daher entstanden seie, als die wirklichen christlichen Urkunden oder die Schriften der Apostel noch nicht beisammen gewesen, die wir nun alle haben; wonach eben, nach allen diesen Schriften, die Lehrsätze der katholischen Kirchen, in Absicht ihrer Lehrer und Diener, wider andre Parteien abgefasset und fortgesetzet worden – daß manche vorige Schriften dem (Hrn.)Herrn Verfasser die Gestalt der Heucheley, und dieser öffentliche Schritt, die vorher nicht erwiesene Anklage und Beschuldigung ganz klärlich wahr machen würde. Ich würde unter den ersten seyn, welche Gegner einer solchen Schrift abgäben, und beiläufig habe geäussert, daß es eine ganz andre Frage wäre, ob der kaiserliche Reichshofrath Recht habe, in solchen protestantischen Kirchensachen sich auf diese Art einzumischen; welches ich stets leugnen würde, wie dergleichen Benehmen oder Betragen schon lange unter Religionsgravamina gebracht und stets von Protestanten mit Recht widersprochen worden *). Bald nachher erschien dieses Be [3] kentnis im Druck; der (Hr.)Herr Verfasser traf hier in 173 Halle ein, ohne daß wir, ich wenigstens, davon etwas gewust haben. Er besuchte mich; ich bedaurete die Veranlassung dieser Erscheinung, und wünschte, daß sich im Königreiche Preussen, oder in andern Staaten, die mit dem teutschen Reiche in nähern Zusammenhange nicht stün[4]den, ein Platz finden möchte, für seine sonstigen Talente – Ich gab zu erkennen, daß es hier, (wo eine lutherische der augspurgischen Confeßion zugethane Universität ist,) grosse Schwierigkeiten eines steten und erleichterten Aufenthalts geben würde, auch was das vorhabende Lesen betrift. Indes schlug ich einige nützliche Arbeiten nochmals vor; 175eine eigene gute Lebensbeschreibung; 176Uebersetzung aus dem Philo,177 Eusebii Vorbereitung (etc.)et cetera Nach einiger Zeit habe ich diesen Zuspruch noch einmal gehabt; und einige Hefte von dem Anfang einer Lebensbeschreibung gesehen, die mir allerdings fruchtbar und gemeinnützig vorkamen; nur an zwey Orten etwa habe ich einige lateinische Anmerkungen geschrieben. Bey der übrigen Unterredung, wo ich darauf bestand, der historische Verstand solcher Stellen, von Christo, könne der gleichzeitigen vielen Zeugnisse wegen, nicht geleugnet werden, nach aller meiner Einsicht; ein anders seie, ob ein Socinianer ihn für sich, bejahe und selbst auch annehme; ein anders aber, ob es dort der historisch erweisliche sensus seie, wurde der Zweifel vorgebracht, ob auch wol der [5] 178erste Anfang des 1sten Kapitel Johannis ächt seie? da antwortete ich: es seie für mich gar kein Zweifel da; aus der ganzen alten Kirchengeschichte wüste ich gar keinen Wink davon aufzufinden; und wenn ich selbst 179die sogenanten Aloger als eine Partey wolte gelten lassen: so seie doch ihre Behauptung geradehin aufs ganze Buch, und nicht auf einige Verse des ersten Kapitels gegangen – Indessen wurde in der Stadt unter Studiosis immer mehr geredet, von öffentlichen Lectionibus, die der (Hr.)Herr Verfasser des Bekäntnisses bald anfangen werde, wozu er auch ein Auditorium schon suche; wogegen ich ohne Zurückhalten bey aller Gelegenheit äusserte, daß ich nicht glaubte, daß dazu würde die 180nötige Erlaubnis ertheilet werden. Ich wurde darauf vom 12ten (Jul.)Juli an 181 Decanus, und da wurde mir 182von einem hiesigen Buchdrucker ein geschriebenes Avertissement vorgezeiget, zur Censur; worin auf ein grösseres Werk, zur Bestätigung dieses Bekäntnisses Pränumeration gesucht, und 4000 Exemplarien im Druck zu liefern versprochen wurde. Ich schrieb, nach Communication mit der Facultät, mit eigner Hand darauf, daß dieses und dergleichen Avertissement, und noch mehr ein solches Werk, hier nicht mit unserer Censur gedruckt werden möge.

In allen diesen Umständen würde ich noch nicht für nötig geachtet haben, mich öffentlich über dis Bekenntnis, dessen Inhalt ohnehin sehr mangelhaft und unbedeutend ist, herauszulassen; wenn nicht mehrere Briefe von Auswärtigen, und manche von sehr erheblichen Inhalte, mich gleichsam mit Augen sehen liessen, wie nachtheilig dieser von Auswärtigen so ungleich erzälte und beschriebene Aufenthalt nun beurtheilt würde, wie man so gar mich selbst mit unter diejenigen zälen wolle, von denen Seite 23. stehet: 183Tausend und aber Tausend denken so wie ich; nur daß sie keine Gelegenheit oder Verbindlichkeit, oder [6] auch nicht genug Freimütigkeit haben mögen, es laut zu sagen.’

Nun muste ich auf einmal mich entschließen, dieser Vermutung, welche man wirklich gar zu gerne ausbreiten möchte, öffentlich zu widersprechen, und zu zeigen, daß ich allerdings Freymütigkeit und Verbindlichkeit ganz gerne vereinige, damit die Kirche, zu deren academischen Lehrern ich so viele Jahre gehöre, wenigstens mich nicht unter diese angeblich vielen Tausende zälen möge, die so leicht den ganzen untreuen Inhalt dieses nicht augspurgischen Bekenntnisses, und so gar den seltsamen Wunsch billigen und genemhalten sollen, 184 ‘daß (kaiserl.)kaiserliche Majestät mit Zuziehung der Stände des Reichs ein Mittel ausfindig machen möchten, wodurch die beiden Stützen der öffentlichen Glückseligkeit, Gewissensfreyheit und Kirchenfriede – vereinigt und in ewiger Verbindung erhalten werden könnten.’

Ich gestehe es gerne, ich habe mich nicht so viel gewundert über den so sehr unrichtigen und schlechten Inhalt des Bekenntnisses selbst, indem es der augspurgischen Confession und allen öffentlichen Religionsurkunden widersprechen soll; als über diese Aeusserung, die ich, bey allem Gutmeinen, doch für ganz und gar ungegründeten Einfal halten muß, ich mag auf innere oder äussere Gründe eines so sonderbaren und unerwarteten Wunsches sehen. Ich glaube, und erkenne es mit recht vielen meiner Zeitgenossen mit lebhaftester dankvollen Empfindung, daß wir weder an Gewissensfreiheit noch an Kirchenfrieden Mangel haben; nachdem die geheiligten Grundgesetze über den öffentlichen Religionsfrieden schon so viele lange Zeit, und zumal jetzt, in den gerechtesten Händen so unvergleichlicher höchsten Regenten, öffentlichen Friede und Sicherheit und gegenseitige Rechte so aufrichtig gewären, daß auch Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit überall so glücklich genossen und genützt werden kann. Ich verstehe Gewissensfreiheit als ein heiliges Recht eines einzel[7]nen Menschen, der über die Urkunden der christlichen Religion oder die heilige Schrift, und die daraus gemachten Bekenntnisse, selbst nachdenken wil, um seinem Gewissen zu folgen; der sich also aus den daseienden so vielen Lehrbüchern selbst den Stof und Inhalt seiner eigenen christlichen Erkenntnis zusammen setzen, und mit ganzem Herzen sie nun ausüben will, weil er kann. Ich brauche nicht zu erzälen, daß er in allen drey öffentlichen Religionen, sich zu der besondern Partey darin wenden kann, welche ihm am meisten mit der Lehre Jesu, und mit gewisserer eigner Vollkommenheit und Erbauung, einzustimmen scheinet; er kann 185 Jansenist seyn und ein strenger Schüler Augustini; er kann zur Gegenpartey gehören; er kann die practische Religion aus 186 Speners oder andern Schriften, gar aus 187 Böhmen, 188 Dippel, 189 Herrnhut (etc.)et cetera für sich annemen; er kann ein Arianer, Socinianer, – seyn; ja gar, wenn er sich dazu verbunden achtet, ein Jude werden; nur muß er in den letzten genannten Parteien diese seine eigenen Gewissensrechte nicht weiter ausdehnen, und nicht in öffentliche, die der ganzen besondern Gesellschaft gehören, verwandeln. Er kann sich von der herrschenden Landesreligion gar lossagen; er mus aber ihre Rechte nun sich nicht zueignen, indem er alsdenn sichtbar die Gewissensfreiheit mit der äußerlichen Freiheit, die zu dem Staat und zur Gesellschaft gehört, verwechselte. Noch weniger muß er sich anmaßen, das kirchliche eingefürte Staatsrecht abzuändern, und in die gesetzgebende höchste Gewalt, in Ansehung der öffentlichen Kirch- und Lehrverfassung, mit seinen Forderungen eingreifen. Wer dis thut, muß nicht sagen, daß er es aus Gewissensfreiheit zu thun recht hätte; denn dis sind Gegenstände, die sein Gewissen und sein Verhältniß gegen GOtt, gar nicht anrüren können; so wenig als ein Unterthan seine ihm so gewis versicherte Freyheit über seinen rechtmäßigen Kreis ausdehnen darf. Ich kann also nicht einsehen, mit was für historischen oder sonst wahren Grun[8]de, der Herr Urheber des Bekenntnisses, öffentlich versichern und vorgeben möge: 190 ‘Tausend und aber tausend flehen mit mir um die Rechte der Menschheit und des Gewissens –’

Ich gestehe es nochmals, ich kann nicht den geringsten wahren Grund hievon einsehen. Rechte der Menschheit felen uns im teutschen Reiche! welche übertriebene Sprachart! Hat die Menschheit alsdenn Anspruch auf die christliche Religion, wenn ein einzelnes gewesenes Glied einer bürgerlichen und kirchlichen Gesellschaft sich öffentlich aufstellet, und wider diese öffentliche Gesellschaft, zu ihrer abermaligen Beunruhigung, jene alten, längst dem eigenen Gewissen freistehenden, Begriffe und Lehrsätze so beschreiben will, daß es selbst eine Lehrformel einer algemeinen Verbrüderung aller Religionsparteien öffentlich zu empfelen sich herausnimmt? Sind Wünsche für eine solche Reforme, aus dem Rechte der Menschheit zu rechtfertigen? Kann das Gewissen wol mit Recht sich anmassen über andere Gewissen, und über die öffentliche Regierung der christlichen Staaten, eine Vorschrift zu entwerfen? Ich habe noch nie dergleichen Behauptung gesehen, und von ihrem Grunde kann ich nichts finden. Wenn wir die Historie fragen: so belehret sie uns schon lange über solche Projecte; daß gar nicht zu erwarten ist, es werde irgend ein Staat seine guten Unterthanen in solche ganz unmögliche Aufgaben einleiten lassen. Alle Religionsparteien sind schon so weit verbrüdert, als es mit dem Staat bestehen kann, als es die Menschheit erfordert; es beruhet aber diese Beschreibung, daß eine algemeine Religionsverbrüderung, so gar in kurzem, gestiftet werden könne und solle, auf einem sehr großen Vorzuge von Einsichten und Urteilen, die manche Liebhaber von neuen Vorschlägen sich sehr leicht anmassen, aber keinesweges aus den Rechten der Menschheit und des Gewissens rechtfertigen oder empfehlen können. Wenn jeder Christ und Unterthan gewissenhaft seinem Berufe folget: so hat er so [9] viel zu thun, daß er sich um eine algemeine Religionsverbrüderung schwerlich eher bekümmern, oder die Zeit darauf verwenden wird, bis es ihm von den Schutzherrn der Religionsparteien aufgetragen wird. Es ist gar wohl glaublich, daß es manche gutmeinende Zeitgenossen giebt, die eine äußerliche Vereinigung aller Parteien sich vorstellen, sie wünschen und für thunlich halten; aber ob ihnen wirklich die Menschheit und Gewissen einen Beruf dazu gebe, müssen sie nicht eigenliebig allein entscheiden wollen. Lange genug hat man in und seit dem 16ten Jahrhundert an dieser äußerlichen Vereinigung, und zwar nur der 3 größern Religionsparteien in Teutschland oder Europa gearbeitet; aber die weisesten erfarensten Männer haben endlich eingestanden, daß es an innerer und äußerer Obliegenheit wirklich ermangele; daß Frieden und feierliche gegenseitige Versprechung der Regenten, Schlüsse über die äußerlichen Religionsrechte, alles und das einzige seien, was mehrere Staaten einander deshalb gewären können. Ich gestehe es, daß diese Zeitgenossen, welche so liebreiche Projecte machen, für sich ihre Gedanken frey haben; sie können sich vergnügen, über den eingebildeten Erfolg und über größern Segen oder Wohlfart der Menschen; aber wer mehr sich anmaßet, mus nun nicht sein Gewissen oder Rechte der Menschheit vorschützen; er tadelt die höchsten Regierungen, und schmälert das Zutrauen ihrer Unterthanen, und darum bleiben solche Schriften landesherrlicher Hoheit und allen Obern unterworfen, welche den äusserlichen Religionszustand ihrer Unterthanen, nach ihren Einsichten, besorgen. Wir werden es aus dem Erfolge, aus der Aufnahme sehen: ob Landesherren solche Schriften bey einer vorgeschlagenen ganz neuen Kircheneinrichtung so oder so weit zum Grunde legen. Wenn sie es nicht thun: sollen sie alsdenn solchen Bitten die Rechte der Menschheit und des Gewissens versaget haben? Dieser ganze Vortrag ist höchstens mit einem Affect und einer Aufwallung zu entschuldigen.

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Ich übergehe bedächtig manche Stellen, bey deren Abfassung sich manches eben so wohl sagen lies, was eine bessere vorsichtigere Einrichtung betrift; und will mich nun blos an das Bekenntnis selbst halten, und nach meiner Einsicht das entgegen setzen, was für mich und andre mehr Grund hat; ohne die Absicht zu haben, dem (Hrn.)Herrn Verfasser des Bekentnisses eine andre Ueberzeugung dadurch beizubringen. Hierzu könten äußerliche Umstände, wie in sehr vielen Beispielen, mehr beitragen; als noch so viel Gegengründe. Die ganze 191 Polemik hat auch dieses nicht zur nächsten Absicht, kann und soll vielmehr eine genauere, richtigere und billige Beurtheilung des guten Gewissens befördern, und alle bloße Uebereilung, Leichtsinnigkeit oder Feindseligkeit hindern und abwenden; folglich eine gegründete Toleranz und ganz rechtmäßige Gewissensfreiheit immer mehr empfelen.

Die Beschreibung von jetziger 192 ‘Pflicht des (Hrn.)Herrn Verfassers, alle Ueberzeugung frey und ohne Zurückhaltung zu entdecken –’ mag ihre Richtigkeit haben; ohne daß es folge, daß nur der ein ehrlicher Mann sey, der mit Muth und Entschlossenheit diese so genante Wahrheit sagt; und daß der, so diese gewälte Art eines Bekenntnisses, seines Theils für unpflichtmäßig hält, allemal 193 ‘ein Heuchler seye, der um des Brots willen seinem Regenten lüge, und mit Verletzung seines Gewissens Menschengunst zu erschleichen suche’. Wie der (Hr.)Herr Verfasser es von sich selbst gestehet, gleich vorher, daß er, 194 um des Schwachen zu schonen und um nicht den Nutzen und Eindruck durch Uebereilung – zu schwächen, der sonst durch guten Vortrag der wesentlichen Religionswahrheiten [11] gestiftet werden könte’, dieses vorher nicht also gesagt habe: so ist es unleugbar, daß jede andre Lehrer in öffentlichen Kirchengesellschaften, es warlich zur Pflicht haben, ihrer eigenen Beurtheilung des besten öffentlichen Verhaltens zu folgen, und daß sie also nicht den geringsten Vorwurf sich zuziehen, wenn sie diese so grobe öffentliche Beschuldigung, (von Heuchlern, die um des Brots willen heucheln) gerade für eine unverantwortliche Uebereilung des (Hrn.)Herrn Verfassers ansehen; dem es gewis, in der so oft mislichen Lage des öffentlichen Lebens, am allerwenigsten zukommen konte, einen fremden Knecht zu richten, und unfreundlichen Verdacht über die Rechtschaffenheit aller der Lehrer anzuspinnen, die in der Ausübung oder Zerrüttung ihres Berufs sich den (Hrn.)Herrn Verfasser nicht zum Muster nemen wollen. Es ist diese grobe Verurtheilung, so vieler öffentlichen Lehrer in den teutschen Kirchen, so gar unter den Augen (Sr.)Seiner kaiserlichen allerhöchsten Majestät, eine Beleidigung, deren mannichfaltiges Verhältnis und großen Umfang ich nicht auf änliche unfreundliche Art entwickeln wil. Es würde in der That keine unpflichtmäßige oder tadelswürdige Zurückhaltung geheißen haben, wenn der (Hr.)Herr Verfasser diese ganze, ohnehin unwichtige Erklärung, von seiner Ehrlichkeit und Entschlossenheit weg gelassen, und alle so lange in Eide und Pflicht stehenden Lehrer, mit dergleichen Charakteristik verschonet hätte. Ich will mich selbst hier nennen, und fragen, ob mich der (Hr.)Herr Verfasser einen Heuchler, der ums Brots willen – zu nennen sich herausnemen wolle; da ich nicht nur dergleichen Ehrlichkeit und Entschlossenheit, wider das gute Gewissen so viel tausend frommer Christen, unter den drey Hauptreligionen, in und ausser Teutschland diese Beschuldigungen auszubreiten, keinesweges nachahme; sondern auch ihr, als unpflichtmäßig, widerspreche. Daß treue Lehrer in der Geselschaft, nicht nur Achtung und Liebe, sondern auch ihr Brodt von der Geselschaft angewiesen haben: ist doch nicht zugleich so zu [12] verstehen, daß die Geselschaft selbst Lügner und Heuchler in Diensten haben wolle; es bleiben vielmehr der Geselschaft alle andre neue Unternemungen, Projecte und Anstalten, zur freien Beurtheilung unterworfen; sie urtheilt selbst, ob sie einen Lehrer für einen gewissenhaften nutzbaren Mann mit Dank und Beifal halten müsse, oder ob sie seine Dienste ihm aufkündiget; er mag seine Unentberlichkeit und Einsichten noch so hoch sich selbst anrechnen. Welche Geselschaft, kirchliche, bürgerliche, häusliche, könte wohl noch bestehen, wenn dis Urtheil nicht ferner bey ihr selbst stehen solte? wenn jemand Richter in seiner eignen Sache seyn wolte?

195‘Ich gestehe also, steht (S.)Seite 9. 10. daß ich schon seit einiger Zeit überzeuget gewesen, es enthalte unser protestantisch Kirchensystem Lehrsätze, welche weder in der Schrift, noch in der Vernunft einigen Grund haben, und die theils der Gottseligkeit schaden, theils durch ihr vernunft anstößiges, die Quelle des Unglaubens und der Religionsverachtung bey Tausenden sind.’

Alles eingestanden; was folgt hieraus? daß ich und alle Lehrer der protestantischen Kirchen eben dieses selbst urtheilen, und eben dergleichen angebliches Bekäntnis drucken lassen müssen, wo wir nicht Lügner und Heuchler seyn wollen? Ich denke nicht, daß ein billiger Mensch, geschweige ein erfarner geübter Kenner der christlichen Religion und der bürgerlichen Geschichte, dieses Urtheil über uns sprechen wird. Vor einiger Zeit gab es Schwärmer, die prophezeieten und wünschten den 196Fal Babels, oder der ganzen äusserlichen Religionsverfassung; es waren Nachkommen der 197 Fanatiker des 16ten Jahrhunderts; sie nenten alle Prediger und Lehrer, 198 Bauchdiener. Dippel, – wer wolte alle Parteygänger herzälen, alle folgten, wie sie sagten, ihrem Gewissen; und griffen allesamt die äusserliche Religionsordnung an, die unter den Staatsgesetzen, nicht unter ihrem Gewissen stund. [13] Ich wil hier nicht weiter gehen. Es folget aber nichts weiter hieraus, als daß wir einen Theil der moralischen Geschichte dieser Leute und des (Hrn.)Herrn Verfassers, in Absicht seiner eignen Einsichten, nun durch solche Schriften erfaren; daß wir nun wissen, was er von unserm protestantischen Kirchensystem selbst halte und urtheile. Wenn nun diese historische Nachricht nur theils, ohne öffentliche Verunglimpfung aller anders denkenden protestantischen und katholischen Lehrer, uns vorgelegt worden; theils den Sachen und angegebenen oder gebrauchten Gründen nach, richtiger und ungezweifelter wäre: so möchte ja dieses Bekentnis, wie so viele änliche Schriften, dem öffentlichen Drucke übergeben worden seyn. Denn es stehet jedem denkenden Christen frey, ja ist seine Pflicht, wenn er dazu im Stande ist, gewissenhafte und umständliche Untersuchungen über so genant Lehrsystem vorzunemen, so viel, so lange, so scharf er wil, also auch seine eigene Verknüpfung der Begriffe für sich, zu seiner Erbauung und Beruhigung, vorzuziehen; dis macht seine Gewissensfreiheit aus; ein unschätzbarer Vorzug unserer Zeiten; davon wir wenigstens in alten Zeiten keine so öffentlichen feierlichen Grundfesten und Verträge finden. Da aber eben diese Gewissensfreiheit allen andern Zeitgenossen wirklich auch zukommen und gesichert bleiben muß: so ist natürlich, daß die Besitzer und Inhaber dieser Gewissensfreiheit, einander nicht öffentlichen Eingrif thun dürfen, durch einseitige öffentliche Uebung und Hervorziehung ihrer Erkentnis. Es sind daher die Grundsätze, die Hauptsätze, welche grosse ganze Kirchenparteien für ihre zusammengehörige Religionsglieder, in Absicht des öffentlichen Unterrichts und exercitii publici, feierlich ausgesucht und eingefüret haben: auch noch durch öffentliche gesetzgebende Macht bestätiget und festgesetzt worden; mit diesen Grundsätzen kan nun ein jeder Mitgenosse dieser Religionsgeselschaft, nach seinem ganzen Gewissen, für sich, was ihn betrift, aufs ernst[14]lichste, andächtigste vor GOtt, umgehen, sie selbst zu seiner Erbauung anwenden; sein Urtheil darüber ausdehnen; sich einen Gang seiner Vorstellungen erwälen – kurz er hat alle Gewissensfreiheit, für sich selbst. Und wenn er gar an dem guten Grunde dieser Grundsätze seiner bisherigen Partey zweifeln muß, wenn er die Zweifel nicht überwinden kan, wenn er die Grundsätze einer andern Partey für richtigere, in seinem Gewissen, von nun an, ansehen muß: so hat er das 199Recht und die Freiheit, die bisherige Religionspartey ganz und gar zu verlassen, und sich in eine andere zu begeben; die entweder auch diese öffentlichen Rechte im römischen Reiche hat; oder mit anderer Einschränkung so oder so gedultet wird; nach dem besondern Gutfinden einzeler Regenten und Staaten. Wenn nun aber dis nicht mehr eigene, particulaire Gewissenssache ist; und ein solcher weiter gehen, und der ganzen Religionspartey, oder allen Religionsparteien im teutschen Reiche bedächtig zumuten wil, sie sollen sein privat Urtheil unter ihren Kirchgliedern geradehin ausbreiten lassen; sie sollen alle Tage lesen, was ein jeder, der sich Ehrlichkeit und Einsicht zur Reforme des Religionssystems zutrauet, drucken lassen wil: so gehört das Urtheil hierüber ganz notwendig der 200 Obrigkeit, welche den äusserlichen Religionsstand ihrer Unterthanen freilich allein zu beurtheilen und zu regieren hat. Sie entscheidet es also, ob solche Anmassungen von algemeiner Verbesserung der christlichen Religion, mit Aufhebung und Verunglimpfung der besondern Religionsparteien, öffentlich Platz und Raum finden sollen, oder nicht; sie verbietet solche Schriften, wenn sie 201 Fanaticismus oder Unruhe und Zerrüttung, nach ihrem Urtheil, mehr nach sich ziehen werden, als grosse und algemeine Verbesserung. Wenn nun eine öffentliche Schrift gar eine feierliche Urkunde der Protestanten, (z. E.)zum Exempel die augspurgische Confeßion angreift, jetzt sie verbessern und ihren Inhalt, wie es heißt, algemeinnützlicher machen wil: [15] so ist es höchstnatürlich, daß dieses Unternemen nicht aus der privat Gewissensfreiheit und Ehrlichkeit einen guten Grund entlenen kan; wie ohnehin viel tausend Zeitgenossen über diese Ehrlichkeit erst ihr eigen Urtheil befragen und sie erst untersuchen müssen.

Wenn nun der (Hr.)Herr Verfasser seit einiger Zeit davon überzeugt gewesen – wie vorhin abgeschrieben worden: so hörte er also auf, ein Mitglied der augspurgischen Confession zu seyn. Er konnte und durfte dis auch bekannt machen, drucken lassen: aber nur nicht mit der seltsamen Anforderung an kaiserliche Majestät, und an die höchsten Häupter der 202durch Religionsfrieden festgesetzten Religionssysteme, und mit dem Wunsche, (dem jeder Leser das Beiwort geben wird, das er für das schicklichste halten mus.)

(S.)Seite 15. 203‘O möchten doch (Ew.)EureEuer kaiserliche Majestät von GOtt auserkoren seyn, alle diejenigen vor der Wuth der Verfolgung zu schützen, welche Kraft und Muth haben, an diesem großen Anliegen der Menschheit zu arbeiten: den unübersehligen Wust der Systemsreligion zu untersuchen, und das reine Gold der göttlichen und seligmachenden Christusreligion wieder heraus zu finden.’

Es werden mehrere Leser sich darüber wundern, daß es vorausgesetzt wird, es könne GOtt eine solche Identität gefallen, da wir in dem so großen sichtbaren Reiche der Natur eine tausendfache Verschiedenheit, aber in einer Verbindung, antreffen; wundern, daß dis sogleich Wuth der Verfolgung heißen soll, was natürliche Folge der Rechte einer öffentlichen Gesellschaft ist. Wenn auch eine Uebereilung wider den (Hrn.)Herrn Verfasser jetzt vorgefallen wäre, (wovon gar vielerley Dinge mit möglicher Entschuldigung Ursache seyn können) dürfte es doch nicht Wuth der Verfolgung genant werden; wenigstens war [16] es die Sprache der ersten Lehrer der hier so genanten Christusreligion nicht; sie verlangten auch nicht, daß alle Gelegenheit zur Geduld und Verläugnung ihrer selbst, unmenschliche Wut und Verfolgung heißen, und daher von Kaisern und Königen mit bürgerlicher Macht, in ihrem Gebiet gleich abgeändert und aufgehoben werden sollte. Wir wissen es, daß GOtt eine solche Religionsfreyheit gar nicht zum Zweck haben könne, ob er gleich Freyheit des Gewissens und die Menschenpflichten verordnet hat. Noch weniger haben wir den bodenlosen Einfall, eine algemeine Religion selbst zusammen zu denken, die mit Ausschließung der stets freien Natur der Menschen, die Besserung und Heiligung der Menschen ganz anders und viel gewisser als von Jesu und der ersten Apostel Zeit an, bewirken müste. Vielmehr, wenn wir dem Ursprung der christlichen Lehre und Religion zusehen, so hat sie nie eine äußerliche Einheit der Lehrform begriffen; indem äußerliche Verschiedenheit unausbleiblich ist, und diese eine Verschiedenheit der Vorstellung mit sich bringt; sie hat sie nie zum Endzweck gehabt; sie gehet auf die Besserung des Gemüts; auf neue Ordnung der Neigungen, welche, bey noch so großer Ungleichheit der Vorstellungen, die der Verstand, nach der so ungleichen Localität, stets bewirken mus, wirklich bey den guten Christen für das Gemüt zu Stande gebracht worden ist; ihr Religionssystem, als Summe und Inhalt der Vorstellungen im Verstande, mochte noch so ungleiche Bilder, Ideen, Theile, Verknüpfung und Stellung behalten; das 204 Wesen des Christentums ist Geist und Wahrheit, oder innerliche Vollkommenheit. Wirksame lebendige Erkentnis, zur innersten heiligsten Anwendung, zu eigener Ausbesserung; der Zusammenhang mit Gedanken und Urtheilen mag noch so mancherley seyn. Und nun will ich den großen Usurpator sehen, der sich anmaßet, für andre Christen aus seinem Kopfe ein allgemeines System zu spinnen, und es ihnen öffentlich aufzudringen, als das [17] einzige wirksame erbauliche System! An die Historie der Religionsübung unter allen christlichen Parteien, unter Muhammedanern, 205 Braminen, – will ich nicht denken; überal Wirkung in der Seele; Andacht, Hoffnung, Zuversicht – aber der besondre Charakter unterscheidet alle diese Religionsparteien. Können wir ihn aufheben? Ja, wenn wir die 206 Localität aufheben können. Und wer maßet sich an, dieses zu können?

Ich kenne manche 207 Flattergeister, sonst nennte man sie Schwärmer, die allen wahren Beruf in ihrer Gesellschaft ablegten, oder aufkündigten und verdarben; oder eigenmächtig sich die Bestallung gaben, für die ganze Menschenwelt in angemaßter Allkraft, Wohlthaten zu ersinnen und anzubieten, die nur allein aus ihrer Hand noch möglich seyn sollen; wenn sie nicht wären, so wären alle Menschen gänzlich unbesorgt, unberathen, unbelehret und also stets unglückselig. Sie sinnen daher auf eine algemeine Religion, die alle Völker so gar leicht begreiffen sol; so bald man nur die bisherigen Anstalten, von Kirchen, Schulen, Universitäten, und ihre Beschützer, die Reichs- und Landesgesetze, aufheben, und aus ihren fast almächtigen Händen, den neuen Lehrbegrif, den sie eben erst erschaffen wollen, annemen wird; dessen vorzüglich himmlische oder übermenschliche Früchte noch dazu an diesen Leuten ganz unsichtbar sind. Einerley Einbildung reisset alles um, was Erfarungen von Jahrtausenden mit täglicher saurer Mühe und gewisser Erfarung aufgebauet und geordnet hatte; man sorget für die ganze Menschenwelt aus seinem noch so kleinen Gesichtspunkte; Fürsten und Herren sind gleichsam alle zeither auf dem unrechten Wege; ihre Ordnungen über Kirchen und Schulen sind alte Irtümer, welche den neuen Strom von übermenschlicher Weisheit und Klugheit bisher hindern; Drang ist es, ganz erhabner Seelendrang, alles, was die gewisseste Staats- und die gröste Menschenkentnis in der wirk [18] lichen Menschenwelt bisher bewärt und thunlich erfunden hat, geradehin nur erst um zu reissen; was den neuen Bau betrift, – der wird sich alsdenn schon von selbst finden.

Dieser Art sind wirklich die großen Anmaßungen in diesem Bekentnis; so bald es nur dem (Hrn.)Herrn Verfasser gewis ist: so ist es auch (außer ihm) ganz gewis in der 208 Concretenwelt, ausgemacht, daß unsre Lehrer, im römischen Reich, Lehrsätze in den 3 Religionssystemen haben und behaupten, 209 ‘die weder in der Schrift, noch in der Vernunft einigen Grund haben, und die Quelle sind von –’ Ob diese Behauptung mit der uns bekanten Geschichte der Menschheit und der unentbehrlichen tausendfältigen Gewissenhaftigkeit, die in moralischen Beschäftigungen nicht felen kann, zutreffe: will ich den Lesern gern überlassen. Ich wolte aber wünschen, der (Hr.)Herr Verfasser verstünde sich besser auf die Gelersamkeit einer jeden Religionspartey, und kennete den Gang ihrer besondern kirchlichen Grundsätze, und die weise Absicht der öffentlichen Einrichtungen; kennete auch die Gelerten selbst genauer: so würde er blos sagen, daß er für seine Person, in diesen seinen individuellen Umständen, zu dieser Einsicht gelanget sey; und sie heute oder jetzt vorzüglich begünstige; er würde aber alle Billigkeit öffentlich bezeigen, und nicht uns, den Lehrern dieser öffentlichen Religionssyteme, welche nun dem eigenen Gewissen erst Platz machen, so gleich zu muten, wir müsten unsre Augen eben so gewönt haben wie er. Das übrige, 210 ‘es seien Lehrsätze darin, welche theils der Gottseligkeit schaden, theils die Quelle des Unglaubens seien, für tausende’: ist gar nichts wichtiges oder sonderbares. Eine jede Partey, von den Braminen und 211 Talapoinen an, bis auf alle Parteien der Christen, sogar untereinander, pflegt diese Beschreibung zu machen; ohne für die denkende andere Partey das allergeringste dadurch zu entscheiden. Wo [19] haben diese leeren Einbildungen den Grund her, daß es eine aller einzige äusserliche Religion geben solle und könne, worin die Gottseligkeit so leicht, so innerlich unausbleiblich entstehen müsse, daß alle Menschen keinen Anstos, keinen Unglauben, keine Religionsverachtung jemalen mehr fassen und vorziehen könten? Welche Geschöpfe hat man alsdenn auf dem Erdboden vor Augen? Menschen? ich wüste sie nicht zu finden. Sollen wir denn auch in 212ein christlich Utopien uns auf geradewol einfüren lassen? Ist denn irgend eine Erkentnis, des 213 Cajus und Titius, nun das Model und die algemeine Vorschrift für alle Menschen, in allen noch so verschiedenen Umständen? Wir wollen uns einbilden, da hätten zwey bis drey solche Universalmänner eine Schrift entworfen, als Inhalt einer Universalreligion; was wollen sie davon erwarten? Wir wollen ihr auch, (so unmöglich es ist,) den Beistand und Beifal der kaiserlichen Majestät, aller Könige und Fürsten und Obrigkeit, zum Geleite geben; was wird diese Schrift ausrichten? Ich denke, es wird eben sowol eine neue Theorie darüber nach der andern entstehen; und wer wird diese wieder vereinigen? Niemand; man wird Freiheit des Gewissens haben, wie jetzt; und öffentliche Vorschriften einfüren. Ist das alsdenn eine Universalreligion? Dieses war der weise Grund 214vom öffentlichen Religionsfrieden; nachdem man einsahe, es gebe keine Vereinigung aller Christen unter Ein System, das immer local seyn müste.

Diese ganze Arbeit und Betrachtung, so weit sie noch einige Realität gewären kan, gehört stets für das einzelne Gewissen eines jeden Individui. Jeder Leser und Zuhörer behält diese eigene Beschäftigung, es mag Christus oder Paulus, 215 Thomas oder 216 Luther oder 217 Socinus lehren: wonach er entweder der Lehre Beifal giebt, oder Anstos hat, nicht glaubet, und diese Religion nicht billigt. Wil denn jetzt jemand so anmassend seyn, durch [20] seine Lehre mehr auszurichten, als JEsus und Paulus? Wo bliebe denn das Gewissen der Zeitgenossen, wenn die Lehre, die Beschreibung der christlichen Religion, nur aus den vier Wänden, oder nach dem Papier eines solchen algemeinen Lehrers, eingerichtet werden solte? Und müsten dis sogleich Heuchler, Lügner, Unehrliche, Boshafte, Ungläubige, und Religionsverächter seyn, die diesem neuen Totalsystem (für die 218 Mondwelt) nicht sogleich sich unterschrieben? Wozu also solche factionsmässige Anstalten im Staat? Warum sol kaiserliche Majestät die christliche Religion im teutschen Reiche, nach so einem neuen Papier, einrichten helfen? Muß es nicht den Regenten frey bleiben, über solche Projecte selbst authentisch zu urtheilen? Oder sol sich insgeheim eine Anzal wirksamer Köpfe nach und nach vereinigen, um da oder dort endlich über die andern guten Christen sich zu erheben: die doch noch niemanden die Reforme ihres Gewissens aufgetragen haben, und ihren Landesfürsten selbst dis nicht auftragen, wie diese es nie verlangen? Eine seltsame Wohlthat für uns; wozu die bisherigen Lehrer ihr ganzes öffentliches Verhältnis aufopfern sollen, damit eine kosmopolitische Religion auf einmal alle Menschen, in allen Staaten, umfassen möge!

Nun das Verzeichnis solcher Lehrsätze:

219‘Darunter rechne ich die – von der Erbsünde; von der Zurechnung der Sünde Adams – von der Nothwendigkeit einer Genugthuung – von der blos und allein von dem heiligen Geist in dem, sich leidend verhaltenden Menschen, zu bewirkenden Bekehrung – von der ohne alle Rücksicht auf unsre Besserung und Tugend geschehen sollenden Rechtfertigung des Sünders vor GOtt – von der Gottheit Christi, und des heiligen Geistes, in athanasianischen Sin – von der Ewigkeit der Höllenstrafen – und einige andre.’

[21] Der Zusammenhang ist: 220 ‘diese Lehren, einzeln und alle, haben in der Schrift und Vernunft keinen Grund; schaden theils der Gottseligkeit, theils sind sie die Quelle des Unglaubens und der Religionsverachtung bey Tausenden’; und folglich,

sol das protestantische (und auch das der römischkatholischen Kirche gehörige) Religionssystem nun ganz geändert oder abgeschaft werden, unter Kaiserlicher und Reichsständischer Auctorität; nemlich, doch nur, nach des Verfassers Ueberzeugung? Ich kan sagen, ich weis nicht, wo ich anfangen sol, zu antworten. Sol es freier Gebrauch der Gedanken seyn, wie mancher gute Zeitgenosse, patriotisch, wie er denkt, von Verbesserung der Regierung, der Proceßordnung, der Accise, der Handelsgesetze, des 221 Nahrungsstandes, aus seinen vier Wänden, mit seines Gleichen, ohne Folgen und Schaden, zu sprechen pflegt, und Entwürfe für die ganze Nation in der Stille macht; wegen der Regierung – des Handels – so müste wenigstens die Bescheidenheit gebraucht worden seyn, solchen privat Zeitvertreib nicht öffentlich an Kaiserliche Majestät und teutsche Reichsfürsten anzubieten, und dabey sich doch auf 222 Rechte der Menschheit und Gewissensfreiheit zu berufen. Priuatim stehen solche Beschäftigungen frey, allen denen, die im Staat so wenig zu verrichten haben, daß sie ihre Zeit mit Projecten ins Grosse, für andere, zubringen, auch ungebeten und unbedankt. Ist es aber im Ernst so gemeinet, dis alles gehöre zu dem (S.)Seite 15. so genanten 223 unabsehlichen Wust der Systemsreligion: so ist es eine unerlaubte und lieblose Beurtheilung des Gewissens viel mehrerer Tausende, als jene je seyn können, welche allesamt hieran Theil nemen sollen; indem wir in allen drey Religionsparteien keine unbestimten, schwankenden, übertriebenen, 224 solitarischen Beschreibungen dieser genanten Gegenstände, zu den Grundsätzen des Christentums, oder der christlichen Religion, in Absicht des eignen Gewissens, [22] rechnen. Eben so wenig kan man sagen, daß alle, so viele, so gewissenhafte, ganz und stets untadelhaft lebende Lehrer, so vieler Jahre, ja Jahrhunderte, diese Lehrsätze, ihres Theils, ohne Schrift, und zum Anstos ihrer, oder ihrer Zeitgenossen und Zuhörer Vernunft, gleichwol angenommen, und dadurch eine Quelle des Unglaubens und der Religionsverachtung eröfnet hätten. Es wird jedem Leser in die Augen fallen, daß dis durchaus unwahr ist; folglich, sind diese Lehrsätze nicht an sich, geradehin und ihrem wahren Inhalte nach, also zu beschreiben; ohne den kirchlichen Geselschaften und Religionsparteien öffentlich Hohn zu sprechen, und das allerunleidlichste Unrecht anzuthun; zu welcher greulichen Beleidigung ebenfals die sogenante Menschheit und das privat Gewissen und privat Leben, niemanden, mit dem allergeringsten Scheine berechtigen kan. Es muß also heissen, daß der (Hr.)Herr Verfasser dieses Bekentnisses, allen diesen Lehrsätzen, in aller nur möglichen Bedeutung und Beschreibung, für sich, seinen Beifal versage; das stund ihm frey; aber, wenn er sie so beschreibet, daß diese Religionsparteien im römischen Reiche diese Lehrsätze geradehin ohne Schrift, zum Anstos der Vernunft, als eine Quelle des Unglaubens und der Religionsverachtung, abgefasset, gelehret und bisher beibehalten hätten: so beleidigt und beschimpft er diese Kirchengeselschaften auf eine nicht zu entschuldigende Weise. Es wäre der unvernünftigste Gewissenszwang, es wäre gewaltsame Beeinträchtigung der Rechte der öffentlichen Religionsparteien: wenn jemand alle diese Glieder, vom Obersten bis zum Untersten, bey Strafe dieser Beschuldigung, dahin zu bringen sich vorsetzte: ihme, diesem Reformator allein, die Erklärung der Schrift, den Gebrauch der Vernunft; den glücklichen Eifer in Beförderung und Hochachtung christlicher Religion, zuzuschreiben, und alle ihre Lehrer auf einmal für solche Leute zu erklären, die wider die Schrift und Vernunft, diese Lehrsätze selbst glaubeten und [23] lehreten, oder gar 225 Lügner und Heuchler wären, die um des Brots willen’, in ihrer Geselschaft dis lehreten.

Die berürten Lehrsätze selbst können geradehin, ohne bessere Erklärung ihres Inhalts, nicht einseitig beurtheilt werden; und keinem Christen kan man es wehren, sie in dem und jenem Sinne, als Schrift- und Vernunftmäßig, als eine Quelle gewisser Besserung, Zufriedenheit und geistlicher Wohlfart, von ganzem Herzen und mit recht gutem Gewissen, zu glauben, und zu seiner moralischen oder geistlichen Historie recht vortheilhaft anzuwenden und ihre Richtigkeit also zu erfaren. Ich wil diese Lehrsätze hier nicht einzeln vortragen, mit ihrer doppelten Erklärung; die entweder für einfältigere oder geübtere Leser und Zuhörer so oft schon, und auf so verschiedene Weise vorgetragen worden: daß der Fal gar nicht da seyn kan, in Absicht der Rechte des eigenen Gewissens, man glaube ohne Schrift, wider die Vernunft, und gar zur Vermehrung des Unglaubens und der Verachtung der Religion bey andern. Wie kan ein anderer aus meinem gewissenhaften Glauben und Leben, einen Grund nemen, die ganze christliche Religion zu verachten? Und wenn er es thut, entsteht daraus für mich ein Grund, ihm Recht zu geben? Muß ich seine für mich fremde und unwahre Urtheile nun leichter annemen, als verwerfen? Was nicht mit meinem Glauben und Gewissen bestehen kan, ist und bleibt für mich Sünde; mögen es hundert und tausend Menschen nicht so ansehen. Darum hat ja der Christ Lehrer, daß er von ihnen selbst denken und betrachten lernet; und nun selbst weis, was er glaubet. Hier übt er seine Gewissensrechte; niemanden ist ein eiserner Riegel vorgeschoben, was seine leichtere gewissere Erbauung betrift. Denkende Zeitgenossen wälen also, was ihre eigene Anwendung betrift, eine algemeine oder sinliche Beschreibung, von ihrem moralisch mangelhaften natürlichen Zustande, in Vergleichung des [24] Umfanges des Christentums; sind auch so wenig an den Namen Erbsünde selbst gebunden, als wenig man ihnen aufleget, mit eigener Vorstellung, eine 226 unmittelbare oder mittelbare Zurechnung der Sünde Adams, zu bestimmen; wer Lust hat, lieset oder fraget nach, um Ausbreitung seiner eignen Vorstellungen hierüber zu samlen. Von 227 Notwendigkeit einer Genugthuung fragt der gelehrte oder fähige Mensch, um mehr zu denken, als er für sich nötig hat. Millionen aber denken nicht an diese Frage. Von der 228 Bekehrung, pur leidlich oder mitwirkend – wie lange ist alle Zweideutigkeit hierüber gehoben? wie so bekant ist die doppelte Lehrordnung, seit der Zeit der sogenanten 229 Synergistischen, Helmstädtischen, der Gewissener, und mancherley neuerer Fragen? In dem Erfolge, in der Beschaffenheit des Zustandes, den man Bekehrung oder Besserung des Menschen nent, kommen alle Lehrer überein; wenn sie gleich in der Vorstellung von der Art und Weise, dieser Begebenheit im Menschen, verschieden bleiben. Kan nun hiebey ein denkender Zeitgenosse, (der zu dem 230 selbstdenkenden und prüfenden Theile der Menschen’ gehört, oder gehören wil, (S.)Seite 12.) klagen, es fele für diesem beschriebenen Zustand, (Bekehrung) an Schrift, es sey der Vernunft anstößig; es entstehe Unglaube und Verachtung der Religion? Zunächst entstehet ja Beurtheilung der Lehrart, welche gegründeter ist; die Sache an sich ist zur Anwendung frey. Es müste jemand uns alle inwendig kennen, oder sich eigenliebig allein das Vermögen zu denken, und ein Gewissen, ausschliessender Weise anmassen. Ich wil die übrigen Sätze, von Rechtfertigung (etc.)et cetera ganz übergehen; es ist gar zu wenig erheblich; leere und unrichtige einseitige Speculation; man redet ja aber von Dingen, die überhaupt keinen Grund haben sollen in der Schrift, zum Unglauben bringen – und doch nent man solche Sätze, wozu die Liebhaber und Anhänger überal Stellen der Schrift anfüren; sie daher von Herzen selbst glauben, [25] und diese Religion recht aufrichtig lieben und ausüben. Sol auf andre gesehen werden: was gehet es denn uns an, die wir die augspurgische Confeßion keiner Correction bedürftig erachten? Es stehet ja andern frey, die Bibel zu gar nichts für sich zu brauchen; sich selbst eine Religion zu machen; aber sie müssen sie nicht dem teutschen Reiche öffentlich als viel besser und gewisser anbieten. Sollen wir diese Lehrsätze, in der oder jener, noch so guten Erklärung, darum jetzt verwerfen, weil alsdenn zu hoffen stünde, daß der (Hr.)Herr Verfasser und so oder so viel andre alsdenn die (christliche) Religion behalten wollen? Wie kan diese Sorge für andere uns selbst berechtigen, unsre Erkentnis, um ihrer uns unbekanten Geselschaft und moralischen Lage willen, wegzuwerfen? Wir müsten nicht wissen, was eigenes gutes Gewissen ist, und müsten uns so oft in der Lehrformel ändern wollen, als oft wieder andre Leute sich anmeldeten: daß sie, mit der Bedingung, unserer abermaligen Aenderung, auch unsre Mitchristen und Geselschafter unserer öffentlichen Religionsübungen seyn wolten. Mögen sie doch nicht unsre Religionsgenossen seyn, mögen sie gar Unchristen seyn, oder werden; wir können nicht durch unsere stete Veränderung der öffentlichen Lehrformel, die kein privat Eigentum, kein Gesetz des eigenen Verstandes und Gewissens je gewesen ist, Proselyten machen, an Proselyten kan uns nichts liegen. Diese ganze öffentliche Anforderung also, sogar an (Kaiserl.)Kaiserliche Majestät, und an die höchsten Reichsstände hat gar keinen Grund; ist eine völlige Uebereilung, die durch privat Gutmeinen zu keiner rümlichen und wichtigen Handlung wird; wenn auch tausende, von allerhand Art Leuten, für sich, untereinander zusammen treten, und eben diese seltsame Abänderung der feierlichen öffentlichen Religionssysteme, darum verlangen wollen, weil sie sonst nicht in unsre Religionsgeselschaft ferner gehören könten oder wolten. Das mögen sie also; und mögen ihrem Gewissen für sich folgen, ohne uns eine [26] 231 Reforme vorzuschreiben, unter der Gestalt ‘der Rechte der Menschheit und des Gewissens’. Welche Gestalt! Rechte der Menschheit! welch Gespenst!

232‘Ich habe zwar, heißt es weiter, ( (S.)Seite 10. 11.) wie es von einem Doctor (Theol.)Theologiae augustanae confessionis ohnehin zu erwarten stehet, gegen diese vorgedachten Lehrsätze – vor dem Volk – [(]weder im Predigen noch Catechisiren) niemals directe gelehret, sondern sie entweder gar übergangen, oder doch so davon gesprochen, daß ihr schädliches abgesondert und ihr irriges gemildert worden; (davon meine Predigten über die Person und das Amt Jesu ein Beyspiel sind.)’

Wir müssen die Gegenstände wiederholen, wovon hier die Rede ist. 233 ‘Lehre von Erbsünde; Zurechnung der Sünde Adams; von Nothwendigkeit einer Genugthuung; von der blos leidentlichen Bekehrung; von der Rechtfertigung ohne alle Rücksicht auf unsre Besserung und Tugend; von der Gottheit Christi, und des (heil.)heiligen Geistes im athanasianischen Sinn; von Ewigkeit der Höllenstrafen.’

Diese Lehren hat der (Hr.)Herr Verfasser vor dem Volke entweder gar übergangen, oder ihr schädliches abgesondert und ihr irriges gemildert. Verstehen wir hiemit, was er übergangen hat, in diesen einzelnen Lehren? was er als schädlich und irrig angesehen hat? (Z. E.)zum Beyspiel/Beispiel Lehre vom natürlichen Verderben eines jeden Menschen, sol in concreto beschrieben werden, du Cajus, Titius bist von Natur so beschaffen; so geneigt; so gesinnt – Der gemeine Mann hat keine Abstraction lernen sollen, noch weniger die ganze lateinische Disputation, welche, ihrem Zweck nach, nicht zum Unterricht der gemeinen Zuhörer, sondern zur gelerten Uebung der Candidaten und Lehrer, gegen andre Lehrer andrer Parteien, gehöret. Hat er also geleret, 234 Pauli Ausspruch, Röm. 5. alle Menschen sündigen, ἡμαρτον, seie bey vielen Menschen nicht wahr? [27] oder hat er ihn erkläret nach der täglichen Erfarung? Zurechnung – gehört für Gelerte. Notwendigkeit einer Genugthuung ebenfals; oder hat er die Sache, die neue Möglichkeit unserer christlichen Zuversicht, die sich auf Christi geistliche Lehre und moralische Historie gründet, übergangen, oder für irrig gehalten? Denn Genugthuung an sich, der Sache nach, die nun als ein neu Verhältnis der Menschen in der moralischen Welt da ist, gehört in den Grund der christlichen Religion, den Christen nun mit ihrer Neigung umfassen, so oder so beschreiben; hat er dis weggelassen? so hat er den rechten geistlichen Grund der christlichen Religion gar nicht gekant. An dem Worte liegt nichts. Bekehrung – kann sie auch nur gedacht werden, als ein christlicher moralischer Zustand, ohne geistliche, neue, jetzige Wirkung GOttes durch christliche Wahrheiten? ohne wirkliche fortgehende eigene Veränderung des Menschen? In der gemeinen Lehre siehet man auf die große Anzal; wer psychologisch mit denken kann, der erwartet hier in Absicht seiner nicht eine Lehrart, die dem gemeinen Haufen nutzen und ihn gewis und leicht erbauen sol. Gottheit Christi und des heiligen Geistes, in 235 athanasianischen Sinn – wie ist dieses zu verstehen? von dem Symbolo, das ehedem Athanasii hieße? so kann es nicht so beschrieben werden, im athanasianischen Sinne; indem ein jeder weis, daß Athanasius es nicht geschrieben hat, und daß sein Sinn unmöglich mit dem Sinne des nachherigen wohl 200, 300 Jahr spätern so genau bestimten Symboli einerley ist. Sol es auf den Athanasius gezogen werden: so ist es theils sehr schwer, es klar auszumachen, welches sein Sinn gewesen sey; theils ist unsre, der katholischen Lehrer Erklärung keinesweges der Sinn des Athanasius, oder des 4ten und 5ten Jahrhunderts; und gehört überhaupt alsdenn nicht in den gemeinen Unterricht; ganz und gar nicht. Was soll dis also heißen? Alle Christen glauben an Vater, Sohn oder Christum [28] und heiligen Geist; dis ist eine ganz gewisse Grundlehre des Christentums; nun kommen die kirchlichen Bestimmungen zu diesen 3 terminis; 236 subiecta, Personen (etc.)et cetera (alle neue Worte der Gelerten für ihres gleichen) Eines und desselben Wesens. Diese Bestimmung hat niemand zum Grund und Inhalt der christlichen Lehre und christlichen Wohlfart gerechnet, ich brauche 237 Hunnii epitomen credendorum nur zu nennen; wohl aber zum Grunde einer besondern sichtbaren localen Kirchengesellschaft. Wer diese Bestimmung nicht annimt, von dem sagt niemand, er seie kein Christ, er habe keine christliche Andacht und Tugend; er könne nicht selig werden; sondern, man sagt, er gehöre folglich nicht zu der katholischen Kirche; nicht zu den 3 Religionsparteien im teutschen Reiche. Er mag nun sagen, diese Bestimmungen und 238Lehrsätze schaden der Gottseligkeit; sind der Vernunft anstößig, sind Quelle des Unglaubens: so ist es alles gar nichts gesagt, in Absicht unserer und aller Christen, welche den Zusammenhang dieser Lehrsätze wirklich aus der Schrift, mit ihrer Vernunft, zum Inhalt ihres Glaubens und Gottseligkeit, und zum 239 medius terminus ihrer äußerlichen Geselschaft machen, weil sie gar keinen Unglauben oder Religionsverachtung, sondern menschlichen Willen und Vorsatz darin bestätiget und an den Tag geleget finden.

Wenn nun ein Doctor Theologiä, als Mitglied der augspurgischen Confession, über diese Grundsätze aller katholischen Christen, wozu hier auch die Protestanten gehören, sagt: daß er diesen Lehrsätzen selbst, ihrem Inhalt nach, (von terminis ist die Rede nicht) niemalen directe widersprochen; sondern sie entweder übergangen, oder ihr schädliches und irriges abgesondert: so hat er in der That nicht als ein Doctor Theologiä augustanae confessionis rechtschaffen gelehret: sondern untreu gehandelt. Alle lutherischen Doctores Theologiä haben diesen Inhalt der Lehrsätze in ihrem Doctoreide. Es könte auch sonst [29] wahrlich der ganzen lutherischen Kirche gar nichts an diesen Lehrsätzen liegen, wenn jeder Lehrer diese Lehrsätze so beurtheilen dürfte, sie seien schädlich und irrig gewesen, bis er nun dazu gekommen, und das Schädliche und Irrige 240 mit solcher Klugheit abgesondert habe, daß es das Volk nicht gemerket; daß er aber diese Lehren selbst für falsch und in der Schrift ungegründet – ansehe. Ein für seine Geselschaft treuer und rechtschaffener Lehrer behält die Sache, den Begrif, und schenkt die Worte, Person, [Dreieinig-] und Dreifaltigkeit, 241Homousios, Erbsünde (etc.)et cetera dis ist rechtmäßig, und lange bekant, unter treuen lutherischen, ja auch unter vielen römischkatholischen Lehrern, vom 242 Erasmus an, bis auf die 243 Walenburche, die eine secretionem der theologischen Sätze zugaben. Aber die Rede ist von der Lehre, vom Inhalte, oder der Sache selbst. Wer sie gar nicht bejahen kann, der mus sich ja nicht als einen Lehrer der augspurgischen Confeßion aufstellen lassen; er beleidigt ja die Pflichten gegen die lutherischen Kirchen. Will er selbst eine neue Universalkirche stiften: so kann er es anfangen, aber nimmermehr, als doctor theologiae augustanae confessionis. Gleichwol sagt der (Hr.)Herr Verfasser von dieser seiner Aufführung:

244‘Folglich bin ich auch noch nie von den eigentlichen Verpflichtungen eines protestantischen Lehrers abgewichen, sondern habe mit Klugheit und Vorsicht die Gesetze des Staats mit der Gewissensfreiheit zu vereinigen gesucht; fest überzeugt, daß streitige Religionspunkte nie in den Volksunterricht gehören (etc.)et cetera

Die Beurtheilung, ob er nicht von den eigentlichen Pflichten eines protestantischen Lehrers abgewichen seie: kann er nicht selbst vornemen, und uns, den Lehrern der lutherischen Kirche, geradehin für richtig aufdringen; wie dis wol ein jeder einsehen wird. Ich wil es durch das öffentliche feierlichste Urtheil des gesamten Corporis Euange[30]licorum bestätigen, was ich hier sage, und den (Hrn.)Herrn Verfasser folglich, nach unsern protestantischen principiis und Rechten, aufs allergewisseste widerlegen. In eben dem vorhin (S.)Seite 2 (f.)folgend angefürten pro memoria zu der Gläsenerischen Sachetextgrid:3rnnb, stehet (S.)Seite 708. mit diesen Worten:

(Daß sich der kaiserliche Reichshofrath darin mengen wolle –)

245„Welches um so weniger zu dulten, wenn gleich die Controvers den Grund des Glaubens nicht beträfe, weil derjenige, welcher sich als einen öffentlichen Lehrer bestellen lässet, so lange er das Lehramt füren wil, nicht nach seinen Begriffen, sondern denen symbolischen Büchern gemäs lehren muß, welche die Kirche, wozu er sich bekennet, als eine Regel und Richtschnur angenommen (etc.)et cetera“ Dis ist folglich sonnenklar, und alles übrige, was der (Hr.)Herr Verfasser von seiner Klugheit hier erzälet und schreibet, ist unnütz und ungegründet. Seine ganze Beschreibung von seinem klugen Verhalten ist höchstens eigene Meinung, ist ungründliche übereilte Denkungsart des (Hrn.)Herrn Verfassers, aber auf diese, im Unterschied von der Lehre der augspurgischen Confession, hatte niemand gerechnet, der ihn für einen Lehrer der augspurgischen Confession halten wolte. So seltsam der Einfall eines Privati war, eine Veränderung mit der augspurgischen Confession so vorzunemen, als er sie jetzt, zu seinem besondern neuen Gesichtspuncte, selbst für dienlich hielte: eben so untreu handelte ein solcher, der zwar sich zur augspurgischen Confession feierlich selbst bekennete, aber selbst dis Urtheil öffentlich behalten wolte, 246„sie hat schädliche, irrige, in der Schrift nicht gegründete Lehrsätze, von Erbsünde (etc.)et cetera [“] Er hätte da folglich seine eigenen Gedanken zu lehren sich vorgenommen, und hatte doch versichert, er näme die augspurgische Confession zur Vorschrift seiner öffentlichen Lehre an. Ob diese Aufführung nicht wider die Verpflichtung, welche unsre Kir[31]che ihren Lehrern aufleget, laufe; ob sie eine ganz besondre neue Klugheit entdecke: mus ja unsere Kirche, welche die augspurgische Confession zum Grunde der Vereinigung aller Mitglieder angenommen hat, selbst beurtheilen. Wenn diese dis Verhalten mit einem andern Namen benennet: so hilft jene vorgeschützte Klugheit gar nichts; unsre Kirchen verlangen Gewissenhaftigkeit, Treue, Redlichkeit gegen ihre Glieder, die einem Lehrer zum Unterrichte angeboten werden; durch den Eid, den sie ihm auflegen; nicht aber anmasliche Klugheit in Veränderung der Lehrsätze der Confession. Ist aber etwa hier die Rede von streitigen Religionspunkten? In welchem Verhältnis stehet der (Hr.)Herr Verfasser, wenn er unsre Confession, ja die ganze römische Kirche zugleich, in der Lehre von der Erbsünde, Bekerung, Genugthuung, Gottheit Christi und des heiligen Geistes, streitiger Lehrpuncte beschuldiget? Sind dis streitige Lehrpuncte bey den Protestanten und Catholicis? wer dis sagen kann, ist ja ipso facto ein Gegentheil der augspurgischen Confession, welche alle diese Lehrsätze, 247in der so großen Feierlichkeit 1530. als ganz gewisse Lehrsätze, die auch die alte römische Kirche habe, von ihren Angehörigen und Theilnemern versichert, mit der ganzen Ehrlichkeit und Zuverläßigkeit, die keinem Lehrer jemalen eine Gelegenheit zur besondern Klugheit übrig läßt, um das Irrige, Schädliche, und ohne Schrift angenommene darin, in der Confession, zu verändern. Der (Hr.)Herr Verfasser wirft simpliciter die Sachen, den Inhalt, ganz weg; er sagt, zu solchen Lehren, die ohne Schrift, wider die Vernunft, zum Schaden der Gottseligkeit – in dem protestantischen Religionssystem stehen, 248 rechne ich; die Lehre von der Erbsünde (etc.)et cetera ohne alle Einschränkung. Verstünde er terminos, allerley, abwechselnde, zuweilen nun nicht recht schickliche Worte und Beschreibungen: so bliebe dennoch die Sache, der Begriff selbst. Und diese billige Beurtheilung, daß nicht alle, da und dort eingefürte Worte, [32] Bestimmungen, Abtheilungen, Beweise, eine unveränderliche Richtigkeit und Unverbesserlichkeit haben, auch nicht beibehalten können, gestunden so gar alle billigen römischen Gelerten seit mehr als hundert Jahren; von sehr vielen Artikeln oder Lehrsätzen; aber sie unterschieden die Sache, von der localen Beschreibung und Modification der Vorstellung davon. Die Sache ist und bleibt ein Theil der christlichen katholischen Lehre; die Beschreibung und Vorstellung kann von jemand verändert, für ihn verbessert werden, auch wol mit öffentlicher Genemhaltung. (Z. E.)Zum Exempel So haben die Brüder Walenburchii, selbst 249 Bossuet, (in der so mühsamen Conferenz mit dem 250Abt Molanus) sehr viel in den Beschreibungen nachgegeben; 251jene nanten es secretionem; dieser Bischof explicationem. Aber hier hat der (Hr.)Herr Verfasser geradeweg alle diese Begriffe, alle Sachen, weggeworfen: die man mag, ratione rei, von 252 Erbsünde, von Bekerung durch GOttes Wirkung, von Genugthuung, Rechtfertigung, Gottheit Christi und des heiligen Geistes, jemalen zusammen setzen; er verwirft die Sachen selbst; und giebt uns, wenn wir die Absicht der lutherischen Kirchen ihm entgegen setzen wollen, die Antwort:

253‘fest überzeugt, daß streitige Religionspunkte nie in den Volksunterricht gehören; und daß folglich auch von solchen ein kirchliches Lehramt verwaltet werden kann, welche von der Systemsreligion in ihren Ueberzeugungen abweichen; dagegen aber desto eifriger an der reinen Christusreligion halten, und dieselbe gründlich vorzutragen wissen.’

Kann diese einseitige angebliche Ueberzeugung des (Hrn.)Herrn Verfassers etwas dazu helfen, daß die lutherische Kirche nun auch überzeugt werde, ihre augspurgische Confession enthalte – Irtümer, in diesen genanten Lehrsätzen? Wil die lutherische Kirche zufrieden seyn, wenn ein Lehrer sich einbildet, er habe 254 ‘mit besondrer Klug [33] heit und Vorsicht die Gesetze des Staats mit der Gewissensfreiheit zu vereinigen gesucht? diese Arbeit war ihm ja nicht anbefolen, oder in seinen Eid gegeben worden. Die Gewissensfreiheit, als ein Recht eines jeden Unterthanen, gehört ihm selbst; betrift ihn, im Individuo; in seinem Privatstande vor und gegen GOtt. Ein Lehrer, als Lehrer, steht in einem öffentlichen Amte; hat einen öffentlichen Stand, in der öffentlichen ganzen Gesellschaft. Diese Gesellschaft, die ihn selbst bestellet, trauet ihm das zu, daß er, wie sie ihn hat eidlich versprechen lassen, die Lehren der augspurgischen Confession, welche im Staate aufs feierlichste, zur öffentlichen Unterweisung eingefürt ist, als solche augspurgische Lehrsätze, dem Volke vorlegen wil. Und nun wil ein Lehrer sagen: vermöge meiner Klugheit und Vorsicht, wil ich die Gesetze des Staats, (welche die augspurgische Confession zum öffentlichen gemeinen protestantischen Lehrbuch machen, behaupten und schützen,) mit meiner privat Gewissensfreiheit, wonach ich die Confession für irrig und falsch halte, in eine Vereinigung bringen; und ich wil also das nicht lehren, was in der augspurgischen Confession stehet, (denn das sind schädliche Irtümer, die in der Schrift nicht befindlich und der Vernunft anstößig sind,) sondern ich will diese mir anvertraute Glieder der lutherischen Kirche dasjenige lehren, was ich selbst, nach meiner Gewissensfreiheit, für mich, nach meinen besondern Umständen oder Einsichten, glaube und denke. Ist es wohl nötig, das ungeschickte in dieser ganzen Beschreibung weiter zu entwickeln? Ist denn dis rechtschaffen und ehrlich gehandelt gegen diese Gesellschaft? Die verlangte ja nicht ein neues Lehrbuch zu bekommen, sondern sie wil ihre alte augspurgische Confession verstehen lernen, und erklären hören, was ihr wahrer Inhalt, der Sache nach, heut zu Tage noch immer wirklich ist! Uebrigens will ich nichts weiter hier zusetzen; die Folge hieraus, 255‘daß folglich auch von solchen ein kirchliches Lehramt verwaltet [34] werden kan’“ – wird eine jede Kirchengesellschaft läugnen; sie verlangt einen solchen Lehrer nicht, der die augspurgische Confession von 256der reinen Christusreligion (ein neuer Ausdruck) als sehr verschiedene Lehrbegriffe, unterscheidet. Wir lassen das nicht öffentlich lehren in unsern Kirchen, was, aus und nach Privat-Uebung oder Verirrung, unter dem Namen einer reinen Christusreligion, als was ganz anders, uns angeboten wird. Gründlich vorzutragen wissen, ist eine viel zu gemeine Eigenschaft, die sich bey Socinianern, Juden und Muhammedanern finden kann; es komt auf den Lehrinhalt hier zuerst an; nachher auf seine Gründlichkeit für die Zuhörer.

(S.)Seite 12. 257‘Ich muß es also nun schon ferner wagen, bey dieser mir zur Pflicht gemachten öffentlichen Erklärung meiner Privatüberzeugungen, freimütig zu gestehen: daß ich die oberwänten Lehrsätze, nach meiner geringen Einsicht, für schriftwidrig halte und als die Quelle eines doppelten Uebels ansehe.’

Es ist nicht nötig, hierauf viel zu erwiedern; nicht jetzt erst ist es zur Pflicht gemacht worden, sich zu erklären, ob man mit der augspurgischen Confession, der Sache nach, einstimme, und mit gutem Gewissen diese Lehrsätze selbst anneme, also auch sie mit reinem Beifal und Einstimmung öffentlich zu lehren im Stande sey. Die besondre Nachfrage oder Anzeige des kaiserlichen Reichshofraths beziehet sich vielmehr darauf, daß schon mehr Merkmale zusammen genommen werden könnten, welche eben diese Denkungsart enthielten, daß der (Hr.)Herr Verfasser weder 258den alten öcumenischen oder gemeinen Symbolis der 4 ersten Jahrhunderte selbst beystimme, noch auch den Lehrinhalt der augspurgischen Confession selbst bejahe; folglich eine 4te Lehrform oder Religionshypothese öffentlich für das teutsche Reich in Schwang gebracht werden wolle; welche eben darum zur Gewissensfreiheit [35] gar nicht gehöret, weil öffentliche Unternemungen im Werke sind, eine ganz neue 259 universelle Religionsform im römischen Reich für andre Christen aufzubringen, mit Aufhebung der 3 feierlich eingefürten und festgesetzten. Dieses Vorhaben einiger emsigen, sehr viel auf einmal umfassenden Personen ist es, worauf die sämtlichen teutschen Kirchen mit allem Recht aufmerksam sind. Der Zusatz, nach meiner geringen Einsicht, ist hier ganz ohne alle Bedeutung und Absicht. Der ganze zuversichtliche anmaslich große Ton des Bekentnisses, der andre Lehrer so leicht 260 Lügner oder Heuchler nent, entdeckt es überal, daß der (Hr.)Herr Verfasser sich keine geringe Einsicht oder kleine moralische Größe beilege. Er würde sonst die erste Pflicht nicht überschritten haben, sich nicht über alle andre Lehrer so gleich selbst zu erheben; er würde seine Gedanken, die morgen eben so veränderlich seyn können, noch nicht als feste neue Wahrheit den feierlichen Bekentnisschriften aller bisherigen christlichen Kirchen so geschwind entgegen gesetzt haben. Er hält also jene Lehrsätze, den Sachen nach, wie ich schon angemerkt habe, geradehin für schriftwidrig. Dis konte er ohne Sünde gegen GOtt zu begehen, und ohne Pflichten gegen eine Gesellschaft, in der er lebt, selbst zu übertreten. Die allermeisten 261Kirchen des Orients haben gar keinen 262Begrif von Erbsünde, in lateinischer Denkungsart, von traduce, wie Augustinus sie am ersten so bestimt hat, für seine Mitglieder im africanischen Lehramte, 263(nicht als allein seligmachende Wahrheit;) der (Hr.)Herr Verfasser konte also sagen, ich finde den Lehrsatz von Erbsünde, Rechtfertigung, Genugthuung (etc.)et cetera gar nicht in der Schrift. So hatte er blos sein Gewissen gegen GOtt zu beurtheilen, und zu erwarten, was andre christliche Lehrer ihm antworten würden, nach ihrem Gewissen. Aber er muste die Pflichten gegen seine Zeitgenossen, in der und jener christlichen Kirchenpartey, nicht aufheben und umstossen; folglich 1) nicht vorgeben, daß 264 ‘die auf ihren [36] Posseß trotzende Geistlichkeit, [(]die eben nicht immer das Vorurtheil der Gelehrsamkeit, Geistesstärke und der kaltblütigen Prüfungsgabe, für sich gehabt habe,) diese Lehrsätze der Welt als allein seligmachende Glaubenswahrheiten aufdringen wolle. Von aufdringen kan die Rede ganz und gar nicht seyn; indem ich schon gesagt habe, wer gar kein Christ seyn wil, kan ein Jude, Muhammedaner, Unchrist werden oder seyn; wer nicht zu Protestanten gehören wil, 265kan sich zur römischen Kirche begeben, und umgekehrt. 2) In keiner von diesen Kirchen wird die Lehre von Erbsünde (etc.)et cetera geradehin für eine seligmachende Glaubenswahrheit ausgegeben; indem es über diese Lehre so mancherley Ausdehnung und Verknüpfungen der Vorstellungen giebt, die auch jedem Gewissen frey stehen, und es wird doch niemanden, gar niemanden darum der Antheil an innerer moralischer Seligkeit und christlicher Wohlfart abgesprochen, dieweil er mehr oder weniger bestimme, diese oder jene Beweisstelle und Beweisart nicht anneme, als doch diese und jene öffentliche Beschreibung enthalte. Wenn also auch der (Hr.)Herr Verfasser ganz und gar nichts mehr übrig behält, was man Zerrüttung, Mangelhaftigkeit oder Verderben, Verdorbenheit des Menschen von seinem ersten Daseyn, von Natur her, nent: so trit er zwar ab von allen Bekäntnissen aller Kirchen, die im teutschen Reich eine besondre öffentliche Verknüpfung und vorzügliche öffentliche Rechte haben; aber ich wil ihm deswegen nicht allen Antheil an innerer Seligkeit und moralischer Wohlfart absprechen; wenn er nun sonst seine moralische Unordnung, die er also blos vom Vorsatz an berechnen wird, auszubessern und mit moralisch guten Fertigkeiten zu vertauschen bemühet ist. Braucht er dazu keine Wirkung GOttes, keine Rechtfertigung, in gar keiner Bedeutung; keine Verschaffung, Erwerbung, verdienstvolle Gnade oder Wohlthat Christi; (meritum et beneficia Christi, setzt die augspurgische Confeßion zusammen,) so [37] wil ich sie ihm nicht aufdringen; es geht ja mir und andern gar nichts darunter ab oder zu. Glaubt er zu wissen, daß Christus, oder 266 Logus, Monogenes, Erstgeborner aller nachher geschaffenen Dinge, gar keine hermeneutische Möglichkeit habe: so werde ich gewis mit ihm nicht darüber streiten; wie er mich und andre Lehrer nicht auf diese seine Gedanken bringen wird. Aber woher komt denn das Recht zu der Forderung: weil ich, in meinen besondern Umständen, von diesen Lehrsätzen keinen Grund in der Schrift finde: so müssen die christlichen Kirchen in Teutschland, auch alle ihre Bekentnisse faren lassen, und ein neues Bekentnis, so wie meines, öffentlich aufstellen. Ich sage, wo komt dis Recht nun her? Ich dächte zu allererst, würde eine billige Bescheidenheit dieses an Hand geben: daß andre Lehrer mit eben demselben guten Gewissen diese Lehrwahrheiten in der Schrift, da oder da finden, also auch in dem Zusammenhange christlicher Vorstellungen an Ort und Stelle einsetzen können; daß es nun den Landesobrigkeiten zukäme, aller öffentlichen Unruhe und neuen Spaltung ihrer Unterthanen so vorzubeugen, als sie für die Freiheit des Gewissens nötig, und zur gemeinen Verbindung für gut fänden; und wenn sie diese öffentlichen Kirchenbekentnisse behaupten und ausschliessungsweise, was öffentliche Religionsübung und Unterricht betrift, beschützen wolten: so hätte weder der (Hr.)Herr Verfasser noch irgend ein billiger Zeitgenosse ein Recht, es zu misbilligen. Wir wollen den Fal setzen, der es in der That gar nicht ist, es sind also zwey Parteien; eine sagt, ja, diese Lehren, an sich, ohne die veränderliche Modification, die dem Gewissen stets gehört, haben ihren Grund in der Bibel. Die andre sagt, nein; sie haben gar keinen Grund in der Schrift, und wir verlangen daher, (nach dem Rechte der Menschheit und unsers Gewissens,) daß ihr andern Lehrer uns hierin Recht geben solt; ihr müßt eure Bekentnisse, Catechismos, eurer drey Kirchen (etc.)et cetera nun ab[38]schaffen und wegwerfen, hört uns zu, wir wollen ein Religionssystem für die ganze Welt machen – und was der Versprechungen aus der Mondwelt mehr sind – Auf welcher Seite wird wohl mehrere Menschenliebe und Ueberlegung sich finden? und wer sol nun im Staat über diese zweierley Angaben oder Vortrag, den Ausspruch thun? Ich denke, die landesherrliche Macht; diese bestimt oder hat schon lange bestimt, die äusserlichen Rechte der gottesdienstlichen Geselschaften, was Uebereinstimmung des ersten Religionsunterrichts betrift; die Gewissen läßt sie überal frey, weil sie wohl weis, daß GOtt allein darüber das Gebiete hat. Diese Anzeige des (Hrn.)Herrn Verfassers hat also keinen andern Erfolg, als für ihn selbst; er trit ab von den katholischen und protestantischen Kirchen. Wenn er aber zugleich sich anmasset, uns zu seinen Jüngern zu machen, und zu eifrigen Theilnemern an einer Universalreligion: so ist diese Anmassung mit gar nichts zu rechtfertigen; und wie sie bey verständigen Leuten mag entschuldiget werden, die aus der Historie an mehr solche neue Projecte denken: wird die Erfarung lehren. Es gränzt, warum solte ich es nicht sagen, sehr nahe an den Fanaticismus, andere sagen, Naturalismus; sie urtheilen nach einerley Rechte, und der (Hr.)Herr Verfasser wird es ihnen nicht absprechen.

Aber diese Lehrsätze sieht der (Hr.)Herr Verfasser gar an 267 ‘als eine Quelle eines doppelten Uebels.

268‘Einmal empören sie die gesunde Vernunft, und haben so wenig Beweise für sich, daß es kein Wunder ist, wenn zu allen Zeiten der selbstdenkende und prüfende Theil der Menschen, dieselben anstößig fand, und wenn die meisten davon, um jener Lehrsätze willen, welche die auf ihren Posseß trotzende Geistlichkeit – der Welt als alleinseligmachende Glaubenswarheiten aufdringen wolte, die ganze Religion verwarf.’

[39] Man kan dis alles dem (Hrn.)Herrn Verfasser als seine Gedanken, zugeben; ohne daß hieraus folgte 1) alsdenn wird dieser sogenante selbstdenkende Theil der Welt nicht die ganze christliche Religion verwerfen: wenn wir andern Christen, diese unsre Lehrwahrheiten gänzlich nun ihrem bisherigen Hang zum Unglauben, aufopfern. So viele Lehrer und Christen können dis nicht sagen, daß diese Wahrheiten die gesunde Vernunft empören; oder daß es ihnen an gutem Beweise für solche Lehrsätze fele. Da wir nun vielmehr das Gegentheil sagen, und in der augspurgischen Confession öffentlich lehren, so ist es eine ganz vergebliche Anmaßung: daß die Privatüberzeugung des (Hrn.)Herrn Verfassers mehr und bessern Grund habe, als die eben so freie eigene Ueberzeugung so vieler andern Lehrer. Es ist 2) auch mit nichts zu erweisen, daß zu allen Zeiten denkende Menschen die ganze christliche Religion um jener Sätze willen, verworfen haben. Da dis eine Historie seyn soll: so müste man doch wenigstens einige denkende Leute mit Namen angeben können, unter so vielen, die zu allen Zeiten die ganze Religion, um jener Lehrsätze willen, schon ehedem verworfen haben sollen. Denn da, wie ich schon vorhin gesagt habe, diese Lehrsätze nie in einer einzelnen Form, sondern stets der Sache nach, ohne einzele Bestimmung, auf gar mancherley Weise gelehret werden; sie also nicht einen einzigen und notwendigen Zusammenhang mit der Religion, in irgend einem Subjecto haben: so erfolgte es ja niemalen, daß die ganze christliche Religion darum wäre weggeworfen worden, weil jemand von Erbsünde, Rechtfertigung, Genugthuung (etc.)et cetera eine besondre und verschiedene, ihm eigne Vorstellung hatte. Die ganze so große orientalische Kirche, wie ich schon gesagt habe, hat nichts von dieser Erbsünde; und hat doch darum nicht die ganze Religion weggeworfen. 3) Ich habe schon gesagt, daß niemand der Welt diese dogmatische Ideen gelerter Männer oder nachdenkender Leute, hat als die alleinseligmachende Glau[40]benswahrheiten aufdringen wollen; sie gehörten in der localen öffentlichen Bestimmung, blos für den gelerten Stand, für die Clerisey, und hatten blos äußerliche Folgen. In der und der Zeit und Provinz wurde es von Candidaten gefordert, also zu reden von 269 peccato originali, um sich als Lehrer in dieser Provinz oder Kirche zu empfelen; wer nicht also reden wolte, wurde kein Lehrer in dieser Gesellschaft; dis war der ganze Erfolg. Von der ganzen übrigen Religion, die man damit annäme oder wegwürfe: war niemalen die Rede. Sehr lange ist dieser Artikel von Erbsünde schon so beurtheilet worden, daß er 270 ad secundarios articulos gehöre, was die genaue Bestimmung der Vorstellungen betrift. 4) Warum sol es geradehin heißen, die Geistlichkeit trozte auf ihren Posseß? sie hat eben nicht immer das Vorurtheil der Gelersamkeit und Geistesstärke, und der kaltblütigen [Prüfungsgabe] gehabt – Können wol solche algemeine Oerter hier etwas helfen? Muß der (Hr.)Herr Verfasser jetzt das Vorurtheil der Gelersamkeit und Geistesstärke darum haben, weil er es so leicht den so genanten Geistlichen oder Theologis abspricht? Man meint entweder die Geistlichkeit und Clerisey, vor dem 16ten Jahrhundert: die haben gar nichts von diesen Artikeln ausfürlich gelehret, was den gemeinen Unterricht in Kirchen und Schulen betrift; und davon wird doch hier geredet. Denn der denkende Theil wird doch nicht von den 271 Scholastikern und Gelerten selbst verstanden; die haben wenigstens nicht deswegen die ganze Religion weggeworfen, da sie selbst einander hierüber bestritten haben; es war ihnen vielmehr ihre Lehrart sehr geläufig und gar nicht anstößig. Oder man meint die Geistlichkeit nach der Reformation, und zwar entweder die römischkatholische, oder die protestantische. Von der römischen Kirche ist es mit gar nichts zu erweisen; ihre conuersio und iustificatio, auch die Lehre de peccato originali (worin sie mit uns 272zu Worms und auf andern Zusammenkünften einstimmeten,) kann auch gar [41] nicht hierher gezogen werden, wenn anders jemand ihren Lehrbegriff verstehet. Sol es also von protestantischen Lehren gemeinet seyn: so weis ich nicht, wie man mit einigem Scheine sagen könne, die protestantischen Lehrer (z. E.)zum Exempel 1530. hätten auf ihren Posseß getrotzet; indem ihnen sogar von römischen Gelerten der Vorwurf gemacht worden, von neuen Lehrsätzen; wie ein jeder weis, der die gelerte Geschichte der 273 augspurgischen Confession und ihrer Apologie, nur einiger maßen kennet. Sol es gar auf unser Zeitalter gehen: so weis ich nicht, wo die so trotzigen Geistlichen zu suchen sind, die überhaupt ihrer Obrigkeit gern unterworfen sind, und sich täglich den allerfreiesten Untersuchungen oder gar Spöttereien ausgesetzt sehen. Was für Verstand bleibt also in dieser anstechenden Rede? da nun noch dazu ein jeder denkender Zeitgenosse wirklich alle Freiheit hat, das ihm Anstössige in solchen Beschreibungen wegzuthun, und die Sache an sich, ohne anstössige Bestimmung selbst zu behalten: wie sol irgend jemand innerlich genötigt heißen, die christliche Religion darum wegzuwerfen, weil einige andere Lehrer oder Christen nach ihrem Gewissen etwas anders denken, das ihm jetzt eben anstössig ist? Gar wohl aber läßt sich dieser öffentliche Tadel unserer feierlichen Lehrbücher begreifen, wenn jemand damit umgehet, für Teutschland, für Europa, oder alle Kosmopoliten eine algemeine Religion zu entwerfen; wenn er sichs als etwas großes einbildet, eine einzige öffentliche Religionsform zu machen. Ein Einfal, den alle andre Zeitgenossen gar nicht achten.

Es heißt also auch: 274‘daher man jene Lehrsätze mit Recht als den Hauptgrund des überal einreissenden Unglaubens ansieht, welcher sich von den Höfen bis in die Hütten des ärmsten Volks ausbreitet, und bald alle Religion in der Welt verdrängen wird, wenn dem Uebel durch keine andre als gewaltsame und Freiheit kränkende Mittel gesteuret wird.’

[42] So gros dieses ausgedruckt ist, bleibet es doch nur des (Hrn.)Herrn Verfassers privat Gedanke, und wird kein algemein eingestandner, durch Erfarung verständiger wahrer Christen, ausgemachter Satz. Ich wil es nicht wiederholen, was ich gesagt habe; es ist nicht wahr, daß irgend ein Lehrer diese Lehrsätze dem Gewissen eines denkenden Menschen aufdringen wolle, noch dazu als alleinseligmachende Glaubenswahrheiten. Es kann also auch niemand unlustig und mürrisch werden, wie es eine seltsame Gewissenhaftigkeit wäre, darum die ganze Religion wegzuwerfen; weil in diesen und jenen Lehrbüchern gewisse Grundsätze stehen, welche zum Unterschied der Kirchenparteien ein für allemal festgesetzt sind. Was ist aber Unglaube, wovon hier geredet wird? der von Höfen sich ausbreiten soll bis in die Hütten? davon jene Lehrsätze in dem System der protestantischen Religion der Hauptgrund seyn sollen? War denn vor diesen so genanten Religionssystemen, die nun im (röm.)römischen Reiche öffentlich gelten, kein Unglaube? Herrschete er nicht also wie jetzt, in den und jenen Ländern; bey sehr vielen Menschen? Ja war zur Zeit Jesu und der Apostel, (da gewis diese Systeme und gesamleten Artikel nicht da waren) überal christlicher Glaube in Pallästen und Hütten aufgenommen? Was können solche unstatthafte Declamationen helfen! In den Augen mancher lebhaften Leute, welche freilich mit ihrer 275 Gewissensfreiheit und mit ihrem Standpunkte nicht zufrieden sind, sondern eine Religionsreforme anfangen, und Epoche machen wollen: sind dis große wichtige Projecte und Angaben. Wer aber die Menschen kennet; die Absicht und Natur der Religion bedenket, die entweder öffentlich gelehrt, oder dem Gewissen nach gesamlet und angenommen wird: der wird der so alten sichern Erfarung mehr Gewicht geben, als solchen Ausruffungen. Und wer kan denn diese Aeußerung leiden, der Unglaube würde bald alle Religion in der Welt verdrängen, wo wir nicht unsre öffentliche Religionsbücher abschafften? Wir [43] wollen einmal die Sache entwickeln. Hier heissen die 276 Lehrsätze, von Erbsünde, Rechtfertigung, Bekehrung durch GOttes Wirkung, Genugthuung, von Gottheit Christi und des heiligen Geistes – die Quelle alles einreissenden Unglaubens. Wollen also diese Sachen, Begriffe, (nicht theologische Formeln allein) erstlich bey uns, (die wir, nicht dem leeren Namen nach, Christen sind, sondern die innere Kraft der geistlichen Religion JEsu, kennen und bewaren,) näher ansehen; ob diese Begriffe und Sachen uns zum Unglauben, zur Untugend verleiten, ob sie Hindernisse der Gottseligkeit, in so fern sie unsre innerste Neigung und Gemütsfassung einschliesset, bisher für uns gewesen sind? Hier rufe ich einen jeden Christen her, er sol mit mir diese Untersuchung und Betrachtung, in seinem Gewissen vornemen. Wissen und gestehen wir es, daß wir leichter zu allerley guten, edeln, reinen, uneigennützigen Gedanken, Vorsätzen, Wünschen, hinhängen, als zu bösen und unrechtmäßigen Vorstellungen, Vorsätzen, Begierden, Entschliessungen? Ich und alle bisherigen augspurgischen und römischen Christen sagen aufrichtig: nein, das wissen wir nicht zu bejahen; zum Guten brauchen wir sehr viel neue Mittel und Gründe; sie wirken nicht stets stark, geschwinde; wir folgen leicht dem Schein des Guten, und suchen es da, wo es nicht ist. (277 Pythagoras, Cicero, Seneca, Antonin, Epictet, Arrian haben, ohne Christen zu seyn, eben diese Erfarung über die Menschheit gemacht.) Sind wir durch diese Erfarung und Kentnis, zum gottlosen Leben verleitet worden bisher? Wir sagen alle, nein; vielmehr streiten wir täglich gegen diese in uns voraus liegende Sinlichkeit, Eigenliebe, Einbildung – und haben aus unsrer Lehre von gewisser, leichter Sinnesänderung, tägliche glückliche Erfarung, ich wachs’ und nem im Guten zu; wir reichen dar in diesem Christenglauben, Tugend, fruchtbare Erkentnis, gehörige Einschränkung der sinlichen Begierden, also auch, wenn es nötig ist, Gedult, [44] und so verehren wir GOtt innerlich; lieben, um GOttes willen, unsre geistlichen Brüder, und alle Menschen, weil sie auch so gebessert werden können, – 278 2 Petri 1, 5. Die Verzeichnisse der 279 Früchte des Geistes, oder der christlichen neuen Gesinnung kennen wir mit Freuden; weil wir durch unsre Erfarung wissen, daß diese vortrefliche Veränderung der Menschen, wenn sie diese geistlichen Wahrheiten anwenden wollen, wahrlich zu Stande komt. Wir disputiren nicht, über menschliche Mitwirkung, oder pur unmittelbar göttliche Wirkungen; wir halten uns an die Wirkungen selbst, die uns ganz unentberlich sind; es ist gewis, alles Gute, zumal dis innerste geistliche Gute, komt von oben herab; andre Bestimmungen helfen und schaden nichts zur wirklichen Erfarung der Veränderung; gehören nun in die verschiedenen äusserlichen Geselschaften, worin man Abänderungen der Vorstellungen, von den seinigen, freilich entdeckt und antrift; also damit einstimt, oder davon abweicht. Wenn Christen nicht nach äusserlichen Umständen verschieden wären, so würden sie sich einerley Vorstellung und Erklärung machen. Wir sehen nur auf den wirklichen herschenden moralischen Zustand; wenn der durch GOttes Einflus regiert wird: so sind wir zufrieden, und verlangen nicht, daß jemand seine Erfarung in unsre umsetzen sol. Und über Notwendigkeit einer Genugthuung –? Wir danken GOtt, daß er einen solchen Christum bestimt und geordnet hat; für uns eben, wozu wir ihn nötig haben, zur Offenbarung der rechten göttlichen Weisheit, der grösten Gerechtigkeit, der innersten Heiligkeit, der allergrösten volkommensten Erlösung; und daraus, aus dieser unserer eigenen Erfarung und täglichen Proben, entstehet in uns das wärmste Lob, der innigste Ruhm GOttes; den preisen wir nun nach Leib und Geist; weit gefelet, daß diese christlichen für uns so grossen Ideen uns zur Untugend, und auch nur entferntesten Ungottseligkeit verleiten solten. Wir rufen jedem zu, komm und siehe es; [45] thue erst, und volziehe selbst in dir, für dein Bestes, diesen Willen GOttes, den Christus lehrete; da wirst du es aus deiner Erfarung wissen, was du jetzt, ohne Geist und inneres Leben, so kaltsinnig, so fremd, so unbekant mit unsern Wahrheiten, daher speculirest. Und der Geist GOttes, der uns treibet, (magst ihn beschreiben für dich, ohne seine Wirkung zu kennen), versichert uns, daß wir den rechten neuen Weg der christlichen geistlichen Religion wirklich gehen: 280

Seinen Geist, den edeln Führer,
Giebt mir GOtt in seinem Wort
– – – – –
Daß er mir mein Herz erfülle
Mit dem hellen Glaubenslicht.

Dein Geist in meinem Herzen wohne,
Und meine Sinnen und Verstand regier.

In diesem Gebrauche unserer Vorstellungen vom Geiste GOttes, solten wir jemalen zur Untugend, zur Ungottseligkeit herabsinken können, wie jene, die fleischliche sinliche Menschen bleiben –! dis ist es ungefär, was unsre frommen Christen hier antworten. Ob heiliger Geist eine Person ist, für sich, eine dritte; oder GOttes heiligende Wirkung: ist in Absicht des Erfolges der Wirkung in dem Menschen, ganz und gar einerley; kan gar nicht 281 ‘eine Quelle des Unglaubens’ – werden, es ist ganz unmöglich. Diese doppelte Bestimmung theilt nur die Geselschaft der Christen in zweierley Parteien; deren Lieder und Gebete vom heiligen Geiste zweierley Beschreibungen und Worte enthalten; davon also nicht das Eine eben so gut als das andre allen beiden Parteien angemessen und ihren Vorstellungen gleichförmig ist. Dis ist aller Erfolg; weiter gar nichts.

Aber wir wollen zum andern, eben diese Sachen, die in unserm Bewustseyn, in unserer geistlichen Historie [46] unsrer selbst sind, wegthun, ganz und gar ausstreichen; von Erbsünde an – alles weg. Nun was für ein Glaube und Inhalt der christlichen Religion bleibt denn übrig? Ich sagte, der christlichen Religion; welcher Character ist wol da? Der (Hr.)Herr Verfasser sol es selbst herschreiben – Alsdenn sol die Religion überal wachsen und zunemen. Was für Religion? die christliche? ganz gewis nicht; sondern eine ganz neue, die den und den Kopf zum Urheber hat. Die christliche Religion, als ein urkundlicher oder beurkundeter Inhalt von Historie und Begriffen darüber, hat ihre ganz charakteristischen Ideen, wonach sie eben dem Juden- und Heidentum, auch als öffentliche Religion, entgegen stehet. In diesem kentlichen Charakter wird sie sogleich auch äusserlich von jeder Religion unterschieden; diese Begriffe werden vor der Taufe, so oder so viel, in dem und jenen jedesmaligen Local der Schüler und Lehrer, mitgetheilet; eben so in christlichen Uebungen angenommen und fortgesetzt. Daher giebt es sehr verschiedene gleichzeitige christliche Parteien, die in Vorstellung über christliche Dinge nicht gleich sind und seyn können; aber in der Gemütsfassung, in der Quelle ihrer Begriffe, in dem Geständnis des Neuen und Ausserordentlichen, alle gleich sind; sie wollen alle der durch JEsum Christum gelehreten Religion anhängen. Sie samlen die Religionswahrheiten aus den christlichen Urkunden. Die gesamleten Lehrsätze selbst, die Vorstellung von ihrem Inhalte, sind bey diesen Parteien oder Geselschaften vom Anfange an, nicht eben dieselben; die Parteien gehören auch daher nicht unter Ein Oberhaupt; sie sind einander den Urtheilen, dem Gebrauche des Gewissens nach, nicht unterworfen; sondern jede folget dem Lehrbegrif, den ihre Lehrer vorgezogen haben. Wir finden also zwar eine immer mehrere Ausbreitung dieser neuen Religion, die von Christo sich herschreibet; aber die einzelen Geselschaften sind gerade nach der Ungleichheit der bürgerlichen und äusserlichen Verhältnisse [47] der Provinzen, der Städte, der Lehrer, ebenfals stets verschieden; allesamt Christen, aber sie haben nicht einzig einerley Lehrbuch und Lehrform; denn es war von Anfange an keine vnitas idearum über eben dieselbe obiecta; sie war unmöglich; weil Zeit und Ort nicht einerley seyn konten für alle Menschen. Erst, wenn viele Kirchen unter Eine und dieselbe äusserliche oder oberherrschaftliche Regierung nach einerley Zeit und Ort gehören, wird an einer (äusserlichen) Vereinigung mehrerer Geselschaften gearbeitet; die alsdenn katholische Kirchen heissen, wenn sie gegen alle sogenanten ketzerischen Parteien, eben dieser Zeit und Orte, berechnet und verglichen werden; von denen sich diese Katholischen alle abgesondert haben, also schon hiemit zusammen gehören. Wer also eine stets einzige Religionsform für alle Christen in Europa einfüren wolte: müste zuerst schaffen, daß alle Menschen in einerley Zeit und Ort wären und blieben; schaffen, daß alle unabhängige Oberherren in eben diesem Vorhaben, eine einzige Religionslehre durchgängig für alle ihre Unterthanen einzufüren, sich vereinigten; folglich die bisherigen so sehr verschiedenen und besondern Rechte über die äusserliche Religion, unter einander aufhüben; also weiter eine allereinzige Beschreibung des Inhalts der Lehren und der Geschichte JEsu, und ein Mittel festsetzten, diese Beschreibung in allen Menschen mit einerley Gedanken, die sich nicht verändern, ganz unfelbar immer gleich zusammen zu hängen – ich wil gar nicht weiter gehen. Die innere Unmöglichkeit eines solchen Projects fält einem jeden von selbst in die Augen. Man müste zunächst eine algemeine Sprache haben; sonst werden die besondern Nationalsprachen auf einmal alle Einheit der Beschreibung wieder in 282neue Nationalreligionsformen, in den Köpfen austheilen; und alsdenn – nach vieler langer Zeit komt man wieder auf die politische öffentliche Religionsvereinigung nach dem Unterschied der Staaten, und auf die Gewissensfreiheit der einzelen [48] Menschen zurück; wo wir jetzt schon sind. 283Ich behaupte also, ohne alles Bedenken, es giebt kein Urchristentum, in der Bedeutung, der einzigen Identität der angenommenen Vorstellungen; es giebt vielmehr eben so viel gleichzeitige Modification der moralischen und historischen Ideen, als viel es damalen selbstdenkende Zuhörer und Lehrer gab, die nach Zeit und Ort verschieden waren. Wer wird denn nun mehr leisten durch einen neuen Entwurf, als JEsus, Paulus, ja als GOtt selbst unter den Menschen erwartet oder befördert? Wer kan die christliche Religion so beschreiben, sie müsse, dem Inhalte nach, also eingerichtet werden, daß alle Europäer, alle Africaner, Asiaten, kurz alle Menschen, nach so verschiedenen Umständen der Zeit und des Orts, diesen Inhalt gleich gern und leicht annämen? Wenn die Wirkungen des Verstandes so erfolgten, als sinliche Empfindungen bey allen Menschen; wenn das Object hier ein sinliches, äußerliches Ding wäre: so ist kein Zweifel daran, alle Menschen würden einerley Vorstellungen zusammen setzen, wie sie die Augen und Ohren auf eine notwendige Art gleichförmig brauchen; und überal darin übereinkommen, dis sey ein Stein, ein Baum, ein Berg; das Gehen oder Schlagen, Werfen, Essen, Trinken, müsse durch diese Art der Bewegung der Gliedmassen bewerkstelliget werden. Aber wer wil in den Vorstellungen von der christlichen Religion, bey allen Menschen diese Einförmigkeit zu wege bringen? Es giebt also immerfort verschiedene Lehrsysteme, sie sind ganz und gar unvermeidlich für denkende Christen, sind auch unschädlich, was die eigene Religion betrift.

Nun folget die andere Bestätigung, (S.)Seite 13. 284‘Und eben so gewis scheint es mir, daß die meisten der obgedachten Lehrsätze der Tugend und Gottseligkeit schaden.’

Wenn es nun aber unsern Regenten und allen von ihnen verpflichteten Lehrern, nicht eben so gewis scheinet? [49] 285Haben wir alsdenn ganz gewis ein kurzes blödes Gesicht, oder kein Menschengefül? kein gutes Gewissen?

286‘Denn so bald man die Menschen überredet, daß z. B. a) jeder von Natur und von Mutterleibe an mit allen Neigungen zu allem Bösen behaftet und ein geborner Feind GOttes ist.’

Und wo lehret man denn auf diese Art? und wer könte die Menschen hievon überreden? Wenn der (Hr.)Herr Verfasser sich auf häufige, starke, uneigentliche, sinliche Beschreibungen berufen wil, die in manchen Büchern stünden, zumal in Poesie und Liedern, von den Erwachsenen Menschen gebraucht würden: so ist hiemit weder diese Beschuldigung, daß dis die Lehre der augspurgischen Confession seie; noch auch diese Folge erwiesen, daß das teutsche Reich eine Religionsform und zwar aus solchen Händen, nötig habe; weil sonst die ganze christliche Religion aus der Welt würde verdrenget werden. Wenn nicht mit Worten gespielet werden sol, (wozu 287 Hebraismi, von Mutterleibe an, und der unbestimte Gebrauch des Ausdrucks, alle Neigung zu allen Bösen, geborner Feind GOttes, gehören würde:) so ist dieses geradehin unwahr, daß die augspurgische Confession oder irgend eine öffentliche Religionspartey im teutschen Reiche, diesen Inhalt lehre, der hier ausgedruckt ist. Ein jeder Mensch sol mit allen Neigungen von Natur, oder von der Geburt an behaftet seyn, zu allem Bösen; und es ist doch alles bürgerliche Gute eingestanden. Ein Doctor Theologiä muste die Apologie, und das wormsische colloquium kennen, wo die Beschreibungen schon lange auf Christen sind eingeschränkt worden; was nachdenkende Zeitgenossen schon in jener Zeit betrift. Damalen redete man ganz sicher mit biblischen Ausdrücken, man sahe auf christliche Ideen; es wurde auch richtig der Sache nach verstanden: daß in dem Menschen, wenn er bleibt, wie er durch die Geburt sein Daseyn hat, wenn kein Unterricht, keine bestimmende Richtung ohne und außer ihm noch dazu komt; kein an [50] sich wirksamer Grund zu der Verschaffung der christlichen oder geistlichen unsichtbaren Volkommenheit schon finde; daß er sie nicht einmal für sich selbst kent; daß er vielmehr durch die Sinnen zur moralischen wirklichen Unvolkommenheit immer mehr geleitet werde. Daß aber hierin, in diesem mangelhaften Zustande, die Menschen einander nicht gleich, sondern nach gar vielerley Stufen verschieden sind. 288 Morbus, vitium originis ist es recht gut lateinisch beschrieben; in der Confession. So bald nun Menschen hievon unterrichtet werden, durch unsre Lehrer, um sie desto leichter zu bessern: so geben sie, viel oder wenige, auf sich Achtung, und fragen ihre Erfarung von sich selbst; sie werden also nicht davon überredet. Und so bald sie diesen Unterricht hören: so sagen wir ihnen auch, daß GOttes bessernde Wirkung nun schon in ihnen seie, und sie nun anfangen sollen, ihre moralische Zerrüttung täglich auszubessern, gute Neigungen in sich zu befördern, und also eine neue Ordnung zu ihrer Wohlfart in sich einzufüren und anzunemen. Beide Belehrung ist gleich beisammen; daher wird diese von Natur, von dem ersten Daseyn her, in dem Menschen befindliche sinliche Neiglichkeit schon immer durch christliche Eltern, Bediente, Lehrer, Beyspiele, etwas geschwächt und aufgehalten. Hiezu braucht nun ein Lehrer diese, der andre jene Schriftstellen, Erklärungen, Erläuterungen; und einer machts besser als der andre, aber alle haben den Zweck, die Menschen von der Quelle alles Bösen in ihnen selbst zu überzeugen, und sie zur wahren innern Besserung zu leiten. Nun wil ich die Leser urtheilen lassen, ob der (Hr.)Herr Verfasser unsre Lehre richtig angegeben hat; und ob es je nur von weitem möglich ist, daß diese Lehre ‘der Tugend und Gottseligkeit schade’? da sie ja die unmittelbare Anleitung zu der leichtesten Besserung, und zum vertraulichsten Begriffe von GOtt ist, der das gewisseste, zulänglichste Besserungsmittel augenblicklich an die Hand gegeben hat, so bald sich ein Mensch moralisch kennen kan. Denn [51] zum nützlichen Unterricht rechnen unsre Kirchen auch noch das Geschick, das Gewissen und den Ernst des Lehrers; da, im concreto, wo wir diesen Unterricht wirklich ertheilen, ist an kein Hindernis der Tugend und Gottseligkeit jemalen zu denken. Dis erste Stück war also falsch.

b) 289‘Daß er zur Befreiung von diesem Elende und zur Besserung seines Herzens und Lebens nichts wirken könne: sondern lediglich den Beistand des heiligen Geistes dazu erflehen müsse.’

Die augspurgische Confession, oder alle 3 Religionssysteme im ganzen teutschen Reiche sollen dis enthalten? warum wird es so unvollkommen, so mangelhaft beschrieben? 290In eben dem 2ten Artikel der augspurgischen Confession stehet: es werden verworfen, die da lehren, hominem propriis viribus rationis, coram Deo iustificari posse. Das lezte, iustificari coram Deo, ist ein christlicher Begriff (291 (s.)siehe die Apologie); die Sache selbst, kann nicht von dem Menschen propriis viribus geschaft werden. Die Rede ist nicht von bürgerlicher Tugend: sondern von christlicher, oder aus der heiligen Schrift hergeleiteter Beschreibung der Besserung, und geistlichen grösten Volkommenheit der Seelenkräfte, oder Anrichtung eines moralischen Zustandes, nach den Bestimmungen der heiligen Schrift. Ganz recht sagt nun der Artikel: Wenn man es dennoch bejahet, so begehet man eine 292 [extenuationem] gloriae meriti et beneficiorum Christi, das heißt, man gibt zu erkennen, daß einem an dem Inhalt der heiligen Schrift wenig liege. Folglich solte der (Hr.)Herr Verfasser ehrlicher geschrieben haben: daß ein Mensch propriis viribus, aus eigenen Kräften dieser Natur, sich nicht in den Stand des Wohlgefallens GOttes, (wie es für Christen statt findet,) selbst bringen könne; sondern daß gleichsam eine neue Geburt erst entstehe, durch Wirkungen des heiligen Geistes, 293und nun (Artic.)Articel 5. folget: es werden verworfen die, so lehren, daß man, ohne das leibliche Wort des Evangelii (zu hören und zu überlegen, [52] oder ohne Unterricht und Belehrung aus der heiligen Schrift) den heiligen Geist, (der gleichsam eine neue Geburt schaft) überkommen könne. Ist nun hier eine Lehre, welche der Tugend und Gottseligkeit ein Hindernis macht? Es ist ja das öffentliche Gegentheil. Wir lehren vielmehr, daß ein Predigtamt nötig seie; daß GOtt Evangelium und Sacramente uns gegeben habe, (für die Menschen, die sich aus eigenen natürlichen Kräften, nicht zu diesem geistlichen Leben selbst bringen können;) dadurch GOtt, als durch Mittel, den heiligen Geist gibt, welcher den Menschen gleichsam neu zeuget oder schaft; (d. i.)das ist ihm, seinem Verstand und Willen, geistliche Kräfte und Bewegung gibt. Da soll ja nun der Mensch freilich diese Kräfte brauchen und ernstlich anwenden; aber sie waren doch nicht ordentliche Wirkungen seiner leiblichen Geburt? In concreto ist alles leicht und erbaulich, vol Ueberzeugung. Gebet und eigene herzliche Wünsche des Menschen sind doch Veränderungen und Wirkungen des Menschen; warum wird alles so versteckt, als wenn wir aus dem Menschen ein Holz machten? Aber wir reden von christlicher Tugend und Volkommenheit; nicht von bürgerlicher, wie schon gesagt.

c) 294‘Daß GOtt auch auf alle gute Werke des Menschen und auf allen seinen Eifer in der Gottseligkeit nichts rechne; sondern Vergebung der Sünden, und ewige Seligkeit ihm schenke; nicht wegen seiner Besserung und Tugend, sondern wegen eines für unsre Sünde geschehenen Menschenopfers, und wegen der an unserer Statt geleisteten Tugend des Geopferten.’

Wie viel unbillige Declamation! 295 ποιον ἐπος σεον ἐφυγεν ἑρκος ὀδοντων; ist es eine so geringe Sache, alle christliche Religionssysteme, die im römischen Reiche öffentliche Rechte haben, leichtsinniger Weise zu verdrehen, und dafür, zum Lohn solcher öffentlichen Untreue, sich zum Universalreformator anzubieten; und dis gar unter den Augen kaiserlicher Majestät! Mich verdrießt es, auf [53] solche unrichtige Vorwürfe zu antworten. Ist es denn richtig und wahr geredet von uns Protestanten und von Lehrern der römischen Kirche, wo ebenfals, was gründliche Lehrer betrift, alle Kraft oder Wirksamkeit des Menschen, der gern ein innerlicher ruhiger Christ werden wil, aus dem merito et beneficiis Christi hergeleitet wird: daß irgend jemand so lehre: GOtt rechnet nichts auf alle gute Werke oder Eifer des Menschen? Rechnet GOtt nichts auf die allereinzige von ihm selbst gemachte Ordnung der Sinnesänderung und des Glaubens? und ist diese Fertigkeit ohne viele einzele Versuche und Bemühungen, des nun GOtt gefälliger weise wirksamen Menschen? Wir hatten zuweilen unser Verdienst, oder den menschlichen mangelhaften Grund zur Zuversicht, abgesondert; aber was GOtt in uns für christliche neue Bestrebungen angefangen und uns anbefolen hatte: das haben wir niemalen so irrig beschrieben, GOtt rechnet nichts darauf. Es ist unwürdig, über solche längst abgetragene Sachen nur ein Wort zu verlieren; weis es der (Hr.)Herr Verfasser nicht anders, und bildet sich unsre Lehre also ein: so weis ich nicht, wie er es habe ignoriren können. Weis er es aber besser, was für viele klare treffende Distinctionen in unsern Lehrbüchern darüber schon lange da sind: so weis ich nicht, warum er hier so gar unrichtig redet. Und wenn man auch die 296Lehrart der Mystiker so gar gelten läßt: die GOtt wirklich allein thun und wirken lassen: ist dadurch Untugend und Gottlosigkeit bestärkt worden? Wie kan man aber vollend dieses 297 ρημα φορτικον entschuldigen? wir lehreten, wegen eines Menschenopfers, das für unsere Sünde geschehen seie – Ist es erlaubt, Lehrsätze so zu verdrehen, um ihren Inhalt auffallend verächtlich zu machen? Denkt nicht jedermann mit diesem Ausdruck an die Völker, denen man Menschenopfer, aus der und jener Zeit, schuld giebt? und ist in der Historie des Todes Jesu dis enthalten, daß die Juden hätten ein Menschen[54]opfer verrichten wollen? Oder haben die Christen ein Menschenopfer aus dem Tode Jesu gemacht? So untreu, so leichtsinnig, gestützt auf einheimische auf häusliche Consequenzen, muste der (Hr.)Herr Verfasser hier handeln? Ich kenne doch die ganze Kirchengeschichte so ziemlich genau, seitdem man die Beschreibung eines geistlichen, rechten, ewigen Opfers, und volkommenen, geistlichen, rechten, ewigen Priesters zusammengesetzt hat, um das würdige Verhältnis und den unendlichen Erfolg des freywilligen Todes Jesu recht gros und lebhaft, wider alle bisher bekante eigentliche Opfer unter allen Religionen, nun zu empfelen. Aber noch niemanden kenne ich in der ganzen Kirchenhistorie, der diese Beschreibung gegeben hätte. Es ist eine Lästerung, die so gar nach dem ordentlichen Kirchenrechte und den gemeinsten Grundsätzen, in Absicht der Religionsrechte, auch der Juden und Heiden, ganz unerlaubt ist. Man sucht und bittet, wie es heißt, Toleranz, und man begehet öffentliche Beleidigungen aller großen Kirchenparteien, deren öffentliche Rechte doch so feierlich, so algemein bekant, so gewis bestätigt sind! Es ist ferner auch nicht an dem, daß diese Begebenheit und Hinrichtung Jesu, als solche, an sich, Vergebung der Sünden nach sich gezogen habe; niemand lehret einen solchen 298 nexum physicum zwischen dem physischen Tode JEsu, und den moralischen Gütern, die wir davon uns zueignen, durch die neue Uebung in geistlichen Erkentnissen. Der Glaube des Menschen wird überal erfordert, in allen Lehrbüchern, wenn der Mensch wil an diesen geistlichen Wohlthaten Christi selbst seinen Theil nemen. Wenn nun der (Hr.)Herr Verfasser gar nichts selbst weis und kent, von dieser rechten ewigfortdaurenden geistlichen Versönung der Menschen; wenn er das uns allen so heilige Blut Jesu so gering schätzt, und mit einem gräslichen Menschenopfer öffentlich vergleichet: so folgt doch wohl nicht, daß die katholischen Christen, welche, indem sie das geistliche Opfer glauben, allesamt ihrem Gewissen folgen, alsdenn Hin[55]dernisse der Tugend und Gottseligkeit, statt der grösten Mittel dazu, ergriffen haben! Der unendliche große Grund geistlicher Ruhe und Wohlfart wird hiemit beschrieben, auf neue christliche Weise; und dis solten 299 ‘Quellen des Unglaubens’ seyn? Wie verkehrt! Der Grund und die Quelle des christlichen Glaubens sol Unglauben erzeugen! Unsre Christen hatten Muth und Stärke, zur Verherrlichung der christlichen Religion, alle Noth und Tod gern zu übernemen; da reden Leute von Toleranz, denen kein Finger wehe thut. Sie wollen, daß wir es leiden, wenn sie unsre Lehre und Religion verdrehen und verunglimpfen; dis sollen wir an ihnen toleriren! Es ist ein seltsamer Tausch! Eine seltsame misliche Aussicht für die algemeine 300 Reforme! 301Aus des (Hrn.)Herrn Verfassers Historie und Betragen sehen wir eben keine solche Neigung, die Wahrheit, die er doch so grosredend retten wil, auch nur mit einigem äußerlichen Leiden zu bestätigen. Wir haben aber alle den Sinn Christi, nachzufolgen seinen Fustapfen, wie unsre frommen Vorfaren, seit vielen Jahrhunderten; wo mag nun Stärke und Kraft der Tugend und Gottseligkeit festern Grund und größeres Beispiel haben?

Der ganze Nachsatz ist nun ohne alle Wahrheit: 302so ists unmöglich, daß ächte Reue über die Sünde und Abneigung gegen das Laster entstehen kan; so ists unvermeidlich, daß das Herz gegen die Tugend kalt und gleichgültig werde und aller Eifer der Gottseligkeit ermatte, und es lehrts auch leider die Erfarung genug, daß das heutige Christentum fast alle Kraft zur Heiligung der Menschen verloren hat; und daß seine Zöglinge in Absicht auf Tugend und Glückseligkeit, oft sehr weit hinter einem auch nur gemeinen Heiden stehen.’

Diese Strafpredigt, dieser Eifer um algemeine Heiligung – würde mehr eindringendes bey sich haben, wenn sie von jemand anders herkäme; so wenig bin ich Heuchler gegen den (Hrn.)Herrn Verfasser, geschweige gegen meinen Eid und Beruf. So ists unmöglich – wird [56] ein billiger, ein denkender Leser auch diese grobe Unwahrheit so leicht verdauen! Also seit der augspurgischen Confeßion her, seit dem 303 tridentinischen Catechismus, ist und war es unmöglich, daß ächte Reue über die Sünde – entstehen konte? Nach welcher Psychologie wäre dis? Welche unverzeihliche Rhetorication! 304‘Das Herz wird unvermeidlich gegen die Tugend kalt.’“ War es etwa ohne diese Erkentnis so warm und thätig? Und was ist denn das für Tugend, wovon dieser (Hr.)Herr Verfasser so stark spricht? Wie groß, wie glänzend ist denn sein eigen Beispiel, dadurch er dis wider uns und unsre so vielen, so redlichen, ernstlichen Christen erweisen oder bestätigen und erläutern wird? 305‘Das heutige Christentum hat fast alle Kraft zur Heiligung der Menschen verloren.’“ Nemlich, wie beweiset es der (Hr.)Herr Verfasser? Wo ist Christentum als eigne Fertigkeit, ohne diese Fertigkeit? Hatte etwa das Christentum, die geistliche Lehre JEsu, zur Zeit JEsu und der Apostel eine andre Art von Kraft? wurden alle Christen so gewis gleich innerlich Heilige? Ich wil daran nicht einmal denken, daß es bey allen vernünftigen Menschen von je her unterschieden worden ist, als eine psychologische Erfarung, 306 video meliora, proboque, deteriora sequor; ohne daß dis an dem Inhalte der Lehrsätze jemalen gelegen hätte. Allein ich gebe nimmermehr diese historische Anzeige zu; ich kenne viel tausend fromme und heilige Christen in der römischen, morgenländischen, teutschen Kirche; deren Gemütsfassung GOtt wohlgefält, wenn sie gleich selbst noch immer klagen, daß sie in der Heiligung ihnen selbst nicht, geschweige GOtte, schon ein Genüge thun. Die letzte Beschreibung ist eben so übertrieben und falsch; wie viel fromme Landleute, fromme arbeitsame Eltern giebt es, die in Absicht unbescholtener bürgerlicher Tugend, und grosser Mäßigung in Wünschen für äusserliche Bequemlichkeit, es vielen kalten Lobrednern der Tugend zuvor thun! Könten wir da in die Seelen einschauen, wir würden ein [57] grosses Feld erblicken, worauf moralischer Samen in die Höhe wächset, ohne vor Menschen ein groß Geräusche zu machen. Und das ist die eigene christliche Religion.

In eben der wunderlichen Stellung lieset man diese unerwartete Anrede unsers bekanten (Hrn.)Herrn Verfassers an (Se.)Seine (Kaiserl.)Kaiserliche Majestät, (S.)Seiten 14. 15. 307‘Ach allergnädigster Kaiser, König und Herr, wie blutet mir das Herz, wenn ich denke, wie werth, wie hochgeachtet das Evangelium JEsu Christi unter den aufgeklärtesten Menschen in allen Welttheilen seyn könte; was für Siege’“ –

Warum denn gerade unter den aufgeklärtesten Menschen in allen Welttheilen! Ist die christliche Religion von nun an vornemlich für aufgeklärte Menschen bestimt: so ist es gewis nicht mehr die Religion JEsu und der Apostel. Solche starke Redensarten, das Herz blutet mir, lese ich gern, wenn Thatsache dabey ist oder öffentlich einstimt; wie (z. E.)zum Exempel von so viel eifrigen Mißionarien aus allerley Kirchen, die Leben und Gesundheit, und alles dran wagen, ohne erst ein neu und leichteres Evangelium zu machen; wie jene so eifrigen treuen Brüder aus den hernhutischen Gemeinen, nach 308 Grönland, (St.)Sankt Thomas (etc.)et cetera da findet man Herzenswärme; aber in solchen so bequemen Anstalten, daß Kaiser und Könige und Fürsten die im teutschen Reich angenommene Religionssysteme jetzt abschaffen, und sich vom (Hrn.)Herrn Verfasser und dergleichen Liebhabern neuer Entwürfe, eine Universalreligion zu rechte machen lassen möchten – findet man eben nicht, daß ihr Herz dabey blute. Und was würde auch eine einzele noch so ernstliche Gewissensangst oder Sorge für andre hier helfen? Es wäre doch kein andrer Christ verbunden, seine Lehrsätze nach solchem fremden Gewissen einzurichten. Haben wir keine treuen Lehrer, denen das Herz blutet, über der einreissenden ungeistlichen, unmoralischen Lebensart ihrer Zeitgenossen! die eben so klagen als JEsus und Paulus, daß viele sich die Gestalt geben [58] eines gottseligen Wesens, aber alle Kraft der Gottseligkeit verleugnen! Wir wissen es ja, daß nur wenige sind, die 309 den schmalen Weg selbst zu gehen sich entschliessen; und man wil einen so breiten Weg der Religion machen, da alle sogleich mitgehen würden; solte das wohl die geistliche Religion seyn, die so viel besondre geistliche anhaltende Uebungen der Seele zum immer gewissern Glauben und bessern Leben vorschreibet?

310‘Das Evangelium’‘würde ganz anders als bisher auf die Besserung und Heiligung der Menschen wirken; und in die Augen fallende Einflüsse auf Moralität und Glückseligkeit zeigen, wenn es von allem Unrath menschlicher Hypothesen und Meinungen gereiniget und zu seiner ursprünglichen Lauterkeit und Einfalt zurück gefüret würde.’

Ich kan hier eben so wenig Gründlichkeit und Wahrheit finden, als in der bisherigen Declamation. 1) Was heißt ursprüngliche Lauterkeit und Einfalt des Evangelii? Hätte der (Hr.)Herr Verfasser doch einen Versuch gemacht, diese Lauterkeit zu entwerfen, oder in einen Abris zu bringen, so würde er eingesehen haben, daß es überaus leicht seie, im abstracto solche Einfälle zu haben; da aber die Lauterkeit und Einfalt des Evangelii im abstracto ein Ding der Mondwelt ist, und wir stets das Evangelium unter Menschen in concreto gelehret oder angenommen antreffen: so hilft jene Lauterkeit in abstracto, die nirgend da ist, und nirgend gewesen ist, gar nichts zur Verbesserung der Religionslehre, die für irgend eine Geselschaft bestimt ist; geschweige daß denkende und verständige Leute sich beigehen lassen solten, für solche leere Einfälle und Undinge ihre feierlichen Urkunden der öffentlichen Religionslehre wegzuwerfen, und auf solche Grillen mehr zu bauen. Es ist nicht nur für Menschen nicht möglich, irgend einen Begrif oder Satz aufzufassen, und als ihren, als bejaheten von ihnen, anzunemen, ohne ihre [59] eigene Vorstellung sogleich selbst dazu zu nemen; sondern es ist folglich auch niemalen, zur Lebenszeit JEsu oder Pauli, oder irgend eines Lehrers eine andere Art der Anname des Evangelii, oder der christlichen Lehre zu finden, als mit Einmischung der eigenen Denkungsart der Indiuiduorum, oder ihrer localen Lage. Dis ist also auch nicht geradehin Unrath menschlicher Hypothesen und Meinungen zu nennen; als worunter man vielmehr theologische seichte scholastische Bestimmungen, oder offenbar ungegründete Urtheile ehedem verstunde, in so fern sie die leichte practische Religion hinderten, und an ihre Stelle ganz andre Erfindungen ohne Sprachkentnis setzten. 2) Ueber diese Sachen hat schon ein jeder denkender Christ alle Freiheit, selbst zu urtheilen; und er macht nun damit, was er wil, so bald er den Ungrund solcher Meinungen einsiehet. Es kan ihm hierin niemand allein so vorarbeiten, daß er es ganz darauf ankommen liesse, und sein eigen Urtheil nicht weiter nötig hätte. 311Wie lange ist schon Theologie, nach ihrem ganz andern besondern Zweck, von Religion unterschieden worden, in allen Parteien! 3) Es giebt aber folglich auch hierin nicht gleichlautende algemeine Urtheile, in Absicht der Subsumtion; so sehr alle verständige Zeitgenossen darin übereinstimmen, daß manche Hypothesen für die leichte und gewisse Uebung des Christentums ganz gleichgültig oder unnütz sind; daß sie nur um äusserlicher Endzwecke willen eigentlich mit Recht gegolten haben. In der besondern Anwendung des Urtheils, dis und dis (in der Lehre von Erbsünde, von ihrer Zurechnung, von Rechtfertigung, von Gottheit Christi und des heiligen Geistes (etc.)et cetera) ist eine solche Hypothese: muß völlige Gewissensfreiheit immer bleiben, wie der Protestant sie dem katholischen Christen lassen muß, in der 312Lehre vom Abendmal etc. der Katholik umgekehrt sie dem Protestanten lassen muß. Ganz vergeblich ist alle Arbeit von Universal-Lehre oder Vereinigung der Gewissen. Also kan der (Hr.)Herr Verfasser auch [60] dieses nicht durch sein Urtheil ausmachen wider alle drey Parteien. 4) Endlich ist es nicht an dem, daß alsdenn jedermann viel leichter das wahre rechte Christentum lieben und ausüben würde; wenn die Grundlehren der drey grossen Kirchen ganz weggeschaft würden. Im ersten Jahrhundert sehen wir ja den Beweis ganz augenscheinlich; da waren die ausdrücklichen Beschreibungen der öffentlichen Lehre noch nicht da, welche jetzt die Grundsätze der drey grossen Kirchen ausmachen; und dennoch ist die Besserung und Heiligung der Menschen nicht so algemein bewerkstelliget worden. Wir können und müssen vielmehr sagen, daß die Art der christlichen Begriffe und Erkentnissen in den folgenden Zeiten immer besser und volkommener erst geworden, als sie im 1sten, 2ten, 3ten und 4ten Jahrhundert schon gewesen; wenn gleich die Gegenstände alle da waren. 313Ich sehe hier auf die wahre ehrliche Kirchenhistorie zurück; 314ich weis kein reines Gold und keine Lauterkeit zu suchen, in dieser Bedeutung; der (Hr.)Herr Verfasser sol es auch bleiben lassen, dis reine Gold zu zeigen. Warum wird also dergleichen Nullität und Unding mit solcher Emphase unsern Lehrsystemen, aller drey Kirchen, öffentlich entgegen gesetzt? Ich wiederhole es, ich weis das Land nicht, die Kirche nicht, die Schriften nicht anzugeben: worin das reine Gold zu sehen wäre. Die Leser müssen eben so ihr Gewissen und Nachdenken erst anwenden, als es bey allen unsern Lehrbüchern ihre Pflicht ist. Ich hoffe diesen Vortrag deutlich genug gemacht zu haben; unsere Lehrbücher sind unsern Zeitgenossen viel nützlicher als ältere Schriften, diese waren für ihre Zeitgenossen gut. Wir wissen auch, wie ich zum Theil gezeiget habe, daß gerade diese Begriffe, die der (Hr.)Herr Verfasser einen Unrath menschlicher Hypothesen und Meinungen zu nennen sich erkünet, mit unserm guten Gewissen keinesweges von uns dafür gehalten werden können; daß vielmehr unsre christliche Besserung und Heiligung mit diesen Begriffen wirklich recht [61] gut und leicht zusammen hängt. Wie ungegründet also, um nicht mehr zu sagen, ist der Eifer, der nun in diesen Worten ausgedruckt wird.

315‘O möchten doch (Ew.)EureEuer (Kaiserl.)Kaiserliche Majestät von GOtt auserkoren seyn, alle diejenigen vor der Wuth der Verfolgung zu schützen, welche Kraft und Muth haben, an diesem großen Anliegen der Menschheit zu arbeiten; den unübersehlichen Wust der Systemsreligion zu untersuchen, und das reine Gold der göttlichen und seligmachenden Christusreligion wieder herauszufinden.’

Wer thut diesen Wunsch? die Leser können selbst antworten. Wenn (kaiserl.)kaiserliche Majestät diesen Wunsch nicht erfüllen: ist alsdenn zu sagen, GOtt habe die (kaiserl.)kaiserliche Majestät nicht zu einer, angeblichermaßen, so wichtigen Sache, erkoren? Soll Teutschland (kaiserl.)kaiserliche Majestät ansehen, als Hinderniß dieser angeblichen Glückseligkeit! Sind so viel erlauchte Staatsräthe, so viel gelerte Leute, blind oder boshaft? Wird es sogleich Wuth der Verfolgung heißen, wenn viele teutsche Fürsten und Stände dieses Project verwerfen, und diese ausschweifende Schrift gar unterdrücken! Der (Hr.)Herr Verfasser also leitet es her von Kraft und Muth! und so viel würdige, treue, von jeher unbescholtene Männer, sind bisher ohne Kraft und Muth! Ich dächte, die allererste Frage müste auf Geschicklichkeit und notwendige Gelersamkeit gehen; daß der anmasliche, algemeine Reformator auch unsre Lehrsysteme besser und getreuer auslegen könnte, ehe er den drey Religionsparteien hier öffentlich schuld geben dürfte, sie närten und beschützten einen unabsehlichen Wust der Systemsreligion, wozu so ein großer Mann, von Kraft und Muth, nötig gewesen; der auch sogleich das alles seie, was er sich selbst anmaße! O lieber GOtt, wenn unsre Christen sonst bisher das reine Gold der göttlichen Religion, der seligmachenden Christusreligion, (wie es hier heißt) nicht selbst haben herausfinden können, wie doch [62] ein jeder seines Glaubens leben mus; wenn ihre Lehrer, darunter doch viel herzlich eifrige Christusfreunde und Christuskenner sind, unter allen drey Parteien, ihnen dis reine Gold bisher noch nicht haben zeigen können, bis der (Hr.)Herr Verfasser für sich selbst, jetzt in seinen Umständen, Kraft und Muth fassete, dis reine Gold ihnen und uns so zu zeigen, als in diesem übereilten Bekentnisse geschiehet: – wehe so viel hunderttausend Christen! Zu dieser neuen Anstalt sol sich (kaiserl.)kaiserliche Majestät so gar auffordern lassen! Wie erstaunlich gros ist diese Anmaßung und Uebereilung! Und, wenn wir nicht alle gleich Beifal geben, und öffentlich danken, für diese neue Anweisung, das reine Gold der Religion hier so kurz und gut beisammen zu haben: so sol unser Urtheil mit zur Wuth der Verfolgung oder zur Lügen und Heucheley gehören!

Noch mehr solche – Declamation, um es nicht anders zu nennen. 316‘Möchte unter allerhöchstdero Regierung der Tag anbrechen, da in dem christlichen Europa alle die für Christen gehalten und in den Rechten des Staats und der Menschheit geschützt werden, welche Jesum Christum verehren und seine Lehren befolgen – ohne gezwungen zu seyn, sich Kephisch, oder Paulisch, oder Papisch, oder Calvinisch, oder Lutherisch zu nennen, und auf Menschenwort zu schwören.’

Noch immer ein Nebel und Dampf; kein Licht. Warum sol man so vergebliche unnütze Wünsche thun und äußern! Sollen (kaiserl.)kaiserliche Majestät über ganz Europa ein Ausschreiben ergehen lassen, um diese seltsamen Einfälle in allen Staaten zu empfelen? Kan ein unfanatischer Christ solche Wünsche mit Bedacht hegen und öffentlich ausbreiten! In Teutschland nicht nur, sondern auch in den meisten europäischen Staaten ist es ja lange ausgemacht, daß derjenige ein Christ ist, der Jesum Christum verehrt und seine Lehre befolget; alle Muhammedaner wissen diesen Satz seit vielen Jahrhunderten. Sie wissen [63] auch, daß die Verehrung Jesu Christi und die Befolgung seiner Lehren, so viel Verschiedenheit leidet, als verschieden die Localität der Christen ist. Ich lasse auch die Socinianer Christen seyn; und wenn sie andre Lehrer nicht dafür halten, thut es ihrer Gemütsfassung und Tugend nicht den geringsten Schaden. Warum sol aber in Europa eine algemeine Vorschrift hierüber aufgebracht werden? Ein Christ muß es frey behalten, nach seiner Denkungsart zu reden und zu urtheilen. Aber der andre Theil des Wunsches, alle (auch socinianische) 317Christen solten in den Rechten des Staats und der Menschheit geschützt werden: ist weder christlich und apostolisch, noch sonst gegründet. Jesus selbst hat seinen Aposteln eine ganz andere Vocation ausgestellet; die doch hinten nach von guten Christen nicht wird umgestempelt werden! Man muß einwilligen in alle Leiden als ein Christ, welche das Gewissen vor GOtt mit sich bringt; diese Pflicht hört nicht auf für einen jeden Christen, und es ist nicht zu begreifen, wie man das ganze Gegentheil zu einem neuen Lehrsatz, ja gar zur Pflicht der Christen machen wil. Ob nun die für sich gewissenhaftesten Christen in einem Lande und Staat einerley öffentliche Rechte genießen sollen: gehört gar nicht für Doctores Theologiä, indem sie nicht zu 318geheimen Staatsräthen berufen sind. Ob Christen, welche seit so viel Jahren eine geselschaftliche Ordnung und Einrichtung unter sich gemacht haben, welche der Staat selbst genemigt hat, so gleich ihre so alten Ordnungen und Einrichtungen aufheben sollen, wenn ein noch so gut meinender Mitchrist oder Zeitgenosse dafür hält, es seie Zeit an einer Universalreligion für ganz Europa (etc.)et cetera zu arbeiten: kann gar nicht zur christlichen Religion gehören; auch gar nicht für das privat Gewissen; es müste denn ein sehr irriges Gewissen seyn; welches doch gar niemanden von uns andern verbindet, als den also irrenden Menschen. Er müßte auch in der That sehr irren, wenn er sich selbst so leicht, aus seinem stillen Stand eines Un[64]terthan und Privatmans bis an kaiserliche Majestät erhebet, und die protestantischen Mächte und Kirchen hiebey so wenig erst fragt, als die römischkatholischen Erzbischöfe und Bischöfe; um so gleich kaiserliche Mitwirkung zu einer europäischen 319 Christusreligion zu erlangen! Nun ist alles sogleich ‘unabsehlicher Systemwust, was theologische und kirchliche sehr schwere Gelersamkeit, sehr gegründete Klugheit und Erfarung, einschließet; alles ist Systemwust, was die augspurgische Confession dem Reichstag damalen vorlegte, ohne an ein System zu denken; was der 320 römische Catechismus enthält – alles Systemwust. Schon lange wusten alle gründliche Theologi aller Parteien, daß es keine innere eigene christliche Religion geben könte, ohne christlichen Unterricht zu schaffen und vorauszuschicken; daß der gemeine Unterricht um der mislichen besondern Geschicklichkeit willen, den einzelnen Lehrern einer jeden Partei, in einer feierlichen Vorschrift lieber mitgetheilt werden müsse; daß diese Lehrvorschriften gar nicht einzig und allein unmittelbar die Seligkeit, Tugend und eigene Religionspraxin, wirklich schon schaffeten, sondern dazu eine erprobte nützliche Anleitung für die Unterthanen wären; daß also der nächste unmittelbare Zweck und Erfolg die äußerliche Verbindung der kirchlichen Glieder untereinander, in den gemeinen Grundsätzen der Gesänge, der Gebete, der Predigten und Unterweisungen, seie; die eben so verschieden bleibe, unbeschadet der eigenen Religion und Gewissenhaftigkeit, so bald sie da ist: als verschieden die Religionsform, Gesetze und Statuten in der bürgerlichen Geselschaft sind; unbeschadet des ruhigen glücklichen menschlichen Lebens, unter noch so verschiedenen Staatsverfassungen. Ist es nun mit Grund gewünschet, es möchte doch unter (kaiserl.)kaiserlicher Majestät Regierung der Tag anbrechen, da in ganz Europa einerley äußerlich Kirchenrecht gelten müste! Wem mag wol an dergleichen Einfällen und Wünschen etwas gelegen seyn! Denkenden Zeitgenossen, denkenden Christen gewis [65] nicht; denn die verstehen sich besser auf diese Sachen, als daß sie unmögliche Dinge und moralische Ebentheuer bey andern Menschen, sich zum Zweck setzen sollten; da sie ihre Christusreligion so völlig frey haben, was ihr Gewissen, ihr Herz gegen GOtt betrift; wird es aber gewünschet zu häuslichen bürgerlichen Bequemlichkeiten für andre, die nicht zu uns gehören: so gehört ja die bürgerliche Obrigkeit hieher, mit ihren Einsichten, nicht das Privat-Gewissen. – Eben so matt und unstatthaft ist dieses: 321ohne gezwungen zu seyn, sich Kefisch oder Paulisch, „‘oder Papisch oder Calvinisch oder Lutherisch zu nennen.’“ Wir sind gezwungen zu diesen Namen? Von wem wol? Wer hat dis befolen, daß wir uns also nennen sollen? Man solte nicht Gewissen und eigene Religion so gleich mit der äußerlichen Religion, mit besondern Rechten in der bürgerlichen Geselschaft vermischen; man erschleicht zur Noth einige Leser, aber man befördert gar keinen Nutzen für die Zeitgenossen. Was das Gewissen und die eigene Religion, als moralische Fertigkeit oder Zustand des Menschen betrift: so kan es diese Namen gar nicht hier geben; es ist kein Platz dazu. Ist aber die Rede von der sichtbaren äußerlichen Geselschaft: so ist der Name Lutherische, 322Zwinglische, 323 Altkatholische, wie es überal bekant ist, ohne allen Befel oder Zwang aufgekommen, wie eine benachbarte Nation die andre mit einem Namen unterscheidet: wie überhaupt Namen zur ganz nötigen Unterscheidung der Dinge und Menschen aufgebracht und eingefürt worden sind. Kan denn jemand verlangen, wir sollen ohne Unterschied, zwey oder dreierley Geselschaft immer mit einem einzigen Namen nennen, da es doch so viel besondre Religionsgeselschaften gibt, als Regierungen, als Länder und Provinzen? Findet wol jemand Ursache, zu verlangen, es möchten die Namen der Nationen in Europa, alle aufhören? Gibt es aber nicht eben so wol eine kirchliche Geographie, eine theologische verschiedene Diöces? Es ist ja ganz unmöglich, daß alle [66] Einwoner eines Landes oder gar eines großen Staats, nur eine und dieselbe Religionsform haben; wer will eine kirchliche Universalmonarchie errichten, da wir froh sind, der lateinischen alten Monarchie der Päbste uns entzogen zu haben! Ich halte es also für sehr unwichtige Einfälle, für lang abgetragene Projecte, die gar keine Realität in sich fassen: wenn jemand in seinen vier Wänden sich dergleichen Entwürfe macht, daß die äußerlichen Religionsformen aufhören und in eine einzige eingeschmolzen werden möchten. Ich habe es schon gesagt, daß man seit dem 16ten Jahrhundert, auch noch im vorigen 17ten häufig damit umgegangen ist; daß auch das Ansehen der Könige und Fürsten, ja bey des 324Abt Molanus so plat ehrlichen Arbeiten auch des kaiserlichen Hofes Ansehen dazu gebraucht worden ist: eine einzige äußerliche Religionsform einzufüren; daß aber endlich alle wirklichen Kenner dieser Sachen solche unthunliche Projecte ganz und gar wieder aufgegeben haben. Welch Verdienst kann es also seyn, daß der (Hr.)Herr Verfasser, dessen Verhältnis ohnehin sich gar nicht zu diesem Anerbieten und Versprechen reimen läßt, indem er bei keiner öffentlichen Religionspartey in dem erforderlichen würdigen Ansehn stehet und stehen kann, diese alten Einfälle mit solcher großen Gestalt, 325 μετα πολλης φαντασιας wieder aufstellet, und gar (Sr. Kaiserl.)Seiner Kaiserlichen Majestät vorzutragen sich herausnimt! Unter dem gemeinen Haufen konte er noch weniger erspriesliche Folgen und edle Früchte erwarten.

Aber noch eine Klage, 326und auf Menschenwort zu schwören.’

Viel hundert mal ist dis schon gesagt worden; zuweilen mit seltsamer Stellung und Verknüpfung; wie es an sich selbst, sehr seltsam und auffallend ist, daß man sich beschweret, über die Forderung eines Eides, wegen der öffentlichen Lehrordnung. Worüber oder worauf schwören denn wol Menschen in der ganzen Welt, wo je ein [67] Eid, oder eine dem gleiche Feierlichkeit, eingefürt ist? Ueberal, aller Orten, beschwöret man das, was andre Menschen von uns auf diese Art bestätigt und versichert haben wollen. Man schwöret auf einen von Menschen vorgelegten Inhalt oder Vertrag; und auf solche Menschenworte oder von Menschen uns vorgelegten Inhalt schwören: ist etwa an sich selbst schon unrecht? Kan man auf GOttes Zusage oder Vorschrift, um GOttes willen, schwören? Man schwöret also oder bestätiget mit einem Eide, daß man diesen Lehrinhalt gewis und unverändert den anvertrauten Zeitgenossen, als ein Lehrer erklären und einschärfen wolle. Worin sol denn hier eine richtige Ursache oder ein kentlicher Grund liegen, zu wünschen und zu fordern, daß kein Lehrer inskünftige auf einen vorgelegten Lehrinhalt schwören oder seiner Geselschaft dis zusagen solle? Ist es erlaubt einen Eid eines Unterthan, nach vorgelegtem Inhalte, wörtlich abzuleisten? Ich denke ja. Ist es erlaubt, daß ein Soldat einen Eid schwöret, auf die ihm vorgelegten Forderungen? O ja. Worin bestehet denn nun die alte Klage oder Beschwerde, dieser und jener Leute, welche darüber unzufrieden sind, daß öffentliche Lehrer eidlich versprechen, sie wollen in ihrem öffentlichen Amte, das sie gegen eine Geselschaft von Zuhörern und Kindern feierlich annemen, eben dieselben Lehrsätze lehren und erklären, die in dieser besondern Geselschaft ausdrücklich festgesetzt und vorgeschrieben sind? Wem kan denn dieser Eid im Wege stehen, als wer öffentlich eine ganz andre Lehre gern einfüren wil? Mag er sie für richtiger halten; das kan sein eigen Gewissen beruhigen in Absicht seiner. Aber diese privat Gedanken sollen nicht die öffentliche Lehre seyn. Einem solchen Lehrer wolte ja die Geselschaft ihre Mitglieder nicht anvertrauen; warum geht er also nicht weiter, und sucht sich einen solchen Zusammenhang aus, wo die Obrigkeit kein äusserlich Kirchenregiment ausübet? Auf diese Weise, wenn noch so zufällige Gedanken sogleich wichtig [68] werden, weil sie in der jetzigen Zeit gedruckt werden, wo jedermann ins Ganze, ins Grosse, sich ausdehnet, und Allkraft, Allumfassung um sich her spreitet: wird nächstens auch jemand die 327kaiserliche Wahlcapitulation, und die feierliche Versicherung der Majestäten und Landesherren, reformiren, weil auf Menschenworte geschworen wurde. In welcher Tiefe und 328 Mikrologie mag unser Zeitalter liegen, wenn solche gar grosse Kleinigkeiten lesenswerth, gemeinnützig, und alwichtig heissen können!

Nun ist die Vorrede zu Ende: 329‘möchten doch Majestät geruhen, mit Langmut und Schonung auf mich unschuldig Verfolgten vom Thron der Majestät herab zu blicken.’

Schon jetzt nent sich der (Hr.)Herr Verfasser einen unschuldig Verfolgten! worin besteht wol die scheinbarste Verfolgung? daß der (kaiserl.)kaiserliche Reichshofrath dis Decret wider ihn gegeben hat, oder daß zwey theologische Responsa eingeholet worden sind, über die neue Uebersetzung des neuen Testaments. Das Reichshofrathsdecret hat gar keinen Erfolg haben können, in so weit es eine Anmassung über protestantische wirkliche Kirchenglieder ist; die an sich selbst schon ohne alle Realität ist, wie die steten Principia des Corporis Euangelicorum mit sich bringen. Uebrigens könte ich die noch so genaue Prüfung der neuen Uebersetzung, nicht aus einem Verfolgungsgeiste zunächst herleiten; da es eine natürliche Folge in der gelehrten Welt ist. Wenn auch 330manche Zeitgenossen zu hart oder zu geschwind von der Absicht dieser Uebersetzung urtheileten: 331so war es doch noch keine Verfolgung. Hingegen ist es einem noch so kalten und unparteiischen Zuschauer der öffentlichen Historie des (Hrn.)Herrn Verfassers gleich wol sehr auffallend, daß er überal sich so gleich, so leicht Verdrus und Unlust zugezogen hat, ohne daß Dogmatiken und Systeme daran Schuld waren. Und nun sein Glaubensbekentnis; aber ohne Zeitbestimmung, wie [69] viel davon in 332 Leipzig, Erfurt, Giessen, (wohin ich ihn selbst durch Empfelung auf eine Anfrage aus Darmstadt, hatte bringen helfen,) in Marschlins, in Heidesheim, eigentlich schon entschieden gewesen seyn möge. Ganz ohne Einflus wäre es doch nicht, wenn wir diese historische Kentnis des steten Ganges der gesamleten Vorstellungen zur weitern Beurtheilung anwenden könten. Dis Bekentnis betrift 10 Stücke:

1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,

1.

333 Ich glaube, daß ich und alle Menschen Sünder sind, welche der Gnade und Erbarmung GOttes bedürfen. Daß aber dieses, (daß wir Sünder sind) uns angebohren sey und daß alle Menschen mit der Neigung zu allem Bösen auf die Welt kommen, daran zweifle ich. Vielmehr scheinen mir die Menschen an ihrem Verderben selbst Schuld zu haben. Denn ich bemerke in ihnen von Natur so viel herrliche Anlagen zur [Tugend] , so viel angebohrne, edle Gefühle und Neigungen, daß vielleicht nur eine andere Erziehungsmethode und von Tyranney und Luxus mehr entfernte Lebensart nöthig wäre, um der Menschheit ihre ursprüngliche Güte wiederzugeben.

Hierbey merke ich an, 1) daß der (Hr.)Herr Verfasser weder mir noch irgend einem Leser der heiligen Schrift, vorschreiben kan, was wir, durch ihren Unterricht und Wirkung, von uns sagen und bejahen, wenn wir gegen GOtt das Bekentnis thun, o GOtt wir sind Sünder vor dir! dieses Bekentnis begreift eine unzälige Verschiedenheit des moralischen Zustandes, wovon einer mehr der andre weniger lebhafte starke Vorstellung hat. 2) Es stehet ihm frey, daran zu zweifeln, ob uns diese moralische Negation, und eine vorzügliche Leichtigkeit und Neigung zum Bösen, angeboren heissen könne; wie es uns frey stehet, es zu bejahen. Wir sehen aber den grossen Unterschied der Rede; 334 ‘die Lehre von Erbsünde (etc.)et cetera [70] (S.)Seite 10. gehöret geradehin unter solche ‘Lehrsätze, die weder in der Schrift noch in der Vernunft einigen Grund haben, und theils der Gottseligkeit schaden, theils die Quelle des Unglaubens – bey Tausenden sind’. Hier sagt er nur so viel: ich zweifle daran, ob es eine Erbsünde giebt. Ist dis einerley Rede? Wenn er blos zweifelte, wo kam das Recht her, jenes zu schreiben? durfte er jenes schreiben, wie wil er dis blos seinen Zweifel nennen! 3) Alle Theologi aller Parteien lehren, daß alle Menschen an ihrem (wirklichen) Verderben selbst Schuld sind, nicht aber die Erbsünde ohne sie; daß diese natürliche moralische Zerrüttung bey ununterbrochener Wirksamkeit gar eine wirkliche Herrschaft der Sünde, oder Fertigkeit zu sündigen zu wege bringe; hier sagt er also nichts neues oder unbekantes. 4) Hat er nie an sich oder andern bemerket, daß es auch Anlagen zu Lastern, angeborne unedle Triebe und Neigungen gebe? Ich dächte, wenn es von ihm mit Recht hier so beschrieben wird, herrliche Anlagen zur Tugend, angeborne edle Gefüle und Neigungen: so wäre es eben so richtig von unsern Vorfaren beschrieben worden, es giebt angeborne Neigungen zum geistlich Bösen, aber in unzäligen Graden – das hat man Erbsünde genant, um stets die einzelen wirklichen Sünden der Erwachsenen zu unterscheiden.

Warum tadelt er nun die christlichen Religionssysteme, da er selbst angeborne edle Neigungen annimt? hat er sie etwa bey allen oder den meisten Menschen, gleich von Kindheit an, gleich groß, angetroffen? So fand er mehr, als alle Gesetzgeber, welche auf Erziehung der Kinder vornemlich sahen; mehr als alle 335 Philosophen, welche zum Theil gar auf zwey gleiche Grundwesen kamen, um das Gute und Böse in der menschlichen Natur zu erklären. 336 Grotius sagte daher, die Sache selbst, die unter uns mit dem Namen Erbsünde gemeint wird, haben auch die Heiden erkant. Eine andre Erziehungsme[71]thode – Sind die guten Gesinnungen, in der That ohne alle Erziehung, ohne alles Beispiel, und äusserliche Ursache, in dem Kinde schon gewesen? Wer wird dis aus der Erfarung beweisen? Und was sol denn die ursprüngliche Güte der Menschheit heissen, die man sogar durch eine andre Erziehungsmethode wieder herzustellen hoffen könte? Sie ist also nicht da, wenn sie wieder hergestellet werden sol. Ursprüngliche Güte der Menschheit – wer kan wissen, was der (Hr.)Herr Verfasser hier denkt? Also angeborne, ursprüngliche Güte der Menschheit gäbe es; angeborne böse Neigungen gibts aber nicht? Ich brauche übrigens davon nicht viel zu sagen, daß aller unser Unterricht nicht auf einen ursprünglichen Zustand der Kinder und Menschen gehet, da es von einer moralischen Historie, in der Kindheit noch gar nicht Platz ist zu reden, wo Kinder noch blos physicalischer Veränderungen fähig sind; wir auch den ursprünglichen Zustand des Cajus und Titius nicht ausmachen können; sondern daß wir auf wirkliche Ausbesserung der nun wirklich bösen und zerrütteten Menschen gerade zu gehen; wonach es unmöglich wahr ist, daß 337 die Lehre von Erbsünde, die Mutter so vieler einzelen Sünden sey, eine Quelle der Untugend und Gottlosigkeit abgebe; diese Lehre hilft vielmehr zur leichten Ausbesserung der Menschen.

2.

338 ‘Ich glaube, daß der Mensch, so wie er alles Gute GOtt zu verdanken hat, auch all sein moralisches Gute, was in ihm ist, der Gnade GOttes schuldig sey. Daß aber GOtt die Besserung der Menschen selbst wirke und der Mensch nichts thue, als GOtt stille halte, ist wider die Schrift, und beruhet dieser Irrthum gröstentheils auf dem Wort Gnade, welches die meisten Lehrer der Kirche bisher gemisdeutet haben.’

Wir wollen 1) annemen, es seie wider die Schrift, daß der Mensch zu seiner Besserung nichts thue (etc.)et cetera kan [72] dieser Irtum zur Untugend und Verachtung der Religion gereichen? Bringt diese Ueberzeugung, die ein Mensch angenommen hat, GOtt ist es, der in mir alles Gute wirket, in dem Menschen Sünde und Hinderniß des moralisch guten hervor? Ich denke nicht. Man mus nur dazu nemen, daß (z. E.)zum Exempel Cajus täglich den Wunsch und Gedanken fortsetzt, immer besser zu werden; er wünschet folglich und verlangt innigst von GOtt diese ihm so nötige Wirkung; dis wird in ihm eine Fertigkeit; er nimt täglich in dieser Gemütsfassung zu. An so vielen Beispielen unserer und voriger Zeit wissen wir auch, daß die wirkliche Erfarung diese hier gegebene Erklärung bestätige; es ist also dieser Lehrsatz 339 keinesweges eine Quelle des Unglaubens; der Mensch, der darnach handelt, hat vielmehr den stärksten Antrieb und die tägliche gröste Erleichterung und Beförderung seiner innigsten Frömmigkeit. 2) Ist es in der That gar nichts neues, oder uns unbekantes, daß viele Lehrer, latini nemlich, die Augustino folgeten, mit dem Worte gratia einen besondern Begrif verbunden, und diese 340 gratiam actualem, victricem (etc.)et cetera sehr viel enger verstanden haben, zu Folge einer angenommenen 341 Prädestination. Schon einige Jahre vor der augspurgischen Confession hat der bekante 342 Lambert, von Avignon, da er noch zu Wittenberg lehrete, alle species gratiae, welche die Thomisten und andre Scholastiker nach einander herzunennen und abzutheilen pflegten, geradehin öffentlich verworfen. In der römischen Kirche ist der so alte lange Widerspruch gegen die Partey der 343 Thomisten, 344 Dominicaner und 345 Augustinianer, schon einige Jahrhunderte lang unaufhörlich fortgesetzt, und von der andern Partey eine solche 346 gratia efficax per se geleugnet worden; wie seit dem Jansenius der heftige Streit 347 de auxiliis gratiae erneuert und noch nicht entschieden worden. Da aber dieses alles in die gelerte und theologische Uebung gehört, und im gemeinen Unterrichte gar nicht vorkommen kan, es müste denn ein Lehrer sehr ungeschickt [73] handeln: so ist nicht abzusehen, wie der (Hr.)Herr Verfasser diese gelerte Subtilität hier vorbringt: da die Rede doch seyn solte, von Lehren, die in den öffentlichen gemeinen Religionssystemen bisher so enthalten wären, daß sie ‘eine Quelle des Unglaubens’ – seien. Die Jansenisten sind die eifrigsten Christen, recht zufolge dieser Lehre de gratia. 3) Es ist noch nicht ausgemacht, daß die Beschreibung, 348der Mensch thut zu seiner innerlichen Besserung nichts selbst, er verhält sich passiue, hinlänglich deutlich, und dem Sinne unserer Lehrer gemäs ist. 349Ich wil nur anmerken, 1) wenn wir dieses lehren: so hängt es gar nicht mit der lateinischen Schullehre de gratia efficaci zusammen; wir haben keine solche gratiam angenommen, die der freyen vernünftigen Natur des Menschen nicht angemessen seie; kein Mensch, der unter christlicher Geselschaft lebt, ist jemalen in dem blos menschlichen Zustande, worin ihm die Wirkung dieser Gnade GOttes, die wir unter den Wahrheiten wirksam nennen, felen könten; von Kindheit an. Daher sagen wir, alles, was der Mensch christlich gutes thut und in sich ausrichtet, ist GOttes geistliche Wirkung. Solte dieses wider die Schrift seyn, da ja der Inhalt der Schrift eben diese Wirkung GOttes enthält und fortsetzt? Die Schrift ist ja eben darum da; als Mittel zu diesem Erfolge, daß wir was geistlich gutes nun wirken können und sollen. In unsern Zeiten ist sogar die ehemalige historische Vorstellung des so genanten 350 Pelagianismus von der Sache, oder factum von iure, so genau [und] deutlich unterschieden worden: daß es ausgemacht ist, es seie hier sehr viel Wortstreit. Die Sache ist, der Mensch muß in Ansehung aller seiner Fähigkeiten eine moralische volkommenere Richtung und Regung in sich bewirken lassen; alles Gute komt von GOtt, dem müssen wir es danken; also sagen wir auch in dieser Absicht mit Recht, diese Besserung des Menschen wird von GOtt unter den Christen befördert. Solte wol dieser erhabene fröliche Gedanke [74] eine Quelle des Unglaubens seyn? Kurz, weder in der lutherischen, noch reformirten, noch katholischen Theorie von der Gnade GOttes, ist eine solche irrige Lehre enthalten, die eine Quelle des Unglaubens seie; hier müssen alle gewissenhafte fromme Christen aus ihrer Erfarung reden; und nun ist gar nichts in der Lehre selbst zu ändern; die Methode, – ist stets frey.

3.

351 ‘Ich glaube, daß uns GOtt aus blosser Gnade unsre Sünden vergiebt, und daß unsre Tugend und unser Eifer im Guten, da er selbst im Grunde Wohlthat GOttes und mit so viel Mängeln und Unvollkommenheiten befleckt ist, einer ganzen Ewigkeit voll Lohn und Seeligkeit nicht werth sey: Daß aber doch unsere Besserung und Tugend auf der einen Seite die Bedingung sey, unter welcher uns GOtt Vergebung der Sünde und ewige Seeligkeit um Christi willen (d. h. weil er diese Gnadengeschenke allen Tugendhaften durch Jesum Christum verheißen und versiegelt hat) ertheilet, und daß sie auf der andern Seite die natürliche Quelle der höchsten Seeligkeit ist, aus welcher dieselbe von selbst erfolget. Daß aber GOtt blos um eines Menschenopfers willen mir meine Sünden vergebe und um einer fremden Tugend willen die Flecken der meinigen übersehe, das ist wider meine Vernunft und habe ich auch nie etwas davon in h. Schrift gefunden.’

1) Ich merke an, daß hier gesagt wird: unsre Tugend, und unser Eifer im Guten, ist selbst im Grunde Wohlthat GOttes; und vorhin wurde doch gesagt, die Besserung des Menschen ist im Grunde nicht GOttes Wirkung, sondern gehört dem Menschen selbst. Warum sollen wir so ungleich und widersprechend von unserm Eifer, von unsrer Tugend reden? Ist sie selbst im Grunde doch Wohlthat GOttes, wie sie es ist: warum sollen wir [75] es denn nicht lehren: daß aller unser Eifer im Guten eine Wohlthat GOttes selbst ist und bleibet? 2) 352Ob man die Einwilligung in eine innerliche Besserung sol eine Bedingung nennen oder nicht: ist eine alte Streitigkeit; daher ist es auch auf beiden Seiten lange ausgemacht, in welcher Bedeutung es ja oder nein heißen müsse. Daß diese unsre Besserung eine natürliche Quelle der höchsten Seligkeit ist, und eben darum von GOtt uns auferlegt und anempfolen worden: ist eben so lange bekant. 3) 353Ob um Christi willen heißen sol, dieweil es GOtt durch Jesum Christum verheißen und versiegelt hat; oder aber, GOtt hat eben um Christi willen, dessen Historie und Zusammenhang mit neuen Folgen er vorher kante, dieses alles verheißen und versiegelt; wird der (Hr.)Herr Verfasser sich nicht anmaßen für uns zu entscheiden. Weil Christus durch seine ganze Historie einen so großen Umfang von geistlichen Wohlthaten und Realitäten zu stande gebracht, und folglich auch die Kentnis und Gewisheit derselben uns geschaft hat; und dieser neue Umfang nun ganz unfelbar alle diese möglich neuen Wohlthaten, nur in einer besondern Bestimmung, in der besondern Gemütsfassung, für einzele Menschen, aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit übergehet: so weis es und glaubt es der Mensch, daß diese Beschreibung in der Schrift, um Jesu, um Christi willen, ist GOtt auch mir gnädig, vielmehr bedeutet, und einen ganz andern Grund für die Vorstellung anbietet, als hier der (Hr.)Herr Verfasser mit manchen Socinianern es erkläret. GOtt hat den Menschen durch Christi Lehre, z. E. versprochen, er wil ihnen die Sünde vergeben und sie zu ewiger geistlichen Wohlfart befördern. Dis mus GOtt nun um Christi willen, der sonst nicht wahr geredet hätte, halten; so erklärt es der (Hr.)Herr Verfasser. 354Wir katholischen Christen aller drey Parteien, sagen viel mehr; weil durch dieses Leben und Tod Christi eine neue Aussicht, neuer Grund und Boden für sonst unbekante geistliche Wohlthaten eröfnet und geschaffet wor[76]den; indem das Leben und der Tod Christi wirkliche Dinge und große Begebenheiten in einem Zusammenhange mit geistlichen Wohlthaten, einschließet: so entstehet hier ein kentlicher Grund, warum GOtt dieses Leben und Tod Christi also verordnet und genemiget hat, und warum er jedem gläubigen Christen, der diese geistlichen Wohlthaten, die er Christo zu danken hat, herzlich wünschet und begehret, die ganze Fülle von geistlichen Wohlthaten unfelbar zueignet. Wer wolte hier die geistvollen erbaulichen Entwickelungen des gläubigen Christen hindern oder abschneiden? Ist jemand mit wenigerm zufrieden, so hat er doch kein Recht, unsre gläubige Uebung des Verstandes und Willens uns zu verbieten. Ich denke, daß ich deutlich genug hierüber mich erklärt habe; es gehöret dis für unser Herz und Gewissen; wir haben eine gar ernstliche große Beschäftigung des Glaubens; wir finden darin göttliche unendliche Ruhe und Zuversicht; denn 355hier ist alles unendlich, ewig unaufhörlich; weil es nichts Zeitliches ist. Wie solte dieser unser so lebendiger, so in GOtt unaufhörlich eindringender Glaube, 356 ‘eine Quelle des Unglaubens werden’? Wie so gar schlecht und untreffend ist dis hingeschrieben! So viel fromme Lehrer und Christen haben Noth und Elend des äußerlichen Lebens, Quaal und Marter, Tod und Todesschrecken durch diesen lebendigen Glauben überwunden: warum sollen wir diese vortrefliche Lehre mit einer andern kleinern vertauschen, die wir nicht so gut in der Schrift gegründet finden, als unsere. 4) Daß aber der (Hr.)Herr Verfasser abermalen schreibt, wir lehreten in allen drey Parteien, daß GOtt um eines bloßen Menschenopfers willen uns unsre Sünden vergebe etc. Daran redet und thut er Gewalt und Unrecht; beschimpfet alle drey Parteien, und ihre so vielen Mitglieder, aufs unverantwortlichste. Ich habe schon vorhin, wo diese Vorbereitung und unerlaubte Empfindlichkeit zum ersten mal vorkam, mich dawider erkläret; da er es aber wiederholet, so wil ich noch mehr hinzusetzen. [77] Wuste er nicht, die große Beschreibung,

Hebr. 9, 14.

(Cap.)Capitel 13, 20.

wo das Opfer und Blut Christi ganz ausdrücklich, ganz charakteristisch auf eine unvergleichliche Weise, seinem innern Werthe, seinem geistlichen Gange und der Wirkung nach, bestimt wird? Wuste er diesen großen Begrif nicht? Christus hat sich selbst GOtte dargebracht, ohne Tadel, 357 δια πνευματος αἰωνιου, so daß eine ewige unaufhörliche Wirkung dieses Opfers auf unsern Geist, ganz begreiflich ist. Dis Blut hat geistlicher volkommener Weise einen neuen Bund gestiftet. Kann man diese Sache so untreu, so unwürdig beschreiben, daß wir Christen glaubeten, GOtt vergebe uns die Sünden um eines Menschenopfers willen? In diesem Briefe an die Hebräer ist gerade die Stärke und Hauptsache des Inhalts eben diese: äußerliche, gemeine, sichtbare Opfer haben für das Gewissen der Menschen keine Wirkung, keinen Erfolg; sie betreffen blos das äußerliche Verhältnis in der Geselschaft. Christus aber ist in dem grösten volkommensten Verstande ein Priester; er hat GOtte ein einziges Opfer, durch sich selbst, gebracht; dis hat aber so eine Beschaffenheit, so einen Umfang, begreift solche große Grundsätze und Wahrheiten in sich: daß wir in unsern Gewissen eine neue unaufhörliche Kraft erfaren, alle jene Sünden künftig zu meiden, und in die geistliche rechte Verehrung GOttes einzuwilligen. Sind dis Begriffe, die ein Leser mit dem greulichen Namen Menschenopfer verbindet? Warum sol nun Christus mit einem so unwürdigen Namen beschrieben werden? Haben wir Christen diesen unwürdigen Begrif? Ist es eine natürliche Folge unsers übrigen Systems? bey keiner Partey nicht. Arianer hatten eine physische Vereinigung des Logus und JEsus angenommen, und beschrieben daher den begreiflichen Grund, daß das Blut JEsu (im Abendmal) eine besondre große Kraft hätte, die Menschen von der Sünde und dem Tode, zur Frömmigkeit in diesem Leben, und zur seligen Unsterblichkeit zu erheben. 358 Gnostiker ließen [78] ebenfals alle Kraft und Wirksamkeit zur moralischen Ausbesserung der Menschen, aus der Person des himmlischen, ewigen Aeon, Christus, herkommen. Sabellianer lehren eine Einwirkung GOttes auf Jesum, und beschreiben eine moralische Ausbesserung der Menschen, durch änliche Wirkung GOttes, als in Jesu war. Da man ferner ausdrücklich 359diese Person aus zwey Naturen zusammensetzte, beschrieb man den steten Einflus der göttlichen Natur, um die großen Wirkungen begreiflich zu machen, die in der Menschheit ihren Grund nicht hätten. Nie hat man also aus dem Tode Christi ein Menschenopfer gemacht. Die freye Einwilligung Jesu in diesen Tod, um die großen Folgen für die Menschen zu verschaffen, die bey allen ungeistlichen Opfern nicht entstehen konten: nent die (h.)heilige Schrift ein Opfer, das Jesus GOtte geleistet habe. Kann dis ein Menschenopfer seyn? Man müste ja alles verdrehen. Und wer könte unter Christen so sehr unwürdig und leichtsinnig es beschreiben? Sie sagen selbst, GOtt hat den Tod Christi um eines großen Zwecks willen, uns zu gute, verordnet; die Christen kennen diesen Endzweck; nun wird dis als das rechte volkommenste Opfer beschrieben; seine moralischen Folgen sind ewig; wer konte in diesem Zusammenhange so reden, GOtt hatte sich ein Menschenopfer bestelt? Ist es billig und ehrlich, Consequentien zusammen zu setzen, und sie den andächtigen Christen nun Schuld zu geben? Dis konte, durfte, solte der (Hr.)Herr Verfasser denken: proprie ist Christus kein Priester und kein Opfer; GOtt hat die Menschen mit ihm selbst versönet, und läßt diese Predigt von einer geistlichen rechten Versönung nun öffentlich bekant machen; dis sind alles moralische Sachen. Denn mit den Sinnen sahe man zwar JEsum kreutzigen und tödten; aber den Zusammenhang mit einem neuen Erfolge für die neue Kentnis und Zuversicht der Christen, konte niemand sehen oder mit den Sinnen empfinden. Moralische Dinge und Begebenheiten bringen also keine so einzige Vor[79]stellung von sich und ihrer Absicht oder Zusammenhange mit, als sinliche Dinge und ihre Veränderungen. Giebt es also mehrere Vorstellungen über den Zusammenhang des Todes Christi, mit Folgen für die neue Erkentnis und Anwendung der Menschen: so kan ich nicht fordern, daß alle Christen in Ansehung der Beschreibung, ( Christus ist ein geistlich Opfer für unsre Sünden; er hat uns mit GOtt aufs volkommenste versönet etc. wir brauchen keine gemeinen sinlichen Opfer;) eine einzige Vorstellung und Bestimmung dieser Begriffe haben sollen; es geht mich auch ein fremdes Gewissen gar nichts an; ich wil auch kein Lehrer der augspurgischen Confeßion seyn, ich gehöre selbst zu keiner der drey Religionsparteien; ich kan also meiner eigenen Vorstellung für mich und meines gleichen Zeitgenossen den Vorzug geben. Aber ich darf die Beschreibung der Christen, die sie ebenfals aus Gewissenhaftigkeit annemen, nicht nachtheilig verdrehen. Dieses hätte der (Hr.)Herr Verfasser denken und schreiben dürfen. Endlich, wenn es auch, seit einiger Zeit, wider die Vernunft des (Hrn.)Herrn Verfassers ist, wenn er auch nie in der heiligen Schrift davon etwas gefunden, daß GOtt um der volkommensten Tugend JEsu willen, die wir uns wünschen, die Flecken oder Mängel unserer Tugend und Pflichten übersehe: so hilft es ja nicht dazu, daß dieses sogleich auch wider die Vernunft anderer Christen seyn müsse, und daß sie diese Sache nicht in der heiligen Schrift fänden. Viele der ersten Christen konten es nicht einsehen, daß GOtt das mosaische Gesetz nun für unnütz, zu moralischen Absichten, erklären könne und wolle; war dis nun zugleich ein Grund wider alle übrige Christen, die dieses wirklich ganz leicht einsahen? Wer auch nur die Schrift des gelehrten 360 Anselmus, cur Deus homo, gelesen hat, (und wer eine solche Reforme der christlichen öffentlichen Lehrbücher vornemen wil, müste sie doch auch gelesen haben) der kennet eine grosse Menge von würdigen erhabenen Gedanken, die alle höchst vernünftig und ge[80]gründet sind, über den vortreflichen Zusammenhang der volkommensten Frömmigkeit und des Wohlgefallens GOttes, mit der Beruhigung aufrichtiger Christen, die sie aus dieser von GOtt gemachten Ordnung und Folgen, die sie selbst so gern einwilligen, herleiten. 361Die Tugend Christi, ist auch nicht eine fremde Tugend, in Absicht aller gläubigen Christen; wenn sie gleich nicht subjectivisch schon wirklich ihre Tugend ist; sie ist dem Anfange, dem heissesten Wunsche nach, auch schon ihre Tugend. Wie GOtt den Vorsatz und Wunsch dis und jenes Böse zu volziehen, mit Recht als volzogen für den Menschen ansiehet: so ist es gleiches Recht und Würde GOttes, uns, die wir die volständigste Tugend Christi gern selbst haben wolten, um Christi willen, das ist um sein selbst willen, weil er ein solcher GOtt ist, über unsre Mängel zu beruhigen. Dis finden wir überal in der Schrift; warum sollen wir nicht unsrer Erkentnis folgen, die ohnehin die Erkentnis und der Glaube aller katholischen Christen ist? Und wer solte uns wol vorschreiben, was wir für Betrachtungen und Gedanken zu unserer christlichen Erbauung machen müsten? Man griffe ja in das heilige Recht unsers Gewissens; das wäre eine neue Art von Toleranz; deren Anhänger den Vorsatz ausfüren wolten, 362 veteres migrate coloni.

4.

363 ‘Ich glaube, daß GOtt den Aposteln seinen Geist gegeben hat; daß aber dieser Geist eine dritte Person in der Gottheit sey, davon bin ich nicht überzeugt: vielmehr finde ich in heiliger Schrift keine andere Bedeutung von dem πνευμα ἁγιον als diese beyden: daß es entweder göttlich gewirkte Gaben, Talente und Kräfte anzeigt, oder das nomen Dei selbst, welcher diese Gaben mittheilt.’

Wenn der (Hr.)Herr Verfasser nicht vorhin namentlich dieses angefüret hätte, unter den Lehren, welche die Quel[81]len des Unglaubens und der Religionsverachtung seyn sollen: so würde man es aus dieser hier gegebenen Erklärung nicht einsehen oder wissen können. Diese Erklärung steht ihm eben so frey, als die andern Urtheile über die Lehrformen im teutschen Reiche; allein nur in Absicht seines eigenen Gewissens; gar nicht aber, insofern er zugleich sich ein Recht geben wil, unsre Lehre vom heiligen Geiste, die wir öffentlich abgefaßt haben, so zu beschreiben, sie seie gar nicht in der (h.)heiligen Schrift gegründet; warum? dieweil er diese Bedeutung vom (h.)heiligen Geist, als einer Person in der Gottheit, gar nicht finde. Dis ist eine Uebereilung. Ich bin davon nicht überzeugt, schreibt er hier; und 364dort schrieb er, dieser Lehrsatz gehöre mit unter diejenigen, ‘welche keinen Grund in der (h.)heiligen Schrift haben, und eine Quelle des Unglaubens – seien’. Wie kan er dieses so geradehin behaupten, wenn er blos ungewis ist, und nur nicht überzeugt ist? Wenn er aber auch wirklich überzeugt wäre, unsre Lehrbestimmung habe gar keinen Grund: Folgt es denn, daß also niemand davon überzeugt seyn könne, und daß sie in der Bibel nicht gegründet seie? War denn 365 Clarke es nun nicht? Er hat aber ausdrücklich diese Bestimmung, als die Bedeutung mancher Stellen, ganz überzeugt und sicher angenommen. Warum zeichnet also der (Hr.)Herr Verfasser diesen Lehrsatz doch an, unter denen, welche alle Christen faren lassen solten? Ich habe schon angefürt, daß an dem Namen, dritte Person, gar nichts lieget; wenn die Christen nur aus heiliger Schrift glauben, der heilige Geist bedeutet den Urheber der geistlichen Wirkungen zu ihrer Besserung und ewigen Wohlfart. Was die Sache selbst betrift: so ist es lange Zeit her schon eingestanden, daß πνευμα ἁγιον nicht überal, in allen Stellen, eine Person oder alium agentem anzeige; daß vielmehr, sehr oft, da und dort, durch eine 366 Metonymie, die Wirkung und Gaben des heiligen Geistes selbst mit diesem Namen belegt würden. Die Apostel haben den heiligen Geist in dieser Bedeutung em[82]pfangen; da giebt es ein ungleiches Maas des heiligen Geistes. Es ist hier der Ort nicht, alles zu wiederholen, was unsre drey Systemata hiervon gemeinschaftlich enthalten; aber ich wil doch ganz kurz etwas anfüren. 367 πνευμα und πνευματα, heißt unleugbar in recht vielen Stellen des neuen Testaments, eine unsichtbare selbst handelnde Substanz; ein Subject, das Verstand und Willen in Wirkungen selbst anwendet. Es wird oft von dem Geiste GOttes geredet, wie ein Geist des Menschen oder im Menschen unterschieden wird, den man in GOttes Hände befelen kan, wenn der Mensch dem Leibe nach stirbt. Nachdenkende Christen wusten es, daß sich diese Vergleichung (wie der Geist, der im Menschen ist) nur auf diese, alle andre Mitkentnis ausschliessende, Absicht GOttes beziehen solle und müsse; indem der Geist GOttes nicht, wie in einem menschlichen Körper, durch den Tod getrent und abgesondert werden kan; es müsse also der Geist GOttes ganz anders zu GOtt gehören, als der Geist des Menschen jetzt zum Menschen als ein Theil eines endlichen Ganzen gehöret. Sie fanden auch, im Namen des heiligen Geistes, neben der Beschreibung im Namen des Vaters, des Sohnes, oder im Namen Christi; daß auch dem Geiste GOttes ein Wollen, Thun, Wirken, Reden, Lehren (etc.)et cetera beigelegt werde, also leiteten sie diese Vorstellung aus solchen Stellen ab: heiliger Geist ist in manchen Stellen ein subiectum agens, ohne Vervielfältigung und Veränderung eben des einzigen höchsten Wesens. Ueber diesen Lehrsatz vereinigten sich nach und nach alle katholischen Kirchen und Lehrer, mit steter Schonung der Gewissen denkender Christen, die ja nicht eine absurde unwürdige, widersprechende Vorstellung zu diesem Lehrsatz rechnen sollen. Man läßt auch die Wahl und Erklärung der Stellen frey; und es haben die Christen einen so guten Zusammenhang ihrer Vorstellungen, von den grossen Wohlthaten GOttes, des Vaters, des Sohnes oder Eingebornen und des heiligen Geistes: [83] daß ihr ganzes Herz vol andächtiger gläubiger Bewegung und geistlicher Ordnung ist. 368 Wie wil hier ‘eine Quelle des Unglaubens und der Religionsverachtung’ entstehen? Es ist jetzt die Rede vom Verhältnis der Lehrsätze der augspurgischen Confeßion, oder des christlichen Glaubens, in Absicht des gemeinen öffentlichen Unterrichts für alle Christen; gar nicht vom Verhältnis gegen den Stand der Gelehrten; alle gelehrten Bestimmungen bleiben ein Geschäfte des besondern Standes in der äusserlichen Geselschaft; haben keine Beziehung auf die eigene moralische Volkommenheit und Seligkeit der Christen. Und Gelehrte, als Gelehrte, müsten sich schämen, wenn sie in den Lehrsätzen de trinitate einander solche Irthümer schuld geben, die die eigene Seligkeit anstiessen und umwürfen; denn so wichtig sind alle Fragen der Scholastiker und Dogmatiker niemalen geachtet worden. Folglich hat der (Hr.)Herr Verfasser zwar seine Meinung hier erzälet; aber nichts vorgebracht, das da zeigte, unser gemeiner Unterricht vom heiligen Geiste, als Urheber geistlicher Wirkungen in uns, durch die christlichen Wahrheiten, seie eine Quelle des Unglaubens. Daß aber Leute, die schon ein Kitzel sticht, in abstracto etliche Begriffe oder Sätze dahin stellen, und nun auf und abdiscuriren, und sich entschliessen, die Lehrbücher der drey Religionsparteien aufzuheben, und einen Entwurf einer algemeinen Religion zu machen: kan gar nicht angesehen werden, als eine endliche Folge unserer so erbaulichen so leichten Lehre; da diese Folge nur in ihren Köpfen und in ihrer Denkungsart ist; deren christliche Beschaffenheit wir nicht gestehen. Endlich ist es auch nicht gut ausgedruckt: πνευμα ἁγιον zeigt entweder an, göttlich gewirkte Gaben, Talente und Kräfte; oder das nomen Dei selbst, welcher diese Gaben mittheilt. Was sol denn dis heissen, πνευμα ἁγιον zeigt das nomen Dei selbst an? In welcher Stelle wol? (Z. E.)Zum Exempel Taufet im Namen des Vaters, und des Sohnes und des heiligen Geistes; da sol es heissen, taufet im Namen des [84] Vaters, des Sohnes, und im Namen GOttes selbst? Ich kenne doch keine Stelle, wo πνευμα ἁγιον das nomen Dei selbst anzeige; GOtt hat geredet durch πνευμα ἁγιον, durch seinen Geist – Die Sache verhält sich vielmehr anders; die besondre 369moralische Geographie, oder die Ungleichheit der Schriften, woraus in einer Provinz eine Geselschaft ihre Vorstellungen samlete: ist die Ursache von der ungleichen Bedeutung des Ausdrucks, Geist GOttes, heiliger Geist. Wie heiliger Geist und Christus in manchen Schriften der ältern christlichen Lehrer einerley bedeutet hat, wo heiliger Geist gewis weder Talent noch Namen GOttes heißt: so hat hingegen dieser Ausdruck bey andern zu gleicher Zeit eine innere Wirkung GOttes auf den Verstand und Willen der Menschen bedeutet. Folglich sind christliche Ausleger und Schriftsteller gleich vom Anfange an hierüber getheilet gewesen; aber in keiner Bedeutung ist dieser Ausdruck ‘eine Quelle des Unglaubens’; am wenigsten, in dem öffentlichen Religionssystem, das mit gutem Gewissen hier angenommen oder so und so weit verlassen wird. Wo solte bey gutem Gewissen Unglaube und Verachtung der Religion bestehen können? Auch sogenante 370 Pnevmatomachi blieben Christen, und gerieten in keine Verachtung der christlichen Religion.

5.

371 Ich glaube, daß GOtt in und mit Christo war, und daß wir folglich alle den Sohn zu ehren verbunden sind, wie wir den Vater ehren: allein wie GOtt in Christo war, ob nach Athanasius Vorstellungsart (welche ich gerade für die schlechteste halte) oder nach Arius oder Sabellius oder eines andern Meynung, das ist für den Zweck der Religion (d. h.)das heißt für die Besserung und Beruhigung der Menschen, sehr gleichgültig, und solte nie mit kirchlicher Autorität entschieden sondern jedem überlassen werden, wie er sichs denken will. [85] Indessen scheint mir so viel aus Vernunft und Schrift bis zur höchsten Evidenz erweislich, daß Christus und der einige GOtt Jehovah, den er seinen Vater nennt, sehr verschieden sind, und daß wenigstens Christus nicht in dem nämlichen Sinne GOtt heisse, in welchen es der einige GOtt Jehovah heißt; wie er sich denn selbst über diese Benennung Joh. 10. deutlich und ehrlich genug erklärt hat; wenn er denen, die ihm Gotteslästerung vorwarfen, sagt: – Wenn die Schrift alle die GOtt nennt, προς οὐς ὁ λογος θεου ἐγενετο, (d. h.)das heißt die göttliche Aufklärungen zu Belehrung der Menschen erhalten haben, wie könnte ich mir über diese Benennung einen Vorwurf machen, (ὁν ὁ πατηρ ἡγιασε,) da mich der Vater so ganz besonders ausgezeichnet hat.

Hiebey mache ich folgende Anmerkung. 1) Es wäre nötig, wenigstens sehr gut gewesen, die hier blos abgeschriebenen Worte und Texte, GOtt war in Christo, wir sollen alle den Sohn ehren, wie wir den Vater ehren, mit einer deutlichen Erklärung zu versehen; zumal in einem öffentlichen Bekentnis. 2) Das Urtheil, ob nach des Athanasius Vorstellungsart, die der (Hr.)Herr Verfasser gerade für die schlechteste hält, habe ich schon vorhin kurz erläutert; was sol es denn hier heißen? Leser wissen nun nicht, welche Vorstellungsart hier so geschwind, (die schlechteste) beurtheilt werde. 3) Daß die genaue einzige Bestimmung, entweder des Arius, oder des Sabellius, oder der nachherigen hintereinander folgenden katholischen Lehrer, für den Zweck der Religion, (d. i.)das ist für die Besserung und Beruhigung der Menschen sehr gleichgültig sey, ist des (Hrn.)Herrn Verfassers eigene Meinung; und kann doch wenigstens nicht machen, daß alle Lehrer und alle Christen eben so urtheilen müsten oder könten. Denn, wenn es genau genommen wird, so redet der (Hr.)Herr Verfasser von der privat Religion, von der eigenen innerlichen Religion, indem er die Besserung und Beruhigung der Menschen [86] ausdrücklich nent; welches ganz gewis zur Privatreligion gehöret. Nun kan aber der (Hr.)Herr Verfasser über die privat Religion gewis noch weniger ein Gebot ausgehen lassen, als er dis dem Athanasius, Arius, Sabellius selbst zugestehet. Folglich müssen es alle Christen ganz und gar auch frey behalten, zu urtheilen, ob für sie selbst dis wahr ist; daß ihre Beruhigung eben so gewis und sicher statt finde, wenn sie verneinen wollen, 372daß Christus schon vorher zu GOtt gehöre. Dis kann der (Hr.)Herr Verfasser nicht nach seiner eignen Einsicht ausmachen. Allein, wie hängt dis nun zusammen, mit seinem vorigen Ausspruche, 373 ‘die Lehren, welche weder in der heiligen Schrift, noch in der Vernunft Grund haben, und eine Quelle des Unglaubens und der Religionsverachtung sind’, seien diese, die in unsern Lehrbüchern stünden: von Erbsünde – von Gottheit Christi und des heiligen Geistes. Ich sage, wie hängt dieses nun zusammen? Hier sagt er, es ist für den Zweck der Religion gleichgültig, man mag Christum zu GOtt rechnen, nach unserer kirchlichen öffentlichen Lehre, oder nicht. Dort aber sagte er: 374diese Lehre gehört zum ‘unabsehligen Systemwust, sie ist eine ‘Quelle des immer mehr einreissenden Unglaubens’? Wenn in einem so kurzen Bekentnisse, das doch wohl gehörige Ueberlegung erforderte, solche unreimliche sich aufhebende Beschreibungen vorkommen: wie sollen denn Leser dem (Hrn.)Herrn Verfasser die nötige Einsicht und Ueberzeugung zutrauen, wenn er gleich seinen Muth und Unerschrockenheit rümet, womit er alle unsre öffentlichen Lehrschriften, allen Systemwust umreissen, und eine neue Religionsforme oder neuen Systemwust entwerfen wil? Da nun noch dazu unsre öffentlichen Lehrbücher zur feierlichen äußerlichen Religionsordnung, als Vorschrift, gehören, um eben dergleichen tägliche Anmaßungen und Uebereilungen einzeler Schriftsteller zu verhüten, und der unabsehligen Verwirrung der Zeitgenossen vorzubauen; wie kann nun daraus, daß Privaturtheile über diese Lehrformen, die für die öf[87]fentliche Geselschaft bestimt sind, noch dazu enthalten können, es seie dem Zweck der Privatreligion gleichgültig, es mag Athanasii oder Sabellii Bestimmung priuatim vorgezogen werden; wie kann, sage ich, hieraus folgen, daß also der (Hr.)Herr Verfasser mit allem Rechte eine Abschaffung unserer Lehrbücher öffentlich wünschen und fordern dürfe? Unsre Kirchengeselschaft verwechselt die Rechte und Pflichten des Christen nicht mit den Pflichten des Lehrers, den sie öffentlich prüfen und bestellen läßt. Dem und jenen Christen ist es freilich vielleicht genug, (denn entscheiden kann dis niemand) zu wissen und zu glauben, GOtt hat in Christo mich mit ihm ganz gewis versönet; und er denkt nun, was er kann; – aber von dem Lehrer wil man ja nicht eine Privatreligion jetzt wissen, sondern ob er zu unserer Geselschaft, wie sie von andern öffentlichen kirchlichen Geselschaften unterschieden ist, wirklich selbst als ihr Lehrer und Vertheidiger gehöre! Aber eben dis scheinet der (Hr.)Herr Verfasser für unrecht zu erklären; denn er sagt nun weiter, 375 ‘dis solte nie mit kirchlicher Auctorität entschieden, sondern jedem überlassen werden, wie er sichs denken wil’. Wenn dis auch zu den neuen Wohlthaten gehören sol, womit die algemeine Religion uns beglücken wil: so ist in der That wenig im Ernst zu erwarten. Es ist ja abermalen Verwechselung der Rechte des eigenen besondern Gewissens, welches blos gegen GOtt es beurtheilen wil, ob diese Entscheidung in meinem Gewissen selbst muß angenommen werden, welche nun die katholische, die arianische, sabellianische, socinianische heisset; mit den öffentlichen Rechten einer ganzen Geselschaft. Wie diese ein für allemal alles entscheidet, was durch Zeit und Ort bestimt werden kan, ob die öffentliche Versamlung zum Gottesdienst diese oder jene Umstände und Einrichtung begreifen sol, ohne alle Tage dem Lehrer Abänderungen zu verstatten; ob die Kanzel und Orgel, da oder dort stehen sol, wenn gleich viele einzele Mitglieder darüber anders denken mögen: so entscheidet sie auch die [88] Redensarten, welche zum öffentlichen gemeinen Unterricht, zu Gesängen und Gebeten gleichförmig gebraucht werden sollen. Wenn nun ein Lehrer oder Zuhörer in solche Beschreibungen und Redensarten nicht einwilligen kan und wil: so muß er nicht der Geselschaft es anbieten, sie solte sein täglich anderes Urtheil über sich gelten lassen; sondern er hat die Freiheit, sich von dieser Geselschaft, die dieses festgesetzt hat, zu trennen, und eine andre gottesdienstliche Geselschaft sich auszusuchen. Alle Schüler und Anfänger sind nicht im Stande selbst zu urtheilen, indem sie erst den Unterricht anhören und kennen lernen wollen; für diese wird in der öffentlichen Geselschaft gesorget, durch einen gemeinen Unterricht. Die Lehrer, welche den Unterricht ertheilen sollen, werden von der Geselschaft angewiesen, den Unterschied dieser öffentlichen Partey von andern öffentlichen Parteien selbst zu kennen und fortzusetzen; denn die Geselschaft hat gar die Grundsätze nicht, sich, in Absicht der äusserlichen Umstände und Rechte, mit allen andern Parteien zu vereinigen; weil sie weder Grund noch Mittel dazu kennet. Sie bestimt also den Unterschied von socinianischer Lehre, und wil ihre Mitglieder nicht zu Schülern des Socinus selbst machen, weil sie gar keinen Grund dazu hat; es wäre wider die eingewilligten Grundsätze der Geselschaft; es würde tägliche Zerrüttung der öffentlichen Rechte, die ausser dem Gebiet des einzelen Gewissens liegen. Wie kan nun ein Privatus sein Urtheil so hoch ansehen, daß er verlangt, es sol gar keine äusserliche Religionsgeselschaft mehr sich unterscheiden von den andern; sie sollen alle Merkmale eines noch so gewissenhaften Unterschiedes wegschaffen, weil der Privatus glaubt, dieser Unterschied seie ohne allen wahren, gültigen, äusserlichen, oder politischen Grund? Ich sehe nicht ein, wie der (Hr.)Herr Verfasser sein privat Urtheil so gleich und so leicht so hoch erheben kan, daß er Ort und Zeit, die Quellen der Individuation und der ungleichen Denkungsart, die ganz unvermeidlichen Un[89]terscheidungsstücke aller äusserlichen Geselschaften, gleich aus den Augen setzt; als gäbe es unter Menschen eine Geselschaft, die freilich nach Zeit und Ort von allen andern Geselschaften änlicher Bestimmung und Absicht, verschieden seyn müste, aber dennoch, ohne festgesetzte Bestimmung der gebrauchten Beschreibungen über ihre Grundsätze und Hauptideen, eine zusammengehörige äusserliche Geselschaft seyn könte. Da möchte ich doch das Band kennen, wodurch es Eine zusammengehörige Religionsgeselschaft wirklich ist?

376‘Indessen scheint mir so viel aus Vernunft und Schrift bis zur höchsten Evidenz erweislich, daß Christus und der einige GOtt Jehova, den er seinen Vater nent, sehr verschieden sind, und daß wenigstens Christus nicht in dem nemlichen Sinne GOtt heisse, in welchem es der einige GOtt Jehovah heißt.’

Diese Beschreibung ist so sehr mangelhaft, daß ich sagen muß, ein jeder lutherischer, reformirter, katholischer Lehrer sage und schreibe ja eben dieses; was hat also der (Hr.)Herr Verfasser hiemit gesagt, um sich von der eigenen Kirche, zu der er bisher gehört hatte, mit kentlichem Grunde zu trennen? Denn, so lange das Subiectum, Christus, so unbestimt bleibt, und das Praedicatum, sehr verschieden, keine Anzeige der wirklichen Verschiedenheit, worin sie bestehet, bey sich hat: ist gar keine Bedenklichkeit dieses zu sagen, Christus und der einige GOtt Jehovah sind sehr verschieden; indem es ganz ausgemacht ist, daß niemand sagen kan, der einige GOtt Jehovah ist eben jener Christus; indem dis der Christus GOttes ist; folglich muß freilich eine Verschiedenheit da seyn. Es ist auch an dem, daß Christus, GOtt, nicht in dem nämlichen Sinne GOtt heißt, in welchem es der einige GOtt Jehovah heißt; denn Jehovah wird (z. E.)zum Exempel von den Juden aus den Schriften des alten Testaments beschrieben als der, der den Christus sendet; und so können sie so wenig [90] als wir Christen sagen, Meßias, Christus, ist in dem nämlichen Sinne eben der Jehovah, als dis Wort im alten Testament als ein Name des höchsten Wesens, an sich, vorkomt, welcher Jehovah den Christus sendet. 377Wenn nun noch dazu die alte christliche Bestimmung des τροπος ὑπαρξεως, oder ἰδια ὑποστασεως περιγραφη, und notio personalis mit dem Worte Jehovah verbunden wird, wie es in den christlichen katholischen Lehrbüchern vorkomt: so ist es ausgemacht, daß Christus nicht in der nämlichen Bedeutung, derselben Person, GOtt heissen könne. Wozu diente also diese unfruchtbare Anzeige, die in den gemeinen Unterricht der Christen gar nicht gehört? wenigstens ist die Bestimmung der Person nur von Gelehrten zum Widerspruch gegen andre Gelehrte, und zum Unterschied der äusserlichen Geselschaft, aufgebracht worden. Konte es nicht in der grösten Deutlichkeit gesagt werden: Logus, der Eingeborne Sohn, ist auch GOtt, wenn gleich nicht ὁ Θεος, Logus war immer bey GOtt; Logus und JEsus machen den Christus oder Meßias του Θεου aus. Christus ist also GOtt, ohne die Person zu seyn, die zwar Jehovah heißt, aber niemalen Christus heissen kan. Nun wäre alles klar und deutlich; wer nun den Logus nicht als GOtt und Urheber und Retter der unsichtbaren Welt und der geistlichen Kentnissen, annemen wil; wer an diesem Stück des Evangelii Johannis gar zweifelt, (obgleich sogar der 378 Kaiser Julian zu seiner Zeit noch keinen Zweifel an der Aechtheit dieses Stücks kante, und es der einfältigen Denkungsart, des 379 ἠλιθιος Johannes geradehin zuschreibet): der muß nun dis sagen, daß er dieses bezweifle und nicht glaube; aber in der wissentlichen Zweideutigkeit des Worts Jehovah, das Ein einzig Subject hier bedeutet, kan er keinen Grund finden. Ich will ganz gerne zugeben, daß Jehovah im hebräischen ein einzigs Subject, oder Person, anzeige; weil die den katholischen Christen geläufige Auslegung mancher Stellen, von dem Meßias oder 380En[91]gel des Angesichtes GOttes, zunächst auf dem Einflusse der Beschreibungen des neuen Testaments beruhet. Wie diese Beschreibungen wieder eine besondre Auslegung mancher Stellen des alten Testaments zum Grund haben, welche Auslegung ebenfals local und nicht allen Juden gleich gemein gewesen. Aber, wenn nun auch Christus, als GOtt und Urheber der geistlichen Welt, jetzt erst diesen besondern Zeitgenossen bekant worden, wogegen Jehovah, den die Juden bisher in der sichtbaren Welt über sich regieren liessen, die eher bekante Person nun hies: hatte diese neue Kentnis eines göttlichen Subjects keinen eben so gewissenhaften Grund für diese Liebhaber der geistlichen unsichtbaren Welt? Sie haben also den Namen Jehovah, oder 381 ὁ Θεος των ὁλων, von nun an unterschieden von dem Logos, oder Eingebornen, und von Christus; aber dieser Unterschied betraf ja nicht das, was das allerhöchste Wesen an sich ausmacht, und von endlichen Dingen, die ausser einander sind, durch Vervielfältigung ihrer Natur, unterscheidet; hie ist Θεος und ὁ Θεος einerley; sondern einen anders bestimten 382 τροπον ὑπαρξεως des Einen höchsten Wesens, dessen weitere Entwickelung entweder, der Unbegreiflichkeit wegen, gar nicht versucht wurde; oder von Lesern des neuen Testaments eben aus den Beschreibungen, mein Vater, der Vater, der Eingeborne, der einzige höchste Sohn, der Erstgeborne, durch den alles geschaffen ist – nach ihrem gutem Gewissen zusammen gesetzt worden, welche in dieser unsichtbaren Welt sich auch einen Zusammenhang GOttes dachten, wozu sie allerley Schriftstellen erbaulich anwendeten. Ist hier etwas geradehin unvernünftiges und tadelnswürdiges? Es ist der freie Gebrauch des Gewissens gegen den Inhalt daseiender Schriftstellen oder mündlicher Belehrungen: welcher Gebrauch des Gewissens jederzeit die eigene Religion bestimt und ausmacht.

[92] 383Daß sich Christus Johan. 10. deutlich und ehrlich (welch eine Beschreibung! ehrlich genug?) genug erklärt habe: ist ja ebenfals nichts weiter, als des (Hrn.)Herrn Verfassers eigene Meinung, wodurch eine richtigere und volständige Auslegung nicht aufgehoben werden kann. Der Zusammenhang der Rede ist ein Vortrag Christi von dem geistlichen Verhältnis des Meßias;

(v.)Vers 24.

fragten die Juden, bist du denn der Christus? sage es uns doch gerade heraus. Jesus antwortet also: schon lange habe ich euch durch meine Lehre und Handlungen zu überzeugen gesucht, daß eure Begriffe vom Meßias gar nicht mit den Absichten GOttes einstimmen; aber ihr wolt keinen solchen Messias; ihr gehört nicht zu der Heerde, die GOtt dem Messias angewiesen hat; meine Schaafe folgen mir, wie ich sie füre und lehre; freilich füre ich nicht in ein leibliches Reich auf Erden: sondern ich füre sie alle zum ewigen Leben; da ist kein Untergang der Heiden zu erwarten; aller Widerstand, den ihr mir entgegen setzt, ist vergeblich. Die Verordnung GOttes kann niemand umstossen; ihr werdet doch glauben, daß ihr GOtt nicht überwinden könt. Ich, der ich dieses lehre und immermehr bewerkstellige, was GOtt haben und durch den Meßias ausrichten wil; und mein Vater, der nur einen solchen Meßias verordnet hat, sind Eins; wer sich mir widersetzet, der widersetzet sich GOtte. Da wolten die Juden ihn steinigen; du bist doch ein Mensch und wir sollen dich eben so ehren als GOtt; das ist eine Lästerung – Jesus antwortet nun: euer Eifer ist sehr ungegründet und ist sogar euren heiligen Schriften entgegen. Nicht wahr, der Name Elohim wird dort ohne allen Anstos solchen Menschen beigelegt, die im Namen GOttes diese und jene Aussprüche bekant machten; weil sie hiemit an dem Ansehen und der Hoheit GOttes Theil namen? Nun schließt vom Kleinen aufs Große! Kent ihr die alten Grundsätze nicht mehr, wonach man den Meßias also beschreibet, daß GOtt ihn über alles außer ihm gesetzt habe; daß dis der [93] Sohn GOttes ist, der immer bey dem Vater in der unsichtbaren Welt ist; wenn nun GOtt diesen Sohn in die Welt gesendet hat, wie er mich wirklich gesendet hat: ist das eine Lästerung, wenn ich sage, der Sohn und sein Vater sind Eins? beurtheilet, was ich zeither unter euch vorneme, ob es große GOtt würdige Anstalten sind? wenn sie es nach euren guten Gewissen nicht sind, alsdenn habet ihr ein Recht, mir nicht zu glauben (etc.)et cetera

Nun wollen wir diese Rede Christi näher untersuchen. Der Satz, den er den Juden vorhält, ist als 384 Obersatz von ihnen eingestanden; es gibt einen Sohn, der bey GOtt ist, der von GOtt selbst von jeher über alle endliche Dinge gesetzt ist, (ἡγιασε) und der in die Welt kommen sol, um das wahre Verhältnis des Meßias auszurichten oder zu bewerkstelligen. Ja, sagen die Juden, das wissen wir. Der Untersatz aber, dieser Jesus ist in irgend einer Bestimmung dieser Meßias und Sohn GOttes, wird von ihnen geleugnet, weil sie die algemeine geistliche Bestimmung des Meßias nicht kanten und glaubeten. Vorausgesetzt also, das bisherige unsichtbare Daseyn dieser Person bey GOtt, ehe sie in die sichtbare Welt gesendet, oder unter den Menschen nun weiter bekant wird: wie unbillig und unehrlich müsten wir handeln, wenn wir nicht aus eben diesem Evangelio Johannis und aus andern Stellen, die von dieser so charakteristischen Person reden, uns alle nur mögliche Belehrung aus allerley Zeiten und Schriften der Apostel samlen wolten? 385Es ist ja vielmehr klar, daß Jesus für diese Zuhörer jetzt ein mehrers nicht anbringen konte; deswegen aber blieben ja alle jene ausfürlichen Begriffe, welche andre von diesem Meßias sich gesamlet hatten, wirklich stehen, wenn gleich Jesus diesen Juden nicht alle einzele Stücke hier jetzt vortragen konte. Er wil ja offenbar diese Zuhörer nur auf die erste Stufe des eigenen gewissenhaften Nachdenkens bringen, und den allerersten Anstos ihnen benemen. Dis [94] ist aber folglich nicht die allerdeutlichste Stelle, wonach man alle andern wieder einschränken und ihren Inhalt kleiner machen dürfte. Wer wolte so unbillig und unrecht handeln? Die Juden setzen hier voraus, Jesus ist ein gemeiner Mensch; Jesus sagt, ich bin jener Meßias, jener Sohn GOttes, dem sein Vater das allergrößte unendliche moralische Verhältnis beigelegt hat; der sonst bey dem Vater, und auf Erden noch nie beschäftiget war; den er nun zu euch gesendet hat. Hat dieser nicht das Recht, dis sein großes unendliches Verhältnis gegen GOtt euch bekant zu machen, und es sich bey euch beizulegen? Hier wil nun der (Hr.)Herr Verfasser sagen, 386 Jesus wolle deutlich und ehrlich nur so viel anzeigen, ich kan mir über diese Benennung keinen Vorwurf machen. Es ist ja die Rede nicht davon, ob sich Jesus einen Vorwurf machen könne, oder nicht könne: sondern ob die Juden nicht einräumen müssen, daß der Meßias vielmehr seie, in einem viel größern Verhältnis gegen alle Menschen stehe, als je ein gewesener Prophet oder ehemaliger Oberster ihres einzelen Volks? Wenn nun dis keine Gotteslästerung war, daß die Schrift schon ehedem solche Menschen Elohim nent: wie können Juden einen Grund haben, denjenigen einer Gotteslästerung zu beschuldigen, der sich als den Meßias angibt; von welchem Meßias sie alle gestehen, daß GOtt ihm eben das algemeine Verhältnis beigelegt habe, wonach ihm Menschen, wenn er in die Welt komt, eben die Ehre beilegen sollen, und eben so glauben, als GOtt, sein Vater, ihm schon beigelegt hat. Alles ist hier Historie; ist vorausliegende Vorstellung denkender Juden von dem Meßias; aber noch immer unbestimte jüdische Vorstellung. Eben der Johannes setzt nun die christliche neue Bestimmung dazu; Logus ist GOtt, oder ein Subiect, das zu GOtt, und nicht zu Geschöpfen gehört; er war immer bey GOtt; 387der Eingeborne, der gleichsam im ewigen Schooße des Vaters ist; und nun alle Beschreibungen aus dem Briefe an die Hebräer und [95] andern Briefen Pauli. Die müssen zu unserm christlichen Unterricht notwendig jener localen Rede Jesu vorgezogen werden, der mit Juden zu thun hatte, welche von der Kentnis der ewigen geistlichen Welt noch weit entfernt waren. Nimmermehr aber fält es einem Christen ein, den einigen GOtt, in Ansehung des wesentlichen Verhältnisses dem GOtt Logos, oder dem Eingebornen, der immer bey GOtt ist, der unendlichen Natur nach, zu opponiren; das Gewissen des Christen behält es frey, dis dem Begrif der Unendlichkeit anzurechnen, daß er weiter davon nichts verstehen kann; dis überhebt ihn aber der Pflicht nicht, den Urkunden der christlichen Religion aufrichtig selbst nachzudenken, und an den Vater und Sohn des Vaters gleichgut zu glauben. Wir überlassen also dem (Hrn.)Herrn Verfasser, 388 es mag ihm dis oder jenes scheinen; wir glauben, daß Eingeborner, Erstgeborner vor aller Creatur, einer der im Schooße des Vaters ist, zu GOtt und zur Ewigkeit gehöre; wenn wir gleich es nicht, der bestimten Art und Weise nach, verstehen und erklären können; wie es uns mit andern wesentlichen praedicatis des allerhöchsten Wesens gehet, die wir doch gewis glauben, wenn wir sie gleich nicht ihrer innern Beschaffenheit nach erklären können, weil wir endliche eingeschränkte Menschen sind, die das Unendliche nicht aus ihren Gesichtskreise berechnen dürfen. Oder ist das höchste Wesen sonst nichts, als was ich durch meine Gedanken erst bestimme und festsetze?

6.

389 Daß für Christen der Glaube an Jesum Christum die unausbleibliche Bedingung der Seeligkeit sey, ist unleugbar. Allein daß sich diese Verbindlichkeit auch auf die Nichtchristen erstrecke, halte ich für unvernünftig, unmenschlich und schriftwidrig. Und daß dieser Glaube in einer Ergreifung und Zueignung des Verdienstes Christi bestehe, halte ich für eben so falsch. [96] Wenigstens steht im neuen Testament so wenig von diesem Begrif des Glaubens, daß es mir ein Räthsel ist, wie die Lehrer der Kirche je haben drauf fallen können. Der Glaube an Christum ist Annehmung und Befolgung der Lehre Jesu, und festes Vertrauen auf seine mit seinem Tode besiegelten Verheißungen einer künftigen Seeligkeit der Tugendhaften.

1) Stehet denn etwa in den symbolischen Büchern der drey Parteien dergleichen Behauptung? daß auch diejenigen, so nichts von der christlichen Religion gehört haben, gar nichts davon wissen, dennoch danach, nach den Grundsätzen der Christen, von GOtt gerichten werden? Wissen wir etwa nicht, was Paulus Röm. 2, 12. schon gelehret hat, von denen, die 390 ἀνομως, ohne ein geschrieben jüdisches Gesetz leben? Jederman, der zu Gelehrten gehört, weis es, 391seit dem alten Urheber der Bücher de vocatione gentium – warum wird also hier diese ganz zufällige Anzeige eingerückt? 2) Daß der Glaube an Jesum Christum in einer Zueignung des Verdienstes Christi bestehe: hält der (Hr.)Herr Verfasser für falsch; glaubt auch, daß davon nichts im neuen Testament stehe; sagt also, es seie ihm ein Räthsel, wie die Lehrer der Kirche je haben drauf fallen können. Ist denn nun dis was großes und wichtiges? Dem (Hrn.)Herrn Verfasser kann gar vieles als ein Räthsel vorkommen, und dieses, sein Denken, hat doch weiter gar keine Wichtigkeit. Uns mus es sonderbar vorkommen, daß er solche unerhebliche Anzeigen drucken läßt; und so alte socinianische Anmerkungen als wichtige Verbesserungen des öffentlichen Lehrbegrifs, öffentlich empfielet. Ueber Worte sol doch wol nicht jetzt ein Krieg entstehen? Wohlthaten oder Gnade Christi; das ist, was wir ihm von geistlichen Vortheilen zu danken haben: und Verdienst Christi, ist in der ganzen christlichen Welt einerley. 392 Christus meruit nobis, und Christus peperit, procurauit, consecutus est suis studiis hominum bono, [97] ist einerley, in der lateinischen christlichen Welt; und diesem (Hrn.)Herrn Verfasser ist es ein Räthsel, wie die Christen sich diese Wohlthaten Christi, dieses meritum Christi, id, quod meruit Christus, zueignen wollen? Es ist ihm ein Räthsel! Christus ist Urheber und Mitler eines neuen bessern Bundes, hat einen neuen lebendigen Weg geöfnet, hat eine ewige Erlösung von der Sünde geschaft; durch Christum Jesum ist eine solche Erlösung geschaft worden, worin sich lauter Gnade GOttes thätig offenbaret, –; und wir sollen keinen Grund haben, zu sagen, wir eignen uns durch den Glauben durch lebendige Vorstellung und Genemhaltung zu, alle diese Wohlthaten Christi? Wil denn der (Hr.)Herr Verfasser Oberherr über unsern Verstand, über unsre Urtheile, und die darin gegründeten wörtlichen Aeußerungen und Beschreibungen seyn? Und wie beschreibet er denn den Glauben an Christum? Er sagt: 393‘der Glaube an Christum ist Annemung und Befolgung der Lehre JEsu, und festes Vertrauen auf seine mit seinem Tode besiegelte Verheissung einer künftigen Seligkeit der Tugendhaften.’“ Folglich, weil er nur also den Glauben an Christum beschreibet, so haben alle bisherige Christen unrecht, da sie sagten, der Glaube an Christum bestehet in Ergreifung und Zueignung seines Verdienstes oder seiner Wohlthaten. Ich gestehe es wieder, daß es mich verdrießt, auf solche Kleinigkeiten und Mikrologien etwas zu antworten. 1) Die Verheissungen Christi sind also doch auch ein Gegenstand des Glaubens an Christum, und zwar der erste Gegenstand, wider die falschen Einbildungen der Juden und Heiden, in Absicht ihrer äusserlichen gottesdienstlichen Beschäftigungen; die ersten Verheissungen Christi betreffen unsere jetzige Seligkeit, die wir sonst nicht kennen und nicht finden; enthalten eine neue volkommenere Art, GOtt wohlzugefallen, mit Vergebung unserer Sünden. Wer nun diese verheissenen Sachen ergreift, der glaubet selbst an Christum; wer diese Verheissungen als Wohlthaten, die Chri[98]stus geschaft und versichert hat, mit eigenem Wunsche annimt: der ergreifet dasjenige, was ihm ohne Christo felete, und ihm doch unentberlich ist zu seiner jetzigen geistlichen Wohlfart und Seligkeit. Wenn nun der Glaube bestehet in Annemung und Vertrauen auf die Verheissungen Christi: und unsre christlichen Vorfaren haben vor mehr als 1000 Jahren gesagt, ich ergreife diese Wohlthaten und dieses Verdienst Christi: warum sol denn von andächtigen Christen in unserer Zeit nicht mehr also geredet werden? Dis wäre ja ein unerhörter Zwang und eine Tiranney über die Gewissen und Gedanken der Christen? 2) Christus lehret nicht blos, was wir in unserm Leben thun und beobachten sollen, als Pflichten gegen andre Menschen; sondern er lehret auch von sich selbst, wofür wir ihn halten und annemen sollen, wozu GOtt den Christus gemacht und bestimt hat; hier hat der Glaube des Christen freies offenes Feld, und läßt es sich von niemand, geschweige von dem (Hrn.)Herrn Verfasser, verengern; Christus ist meine rechte Versönung, meine Gerechtigkeit, die muß GOtte wohl gefallen; denn er hat Christum für mich gemacht zur Gerechtigkeit, Heiligung, Erlösung, daß ich gerecht, weise und erlöset würde, Christus ist mein allerbester Hoherpriester; ist mir alles, was ich zu geistlicher Wohlfart brauche. Dis lehret ja Christus auch von sich; 394ich bin der Weg, die Volkommenheit, das Leben (etc.)et cetera wenn also der Glaube bestehet in der Anname und Befolgung der Lehre Christi; und Christus uns lehret, was er ist, wozu er uns von GOtt bestimt seie: so ist es ja ein armseliger Wortstreit, ob man reden und sagen darf, mein Glaube ergreift Christi Verdienst, oder alle seine geistlichen Praedicata und Wohlthaten; und ich befolge freilich auch herzlich gerne, Christi Vorschriften, wonach er lehret, was ich nun seyn und werden sol. Es ist hier also kein Räthsel; sondern wir sehen, der Zustand des Gemüts, das eine starke lebendige Vorstellung hat von seinen geistlichen Mängeln und [99] von dem grossen moralischen Elend, treibt den unruhigen Menschen am ersten zur geistlichen, volkommenen Ruhe und Zufriedenheit, die ihm GOtt durch Christum, der dis auch gelehret und verheissen hat, so reichlich, so unendlich groß geschaft hat; nun lebt der Mensch auch Christo, und ziehet Christum an, um ihm dankbar zu seyn. Da lebt nicht der vorige Mensch, sondern Christus lebt in ihm; er ist und wird immer mehr ein neuer Mensch; diese gleichzeitigen 395 Früchte des Glaubens erfordern wir auch in allen Lehrbüchern. Und also ist es die alte Leier; ob die socinianische Beschreibung besser seie. Wer nun diese als besser vorziehet, muß deswegen nicht sich anmassen, andre christliche Lehrbücher, die in der Geselschaft ein öffentliches Ansehen haben, öffentlich so zu beschreiben, 396 ‘daß sie eine Quelle des Unglaubens seien (etc.)et cetera 3) Eben so ist es unnütze Wortstreitigkeit, und unbillige Anmassung, wenn jemand seine eigene, individuelle Vorstellung, (die Verheissungen Christi sind mit seinem Tode besiegelt worden,) durchaus allen Christen aufdringen wil, als die einzig wahren oder am meisten erbaulichen. Wo sol das Recht herkommen, uns zu tadeln, daß wir sagen: der Tod Christi ist eine fruchtbare Begebenheit, welche in einem grossen reellen Zusammenhange von neuen Folgen und Früchten stehet, die sich als Wirkungen gegen eine Ursache verhalten; wir kennen die Wirkungen und ihre Ursache. Warum sol ich durchaus uneigentlich und tropice reden, besiegelte Verheissungen? Der wirkliche moralische Erfolg für unsre Einsicht und Ueberzeugung, hängt ja zusammen mit dem Tode Christi; nicht wie 397 caussa physica einen effectum physicum überal hat, es mag Menschen geben oder nicht, die ihn bemerken; sondern wie caussa moralis wirken kan. Die Einsicht der Wahrheit der Lehren und Versicherungen Christi, von geistlicher Verehrung und Geniessung GOttes, ist durch das Leben und durch den Tod Christi, für unser Gemüt, möglich gemacht, wirklich befördert, geschaft [100] worden. Der Tod Christi, in dem Zusammenhange mit der Absicht GOttes, giebt Sätze und Begriffe her, die sonst gar nicht statt finden, ohne einen gläubigen wahren Christen; 398der muß auch dabey seyn, wie Luther sagte. Ist es nun der Mühe werth, hierüber ein Bekentnis abzufassen, worin zur Noth die individuelle enge Lage der Denkungsart des (Hrn.)Herrn Verfassers sich entdeckt? Hat er damit unsern, den so alten, so erbaulichen Lehrbegrif, umgestossen? konte er ihn umstossen? Kan er, oder irgend ein vernünftiger Socinianer, es sich nur einfallen lassen, dis thun zu wollen?

7.

399 ‘Daß GOtt alle Tugendhafte in einem andern Leben höchstseelig machen werde, glaube ich; daß er aber eben so geneigt sey, die Bösen in alle Ewigkeit zu martern und dem Teufel zu übergeben, glaube ich nicht. Denn er selbst sagt: ich bin ein eifriger GOtt, der über die, so mich hassen, die Sünde der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied, aber denen so mich lieben und meine Gebote halten, denen thue ich wohl bis ins tausende Glied. Daraus schließe ich gegen die, welche GOtt gern eben so strafgierig als gütig machen möchten: wie sich verhält 4 gegen 1000, so verhält sich GOttes Neigung zu strafen, gegen seine Neigung zu belohnen.’

Hierin ist 1) nicht gut oder bedächtig ausgedruckt, daß GOtt eben so geneigt seie, die Bösen in alle Ewigkeit zu martern, so auch nachher, GOtt strafgierig machen. Kein verständiger Christ redet so, daß GOtt geneigt oder gierig seie, die bösen Menschen zu martern. Seit mehr als tausend Jahren ist die Frage von 400 duplici praedestinatione, ad vitam, ad mortem, eben in dieser Absicht untersucht worden, daß nach der Ungleichheit des obiecti in GOtt die praedestinatio nicht einerley seie; da[101]her so viel Unterscheidungen aufgebracht worden, die Wirkung des Willens oder der Neigung GOttes hier kleiner und anders zu beschreiben, als wenn die Rede ist von unmittelbarer Beförderung alles Guten. Es ist auch bekant genug, daß bey dieser langen Streitigkeit, von ewigen Strafen, der Grund dazu nicht in einer Neigung GOttes eigentlich gesucht worden, sondern in dem nun notwendigen unveränderlichen Zustande und wachsender Fertigkeit des bösen Menschen. 2) Was die angebrachte Stelle aus

2 Mos. 20, 5.

betrift, ich bin ein eifriger GOtt (etc.)et cetera so wird es jedem denkenden Leser auffallen, daß der (Hr.)Herr Verfasser diese Stelle in diese Aufgabe und Frage gebracht hat; die sich auf gar keine Weise hierzu schickt. 1) Wird hier von unglückseligen Folgen in diesem Leben geredet, wo böse Menschen auch noch die Folgen von dieser Sünde, die ihre Väter begangen hatten, erfaren sollen; nemlich wegen der vorsetzlichsten Sünde der Abgötterey, wovon hier allein die Rede ist; nicht aber von Strafen, die nach dem Tode einem jeden um seiner eigenen vielerley Sünden willen zukommen; welche Sünden eine viel größere Beschaffenheit haben, und den Menschen innerlich mehr zerrütten, als die äußerliche hier verbotene Abgötterey. 2) Wenn in GOtt die unendliche Abneigung vom Bösen eben so gros ist, als die unendliche Neigung zum Guten: wie kan man eine so arme Rechnung machen, in GOtt verhält sich die Neigung das Böse zu strafen und zu hindern, gegen die Neigung zu belohnen, wie 4 zu 1000? Diese Beschreibung ist recht treffend für dieses Volk, das an dem Wohlergehen seiner Kinder besonders seine eigene Glückseligkeit berechnete. Eltern können schwerlich länger Zuschauer des Glücks und Unglücks ihrer Nachkommen seyn, als bis auf Enkel und Urenkel, oder ins dritte und vierte Glied. Es wird also den Vätern, die Abgötterey erwälen würden, gedrohet, daß sie zu desto größerer Empfindung das Unglück ihrer Kinder und Nachkommen erleben sollen, hingegen fromme Israe[102]liten sollen sicher seyn, daß ihre Frömmigkeit in unzäligen Nachkommen hier noch belonet werden solle. Diese so ausdrücklich angepassete Beschreibung, die auf diese Leser und ihren kleinen moralischen Gesichtskreis rechnet, welche vornemlich durch äußerliche Dinge gerürt wurden: solte für geistvolle Christen ein Maasstab seyn, wonach sie GOttes Neigung zum Guten, in Absicht der geistlichen Belonung; und Abneigung vom Bösen, in Absicht der geistlichen Strafen, nach diesem Leben, berechnen dürften? Wer so schliessen kan, muß sehr bereit seyn, das überal zu finden, was er sucht. 3) Ich wil den ganzen Schluß sogar umkehren, wenn man ja so rechnen sol; und zwar, 401wie Calvinus schon also geschlossen hat. (Institut. (lib.)liber 2. (c.)caputcapitulum 8.) Wenn GOtt die Sünden der Väter straft bis ins dritte und vierte Glied; so wird die Strafe der Verdamten, noch viel grösser seyn, als sie um ihrer eigenen Sünde willen seyn müste. Wenn also der (Hr.)Herr Verfasser nichts gründlicheres weis, so wird diese Rechnung nichts helfen. Uebrigens muß ein öffentlicher Lehrer auch hier dasjenige öffentlich lehren und vortragen, was die Lehrvorschrift enthält; seine privat Gedanken gehören nicht her. Die Lehrart aber darf und sol man so gut einrichten, als es unserer Zeit gemäs ist; 402wie schon Origenes wider den Celsus die Fähigkeit des gemeinen Haufens unterschieden hat, den die Bilder von Feuer und Schwefel am ersten rüren. Der bessere reichere Unterricht muß nicht wegfallen, so bald er Eingang finden kann.

8.

403 ‘Daß es Engel und Teufel giebt, mag wahr seyn: daß sie aber das sind, wofür das Kirchensystem sie ausgiebt – daß sie leiblich die Menschen besitzen, daß sie sich als Gespenster zeigen, daß sie in die Seelen der Menschen wirken, und böse Gedanken und Vorsätze hervorbringen können, dazu habe ich nie einen hinreichenden Grund gefunden es zu glauben.’

[103] 1) Kirchensystem? welches Buch meint der (Hr.)Herr Verfasser damit? Weder in der augspurgischen Confession, noch sonst in irgend einem symbolischen oder feierlichen Lehrbuche, stehen diese Dinge als algemeine Lehrsätze und Theile der christlichen Religion. Daß sie leiblich Menschen besitzen – 404wer lehret dieses wol als eine Glaubenslehre der Christen? Wie algemein bekant ist es, daß so gar (kaiserl.)kaiserliche Majestät die 405 Gaßnerischen Auftritte geradehin untersagt, und glücklich geendigt haben! Wer kent nicht die vortreflichen 406Ausschreiben der würdigsten Erzbischöfe von Salzburg und Prag? an die freien 407Urtheile vieler Gelerten in Baiern (etc.)et cetera nicht zu denken. Nirgend, in der ganzen christlichen so weiten Welt, hat man diese Gedanken, von leiblichen Besitzungen, von Gespenstern – als Glaubenstheile, als christliche algemeine Lehrsätze angeboten und behauptet; Meinungen sind es häufig gewesen; aber die Rede solte ja seyn, von Glaubenslehren und von Lehrsätzen der 3 Parteien. Eben so wenig hat man es zu christlichen Lehrsätzen gerechnet, daß böse Geister (mittelbar oder unmittelbar) in die Seelen der Menschen wirken und böse Gedanken und Vorsätze hervorbringen können. Schon von den Scholastikern an, noch vor dem 408 Cartesius, ist es als eine Aufgabe angesehen worden, die nur in sofern unter theologische Fragen gerechnet wurde, als manche Schriftstellen und ihre Auslegung mit eingemischet wurden. Dieses ganze 8te Stück also gehört gar nicht her; der (Hr.)Herr Verfasser hat es nicht wohl überlegt, wie der ganze Aufsatz diesen sichtbaren Mangel hat.

9.

409 Daß die göttlichen Schriften neuen Testaments göttliche Belehrungen der Menschen zur Glückseligkeit enthalten, denen wir alles Vertrauen und allen Gehorsam schuldig sind, davon bin ich gewis; daß aber GOtt alle in diesen Schriften enthaltene Worte einge [104] geben habe, davon habe ich noch nie einen befriedigenden Beweiß gelesen.

Dis ist wirklich eben so beschaffen; daß alle Worte in der Schrift von GOtt eingegeben seien: ist niemalen ein Theil des christlichen Glaubens gewesen; von den Vätern an, von den Scholastikern her, von der so bekanten öffentlichen 410Streitigkeit an, so die jesuitischen Lehrer zu Löwen, Douai – mit den Dominicanern geraume Zeit gefüret haben; in unserer Kirche ist es vollend 411seit Calixti Zeit so ausgemacht: daß 412diejenigen Zeitgenossen, welche Num. 8. und 9. mit unter die Beweise setzen wollen, warum sie die christliche Religion nicht selbst annemen oder behalten wollen, sehr unwissende, einfältige, leichtsinnige Leute seyn müssen. Der Lehrinhalt der heiligen Schrift, die Wahrheiten, haben ihren Ursprung von GOtt, und seiner jetzigen Mittheilung; aber ob die Worte auch eingegeben sind, ist eine Aufgabe; kein Glaubensartikel – Daß übrigens auch in der Samlung der Bücher des alten Testaments ebenfals göttliche Belehrungen der Menschen enthalten sind, zur geistlichen Glückseligkeit: denen wir alles Vertrauen und allen Gehorsam (aus mitfolgender Ueberzeugung unsers Gewissens, aus Erfarung) schuldig sind: gehörte auch noch her; ob gleich der (Hr.)Herr Verfasser nichts davon hergeschrieben hat.

10.

413 Daß alle Christen die Religionslehren der Schrift, welche ohne Kunstauslegung darinnen zu finden sind, zu glauben und zu befolgen verbunden sind, ist gewiß, daß aber der Kirche, (darunter ich mir doch eigentlich nichts als den großen Haufen {plurima vota} der Geistlichkeit denke, die, wie schon oben gesagt worden, zu keiner Zeit das Vorurtheil der tiefen Einsicht, Gelehrsamkeit und unpartheyischen Prüfungsgabe, gehabt hat) das Recht zustehe, mir, aus den Sätzen der Schrift künstlich gefolgerte Lehren und Begriffe aufzu [105] dringen, das glaube ich nicht. Wenigstens wäre dieß ganz wider die Grundsätze des Protestantismus, welcher im deutschen Reich mit dem Catholicismus gleiche Herrschaft und Rechte behauptet. Denn nach diesen Grundsätzen bin ich in Absicht auf meinen Glauben an keines Menschen Ansehn gebunden, sondern habe das Recht, alles zu prüfen, und nur das zu behalten, wovon ich mich aus GOttes Wort überzeugt fühle. Und dieses Recht erstreckt sich bey protestantischen Lehrern noch weiter als bey gemeinen Protestanten. Denn als ein solcher bin ich ein Theil der repräsentirenden Kirche, und bin daher nicht nur verpflichtet, die Lehrsätze meiner Kirche zu prüfen, sondern auch das Resultat meiner Prüfung, wenn es von Wichtigkeit ist, meinen Glaubensbrüdern vorzulegen, wie ich bisher in einigen meiner Schriften gethan habe, auch fernerhin thun werde, und in diesem meinem öffentlichen Bekenntniß jetzt zum ersten male vor dem allerhöchsten Richterstuhle thun zu können, gewürdiget werde.

Wenn der (Hr.)Herr Verfasser nicht parteiisch, oder nicht eilfertig und nachläßig zu handeln sich vorgesetzt hätte: so hätte dieses Stück auch ganz und gar wegbleiben müssen. Aber auf diese Bedingung und Voraussetzung, hätte das ganze, obgleich sehr kleine, Glaubensbekentnis, gar nicht zum Vorschein kommen dürfen. Um nur auf dieses 10te Stück etwas zu antworten, so ist 1) in allen unsern compendiis und systematibus, 414ohnerachtet sie lauter Wust enthalten sollen, 415seit Gerhards Zeiten die vortrefliche wahre Anleitung befindlich: der Lehrer solle elementaria unterscheiden, und in der heiligen Schrift heraussuchen, zur öffentlichen Lehre; denn die seien einem jeden Leser und Zuhörer leicht, faslich und unmittelbar erbaulich. Es ist auch unsern Kindern bekant, die auch einen Auszug von Sprüchen und Lehrsätzen lernen. Und in der so langen Streitigkeit, über den Gebrauch der Schrift [106] für alle Leser, über ihre Deutlichkeit oder Dunkelheit: ist dieses unzälige mal auseinander gesetzt und bestätiget worden. Man hat daher auch schon zur Zeit Lutheri, vielerley 416 Summarien oder Auszüge drucken lassen, wie besonders Veit Dietrich: um jene andern Theile der Schrift, die zur Abfassung in der damaligen Zeit, zum locali gehören, abzusondern von dem algemeinen nützlichen Inhalt, wie schon Paulus, 2 Tim. 3, 16. diese vortrefliche Unterscheidung anempfolen hatte. In allen Jahrhunderten, seit dem 2ten und 3ten, gibt es solche 417 Eclogas, Synopses, 418 Capitula, (des Prätextatus, über Pauli Briefe,) 419 speculum in Augustini Werken (etc.)et cetera und so gar in der römischkatholischen Kirche hat kein gelerter Mann ferner Theil genommen, an den 420Uebereilungen des Gretser und Tanner auf dem colloquio zu Regenspurg, welche auch den Satz, das Hündlein wedelte mit dem Schwanze, weil es ein Theil der Schrift seie, zu Glaubensartikeln gerechnet hatten. 421 Calixti Lehrart unter uns hierüber, ist auch bekant genug.

2) Sagt der (Hr.)Herr Verfasser weiter: 422 ‘daß aber der Kirche, (darunter ich mir doch eigentlich (etc.)et cetera)’ Hier wünschte ich, daß diese hitzige Beurtheilung, die schon einmal da gewesen ist, nicht wäre wiederholet worden. Geradehin ist sie nicht wahr. Man müste unwissend oder vorsetzlich parteiisch seyn, 423wenn man die Kirche blos und geradehin so beschreibet, sie ist der große Haufen der Geistlichkeit, hat zu keiner Zeit das Vorurtheil der Einsicht (etc.)et cetera gehabt. Es hat in vorigen Zeiten und Jahrhunderten, wenigstens schon vom 3ten an, Bischöfe und Presbyteros gegeben, von Einsicht, Gelersamkeit und innigster Rechtschaffenheit; wenn gleich der größere Haufe diese praedicata nicht haben konte. Insbesondre aber kann dem (Hrn.)Herrn Verfasser nicht unbekant seyn, daß die Protestanten unter dem Namen Kirche, keinesweges den großen Haufen der Geistlichkeit verstehen; er konte dis an dem [107] Beispiel der Fürsten und Obrigkeiten wissen, welche die augspurgische Confession, als den Lehrinhalt der Kirchen ihres Landes aufgestellet, und in den 424 schmalkaldischen Artikeln, sich von jener gemeinen Art der Concilien und Macht der Kirche, so öffentlich schon losgesagt haben. Wie nun in dieser Zeit diese protestantischen Fürsten und Herren das 425 ius circa sacra publica auf eine ganz andere Art, und in ganz anderer Absicht stets selbst ausgeübet und behauptet haben, als es sonst in den Händen des Pabsts und der Bischöfe war, zum steten Nachtheil der landesherrlichen Hoheit; wie unsre Vorfaren eben den Grundsätzen der landesherrlichen Macht, welche das Beste ihrer Unterthanen schaft, auch was äußerliche Religion, und daher möglichen Schaden und Unruhe betrift, gefolget sind, als der Kaiser, der König von Frankreich (etc.)et cetera befolgeten, da sie zu 426 Costnitz und Basel, und nachher durch concordata (etc.)et cetera die Anmassungen der Päbste einschränkten, wie alle Kaiser und Fürsten schon in jenen Zeiten thaten, da Päbste über 427 Investituren so viel Unruhe erregten: so wäre es warlich eine sehr ungerechte Beurtheilung, wenn der (Hr.)Herr Verfasser die iura unserer Obrigkeiten und Stände, in Absicht der öffentlichen Religion, damit leugnen wolte: daß er sagt, 428die Kirche ‘hat kein Recht, mir – Lehren und Begriffe aufzudringen’. Eben dieselbe Kirche, welche einen Superintendenten oder Prediger setzt; eben derselbe Landesherr, der einen professorem theologiae der augspurgischen Confession in Dienste nimt (etc.)et cetera hat ja wohl das Recht, auf der öffentlichen Absicht zu bestehen, wofür das salarium oder die Besoldung ausgezalet wird. Solte dis der (Hr.)Herr Verfasser leugnen: so wäre es abermal die seltsamste Vermischung der Rechte seines eigenen Gewissens, und der iurium, welche der Fürst oder Staat über alle seine besoldeten Kirchenbedienten hat. Wenn der (Hr.)Herr Verfasser also die vorhin genanten Lehrsätze der augspurgischen Confession, von Erbsünde, von Genugthuung, Rechtfertigung (etc.)et cetera für solche [108] Begriffe ansiehet, welche künstlich (aber ohne Grund) aus der heiligen Schrift gefolgert wären: so urtheilet er nach seinem eigenen richtigen oder unrichtigen Gewissen. Aber er irrt sich gewaltig, wenn er nun die Obrigkeit nach seinem Gewissen bestimmen wil, in Regierung und Beschützung der öffentlichen Religion, die ein gemeinschaftliches Gut und Recht lutherischer Unterthanen ausmacht, denen die Obrigkeit allen Schutz zugesichert hat, diesem Glaubensbekäntnis des (Hrn.)Herrn Verfassers von nun an das Uebergewicht zu geben. Dis ist so klar, daß der (Hr.)Herr Verfasser wol mit der Widerlegung zurück bleiben wird. Er müste aus allen Staaten, wo obrigkeitliche Aufsicht über sacra publica ist, wo so viel tausend 429 Vocationen, allemal mit Befel und Anweisung auf die symbolischen Bücher und augspurgische Confession insbesondre ausgestellet werden, nachdem der Candidat erst hierüber examinirt worden, wo so viel Consistorialverordnungen täglich ausgefertigt werden – sich entfernen; und er müste der Geselschaft eben so ernsthaft vorsagen, daß sie ihm die Besoldung eben so ungerecht aufdringe, als die Vorschrift der öffentlichen Lehre. Und wie ganz ungeschickt und lächerlich wäre diese Klage oder Beschwerde! 430So viel gründliche Abhandlungen de iure principis circa sacra, solte der (Hr.)Herr Verfasser mit einer so kahlen Erzälung seiner eigenen Einfälle, oder mit seiner selbst verursachten Lage, so leicht umstoßen! Der Staat und die Landesobrigkeit hält Universitäten; da sollen künftige Lehrer zubereitet werden, und durch den gelerten und gewissenhaften Unterricht selbst sich überzeugen, von der Richtigkeit und Erweislichkeit der Lehrsätze, welche diese öffentliche Religionspartey von andern unterscheiden. Niemand dringt dem studirenden jungen Menschen etwas auf; entweder er studirt gründlich und folgt eigener Einsicht, kan sie auch nun aufrichtig wieder von sich geben; ist untadelhaften Lebens, und wird also zum öffentlichen Lehrer für die und die Gemeine ernent. Oder er studirt wenig; wil [109] ein Originalkopf seyn, lebt auch als Original, stößt gute Leute an (etc.)et cetera und wird nicht in dieser Geselschaft in Kirchendienste genommen. Nun wil er sich der übrigen lutherischen Kirchengeselschaft aufdringen? Wil ihr zumuten, sie solle ihre Lehrbücher, um seines Schicksals willen, aufheben, und von ihm solche Beschreibungen der christlichen Religion annemen, die ganz gewis, wie er verspricht, Tugend und Moral vielmehr befördern würden. Ist es wol zu erwarten, daß dieser angebotene Tausch sonderlichen Eingang finden wird? Die ganze Sache ist so natürlich in der Lage, als die 431 Bauren im 16ten Jahrhundert ihre 12 Artikel ausgehen ließen; daß es Leser nicht reuen wird, in jene Zeit zurück zu gehen, und 432 Luthers, Melanchthons und andrer Lehrer Antworten jetzt wieder zu lesen; um zu sehen, daß Güter und Gelder der Landesobrigkeit gehören, welche zu öffentlichen Kirchen- und Schuldiensten angewendet werden, in Absicht auf öffentliche Religionsübung und Ausbreitung; der gebilligten Grundsätze; nicht aber, wie 433 Thomas Münzer und 434Nachbar Andres, Carlstadt, in schwärmerischen Träumen, für gut fanden. Daher auch 435 Kirchenvisitationen vorgenommen wurden, um den Zustand der Lehrer und Zuhörer, in Absicht gemeiner Grundsätze der öffentlichen Religionsübung, in einerley zweckmäßiger Ordnung zu halten. Es ist daher übel angebracht, wenn der (Hr.)Herr Verfasser weiter sagt: 436‘wenigstens wäre dis ganz wider die Grundsätze des Protestantismus, welcher im deutschen Reiche gleiche Herrschaft und Rechte behauptet. Denn nach diesen Grundsätzen bin ich in Absicht auf meinen Glauben an keines Menschen Ansehn gebunden, sondern habe das Recht, alles zu prüfen, und nur das zu behalten, wovon ich mich aus GOttes Wort überzeugt fühle.’

Und wozu denn dieses? Der Protestantismus ist doch nicht das Eigentum des (Hrn.)Herrn Verfassers! Die protestantischen Fürsten und Herren waren es, welche diese [110] Protestation damalen einlegten, wider das jetzt einzufürende wormsische Edikt; sie protestireten als Reichsfürsten, aus landesherrlicher Macht, über die beste Art der öffentlichen Religion, ihren Unterthanen selbst dienliche Vorschriften und Verordnungen zu machen. Eben diese Fürsten setzten Professoren und Pfarrherren ein, mit der Anweisung wider jenes gemeine Pabstum unaufhörlich zu predigen. Notwendig ist ein öffentliches Lehramt abhängig von einem öffentlichen Auftrage; und der öffentliche Auftrag erfordert nun öffentliche Anwendung dieses ertheilten Rechtes; und mehr kann es nicht angewendet werden, als es in der ertheilten Bestellung oder Vocation beschrieben ist. Nun lauten alle Vocationen aller Lehrer und Prediger in den lutherischen Kirchen, auf die augspurgische Confession. Der Lehrer handelte ja also ganz verkehrt und zweckwidrig, der da sagen wolte: ich wil zwar dieses Lehramt haben, aber ich wil die Grundsätze des Protestantismus, die wider den damaligen Pabst gehen, jetzt anwenden wider die augspurgische Confession; ich widerspreche ihr, oder ich unterdrücke sie, in der Lehre von Erbsünde, von Genugthuung, von Gottheit Christi und des heiligen Geistes (etc.)et cetera und wenn man mir dis nicht erlauben wil, so sage ich, ich bin in Ansehung meines Glaubens an keines Menschen Ansehn gebunden – Ich sage dis ist ja verkehrt und zweckwidrig gehandelt. Eben darum haben ja unsre Vorfaren diese Confession oder Apologie, wie sie zuerst hies, öffentlich bekant gemacht: um sich von den täglichen Schwärmereien und Zerrüttungen öffentlich zu unterscheiden, welche die Anhänger des Münzer und der 437 Wiedertäufer überal erregten. Wenn Cajus sol ein Prediger oder Lehrer bey der Universität oder Gemeine in – werden: so ist doch eine Obrigkeit dazu nötig, die das Recht hat einen zu bestellen, und ihm zu seinem Unterhalt eine Besoldung anzubieten. Nun hätte Cajus sehr gern seinen Unterhalt; er nimt also diese Vocation an, und verspricht auch der Geselschaft, [111] sich nach der eingefürten öffentlichen Lehrvorschrift zu richten. Allein nun behält er für sich eine 438 reseruationem mentalem, welche selbst alle Jansenisten an jenen politischen Jesuiten verabscheueten; und spricht, ich bin ein Protestant; ich bin also an keines Menschen Ansehen in meinem Glauben, (also auch in meinem öffentlichen Amte, an keinen Eid und Versprechen,) gebunden. Ich wil nur das behalten, wovon ich nach GOttes Wort mich selbst, für mein Gewissen, überzeugt füle; also heute dis, morgen jenes. – Giebt es wol einen ehrliebenden Menschen unter uns, der diese Aufführung genemhalten und billigen wil? Cajus kan ja sein Lehramt nicht mehr behalten, als ein ehrlicher teutscher 439 Biederman, geschweige als ein Christ, der ein so zartes Gewissen haben wil. So mus er also seiner Obrigkeit die schuldige Treue beweisen, und es anzeigen; ich kan und wil dis nicht lehren, was ihr mir aufgetragen habt; ich lege mein Amt also wieder in eure Hände nieder; sucht einen andern Lehrer. Aber unser (Hr.)Herr Verfasser ist viel klüger, als daß er dieses thät, was jeder Biederman in der ganzen Welt thut; er sagt, 440‘dieses Recht erstreckt sich bey protestantischen Lehrern noch weiter, als bey gemeinen Protestanten.’Was für ein Recht? Seinem Gewissen zu folgen; und es nicht zu verheimlichen, wenn status confessionis da ist. Recht gut. Ist dis aber das Recht eines protestantischen Lehrers? Es ist ja Pflicht eines gewissenhaften Christen. Der (Hr.)Herr Verfasser irret sich abermal; Lehrer dieser Geselschaft ist er nicht mehr, so bald er die feierliche Norm seiner öffentlichen Lehre hintansetzt; denn er ist nicht weiter Lehrer, als die Geselschaft dieses Recht ihm läßt und es fortsetzt. Sie nimt aber sogleich dieses öffentliche ihm ertheilte Recht und Verhältnis zurück, sobald sie es weis, daß Cajus nicht mehr nach ihrer Lehrform sich richten wil. Und nun ist Cajus ein privat Mann in dieser Geselschaft, er mag noch so gelehrt oder geschickt seyn. Alle gemeinen Protestanten oder privat Leute, haben eben dieses Recht [112] ihres Gewissens, Lehrsätze nach der heiligen Schrift zu prüfen, und faren zu lassen, wenn sie keinen Grund dazu finden. Cajus ist nun ein privat Mann worden: er hat also nicht das allergeringste Recht voraus, wenn er ein protestantischer Lehrer gewesen ist, und es nicht mehr ist; er ist es aber nicht mehr, per hypothesin. Die Vergleichung des Catholicismus und Protestantismus ist gerade wider den (Hrn.)Herrn Verfasser. Beide beziehen sich auf die öffentliche Religionsübung; diese beruhet auf landesherrlichem Schutz und Behauptung der Grundsätze der öffentlichen Religion; dis ist ganz ausgemacht. Nimmermehr verstattet der Protestantismus dergleichen einzele Anmassungen dieses und jenen Lehrers, daß er selbst die Grundsätze des Protestantismus wider protestantische feierliche Kirchenordnungen anwenden dürfe; so wenig Catholicismus dergleichen Rechte verstattet. Was sol also diese so grosse Confusion, die nur aus einem Fanaticismus sich ein Recht holen und borgen kan? Dis würde die greulichen Revolutionen zurück rufen, aus dem 16ten Jahrhundert; da wolten auch theils schwärmerische, theils listige, theils einfältige Leute, das Reich Christi, die Christusreligion viel besser und algemeiner einfüren; für sich waren sie nicht zufrieden, mit ihrer Gewissensfreiheit; sie wolten öffentliche Anstalten und Vorschriften für alle andre Glieder des bisherigen Staats einfüren. Was hatten sie aber für Recht, sich zu Lehrern aufzudringen? Wer sie hören und leiden wolte, der that es ja ohnehin; warum wolten sie aber mit diesem privat Stand nicht zufrieden seyn? Wenn sie der 441Churfürst von Sachsen, der Stadtrath zu – nicht bey sich dulten wolte, warum wendeten sie nun Mittel an, sich einen Anhang, und dadurch sich nach und nach gewaltig zu machen?

442‘Ja, sagt der (Hr.)Herr Verfasser, als ein (gewesener) protestantischer Lehrer, bin ich ein Theil der repräsenti[113]renden Kirche; und ich bin daher nicht nur verpflichtet, die Lehrsätze meiner Kirche zu prüfen, sondern auch das Resultat meiner Prüfung, wenn es von Wichtigkeit ist, meinen Glaubensbrüdern vorzulegen; wie ich bisher in einigen meiner Schriften gethan habe (etc.)et cetera

Welche neue Vorstellungen hat der (Hr.)Herr Verfasser hier mitgetheilet! Wer hat ihm denn das ius repraesentandi, und daher eine besondere Obliegenheit aufgetragen und mitgetheilt? Zum Beispiel, wie er in Giessen stund, wer kan es verstehen, ein 443Superintendens in Giessen, sey hiemit ein Theil der repräsentirenden Kirche! Wohin geht denn der Auftrag von seiner Repräsentation? Es wäre ja gar zu seltsam, wenn ein Superintendens oder Prediger, sich hiemit, daß er zu der besondern lutherischen Kirche in Giessen oder in Heidesheim gehört, ansehen wil, er seie ein Theil der repräsentirenden Kirche. 444Dis mag in terris infidelium seyn; hier unter uns, bey allen lutherischen Kirchen, sieht ihn niemand für einen Repräsentanten an; denn es felet die besondre feierliche Bestimmung zu einem besondern Endzweck, der mehrern Kirchen gemein wäre, die daher so oder so viel Repräsentanten nach (N. N.)Notetur Nomen abschickten. Die Theologi zu Augspurg, Worms, Trident (etc.)et cetera konten sich einen Theil der irenden Kirche nennen; aber ein jeder einzeler Lehrer kan nicht sich selbst dafür halten. Ich wil aber diesen ganz neuen Sprachgebrauch übergehen; und nur anmerken, daß die Repräsentanten im Namen ihrer Geselschaft zu handeln haben, folglich die erhaltene Volmacht zu der und der Sache anwenden müssen. Wer hat aber dem (Hrn.)Herrn Verfasser aus irgend einer lutherischen Kirche eine Volmacht gegeben, als ihr Repräsentant, bey kaiserlicher Majestät solche Anträge und Einfälle anzubringen? In seinen Schriften – wer hatte wol aus irgend einer lutherischen Kirche ihn bevolmächtiget, dis oder jenes, wider die augspurgische Con[114]feßion, zu lehren und zu schreiben? Dis ist alles ungegründete und übereilte Anmassung. Wenn er fernerhin allerley schreibt: so wil er dafür angesehen seyn, daß er es als ein Theil der repräsentirenden Kirche thue. Welcher Kirche? Er gehört ja zu gar keiner Kirchengeselschaft, die im römischen Reiche öffentliche Rechte und ein ius repraesentandi hat. Und gar wil er als ein Theil der repräsentirenden Kirche dieses Bekentnis an (Se.)Seine Kaiserliche Majestät geschrieben haben! Ich brauche es nicht zu erinnern, daß nicht einmal das kleinste Dorf im römischen Reiche ihm einen solchen Auftrag gethan habe; geschweige diejenige Kirche, in der er ehedem eine öffentliche Stelle, und zwar wider ihre ganze Intention, wie er es selbst vorhin sagte, eine Zeitlang verwaltet hatte. Nun wollen wir doch auch die Sachen besehen, wozu er als ein Theil der repräsentirenden Kirche, eine Verpflichtung haben wil. 1) Er sey nicht nur als ein Theil der repräsentirenden Kirche verpflichtet, die Lehrsätze seiner Kirche zu prüfen; sondern auch (etc.)et cetera In der That hatte die Kirche, die ihm einen öffentlichen Dienst aufgetragen, die völlige Meinung, er habe diese Lehrsätze, die er nun zu lehren auf sich nahm, lange schon gekant und geprüfet; keinesweges solte er sie nun zu lehren auf sich nemen und erst nachher prüfen. 2) Ist er gar verpflichtet, das Resultat seiner Prüfung seinen Glaubensbrüdern mitzutheilen: so weit dis wahr ist, so ist es eine innere Obliegenheit und Stimme seines eigenen Gewissens. Wenn diese nun in Collision komt mit den äusserlichen Pflichten, die er zu leisten übernommen hatte: so muste er es anzeigen, bey seinen Obern; und da er keine besondern Obern mehr hat, also auch kein Lehramt: so fält diese angebliche Verpflichtung, wie gesagt, nicht auf ihn als Lehrer, und anmaslichen Repräsentaten, denn das ist er nicht gewesen, und jener ist er nicht mehr: sondern als privat Mann, wenn er gleich noch so gelehrt wäre. Nun stehet es bey den Obern aller lutherischen, reformirten [115] und römischkatholischen Kirchen, ob sie diese unreife Frucht eines irrigen Gewissens in ihren Landen wollen öffentlich lesen und brauchen lassen; oder ob sie diese ganze Ausschweifung lieber unterdrücken und verbieten wollen. Wenn nun dis letzte geschiehet, so ist es vollend klar, daß diese Kirchen es keinem Lehrer zur Pflicht machen, sich als Repräsentant von ihnen selbst anzusehen; und das Resultat seiner privat Prüfung für so wichtig zu halten, daß er es drucken lasse. Indes, da es nun gedruckt ist: so komt es weiter darauf an, wie diese Kirchen, deren Lehrbücher der (Hr.)Herr Verfasser so wenig richtig verstund, und doch geradehin so übel beurtheilet hat, 445daß sie die ‘Quelle des Unglaubens’ enthielten: dieses sein Bekentnis, und die Beschuldigung ihrer Lehrer, daß sie heucheln und lügen, ferner öffentlich behandeln werden. Ich habe nun meiner Pflicht, die ich als öffentlicher Lehrer der augspurgischen Confeßion habe, ein Genüge gethan, und den Ungrund dieses so übereilten und untreuen Bekäntnisses, öffentlich entdeckt; bin auch gewis, daß alle gewissenhafte Lehrer aller drey Religionen mir in der Hauptsache recht geben werden.

Ich muß noch eine Stelle beleuchten, welche in der Anrede an (Kaiserl.)Kaiserliche Majestät (S.)Seite 7. sehr auffallend vorgetragen wird.

446‘Wie ich nun beiden höchstvenerirlichen Conclusis mich sogleich demütigst unterworfen, auch mein Amt bereits verlassen, und alles, was mir, meiner Gattin, und vier kleinen unerzogenen Kindern bisher Quell des Unterhalts und der Verpflegung gewesen war, sogar mein im gräflichen Leiningischen Schlosse Heidesheim, mit einem Aufwande von mehr als 6000 (Rthlr.)Reichsthalern errichtetes, und von tausend gutdenkenden Menschen gebilligtes Erziehungsinstitut, mit dem Rücken angesehen, und ohne alle bestimte Aussichten mich in ein ander Land begeben habe: also eile ich (etc.)et cetera

[116] Nach dieser Erzälung, hat der (Hr.)Herr Verfasser sogar ein Erziehungsinstitut in Heidesheim mit dem Rücken angesehen, das mit einem Aufwande von mehr als 6000 (Rthl.)Reichsthalern errichtet worden; welches Institut er daher sein nent. Ich wil mich nicht darauf einlassen, zu untersuchen, ob der Inhalt des (kaiserl.)kaiserlichen Reichshofrathsconclusi in der That hierauf gehe, dem (Hrn.)Herrn Verfasser alles eigenen rechtmäßigen Vermögens so eilfertig zu entsetzen, daß er in gröster Eil davon reisen müsse, und das Seine mit dem Rücken ansehe! Ich wil nur die gegründete Befremdung äußern, worein die Leser ganz natürlich geraten, wenn sie nicht nur allerley schriftliche 447Nachrichten und Briefe vergleichen, worin des (Hrn.)Herrn Verfassers heimliche eilfertige Abreise aus Heidesheim, und die geschwinde Nachreise des Hrn. –bers aus Heidesheim, und noch zweier ansehnlichen creditorum, mit besondern Umständen erzälet wird, die es sonnenklar machen, daß kein Reichsfiscal und keine kaiserliche execution auf irgend einige Weise hieher zu rechnen ist, was diese Verlassung des dortigen rechtmäßigen Eigentums betrift; sondern auch öffentliche Impressa in der frankfurtischen kaiserlichen privilegirten Zeitung lesen, die einen solchen Zusammenhang an den Tag legen, der gar nicht zur demüthigsten Unterwerfung an jene conclusa in diesen Umständen gehören kan. 1) In dem 81sten Stück Frankfurter Staats-Ristretto, auf den 22sten May, wird von der (hochgräfl.)hochgräflichen Leiningen-Dagsburgischen Regierungscanzley, zu Dürkheim an der Haard, den 19ten May, folgendes bekant gemacht: 448da durch die Dienstentlassung des (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdten, und von ihm hierauf aus eigener Bewegung vorgenommenen Niederlegung des Fürsorger Amtes über das Erziehungsinstitut in dem hochgräflichen Leiningen-Dagsburgischen Schlosse zu Heidesheim, diese Anstalt weiter keine Veränderung erlitten, als daß sie unter unmittelbarer Aufsicht der Landesregierung zweckmäßiger eingerichtet, und nicht nur für die beste Verpflegung der Zöglinge gesorget, son[117]dern auch insbesondre zu Beförderung der wissenschaftlichen und sittlichen Erziehung derselben, unter einer unermüdeten Aufsicht, mit unerwartetem Erfolge, die vorzüglichsten Mittel bereits in Wirksamkeit gesetzt worden: so hat man solches zu Beruhigung der Eltern und Vormünder, welche Kinder oder Mündel wirklich zu Heidesheim haben, oder noch dahin zu schicken gedenken, hiedurch bekant zu machen nicht ermangeln wollen. Dürkheim (etc.)et cetera

Nach dieser Anzeige vom 19ten May, erfolgte eine andre vom 25sten May, (also kaum 5–6 Tage nachher) in dem 83sten Stück genanter Frankfurter Zeitung, Seite 334. von eben derselben (hochgräfl.)hochgräflichen Leiningen-Dagsburgischen Regierungscanzley zu Dürkheim, dieses Inhalts:

449Nachdem die ökonomische Geselschaft des Heidesheimer Erziehungsinstituts die gehorsamste Anzeige gethan, wie sich bey genauer Berechnung der zur Bestreitung eines anständigen Unterhalts desselben erforderlichen Kosten ergeben, daß solche die Einnahme bey weitem übersteigen; weswegen sie sich außer Stande befinde, die weitere Fortsetzung desselben zu unterstützen; und solchem nach besagtes ganze Institut nicht weiter bestehen kan, sondern pro futuro gänzlich aufhören muß: als wird dieses unter Beziehung auf das 81ste (oder vorige) Stück dieser Zeitung befindliche Avertissement, mit dem Anhange und unter der Versicherung, daß einstweilen die [Zöglinge], bis sie von den Ihrigen werden zurückgenommen werden, wohl verpfleget und zweckmäßig unterrichtet werden sollen, hiemit jederman bekant gemacht. Dürkheim an der Haard (etc.)et cetera

In eben diesem 83sten Stück, folget unmittelbar auf die vorige Nachricht diese anderweitige Anzeige, die aus Heidesheim den 21sten May unterschrieben ist, von der öconomischen Geselschaft der Erziehungsanstalt daselbst. 450Demnach der bisherige Fürsorger des Erziehungs[118]instituts zu Heidesheim (Hr.)Herr (D.)Doctor Bahrdt zwar dieses sein Fürsorgeramt freywillig niedergelegt, daraufhin aber, ohne mit der öconomischen Geselschaft sothanen Instituts Abrechnung zu pflegen, sich von hier wegbegeben hat; diese Erziehungsanstalt hingegen unter unmittelbarer Direction der höchgräflichen Landesregierung annoch bestehet: so hat die öconomische Geselschaft mehr gedachten Instituts solches hiermit bekant machen, und zugleich nicht nur alle Eltern und Vormünder, welche Kinder oder Mündel darein haben, oder noch anhero zu schicken gesonnen seyn möchten; sondern auch alle diejenigen, welche 451 ex alio quocunque capite etwas hieher schuldig sind, geziemend bitten wollen, an den (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdt weder pensions noch sonstige Gelder vor Rechnung des hiesigen Instituts zu bezahlen, sondern sich disfals an die öconomische Geselschaft selbsten um so mehr gefälligst zu addressiren, als dieselbe alle an den (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdt geschehene Zahlungen nicht anerkennen, sondern solche als nicht geschehene ansehen; dahingegen aber vor die an sie selbst addressirte und ihr zukommende Gelder, getreue Rechnung halten wird.

In einem andern Blat, (der Frankfurter kaiserlichen Reichsoberpostamts-Zeitung,) auf den 2ten (Jul.)Juli (Num.)NumerusNumero 105. auf der letzten Seite, stehet nun noch eine andre Anzeige, datirt den 28sten May 1779, Dürkheim:

452Nachdem sich der ehemalige hiesige erstere Superintendens und curator des von ihm auf eigene Kosten und Gefar errichteten Erziehungsinstituts, in dem (hochgräfl.)hochgräflichen Schlosse zu Heidesheim, (Hr.)Herr (D.)Doctor Bahrdt, aus hiesigen Gegenden, mit Zurücklassung, einiger, sogleich nach seinem Abzug in ein gerichtlich Inventarium gebrachter Effecten, entfernet; und aus denen bereits gegen ihn und die öconomische Societät seiner Anstalt, eingeklagten Schulden, sich ergiebet: daß dessen zurückgelassene Effecten zu Tilgung derselben schwerlich hinlänglich seyn dürften: als werden alle und jede, so an ihn, (D.)Doctor [119] Bahrdt, oder die öconomische Societät seines Instituts irgend einige Forderung ex quocunque capite zu machen sich berechtiget glauben, hiemit vorgeladen, von dato an, 453nach Verflus von 6 Wochen, welcher terminus sub praeiudicio praeclusionis anberaumet wird, vor dahiesiger hochgräflichen Regierungscanzley entweder in eigner Person, oder durch einen dazu hinlänglich Bevolmächtigten zu erscheinen, und von dem 12ten (Jul.)Juli (h. a.)hoc annohujus anni und folgende Tage, als in diesem ad liquidandum bestimten Termin, in Ansehung ihrer etwa habenden Forderungen gehörige Liquidation zu pflegen, sofort weitern rechtlichen Bescheid zu gewärtigen. Zur (hochgräfl.)hochgräflichen Leiningen-Dachsburgischen Regierungscanzley verordnete, Director, Hof- und Regierungscanzley Räthe.

Ich wil nicht die geringste Anmerkung hierüber machen, wie diese 6000 Rthl. mit so viel dortigen schon eingeklagten Schulden einstimmen; noch weniger andre Nachrichten hier ausbreiten, was die Schulden und creditores betrift. Aber es ist doch ganz gewis, daß der (Hr.)Herr Verfasser in einer sehr schlechten Lage sich befunden hat, als er von Heidesheim, wo er freilich nicht mehr bleiben konte, das Glaubensbekentnis handschriftlich nach Berlin schickte, um es in den Druck zu bringen; da er gerade am allerwenigsten für die 3 Religionen im römischen Reich, und 454für die rechte Christusreligion, und für grösseste Rechte der Menschheit, sondern blos für sich selbst zu sorgen Ursache hatte. Die Zeit wird den Erfolg von diesem ganzen Zusammenhange weiter lehren. Alle studiosos theologiae erinnere ich an jene alte vortrefliche Vorschrift, 455 Μανθανετωσαν, οἱ ἡμετεροι, καλων ἐργων προϊστασθαι, εἰς τας ἀναγκαιας χρειας, ἱνα μη ὠσι ἀκαρποι. Halle den 20sten August, 1779.

(D.)Doctor Joh. Salomo Semler.

3.

[1]

Berlin,
bey 456 August Mylius 1779.textgrid:3rnnd
[2]

[3] Herr Doktor Semler in Halle, hat auf mein Glaubensbekenntniß textgrid:3rnj8, welches weder eine Frage noch eine Widerlegung war, eine Antwort textgrid:3rnn5 geschrieben. In dieser Antwort hat er in Absicht auf politische Duldung solche Grundsätze geäusert, die destomehr befremden müssen, 457jemehr er bisher selbst einer viel weitern Duldung zu bedürfen geschienen hat. Denn er ist in Ansehung vieler Punkte nur in so weit von mir unterschieden, daß er, außer der abweichenden Meinung, auch die orthodoxe Meinung entweder selbst oder in ei[4]nem andern Sinne vorträgt, der nicht der Sinn der Abfasser der öffentlichen Glaubensbekenntnisse ist.

Ich erkläre hiermit, daß ich, um nicht das Publikum zu ärgern, gegen diese Antwort nicht schreiben werde. Ich mache also, blos um einige darinnen gegen mich enthaltene Beschuldigungen zu zernichten, folgendes bekannt.

1. 458Herr Doktor Semler entschuldigt das so befremdende Unternehmen gegen mein Glaubensbekenntniß zu schreiben damit: daß ich gesagt: Tausende sind meiner Meinung (etc.)et cetera

Antwort. a. Da ich ihn unter den Tausenden nicht genannt habe, so konnte er noch zu den mehrern Tausenden gehören, die der Meinung nicht sind, welche ich als die meinige bekannt habe.

b. 459In der Einleitung sagt er selbst, daß er mir schon in einem Briefe, ehe mein Glaubensbekenntniß erschienen war, gedrohet habe gegen dasselbe zu schreiben: also, ehe er noch wuste [5] daß ich darinnen von jenen Tausenden reden würde. Offenbarer Widerspruch! Und in einer solchen Sache!

2. 460 (H.)Herr (D.)Doctor S. beschuldigt mich, ich hätte eine neue Universalreligion der Welt aufdringen und die Staatsgesetze abändern wollen.

Antwort. Ich erkläre hiermit, und der Augenschein lehrt es in meinem gedruckten Bekenntnisse, daß ich solches keinem Menschen habe aufdringen wollen – der Gesetzgebenden Macht, oder einem Theile derselben, Vorstellungen gegen ein Gesetz thun, heist nicht: Staatsgesetze abändern. – 461In England sind häufige Bittschriften über die Abschaffung der Subscription an die Gesetzgebende Macht ergangen, und nie hat man den Bittenden daraus ein Verbrechen gemacht, noch weniger Schuld gegeben, sie hätten die Staatsgesetze abändern wollen.

3. (H.)Herr (D.)Doctor S. macht mir ein Verbrechen daraus, daß ich einige Sätze der symbolischen Bücher für falsch und schädlich erklärt und diese Bücher, (in ihrer jetzigen [6] Ausdehnung) für unnütz und die Gewissen belastend erkannt habe.

Antwort. 1. Es ist erlaubt, menschliche Meinungen, irrig oder der Moralität nachtheilig zu nennen. 462 Blackburne, Archidiakonus von York nennt in seinem Confessional, einige Sätze der 39 Artikel unmoralisch und absurd (welches ich nicht gethan habe.) Man hat ihn zu widerlegen gesucht, aber niemand hat es ihm zu einem Verbrechen gemacht.

2. Dadurch, daß ich mich so über einige Sätze der Bekenntnißbücher erklärt habe, habe ich mich nicht einmal von der Lutherischen Kirche losgesagt. Blackburne ist Archidiakonus von York geblieben, ohngeachtet er sich weit stärker erklärt hatte, als ich. Man muß abwarten, daß ich ausdrücklich selbst erkläre, ich wolle kein lutherischer Doktor der Theologie mehr seyn, so wie es 463 Lindsey in England in Ansehung seiner Rektorschip in Carterick gethan hat. Bis dahin muß man voraussetzen, daß ich mein Gewissen wieder beruhigt habe, und meiner innern Ueberzeugung ohngeachtet, die Lehren der Glaubensbücher öffentlich vortragen und erklären kann, welches [7] nach 464der von (H.)Herr (D.)Doctor S. so empfolnen doppelten Lehrart gar leicht geschehen kann.

4. 465 (H.)Herr (D.)Doctor S. versichert, ich hätte alle Lehrer der Kirche Heuchler gescholten, die nicht eben solche Bekenntnisse ablegen wollten.

Antwort. Ich habe, wie der Augenschein lehret, das nicht gesagt. 466Ich habe blos behauptet: ichwürde ein Heuchler seyn, wenn ich, so aufgefodert, die erkannte Warheit verschweigen wollte.

Ich überlasse es übrigens einem denkenden und empfindenden Publikum zu beurtheilen, mit was für einem Herzen man die feindseligen Ausstreuungen gegen einen Wehrlosen und Unglücklichen, sammlen und drucken lassen kann. Wenn Leute von gemeiner Denkungsart, bey solchen Umständen, wie die meinigen sind, auf einen Gedruckten und Waffenlosen losschlagen, ihn schänden, und Lügen oder verunstaltete Warheiten wider ihn aus[8]breiten, weil sie es eben jetzt ungestraft thun können, dann wundert man sich nicht. Aber wenn selbst ein Mann von Talent und Verdiensten sich mit unter diesen Haufen mischt, dann gehört das unter die Dinge, 467von denen Saurin einmal sagt: „Lasset uns einen Vorhang vorziehen!

(D.)Doctor Bahrdt.
1,
2,
3,
4,
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6,
7,
8,
9,

4.

1
[110]

[111]

Warum, Werther Freund, sollte eine öffentliche Revision jener Recensionen nicht sehr nützlich seyn? Wäre es auch nur in dieser einzigen Absicht, daß manche Recensionen vorsichtiger eingerichtet würden, und nicht ein Recensent in seinem localen Gesichtspunct so viel äußerte, das andern Zeitgenossen, in ihren auch localen Umständen, sehr anstößig seyn mus. Sie wissen es noch mehr, in dortigen Gegenden, als wir in unserm moralischen Clima es empfinden können, was für öffentlichen Anstos das Bahrdtische Bekenntnistextgrid:3rnj8 nach sich gezogen hat; was für Folgen noch immer fortdauern, und was für Gedanken vollend sich immer mehr erzeugen, wenn gleich manche Leser es lange vergessen haben sollen; andre aber es lange verachten, und noch andere gar nicht daran denken wollen. Diese Recension hat freylich diesen Erfolg, den viele auch gern sähen, und die Mittel dazu recht gut kennen, nicht befördern und erleichtern wollen; sie vergißt es fast, daß viele Leser dieser Bibliothektextgrid:3c0t1, am allerwenigsten über Begebenheiten dieser Art, sich ihr Urtheil, ihre eigenen Gedenken über allerley bisherige Erscheinungen, nicht nehmen lassen.

[112] Es ist wahr, daß 470manche meiner Schriften oft in dieser Bibliothek ausgezeichnet worden sind; daß mancher neue Versuch von mir, als zu seiner Absicht gut angesehen, oder gar mit Beyfall, beurtheilet worden ist. Aber ich habe die indes entstehende Veränderung viel zu richtig eingesehen, als daß ich nicht schon im Voraus hätte erwarten sollen, eine Recension meiner Antwort auf das Bahrdtische Bekenntnis, würde dieser einsweiligen Veränderung ganz gewis sich völlig anpassen. Meine Antwort textgrid:3rnn5 hat mich um alle Zuneigung, um allen Beyfall gebracht, bey einer Parthey, deren besondre Absichten ich weiter nicht gekannt habe. Die Sünde, welche ich, ohne allen Vorsatz, in der täglichen Ordnung meines gelehrten Berufs, begangen habe, soll und mus unverzeihlich heißen. Der Unwille ist so gros, daß man mein ganzes bisheriges rechtschaffenes Leben, meinen unermüdeten Fleis, meine gelehrten Versuche, deren manche sogar von römischen Gelehrten begünstiget wurden, ein für allemal gar nicht mehr rechnet. Dieser Recensent ist noch unbilliger; übernimmt einen recht bedächtigen Angrif wider – – meine Gelehrsamkeit, in sofern sie zum Urtheil des Bekenntnisses gehört? nein – sondern wider meine Ehrlichkeit und theologische Rechtschaffenheit. Sehr ungern, in der That, sehr ungern, lasse ich mich dazu bringen, auf dergleichen Recension zu antworten; aber ich mus antworten, und 471den Recensenten, sey er wer er wolle, öffentlich [113] bitten, sich nun seinem Namen nach zu erkennen zu geben. Sehr annehmungswürdig ist der Vorschlag in den 472 Frankfurter gelehrten Anzeigen, (N.)Nummern XIII. XIV. daß Recensenten, die mit gutem Grunde etwas sehr tadeln zu müssen, meinen, sich allezeit nennen sollten. Die Unpartheylichkeit dieser Frankfurtischen Zeitungen kann auf grossen Beyfall, und in diesem Vorschlage auf öffentliche Attention Anspruch machen. Es betrifft diese Sache von nun an den moralischen Character von uns beyden; es ist der Sache selbst, die der Recensent vertheidiget und ich bestreite, von nun an daran gelegen, daß man in dem katholischen und protestantischen Teutschland es wisse, wer der so eifrige, so künstliche, so partheyische Vertheidiger des Herrn (D[.])Doctor Bahrdts ist, daß er darüber auch einen Professor in königlichen Landen, der 30 Jahre lang unbescholten war, preis giebt; und ihn als einen 473untreuen politischen Theologus öffentlich aufstellen will. Da ich mich öffentlich genennt habe, und das Publicum nun es frey hat, über mich zu urtheilen: so liegt auch viel daran, den Mann zu kennen, der sich dieses Geschäfte gab, oder geben lies, mich öffentlich um (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdts willen, in übeln Ruf zu bringen.

Ich kann Ihnen also, mein Freund, nicht folgen; Sie mögen aber Recht haben, wenn Sie glauben, Herr (D.)Doctor Bahrdt seye von dieser Recension auszuschliessen; mehrere Leser hatten ihn selbst für den Verfasser gehalten. Destomehr ist es nun [114] nöthig, daß der wahre Urheber sich nenne; das Zutrauen gegen diese Bibliothek im theologischen Fache in unserer Zeit, wird sonst sich noch mehr vermindern; und es wäre wirklich einiger Nachtheil für die Ausbreitung der Gelehrsamkeit, wenn man in noch mehrern teutschen Provinzen es auch für das beste Mittel halten müste, die so genannte Aufklärung der Einsichten, lieber wieder einzuschränken, als ferner zu erleichtern. Ihnen darf ich es vorsagen, mein Freund, daß selbst katholische Gelehrte manche meiner Schriften ohne Anstos gelesen, und meinen Fleis, meine Rechtschaffenheit in Absicht der Wahrheitsliebe, gelobet haben. Noch mehrere waren auf dem Wege, der weiter vorwärts führet; aber diese schönen Entschliessungen – – werden nun ernstlich untersucht, und nun – gemisbilliget; in der That nicht um meiner Schriften willen, wenn gleich die 474 freyburgische Bibliothek sich eben darum heldenmäßig wider mich aufgemacht hatte. Es ist auch kein Gelehrter im ganzen teutschen Reiche über meine Antwort unwillig worden; wohl aber haben sehr viele das Bekentnis, und seine Bekanntmachung ganz frey und ernstlich beurtheilet. Und hat wohl jemand ein Recht dis zu hindern? Kann man es je sich vorsetzen es zu hindern? Was hatte nun der Recensent für eine wichtige Absicht, da er sich hinsezte, und mich in meiner damaligen Lage, die er vielleicht weis, 475gar als einen Politicker aufstellen wollte? Ich habe wohl in meinem Leben mir diese Geschicklichkeit schaffen wollen! Und wie viel [115] richtiger urtheilen Sie, mit recht vielen meiner Freunde, daß ich gerade ganz unpolitisch, recht ohne alle Klugheit, in sofern diese allerley eigenen Nachtheil vermeiden will, stets gehandelt habe! Wie so sehr gros mus also die Sache seyn, die ich durch eine Politik soll gehindert haben? Das sonderbarste hiebey ist, daß ich gar keinen weitern Zusammenhang weis und kenne; daß ich blos hintennach, aus denen mir allein nachtheiligen Folgen das Daseyn eines grossen Vergehens, haben kennen lernen.

Nehmen sie dazu, daß 476in eben dieser Bibliothek, in eben diesem Stück, (S.)Seite 17, ein anderer viel billigerer Recensent dis Urtheil niederschreibet, „ein Namenloser Recensent kann viel eher eine kleine Beleidigungen hingehen lassen, als ein Schriftsteller der sich genennt hat; auf den leztern sehen alle, die ihn kennen; zumal seine Feinde.“ Sie werden nun zugeben, daß dis wirklich mein Fall ist; wenn ich gleich sie nicht meine Feinde nennen will, die iezt über meine Antwort, über mich also, sehr unwillig worden sind, und ihren Unwillen noch durch eine solche Recension fortsetzen. 477Hätte Herr Basedow die elende Schrift nicht drucken lassen, Urkunde, mit so viel 478angeblichen Mitleiden über meine wohlverdiente grosse Strafe, daß er gar mich und die Meinigen ernähren wollte – – so hätte ich weiter nichts über dis Bekentnis zu sagen nöthig gehabt. Hätte der 479Urheber des Almanachs 480mich nicht so muthwillig abermals als den Verfolger, als den Heuchler beschrieben, aus [116] jenem Sendschreiben, das – – mehr nichts ist, als es ist: so hätte ich in der 481Vorrede zu meinem Leben nicht Ursache gehabt, so viel zu sagen. Hätte nun dieser Recensent sich nicht vorgesezt gehabt, Herrn (D.)Doctor Bahrdt durchaus zu rechtfertigen, und mich dafür zu beschreiben, ich hätte eben so wenig eigene Hochachtung für die Grundwahrheiten der christlichen Religion: so hätte ich gewis nicht weiter geantwortet. Aber meine Rechtschaffenheit lasse ich mir nicht nehmen; ich kann nichts leichter retten und vertheidigen, als diese unentberliche Eigenschaft eines würdigen Menschen; und es ist der Menschenwelt an nichts so viel gelegen, als an Rechtschaffenheit. Grössere Ausbreitung der Religion, und Erleuchtung der Menschenwelt, Aufklärung – man rede wie man wolle, ist uns alles entberlich, wenn es beym Reden bleibet, und diese Eigenschaft den Menschen geringschätzig wird; wenn man sie aufopfert, oder der Kopf das Herz unterdrücken darf.

Endlich bin ich auch davon gewis, daß ich so gar manche Dinge oder Gegenstände noch mehr und gewisser aufklären kann; auch die Hauptsache auf der rechten Stelle halten werde, um darüber richtig zu urtheilen. Es ist mir eine angenehme, große, würdige Vorstellung, daß das aufmerksame Publicum nun so sehr leicht über uns beyde, und die Bahrdtische Sache, urtheilen und absprechen kann.

Die Recension enthält eine Anklage wider mich, und eine sehr weit getriebene Rettung und [117] Entschuldigung des Bahrdtischen Bekenntnisses; diese meine Antwort soll meine eigene, mir in der That abgedrungene Vertheidigung und Ehrenrettung enthalten. Und nun haben teutsche Leser gerade die bisherigen Acten beysammen, um über – – zu entscheiden. Teutschland kann ganz und gar nicht Ursachen haben, partheyisch zu urtheilen; und warum müßte es meine Politik seyn, wenn ich ganz gewis hoffe, meine Gegenparthey, seye sie noch so unwillig, könne mich nicht in der Absicht unterdrücken, um nur sich selbst und (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdt aufzuhelfen.

Ich gestehe es Ihnen, daß dis eine lange Vorrede zu einem Briefe ist; aber ich werde gewis so bescheiden seyn, ihn abzubrechen, so bald er gar zu lang wird; Sie lesen es doch nach einander, wenn Sie Lust haben; oder Sie brechen das Lesen ab, ohne dem Brief selbst ein Gebiet über Ihre Neigung einzuräumen. Ich fange also die Revision an, über die Recension.

Sie macht es zum Eingange, daß 482 ‘ich möge Gründe gehabt haben, mich wider das Bahrdtische Glaubensbekenntnis zu manifestiren, und allen Verdacht als ob die theologische Facultät in Halle die Heterodoxie desselben begünstige (etc)et cetera.

Ist es nicht wahr, das Wort, ich hätte mich manifestiret483gehört sonst eigentlich auf einen pohlnischen Reichstag? Ich bin wenigstens kein Magnat, und weis nicht, warum meine Antwort so besonders beschrieben werden soll. Aber wir wollen auf die Sache selbst sehen; die Zeit [118] rechnung ist hier ganz unbestechlich; der will ich folgen, und die Heterodoxie – das soll sich auch recht gut finden. 484Die Universität hat zuerst eine Vorstellung eingeschickt, als in Halle davon geredet wurde, Herr (D.)Doctor Bahrdt würde oder wolle, oder werde – – Sie können denken, daß die Aufmerksamkeit ganz andrer Leute sehr geschäftig gewesen ist, diese futura zu bestimmen; und in diesem öffentlichen Gerede, das aus allerley Briefen sich täglich vermehrte, ist die Veranlassung zu suchen, daß nun die Universität diese allerley Aufgaben nicht länger circuliren lassen wollte; es wurde also einstimmig beschlossen, hierüber allerunterthänigste Anzeige zu thun; und es wurden die Dinge erzählet, wie sie hier schon angesehen, und herum geschrieben wurden. Die meisten Professores kannten 485eine besondere nachtheilige Localität, von der Zeit an, da in der gelehrten Hallischen Zeitung, welche 486der Professor und Geheime Rath Klotz ehedem hier angefangen hat, 487eine hier überall bekannte Erzählung aus Leipzig, öffentlich im Druck bekannt gemacht worden war. Ist es Ihnen wohl unbegreiflich, daß Professores aufmerksam sind auf alles, was ihrer Universität so oder so nachtheilig gedeutet werden könnte? Wir haben alle es in unserm Eid, so weit unser Gesichtskreis reichet, dis ehrlich in Acht zu nehmen. In Acht zu nehmen, schreibe ich; nicht, zu entscheiden; sondern höhern Orts von solchen Dingen Anzeige zu thun, wenn sie auch am Ende unnöthig und unerheblich seyn mag. Dis letzte können [119] wir nicht ausmachen. Es ist nicht für ganz unnöthig angesehen worden; 488wir bekamen den Bescheid, Herr (D.)Doctor Bahrdt solle keine lectiones theologicas halten. Die (theolog.)theologische Facultät bekam weitere Ursache, es für nöthig zu halten, in einem unterthänigen 489privat Schreiben an (Sr.)Seiner Excellenz, den Freyherrn von Zedliz, mehrere Umstände vorzustellen; und 490wenn der Recensent Recht hat, daß ich schon vor Herrn (D.)Doctor Bahrdt eben diese Sachen, diese ungerechten Urtheile über unsere Kirchenlehre, öffentlich geschrieben hatte: so mus es die Facultät nicht gewust haben, oder sie hat auf eine sehr gütige Weise dieses geheime Anliegen jetzt mit ausgedrückt; der Hauptinhalt war aber nicht, daß wir den Schein bekämen, an der Heterodoxie Theil zu nehmen, indem hier ein jeder sich dem Urtheil der Zeitgenossen ruhig überlassen konnte, vermöge unserer schon langen Bekanntschaft in den teutschen Kirchen; es waren blos locale Umstände, deren Einflüssen man sich freylich nicht so leicht entziehen kann, als andere, die nicht in dem localen Kreise stehen. Um der oder jener Leute willen kann ich doch keine Unwahrheit sagen; ich will es hier nicht wieder abschreiben, 491was ich in der Vorrede zu meiner Lebensbeschreibung schon erzählet habe.

Nun müssen es die Leser beurtheilen, ob es wirklich der Fall ist, wie es (S.)Seite 47 heißt: 492blos gewisse politische Betrachtungen könnten mir diesen Eifer eingegeben haben. Dis sey noch glimpflich geurtheilet; sonst möchte man eine nähere [120] Ursache finden, in dem Bestreben, sich so viel möglich von dem verhaßten (D.)Doctor Bahrdt zu entfernen, nachdem man nicht so glücklich gewesen, ihn durch alle Bewegungen, worinn man sich und andre gesetzt hat, von sich zu entfernen.’“ Sie und recht viel gute Menschen kennen mich lange. Sie kennen auch (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdt; ich bin stets von ihm entfernt gewesen. Mus es nun wirklich nur auf diese Art begreiflich werden, daß ich wider Herrn (D.)Doctor Bahrdt geschrieben habe? Ich hätte blos politisch gehandelt; und der Recensent erweise mir noch Glimpf, daß er nicht anders urtheile? Ich habe patriotisch handeln wollen. Es können noch so gute Menschen auch in patriotischen Betrachtungen irren, fehlen, und zu weit gehen; richtig, mein Beyspiel zeigt dis, und zeigt noch mehr. Aber habe ich alsdenn aus Haß geschrieben? Sollte wohl Herr (D.)Doctor Bahrdt es selbst sagen, er glaube, daß ich ihn hasse? Beweise davon könnte er doch nicht anführen, weder aus Erfurt, noch aus Heidesheim, noch bey den zwey Besuchen, die er mir hier gab. Noch glaube ich, er werde mit der Zeit, wenn sich einige Dinge geändert haben, es öffentlich gestehen, daß ich ihm am allertreulichsten hätte rathen wollen. Ich rechne so sicher auf – – daß ich noch glaube, auch dieser Schritt des Recensenten werde ihn nicht abhalten, es einst zu gestehen. Wenn es also wahr ist, ein Professor kann in patriotischer Neigung mehr thun, als die Klugheit anräth: so habe ich gerade umgekehrt gehandelt, nicht politisch; wie [121] ich schon gestanden habe. Aber dis würde eher helfen zu einer gütigen oder nachgebenden Beurtheilung meiner Historie; darum soll es ja nicht so angesehen werden.

Wär denn (Hr.)Herr Bahrdt, dessen Historie wir alle wissen, durch dis Bekenntnis, das ich gleich weiter beurtheilen will, geradehin ein so annehmliches Mitglied der Universität worden, daß es nur Haß seyn mußte, wenn wir wünschten, ihn nicht in unserm academischen Kreise zu haben? Oder ist es unbegreiflich, daß die Professores, welche nicht wider Herrn (D.)Doctor Bahrdt geschrieben haben, dennoch es gebilliget haben, daß ich es gethan habe? Und bin ich alsdenn doch immer der Einzige, der also auch nur aus Haß es that? 493Der Recensent gestehet es selbst am Ende, daß er eine Universalreligion, oder wie man es nennen will, für möglich und wünschenswerth hält; da ist ja Ursache genug, daß Gelehrte ihre ganz andern Urtheile ebenfalls bekannt machen können. Haß gehört nicht erst dazu.

Ich kann es ihnen aber versichern, daß mehrere Professores die große Abweichung dieses Bekenntnisses von dem 494 westphälischen Frieden, noch stärker beurtheilet haben, als ich; und daß hier niemand ist, der so unedel wäre, 495 westphälischen Frieden und westphälischen Schinken in einer Zeile mit einander zu verschlingen; wie Herr Basedow sich dieses (viel zu bald) hat entwischen lassen. Nehmen Sie so viel Eltern dazu, die ihre Söhne hier studiren lassen; welche mit ihren dortigen [122] Nachbarn so viel Zusammenhang haben, daß sie schon prophezeyen – so werden Sie es gestehen, es war nicht nothwendig, daß Haß wider Herrn (D.)Doctor Bahrdt mich zu dieser Antwort brachte. Doch für einen Brief ist dis immer eine lange Erzählung, willigen Sie mir indessen diese Freyheit, daß historische Briefe so lang seyn dürfen, als der Verfasser will.

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Fortfahren mus ich freylich; und Ihnen darthun, daß keinesweges ich der einzige war oder bin, und daß folglich der Haß wider Herrn (D.)Doctor Bahrdt entweder, auch noch andern neben mir, gemein gemacht werden mus; oder auch bey mir allein nicht nothwendig so heißen konnte. Ich will Ihnen keine Erzählung machen, von 496sehr angesehenen Juristen; mit denen ich theils selbst über die äußerst unrechte Lage dieses Bekenntnisses gesprochen, theils auch ihr Urtheil mir schriftlich ausgebeten habe. Der Verstos war in der That nicht klein gegen das ius publicum ecclesiasticum; daß ein solches Bekenntniß, 497dessen Verfasser sich noch dazu ‘gar zum Repräsentanten unserer Kirchen eigenmächtig macht’, an (Kayserl.)Kaiserliche Majestät, mit der besondern Aeußerung gerichtet worden war, 498daß eine ganz andre Religionsform in Teutschland möchte eingeführet werden; dis sollte gar ein Beweis besondrer göttlichen Auswahl des [123] glorwürdigsten jetzigen Oberhaupts des teutschen Reichs heißen. – Und diese Schrift, worinn solche den Protestanten äußerst nachtheilige Grundsätze, ohne alle Bedenklichkeit, bejahet und angewendet wurden, war noch dazu 499in der königlich preußischen Residenz selbst gedruckt und verkauft worden. 500In mehrern auswärtigen Zeitungen hatte man ausgebreitet, dieser Verfasser eines so irregulären Bekenntnisses, seye Professor in Halle, 501wie ich noch Briefe aus einem Theile der Schweiz zeigen kann, daß es Herr (D.)Doctor Bahrdt dahin geschrieben habe, ob ich gleich es gehindert hätte, daß er das Institut nicht bekommen hätte. Sagen Sie, Lieber Freund, mußte es dennoch nur mein Haß seyn, wenn ich auf der (königl.)königlichen Universität, nun ebenfalls frey und ohne Furchtsamkeit, dieses Bekenntnis durch und durch widerlegte? Hatte ich etwa weniger Recht, unsre protestantischen Rechte ernstlich zu behaupten; unsere Lehrsätze, die eben so unwahr entstellet worden waren, zu vertheidigen; und also bey Auswärtigen allerley nachtheilige Eindrücke dieser seltsamen Erscheinung zu schwächen? Ich denke doch, daß kein Haß erst nöthig ist, 502die freye und dreiste Antwort eines Professors, in dieser Lage, sich zu erklären; der noch dazu in der (theolog.)theologischen Facultät der Aelteste ist, und schon hiernach verbunden ist, dis oder jenes zu thun, welches andre, der Reihe nach, noch nicht anzugehen scheinen kann. Aber warum mus ich denn durchaus so öffentlich verunglimpfet werden? Hat irgend ein gelehrter rechtschaffener Mann [124] im ganzen teutschen Reiche, es auf sich genommen, das Bahrdtische Bekenntnis zu rechtfertigen? Was hat denn dieser Recensent für Gründe, es nicht nur so künstlich und angelegentlich zu thun, sondern auch mich in die so bekannte Bahrdtische Denkungsart über die Religion überhaupt herabzuwürdigen? Dennoch soll ich ja stille schweigen, nicht – nicht. – Sind wir denn in Halle aller gelehrten Freyheit beraubet? Seit kurzen müßte dis doch erst geschehen seyn.

Aber damit ich nicht allein rede, lesen Sie, mein Freund, selbst nach, 503was ein (ganz andrer) Recensent in eben dieser Bibliothek (S.)Seite 59. über das Schreiben an einen Freund in G. den Herrn (D.)Doctor Bahrdt und sein Glaubensbekentnis betreffend, ganz laut gesagt hat; obgleich nur als Politikus, noch gar nicht als Theologe; welchem leztern es doch noch mehr auffallen mus, wenn er diese neuen Anstalten überdenket. Es heißt hievon, dis ist [„]ein freimüthiges, bescheidenes, und vernünftiges Urtheil; nicht sowohl über den Inhalt, als über die öffentliche Bekanntmachung desselben[“]. Ehe ich weiter abschreibe, bemerken Sie doch, diese neue Unterscheidung; es werde nur die Bekanntmachung des Bekenntnisses so derb und platt beurtheilet, nicht der Inhalt. Der Politicus überlies es freilich den Theologen über den Inhalt eben so ihre Einsichten zu eröfnen, als der Politicus es hier that; ich habe den Inhalt auch so entblösset, daß gewis niemand dies Bekentnis von dem Vorwurfe retten kann, es seye historisch [125] unwahr, es seye injuriös gegen die 3 Kirchen, es seye zu gar nichts nütze, als in gewissen noch unbekannten Aussichten mancher Leute, denen diese Lage der christlichen Religion nicht länger gefallen will. 504Nun will ich Ihnen einige Zeilen weiter abschreiben: „daß sich dieser Schritt des Herrn (D.)Doctor Bahrdts nicht billigen lasse“ – [„]es konnte der Beförderung der Wahrheit, oder der Toleranz auf keine Weise Vorschub thun [“]; (der Inhalt wird doch wohl hier beurtheilet!) [„]Herr (D.)Doctor Bahrdt könne auch nicht sagen, daß er irgend eine innere oder äussere Verbindlichkeit gehabt, sein Glaubensbekenntnis auf diese Weise abzulegen; da ihm, als einem der Rechte der Protestanten kündigen Doctor der Theologie, die Unbefugtheit des Reichshofraths, ihm dergleichen abzufordern, nicht unbekannt seyn konnte,[“] (sollte, hätte ich geschrieben!) – – [„]er erklärte sich demohngeachtet. Wozu? Und in welcher Absicht? Hier zeigt der Verfasser, [daß] Herr (D.)Doctor Bahrdt weder eine Verbesserung seiner eigenen Lage, noch irgend einen absichtlichen Nutzen für andre, durch diese Bekanntmachung vermuthen oder hoffen können; nicht einmal diesen, keinem Menschen im geringsten nutzenden Erfolg, daß nun seine wahre Meinung der Welt vorgelegt würde. – – ohne Noth thut ein weiser Mann nichts ungemeines, blos weil es Aufsehen erreget. Noch weniger ist die Art und Weise zu entschuldigen, wodurch diesem Glaubensbekenntnisse ein so viel grösserer Grad von Wichtigkeit hat gegeben werden sollen. Wenn er als [126] Privatmann seine Meinung vorgetragen, so möchte dis hingehen; da er sich aber an die Gesezgebende Macht gewendet, Gesetze und Verfassungen, die ihm nachtheilig geworden, abgestellt wissen will; wenn er vor dem Throne selbst, kirchliche Lehrsätze, die, mögen sie gleich, nach seiner Versicherung, vielen Tausenden anstößig seyn, doch gewis eben so vielen Tausenden heilig und Schriftmäßig dünken, als Vernunft und Schriftwidrige und der Gottseligkeit schädlich anklagt, wenn er endlich im feierlichsten Tone bittet, die alte Ordnung aufzuheben, ohne jedoch Vorschläge zu einer bessern zu thun – – ich gestehe es, mir scheinet es wenigstens so, man müsse auf sein kleines persönliches Ich einen ganz ungemeinen Werth, setzen, um sich so etwas nur einkommen zu lassen! So im Gleichgewicht steht doch warlich die Waage noch nicht, daß es nur ein Stäubgen in die eine Schaale brauche, um den Ausschlag zu geben.[“]

Ich will nicht noch mehr abschreiben; vielleicht haben Sie ohnehin jene kleine Schrift des Ungenannten selbst; aber bemerken Sie die unverzeihliche Partheylichkeit meines Recensenten, der uns bereden will, dieser rechtschaffene Verfasser habe nur über die öffentliche Bekanntmachung dieses Bekenntnisses geurtheilet; nicht über den Inhalt. Mus man nicht wirklich von nun an der berlinischen Bibliothek eine grobe Partheylichkeit beylegen, so oft die Rede ist von Herrn Bahrdt, oder von Anstalten einer neuen Religionsform? Wenn dis nur über die öffentliche Be[127]kanntmachung gehet, so müssen wir dem Ungenannten Urheber nicht glauben, der ausdrücklich die Gradation anbringt: noch weniger ist die Art und Weise zu entschuldigen – – das doch unleugbar gerade den allerschlechtesten Theil des Bekenntnisses angehet. Das freie Urtheil, eben diese Lehrsätze seyen auch Tausenden noch heilige und schriftmäßige – die Waage steht noch nicht so im Gleichgewicht – ist ja ebenfalls blos und unmittelbar über den Inhalt, nachdem von der Bekanntmachung schon lange war geredet worden, daß sie selbst gar keinen Zweck hatte. Nun nehmen Sie den unwilligen Ton dazu, der wider mich in dieser Recension recht wissentlich ausgesucht ist; und vereinigen es mit der Sache, die jener Ungenannte und ich völlig einstimmig beurtheilen; und loben Sie alsdenn die Unpartheilichkeit dieser Recension in einer Begebenheit, die das ganze christliche Teutschland angehet. Mus nicht der Recensent seinen Vorsaz recht bedächtig ausführen wollen, dennoch diesen bahrdtischen 505 Solöcismus so zu mildern, daß wir alle zur Noth nur sagen sollen, Herr Bahrdt hätte sich vorsichtiger ausdrücken sollen; er habe aber in dem Inhalte Recht; Sie werden es sehen, daß der Recensent mich nun selbst angreift, um Herrn (D.)Doctor Bahrdt zu vertheidigen.

Ich bin, erlauben Sie mir es zu sagen, der erste gewesen, der die gänzliche Untauglichkeit und Nullität dieses Bekenntnisses öffentlich angeklagt hat; actenmäßig, um die heiligen Rechte der pro[128]testantischen Kirchen, wider diesen groben Verstos, zu behaupten; warum haben aber Herrn Bahrdts Gönner, die dis so ganz untaugliche Bekentniß in den Druck beförderten, nicht auf diese wichtige Uebereilung gesehen? Verdiene ich deswegen alle diese nachtheiligen Folgen, weil manche in Berlin ein ziemlich Grosses Versehen begangen haben? Noch immer wünsche ich, Herr Bahrdt möge mir gefolget, und eine Retractation mancher Uebereilungen bekannt gemacht haben; ich wünsche es noch; denn diese Behelfe, womit der Recensent das Bekenntnis entschuldigen will, vermehren das Mistrauen der Leser dieser Recension, weit mehr, als der Recensent in seiner so ruhigen Lage diese Dinge, die Gährung, die Consequentien und Entschliessungen bey andern Zeitgenossen, sich vorstellen mag. Mir hat ein durchreisender rechtschaffener 506Prediger Herr W. es ehrlich gestanden, daß 507mein Brief nach Heidesheim den Herrn (D.)Doctor Bahrdt wirklich in ein Nachdenken gesezt hätte; denn er muste meine Rechtschaffenheit kennen; daß aber 508Vorstellungen von Standhaftigkeit, die man ihm aus Berlin zur Antwort mitgetheilet hatte, den so guten Eindruck wieder ausgelöschet haben.

Sie wissen den äußerlichen Erfolg meiner Antwort, zu meinem öffentlichen Nachtheil; der Recensent mußte ihn auch wissen; ich kann aber den Anspruch auf biedermännische Beurtheilung nicht zu weit treiben; der Recensent konnte es übergehen, obgleich der Abstand zwischen mir und [129] Herrn (D.)Doctor Bahrdt in dieser Lage sehr kenntlich ist. Aber wie beurheilen Sie nun die zusammengehörigen Grundsätze, Hofnungen, politische Absichten, und eigene moralische Gesinnung des Herrn (D.)Doctor Bahrdts, wenn er nach Jahr und Tag, welche 509seit dem December 1779 in meiner neuen Historie ziemlich stille verflossen waren (510des Herrn Basedows Hülfstruppen ausgenommen, die den ersten Anfall auf meinen moralischen Character, zu Gunsten der bahrdtischen, oder der im Plane schwebenden Sache, thun wollten) in dem Almanach (511denken Sie immer daran, daß dem Herrn (D.)Doctor Bahrdt das Herz blutete, für die Religion Jesu!) 512so viele Seiten abschrieb aus jenem Sendschreiben, um diesen 513 medius Terminus, meine Falschheit, zu unterstützen? Ich frage, wie beurtheilen Sie die moralische und politische Lage des Herrn (D.)Doctor Bahrdts, der wider einen so alten, so unbescholtenen Professor, als ich doch immer bin und bleibe, neben welchem Professor er seit vorigen Michaelis in dem Lectionscatalogus der königlichen Universität hier stehet, solche lange Seiten im öffentlichen Drucke abermals aufstellet? Muste ich wirklich nun vollend gar erschrecken, und mich noch mehr in duldendes Stillschweigen und geheime Klagen einhüllen? O nein, mein Lieber! ich weis Sie werden, wie manche andre schätzbare Freunde, es meinen neuen Fehler nennen; daß ich den Zeitgenossen nun in meiner Lebensbeschreibung viel zu viel Kleines erzählt habe. Ich will es doch er[130]warten, 514ob die Thorheit, der man mich auch im Almanach beschuldiget, wirklich blos auf meiner Seite ist? Von je her habe ich die christliche und moralische Thorheit, der Klugheit derjenigen Menschen vorgezogen, welche sich und ihr Selbstgefühl einer ganzen moralischen Welt entgegen setzen; welche doch Gott wahrlich eben so gewis selbst handhabet und regieret, als die physische, deren Bewegungsgesetze noch niemand ohne eigenen Schaden zu überschreiten oder zu verachten, sich vorgenommen hat. Wir Christen sagen es einander noch mehr, 515da sie sich für Weise hielten (etc.)et cetera (etc.)et cetera und wir wollen auf die Erfahrung uns verlassen. Sie kennen mich schon ziemlich lange; und wissen es also, daß ich diese grossen Gedanken nicht blos jetzt erwische, 516um, wie man sagt, aus der Noth eine Tugend zu machen. Ich kann auch in der Anwendung fehlen; aber Sie werden auch selbst schon wissen, daß mich eben dis noch mehr mit guten Menschen verwandt macht, und stets von dem andern Theil der Menschen, die zu sehr gros sind, unterscheidet. Haben sie nicht selbst damalen, zu meiner Aufrichtung mir einige schöne Stellen aus dem 517 Common sense zugeschickt? Wo Chesterfield, der edle große Mann, der die Menschenwelt besser kennt als ich und andre, so treffend 518redete, von manchen Leuten, die zuweilen ernstlich gebraucht werden, gerade zu Absichten. Ich glaube es war das 25ste Stück, und es folgte bald darauf die schöne Stelle, die eine göttliche, den guten Menschen unentbehrliche Wahrheit sagt – Der Graf [131] druckte nemlich, nach mehrern damaligen localen Dingen, sich endlich so aus: 519Dis beweiset, daß in einem rechtschaffenen und aufrichtigen Betragen etwas seyn müsse, das es durch die Welt führet, und gegen alle giftige Erfindungen der Verläumdung vertheidigt. 520Dreimal glückseelig und würdig sind alle diejenigen unter meinen Lesern, die hiezu von Herzen sagen, Amen, Ja. Hier kann ich wohl diesen Brief am besten schliessen.

Nun mus ich die Recension von vorn an durchgehen, um keine Gelegenheit zu lassen, zu Einbildungen, daß ich dis und jenes mir als gemachten Vorwurf wirklich anrechnen ließe; denn es gehet jetzt blos auf meinen moralischen Grund und Boden los, den mus ich freylich beschützen. 521 Wer sollte nicht mit uns wünschen, sagt der Recensent, eine kaltblütige Untersuchung’? Mus ich nicht wenigstens hier die Anmerkung machen, daß diese κοινοποιϊα, wonach es allgemeiner Wunsch wäre, blos eine rhetorische Figur ist? Sie wissen doch, daß dis Bekenntnis in vielen teutschen Provinzen 522auf obrigkeitlichen Befehl, geradehin verboten und confiscirt worden ist, ohne es für so wichtig anzusehen, eine kaltblütige Untersuchung aus Berlin zu [erwarten]. Ich habe auch im vorigen Briefe 523des Ungenannten Urtheile angeführet, [132] von gänzlicher Untauglichkeit, Zwecklosigkeit, Nachtheiligkeit dieses Bekenntnisses; und der Verfasser behielt das Prädicat, er habe davon freymüthig, bescheiden und vernünftig geurtheilet; ob er gleich den theologischen Inhalt, der historischen Wahrheit nach, zu untersuchen, sich nicht vorgenommen [hatte.] Nun komme ich zu der Untersuchung des Bekenntnisses; ich finde es mit so viel Hitze und Uebereilung, recht declamatorisch eingerichtet: daß ich wirklich nicht eben ein Muster der Kaltblütigkeit vor mir fand; den Solöcismus, 524in Ansehung des iuris publici sacri protestantium gar nicht gerechnet, der doch in der That einen Protestanten, einen Professor sehr ärgern mus; den Zusammenhang, 525 antecedentia und consequentia bey dem Herrn (D.)Doctor Bahrdt, auch nicht sehr gerechnet, der doch nicht wohl auszulöschen war, 526nach der alten Ordnung, quis, quid, ubi – so ist der Inhalt als historische Erzählung des Lehrbegriffs der drey großen Kirchen, durch und durch unwahr; 527die Anmassung, Repräsentant unserer Kirchen hiemit zu seyn, so unerträglich; die Aufgabe von einer 528Religionsform, für alle Palläste und Hütten – innerlich so unmöglich: daß es doch sehr wohl begreiflich ist, ein Professor in Halle kann in seinem locali ganz anders denken, und wirklich unwillig und empfindlich über einen so unerhörten Auftritt seyn, und folglich das Bekenntnis, wie es sich gehört, ganz ernstlich beurtheilen; wenn gleich der Recensent, der indes einigen kleinen Historien zugesehen hat, in einer [133] eben so ernstlichen und viel mehr censorischen Stellung sich hinsetzt, und nun ein sehr hartes Urtheil wider mich, aber für Herrn (D[.])Doctor Bahrdt eine Absolution niederschreibet. Er tadelt, 529daß ich ‘nicht eine Zeile, kaum ein Wort, noch weniger ganze Sätze erträglich finde; meinen eigenen bisher behaupteten Grundsätzen ganz ungetreu, 530in dem wahren Geist eines Göze und 531 Piderit, alle weitere Berichtigung des kirchlichen Lehrsystems für unnöthig, lächerlich und verhaßt zu machen. – –’

Hier müssen Sie schon etwas mehr Achtung geben; denn Sie sollen einsweilen Richter seyn; die Befugnis kann ich Ihnen mit allen Recht ertheilen, über mich zu richten. – Nicht eine Zeile – kaum ein Wort – dis ist wieder Rhetorication. Ich habe die ganzen Absätze (N.)Nummern 8. 9. 10. Seite 104. 105. meiner Antwort, 532 für lange bekannt erklärt; sie hätten aus einem Glaubensbekenntnisse wegbleiben müssen; der Herr Verfasser habe es nicht überlegt; es seyen diese Dinge kein Theil der Glaubenslehre. Sagen Sie, bin ich nicht sehr billig und gerecht? In den übrigen Artikeln habe ich eben so die theologische Lehrart, Lehrbestimmung, außer den Kreis des christlichen Glaubens hinaus gerückt, wie alle gelehrte Theologen, sogar 533 Bossuet, und andre Catholici, lange gethan haben. Ich kann aber nun nichts dafür, daß also Herr (D.)Doctor Bahrdt, statt große Eroberungen zu machen, in die Luft streitet, und freilich darinn nicht Recht hat, wenn er diese Dinge bey uns anschuldiget, als Glaubensleh[134]ren – 534 Menschenopfer, und dergleichen Barbarismos will ich wieder schenken. Aber die besondre Kunst des Recensenten, die er so kaltblütig anwendet, 3–4 Seiten lang, in kleinem Druck, mich als einen 535 Wetterhan vorzustellen, damit Herr (D.)Doctor Bahrdt nun etwas mehr Luft bekäme: Diese Kunst kann ich dem Recensenten nicht schenken; 536mag er es wieder grämliche Laune – nennen. Es ist doch gar zu viel gefordert, wenn man einem die Beine beschädigt, und verlangt noch dazu, er solle fein lustig hüpfen und springen. Wo sollte mir denn diese Fröhlichkeit herkommen, welche freilich mein Gegentheil, Herr Bahrdt, Basedow (etc.)et cetera (etc.)et cetera zur täglichen Ordnung ihres menschlichen Zustandes schon lange haben? Erlauben Sie mir also einige Zahlen; 1) meine Grundsätze werde ich nimmer mehr verleugnen; es ist also eine grobe Partheilichkeit, mir auf dieser Seite Schaden bey den Zeitgenossen zuzuziehen. 537Ich habe ja in der Antwort den Herrn (D.)Doctor Bahrdt selbst auf die (schmalkald.)schmalkaldischen (Art.)Artikel verwiesen; 538wo Luther selbst die Ueberschrift gemacht hatte, über diesen Artikel mögen unsre Gelehrte handelnLuther hat auch selbst, wie es bekannt ist, eine Probe gemacht, von der Taufe und der Erklärung ihrer Kraft; da er 539 Thomistische und Skotistische Theorie verwirft, und eine neue annimmt. Wahrlich nicht als Theil des gemeinen christlichen Glaubens, sondern als Versuch, und Gang seiner eigenen gelehrten Einsicht. Da ich den reinen Grund der protestantischen Gelehr[135]samkeit schon lange eingesehen habe: so habe ich selbst an Berichtigung der Lehrordnung bey einzelnen Artikeln, immer gearbeitet; (verstehen Sie 540 articulis ipsis saluis) ich höre auch nicht auf, Studiosos hiezu recht ernstlich anzuleiten. Aber alle diese Arbeiten sollen die Lehrgeschicklichkeit über die Grundwahrheiten der christlichen Religion, in unsrer Kirche befördern, vermehren, und erweitern; die Gegenstände, die Artikel selbst, bleiben. Kann dis der Recensent nicht verstehen? Aber ich soll und mus Unrecht, gros Unrecht gethan haben, um mit Recht straffällig zu seyn, und Herrn Bahrdts Absolution zu erleichtern. Diese Arbeit wird dem Recensenten sehr schlecht gelingen.

2) Herr Bahrdt wolte eine ganz neue Religion; 541 ohne jene Lehrsätze, ohne Sachen, die Erbsünde, Genugthuung, Gottheit Christi –’ heissen, darinn zu behalten. Wie reimet sich nun dieses? Habe ich etwa auch diese Merite, Stiftung einer neuen Secte, denn mehr ist es nicht und wird es nicht, haben wollen? Warum will der Recensent uns den Gebrauch unserer Augen und Unsers Urtheils de Facto nehmen, und uns erzählen, Herr D. Bahrdt meine nur die allergröbsten Vorstellungen? 542Daher soll (kaiserl.)kaiserliche Majestät – – dis mag doch recht sichtbar unbescheiden gegen die ganze teutsche Welt gehandelt heissen; nur um Herrn Bahrdt zu helfen, ihm gar eine Merite zu bereiten; und mich umgekehrt in den Verdacht eines Heuchlers zu bringen! 3) 543Ich habe in der [136] Antwort auf dis Bekenntnis ‘in dem wahren Geiste eines Piderit und Göze geschrieben! Sagen Sie, lieber Freund, ob sie dieses sehen und urtheilen können? es ist mein Glück, daß Ihnen Politik und eine gewisse Menschenfurcht keine Brille leihen kann. Ich kann doch nicht leiden, daß man diesen Männern hier unrecht thut; es ist der Fall gar nicht so, wie der Recensent ihn vormahlen will. 544Diese Männer haben nicht geradehin ‘alle Versuche – – gemisbilliget; 545das, was sie an mir, Herrn Teller (etc.)et cetera (etc.)et cetera tadelten, sahen sie wirklich als Bestandtheile der christlichen Religion an, und wollten also keine Aenderung in der Religionslehre leiden. Und wenn ich geantwortet habe, 546so habe ich stets majorem eingestanden; und nur minorem geleugnet, atqui diese Vorstellungen von Besessenen, von Reinigkeit des Textes (etc.)et cetera (etc.)et cetera sind, keine Theile der christlichen Religionslehre; nego minorem. Eine solche Verkehrung der Sache, ein Knif, ist der rechte Nahme von dieser Art, sollte in der berlinischen Bibliothek ja nicht vorkommen; ich will die Gründe nicht weiter aufstellen. 547 ‘Berichtigung des Lehrsystems, kirchlichen Systems,’ ist stets Eigenthum und Beruf der Gelehrten, und hängt mit der christlichen Lehre, für den gemeinen Mann, gar nicht zusammen; hier ist der Zweck seine moralische Besserung und wahre Wohlfahrt; und diesen Zweck hat der Gelehrte auch als Christ. Aber als Gelehrter unterweiset er, (z. E.)zum Exempel der Professor, Studiosos; denen mus er die Succeßion der Kenntnisse und ihrer Ver[137]knüpfung in Lehrbüchern, um ihrer Gelehrsamkeit willen, vortragen; ihre Talente dadurch auffordern, durch die Entwickelung der Begriffe, Sachen, Seligkeit, Verdienst Christi etc. etc. allen Anstos wegschaffen, und also den Unterschied zwischen Mittel und Erfolg, christliche Besserung behalten. Nun hätte Herr Bahrdt dis alles auch wissen müssen, so gut, als ich; aber er hatte eine besondre Absicht auszuführen sich entschlossen, mit Herrn Basedow; eine Universalreligion, natürliche einzige Religion; da waren alle jene Begriffe, die Sache selbst, hinderlich; denn sie sezten den christlichen Character noch fort, und schlossen den allgemeinen Naturalismus aus. So bald ich diese Anstalten merkte, wozu freilich das bahrdtische Bekenntnis gleichsam das Signal gab, habe ich (nicht meinen so guten so rechtmäßigen Grundsätzen entsagt; sondern) mich ganz gerade in den Weg gestellt, um diesen neuen schlechten Arbeitern es zu [zeigen,] daß die christliche Religion kein alter Plunder sey; daß alle 3 Religionspartheyen in Teutschland viele gelehrte und ehrliche Männer im Lehrstande haben, welche das göttliche unverlezliche Ansehen der christlichen Begriffe und Lehrsätze, richtig unterscheiden, von der succeßivischen theologischen Gelehrsamkeit. Alle unsre Zeitgenossen müssen nun selbst urtheilen, ob der Recensent recht natürlich handle, wenn er schliesset: weil (D.)Doctor Semler dem so schlechten Bekenntnisse des Herrn (D.)Doctor Bahrdts sich so gar ernstlich widersezt, und die historische ehrliche Wahrheit zur Ehre der 3 [138] grossen christlichen Partheyen, so ernsthaft rettet, wider solche Verdrehungen und Verzerrungen: so folget, 548daß (D.)Doctor Semler ‘in dem wahren Geiste eines P. und G. schreibet, und alle Versuche zur Aufklärung des kirchlichen Lehrsystems – lächerlich und unnöthig machen will.’ Ich sage, wenn der Recensent sich unterstehet, dieses noch einmal zu schreiben, so mus er freilich sehr wichtige Ursachen haben, den Herrn (D.)Doctor Bahrdt und sein Bekenntnis noch immer zu rechtfertigen, 549 πυξ και λαξ.

Noch mehr soll ich jezt Befremdung erregen, 550‘ich, der sonst so kühne Theologe, der sich durch die freie Untersuchung des Canon, so gar an die in allen christlichen Partheien heilig gehaltenen Urkunden gewagt, und einige Bücher, hauptsächlich weil sie nichts zur Vollkommenheit beitragen, bestritten, wenigstens zweifelhaft gemacht hat.’“ Ich bitte schon im Voraus um recht viel Gedult, mein lieber Freund, ich habe recht viel zu antworten; und ich verspreche es, ich will mir Mühe geben, daß es Sie nicht reuen soll, diesen Brief völlig ausgelesen zu haben. 1) Sonst so kühne – – also wäre ich jezt dieses Prädicats, so weit es einen würdigen Sinn hat, nicht mehr werth? Ich dächte, daß ich gar vielmehr ernstliche entschlossene Kühnheit eben hiemit bewiesen hätte, daß ich so einen starken Einfall einiger Leute, in das Gehege der wirklichen christlichen Religion, so unerschrokken aufhielte, und damalen ganz allein so sehr ernstlich mich entgegen stellete. Sie sehen es, mein [139] Freund, an dem Zorn des Herrn Basedow, in jener Urkunde, was von meiner Kühnheit, so weit sie Beweis der guten Sache ist, beurkundet wird. Aber, können Sie etwas ersinnen, in meinem so öffentlichen Betragen, was da zeigete, ich wäre feige und den Grundsätzen nach flüchtig worden? Wenn aber der oder jener so für sich auf 551 Consensum praesumtum gerechnet hat, und dieser will nun bey mir nicht erfolgen: heißt das etwa, ich hätte mich aus Feigheit zurück gezogen? Gern möchte ich Ihnen noch dazu sagen, daß es mit der wahren ernstlichen Gelehrsamkeit eines guten Professors in der That so eine Sache ist, wo eben nicht ein jeder, in seiner täglichen lustigen Lebensart sogleich fortkommen kann; und daß es eine sehr unempfohlen Künheit ist, wenn der und jener etwas von meinem sauern gelehrten Schweis erwischt, und nun quer Feld mit dahin gehet, um grosse Thaten zu thun. Es ist mir aber schon mehrmalen so vorgekommen, und ich dachte oft an das alte Wort, 552 Sic vos non vobis – – damit ich mich aber nicht selbst preise, wie es manche jezt thun, so will ich 2) auch noch darauf antworten, was der Recensent so pathetisch hier einkleidet, ich hätte mich so gar an den Canon – – gewagt; und nun soll dis zuvörderst auffallen, daß ich wider dis Bekenntnis so ernstlich geschrieben habe. Das würde so viel heissen, wie die Rabinen sagen 553kal ve chomer; 554meine Untersuchung über den Canon wäre das majus, und Herrn Bahrdts, Versuche zur Aufklärung (Aufhebung, [140] mus es heissen) des kirchlichen Systems, in diesem Bekenntnis, wären das Minus. Der Recensent mus sehr unwillig gewesen seyn, über meine jetzige so entschlossene Kühnheit, sonst könnte er so [unrichtig] und verkehrt nicht gedacht haben. Auf einer Seite stehen also 555meine Anleitungen ad liberalem theologicam eruditionem, auch über den Canon, und was man immer herbey ruffen will. Auf der andern Seite aber stehet dis Bekenntnis; dessen Inhalt soll nun entweder eben dieses seyn, was ich so mühsam alles, Korn für Korn, selbst aufgesucht und erarbeitet habe, in dem Felde der Gelehrsamkeit; ohne jemand etwas zu entwenden; oder es soll dis Bekenntnis gar noch weniger tadelhaft seyn; und daher soll es eine 556 Befremdung erregen, daß ich wider dieses Bekenntnis so gar ernstlich geschrieben habe. Ich weis diesen Kunstgriff sehr wohl, wodurch man mich höhern Orts schwarz zu malen gesucht hat; ich kann es aber leiden, bis die Zeit kommt, welche diese armseligen Künste ohnehin ganz gerade für das aufstellen wird, was sie sind. Ich will aber doch jezt dem Recensenten die nöthige Antwort geben.

1) Niemalen bin ich so unverschämt gewesen, meine privat Kenntnis und sehr locale Gelehrsamkeit, so gar wider die Grundsätze des Staats, so aufzustellen, daß alle Religionspartheyen von mir für blinde oder ungewissenhafte Leute darum gehalten worden wären: weil ich täglich mehr zulernte, was ich gestern noch nicht [141] wuste. Meine Arbeiten sind besonders für angehende Gelehrte bestimmt gewesen, meinem Berufe zu Folge. Die unumgängliche Succeßion und fortschreitende Ab- oder Zunahme der theologischen Gelehrsamkeit, habe ich als eine ausgemachte Sache behauptet, und daher habe ich bey meinen Zuhörern nicht allein Erkenntnisse für den Kopf, sondern auch Anwendungen für ihr Herz täglich mehr anzubringen gesucht. Nun mögen denkende Leser es beurtheilen, ob es möglich sey, daß ich auf solche Dinge und stolze Grillen fallen könne, zu behaupten: man müsse alle drey Religionssysteme caßiren; man müsse 557 ‘das Gold der Christusreligion’ suchen, oder 558wie Herr Basedow uns vorgaukelte, die Urreligion erforschbar machen – an die Gewaltthätigkeit und Unterdrückung der eigenen Religionsfreyheit, womit jeder Christ jetzt zufrieden ist, nicht zu denken; welche diese Eroberer und Stifter einer neuen Religionsordnung, begehen mußten; 559wovon Herr Basedow lehrte, es müßte das gute Werk einmal gethan, und das Exempel an mir statuirt werden, er habe auch die Werkstätte, Akademien, gezeiget. Ich will wider diese Vorläufer der neuen Christusreligion nichts weiter erinnern; von 560 David Joris an – es giebt doch denkende Leute, die genug daran haben, 561 ex ungue Leonem.

Es ist also recht ausgemacht, wenn Herr Bahrdt, Basedow, und wer dazu gehört, ein mehreres nicht sich vorgesetzt hätten, in der theologischen Gelehrsamkeit und Kirchensystems-Be[142]rechtigungswerke, als ich ganz notorisch in [20–30] Jahren nun gethan habe; so hätten sie an die Umänderung aller drey Religionssysteme auch so wenig gedacht als ich; hätten aber eben so saure Arbeit Tag und Nacht getrieben, als ich und meines gleichen, die wirklich gelehrte Männer und treu in ihrem unbedankten Berufe sind; sie hätten aber freylich nie ein so lustiges Leben führen können. Herr (D.)Doctor Bahrdt konnte sich (z. E.)zum Exempel an die annales dogmaticos, exegeticos, der Christen machen, und in der That große Verdienste einerndten; er konnte die nun ungründlichen Theorien im 562 Hutterus, 563 Quenstädt, 564 Haffenreffer, 565 Calov, beurtheilen und bessere an die Stelle setzen; zeigen, daß schon vor mehr als hundert Jahren Iustificatio, Satisfactio – sehr gelehrt und gründlich untersucht worden, wenn gleich nicht von teutschen Lehrern – Sehen Sie, da wären wir immer gelehrte Gesellschafter gewesen; auf unsere verschiedene Lebensart sehe ich hier nicht; aber es ist Zeit, daß ich es sehe, daß mein Brief zu lang wird.

Es ist gut, daß ich einen neuen Brief anfange; ich hätte sonst durch einen besondern Absatz ihren Augen müssen zu Hülfe kommen. Nemlich nun folgt 2) vom Canon, und ‘von heilig gehaltenen Urkunden’. – Hier habe ich mich [143] ziemlich lange bedenken müssen, in was für einer Lage ich doch antworten möchte; um nicht grämlich zu heißen, und den Vorwurf mir zuzuziehen, daß ich denen Recensenten auch keinen Satz, keine Zeile – als gut und recht hingehen lasse. Ich will suchen, nicht grämlich zu seyn; aber es wird dem Recensenten ganz und gar nichts nutzen. Eine kleine Vorrede kann ich auch nicht unterdrücken, welche im Voraus die Beschaffenheit dieses Stücks der Recension, kurz erzählet: daß nehmlich solche unwahre ungelehrte Sachen einem Professor nicht hätte vorgelegt werden sollen; ein jeder meiner guten Schüler würde es nicht wohl leiden, daß man ihn oder andere so beschleichen wolle. 566Diese Beschuldigung, ‘ich hätte mich an den Urkunden der Religion vergriffen’, ist auch im Almanach ganz ernstlich wiederholet worden; und ich mus das Ungelehrte, so darinn zum Grunde liegt, recht öffentlich darstellen. Der Recensent, Herr Bahrdt, und wem nun daran lieget, daß ich soll recht geringschätzig werden, mag nun so gut seyn, und mir eine einzige Frage beantworten: hat denn die lutherische und reformirte Kirche einen öffentlichen festgesetzten Canon? Ist er etwa auf dem und jenem Reichstage, oder wo sonst, feyerlich angekündiget worden? Haben die lutherischen Academien etwa zusammen geschickt, und sich darüber gemeinschaftlich erkläret? Ist ihre etwaige Erklärung, (die der Recensent wohl noch irgendwo in Handschriften suchen wird,) [144] von der Obrigkeit eines jeden lutherischen Staats, bestätiget, und folglich überall gleiche Grundsätze darüber, eingeführet worden? Ich bin ein alter lutherischer Professor, und kann nicht anders, ich mus gestehen, daß es keinen solchen Canon in unserer Kirche gebe. Der Recensent hat also niemalen eine alte 567 teutsche Ausgabe des N. T. Lutheri gesehen, wo Luther selbst einige Bücher des (N. T.)Neuen Testaments von den andern, durch ein Zeichen abgetheilt hat? Ich weis nicht, ob er in die 568 Centuriatores hierüber gelesen hat; oder so gar die 569 Compendia von Haffenreffer an, welche die libros deuterocanonicos noui testamenti stets ausschließen, von denen, woraus 570 dicta probantia ferner genommen werden sollen. Sie werden es selbst wissen, mein Freund, daß es kein Lehrsatz der lutherischen Theologie ist, daß alle und jede Bücher so man in dem Canon, wider die römische Kirche, im (A.)Alten Testament, begreift, geradehin heilige Urkunden unserer Religionslehre seyen. Was hat denn nun der Recensent für Vorstellungen? Er will (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdt helfen; 571ich soll mich ‘an den heiligen Urkunden der Religionslehre vergriffen haben’, folglich errege es auch eine Befremdung, daß ich es mit (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdt so hart nähme; der habe viel weniger, nemlich in dem Bekenntnis, gethan! Nun geben Sie doch Achtung! 572Ich sage, es stehet den denkenden Christen frey, das Buch Esther, der Chroniken, Nehe [145] miä, Hohelied, Offenbahrung Johannis – nicht in der Absicht zu lesen, daß sie in christlicher Vollkommenheit dadurch wollten weiter kommen; wenn und so lange sie Gründe haben, an der göttlichen Bestimmung dieser Bücher zu dieser christlichen Absicht, zu zweifeln. Dis habe ich nicht etwa aus jetziger Kühnheit zuerst gesagt; sondern alle gelehrte patres, gelehrte Catholici, seit dem 573 Cajetan, 574 Pellican, und wir, seit Luther, und sogar 575 Dietrichs so oft gedruckten Summarien, haben es so viele lange Zeit gewust und gelehret; daß ich keine Ehre weiter habe, als sie gleichsam in ein Register gebracht zu haben. Nun beurtheilen Sie doch die Partheylichkeit und böse Absicht des berlinischen Recensenten, neben dieser Ungelehrsamkeit, die er hier sich entwischen läßt; mir giebt er gleichsam eine wissentliche Sünde schuld gegen die (heil.)heilige Schrift; denn so müssen es die meisten Leser verstehen, die nicht gelehrt und dieser Sache kundig sind. Wenn die Sache wahr wäre, nicht wahr, mein lieber Freund, es hätten sich doch wohl gelehrtere Männer gefunden, die mir diese unchristliche Arbeit gehörig vorgerückt hätten? Für Catholiken hatte der Recensent vollend gar kein Recht hier zu sorgen; bey ihnen ist canonicitas ganz recht blos iuris ecclesiastici, romani; auctoritas ecclesiae macht diese Bücher zu canonicis, welches ich auch wohl weis, und in dieser Absicht eben es historisch untersucht habe. Folglich, wenn (Hr.)Herr (D.)Doctor Bahrdt [146] sein Urtheil ganz frey geschrieben hätte, für mich giebt es keine göttliche Auctoritaet des Buchs Esther – apocalypseos – ja er hätte mehr mögen dazu setzen, Hiob, Daniel: so hätte er gethan, was ein gelehrter lutherischer Professor, wenn sein Gewissen einstimt, zu thun stets Fug und Recht hat. Da er in dem Bekenntnis, jene Lehrsätze selbst, als res, als obiecta der christlichen Lehre, bey allen drey Partheyen ganz weg warf, um ein neues System, kosmopolitischer Weise, zu schaffen: wie kommt denn jene Vergleichung meiner gelehrten Untersuchung des Canon, der bey Protestanten nie ein göttliches Ansehen hatte, hieher? Hat also Herr (D.)Doctor Bahrdt nicht etwas ganz anders vorgenommen, wozu in meinen bisherigen gelehrten ehrlichen Professorarbeiten, nicht das geringste Beyspiel ist?

Sie müssen noch mehr Beweis anhören; glauben Sie, es kann Ihnen doch nicht so unangenehm, widrig und unleidlich vorkommen, als mir selbst, den es zunächst angehet, und dem es kirchliche Beschimpfung, nach der neuen Toleranz, zuziehen soll. 576‘Wenn ein Leser 577in meinen ascetischen Vorlesungen über Gal. 4, 3. 1 Cor. 1, 31. sich erbauet hat, wie wird ihm, wenn er ein Lehrer der Kirche ist, zu Muthe werden, wenn er hört – ja, dis kannst du für dich denken, aber öffentlich must du lehren, wie die feyerlichen Bücher deiner Kirche es haben wollen.’

Ich bitte Sie nochmalen um fernere Gedult; ich mus ja antworten. 1) Der Recensent geste[147]het also selbst, daß ich über diese Wahrheiten, Erlösung, Absicht der Bestimmung des Lebens und Todes Christi, erbaulich geredet und geschrieben habe; ohne sie wegzuwerfen. Folglich kann ja auch ein jeder geschickter und treuer Lehrer diese wichtigen Wahrheiten eben so, (nach dem Unterschied der Zuhörer) einkleiden, wie ich es vor Studiosis zu thun im Stande war. Ich erinnere mich, daß ich schon mehrmals 578des gelehrten und frommen Chemnitius gute und richtig Anmerkung wiederholet habe, über Johannis Predigt, thut Buße – man mus nicht denken, daß Johannes wie ein unsinniger Mensch den ganzen Tag blos diese Worte wiederholet habe; er hat sie den Zuhörern erkläret. Gerade dis ist die ordentliche Vorschrift eines Lehrers und Predigers in unsern Kirchen. Er soll nicht blos die Worte, Erbsünde, Greuel, Elend der Erbsünde; Nothwendigkeit der Busse und Bekehrung; Größe des Verdienstes, der Genugthuung Christi, daher lallen; er soll alles erklären. Lehren ist eine täglich wachsende Fertigkeit; nicht ein Echo der Zeilen aus den symbolischen Büchern, oder gar der 579 acroamatischen Theologie, die niemand in die gemeine Unterweisung mischen soll. Wenn es nun ein treuer, seinem so großen Berufe ergebener Mann ist, ich denke ja, daß der seine Kunst und seine Absicht so empfehlen wird, daß die Zuhörer selbst denken und betrachten lernen. 580Da hat schon Luther im Catechismo selbst es uns geheißen – Da kannst du es so buntkraus machen – das, nach seiner [148] Art und nach seinem Beyspiel, zu verstehen ist: Du kannst es besser machen, als ich in diesem schlechten Büchlein, für schlechtere Pfarrherren, es hingeschrieben habe. Daß ich nicht Ausflüchte hier erfinde, beweisen ja die vielen 1000 Predigten der lutherischen Lehrer; darunter doch gewis auch manche schöne Beyspiele, eines geschickten, klaren, verständigen Vortrags sind. Wenn wir auch die schlechten so leicht und mit Recht verachten: so beweiset es ja, daß man eine helle Aufklärung der Sachen, die in den christlichen Lehrsätzen enthalten sind, zu erwarten, in unserer Kirche befugt seyn. Hätte also Herr (D.)Doctor Bahrdt über natürliches Verderben, über Bekehrung, Rechtfertigung um Christi willen (etc.)et cetera (etc.)et cetera recht helle und deutlich lehren wollen, so hätte er gerade die Pflicht eines geschickten Lehrers erfüllet. 581Aber er sagt ja selbst, wie er es gemacht habe, um ja eben diesen christlichen Lehrsätzen völlig auszuweichen.

2) Ist es eine sehr unartige Beschuldigung, daß ich lehren sollte, 582 ‘dis kannst du freylich für dich (so unanstößig, so zusammenhängend, so nützlich) denken; aber öffentlich mußt du lehren, wie –’ Sie müssen, bester Freund, noch immer lesen; ich mus es doch gehörig beantworten, damit Sie ferner mir Ihre Achtung und Liebe beybehalten können. Ich will davon nichts sagen, daß ich also doch öffentlich meine Erklärung habe drucken lassen, und nicht für mich heimlich denke. Ich will aber doch ausdrücklich voraussetzen, daß davon jetzt nicht die Rede sey, ob die gelehrte [149] Sprache zum Unterricht gemeiner Leute gehöre; diese mus der Gelehrte gewis ganz für sich und seines Gleichen behalten: sondern es ist von verschiedener Lehrart die Rede, wenn es wahr seyn soll, daß ich Ursach habe, mich zu verantworten; welche verschiedene Lehrart Herr Basedow, Bahrdt – – zugleich für eine Untreue, für Zweydeutigkeit und Heucheley des Lehrers, halten wollen; damit wir Genugthuung, Dreyeinigkeit – gar nicht retten könnten, sondern wegwerfen müßten. Ich gestehe und wiederhole es auch, daß der Lehrer seine privat Gedanken, wenn sie in einem Widerspruche gegen die Sache selbst stehen, die er öffentlich lehren soll, durchaus nicht in die Lehre verwandeln soll; indem er berufen ist, diese in der lutherischen Kirche feyerlich festgesetzten Artickel, oder Materialien öffentlich zu erklären; nicht aber seine privat Gedanken (im Falle des Widerspruchs) zur Lehre, so künstlich, unter der Hand – zu machen. Hier schreibe ich so verständlich als historisch wahr; dis ist die Absicht, wozu ein Prediger in seinem Amte berufen wird; und in den Sachen selbst, Erbsünde, Bekehrung, Erlösung oder Genugthuung – kommen alle drey Kirchen, nach meiner eigenen gelehrten Einsicht, überein; die Localität aber und der Character der Lehrart, ist unumgänglich verschieden, und ist die stete Ursache der Verschiedenheit der äußerlichen großen Gesellschaften; daher kann ich de iustificatione – nicht lehren, wie die römische Kirche es thut. Dis alles zur bes[150]sern Einsicht vorausgesetzt, will ich es nun beleuchten: ob es wirklich sich also verhält, daß symbolische Bücher Lehrsätze hätten, denen der selbstdenkende Lehrer nicht beypflichten können mag, und alsdenn sich so – – helfen sollen, nach meiner Heucheley.

Es ist doch offenbar Zweydeutig, wenn der Recensent so obenhin sagt, 583 ‘du must lehren, wie die feyerlichen Bücher deiner Kirche es haben wollen.’ Heißt es also, du must dieselben Materialien, dieselben Lehrwahrheiten lehren und erklären, welche in der lutherischen Kirche, seit der augspurgischen Confeßion, ihrer Apologie, den schmalkaldischen Artickeln, den Catechismus, pflegen den Gliedern lutherischer Kirchengesellschaft, öffentlich vorgetragen, erklärt und eingeschärft zu werden, zu ihrem christlichen Leben und Sterben, zu ihren moralischen eigenen Bedürfnissen, zu ihrem Trost, zu ihrer Ruhe – so ist gar kein Zweifel daran; ein jeder treuer lutherischer Lehrer soll und mus diese Lehrsätze, diese wichtigen ewigen Wahrheiten, diesen Inhalt der christlichen Religion, diese unaufhörlichen 584 Consectaria der von Gott verordneten Historie Christi, diesen wahren Grund unaufhörlicher Wohlfahrt – rein, deutlich, gründlich, in dieser seiner Zeit, denen Gliedern der lutherischen Gesellschaft seines Orts, erklären und vortragen. Dieses Lehren aber ist eine sehr wirksame Beschäftigung des Lehrers, der es weiß, daß er in dieser Zeit lebet, die folglich ihm manche Reihe von Vorstellungen eröfnet, wel[151]che er nicht geradehin eben so zum öffentlichen Unterricht, wenn gleich zu eigener und seines gleichen Erbauung, gut anwenden kann. Sie wissen es schon, mein Liebster, daß ich recht gern jede Gelegenheit ergreife, mich zu erklären, und ich bestrebe mich immer, daß ich niemalen Ausreden und Behelfe, oder gar 585 Blauendunst vorbringe. Ich habe in 30 Jahren mehr gelernet, geübet und erfahren, als daß ich mich mit solchen unwürdigen Künsten, die jetzt hie und da gelten, durchhelfen müßte.

Ich möchte Ihnen wohl einen langen Brief schreiben über diese ganz nothwendige Lage eines Lehrers in unserer Zeit. Vergönnen Sie mir nur ein Beyspiel auch hier anzubringen, damit es noch gewisser werde, daß ich festen Grund und Boden habe; daß folglich nichts unschiklicher und unwürdiger mir vorgehalten wird, als ich seye ein theologischer – Gaukler, Wetterhahn, Betrüger, oder wie das rechte abscheuliche Wort heissen mag, das mich gewis niemals bezeichnen wird. Lassen Sie das Thema seyn, die Erlösung, die durch Jesum Christum geschehen ist. 586Der Lehrer im ersten Jahrhundert hat entweder mit Juden oder Heiden zu thun. Er soll den ersten jezt einen Unterricht geben. Er mus also die Uebel, das Elend, die Noth zuerst aufsuchen, welche die Juden bisher [kennen]; und eine Erlösung danach verstehen. Jenes sind also entweder äusserliche Einschränkung, dafür sie gern mehr leibliches Wohlleben hät[152]ten – der Lehrer unterweiset sie also; daß diese Dinge eigentlich keine Uebel für sie sind; daß sie recht ungeschickt Vorstellungen unmöglicher Dinge eigenliebig zusammen setzen – er lehrt sie nun moralische Uebel; geistliche Finsternis, Tod, Abneigung von Gott, wie er geistlich so liebenswerth erkannt wird – da fangen manche an, über ihre Sünden ganz andere und geistliche Begriffe zu bekommen – sie sehen sich an, als bisherige thörichte Feinde Gottes – sie haben auch manche sinnliche Ideen, von Zorn Gottes – Nun kommt er auf Erklärung der Erlösung, die Gott auf eine so würdige Weise veranstaltet habe, und belehret den [aufmerksamen] Zuhörer, von dem mancherley Verhältnis des Todes Jesu. Nun glaubt dieser Zuhörer, und 587nennt Jesum sein rechtes geistliches Opfer; seinen rechten Hohenpriester; der ganzen Würde Gottes, die er nun kennet, entspricht alles – er siehet nun auch eine gewisse Erlösung vor sich, von seinem bisherigen ganz eiteln Wandel, und von aller Ungerechtigkeit. Er häufet nun alle Ausdrücke, den Werth dieses so theuern Blutes Jesu zu beschreiben – Nun sind seine schlechten jüdischen Ideen alle weg, und es ist ein rechter ernstlicher Christ; oder wie es jezt heißt, fanatisch, weil er kein Naturalist ist.

Ich will die Predigt an die Heiden, nicht concipiren; Sie werden mich doch schon verstehen. Und nun die Erlösung für uns, in dieser Zeit, ohne Heidenthum, ohne Judenthum, lebende Zeit[153]genossen! Stellen sie sich die Menschen ohne eigene Gedanken vor? Hat der Lehrer lauter Klötze vor sich? Hoft er keine Wirkung Gottes in der moralischen Welt? Mus er also die christlichen Lehrsätze von der Erlösung der Menschen, nun geradehin wegwerfen? Genugthuung – ist eben so; Gott hat einen solchen Plan über die moralische Welt bekannt gemacht, wonach Christus einen fortdauernden Grund hergegeben hat, eine unaufhörliche göttliche Quelle aller wahren Vollkommenheit zu kennen; diese Vollkommenheit zu genehmigen und zu überkommen, die uns noch immer fehlet. Ich hoffe, daß Sie meine Ehrlichkeit ganz gewis hieraus kennen würden, wenn Sie mich nicht lange schon in diesem so unentbehrlichen, so leichten Character gekannt hätten. Man mus mit gehen in diese moralische Erfahrung; da findet sich ihre Mannigfaltigkeit, wer nicht mit gehet, verstehet es auch [nicht].

Oder aber, wie die symbolischen Bücher vorschreiben, heisset Formaliter. So begehet der Recensent eine wissentliche Sünde, um unsere und alle symbolische Bücher recht verächtlich und lächerlich zu machen. Denn nur ein eigentlich ungelehrter, oder schon ganz entschlossener Gegner, kann dieses bejahen. 588Ich habe schon in der Antwort auf Herrn Basedows unächte Urkunde es mit klaren Worten geschrieben, daß weder meine noch irgend eines andern Professors, Lehrers, Predigers, eigenthümliche Geschicklichkeit und Gelersamkeit, in den symbolischen Büchern abgezir[154]kelt, vorgeschrieben oder enthalten seye. Ich brauche gar nichts hierüber weiter zu sagen; und kann diesen Brief endigen.

Daß die Absicht des Recensenten den symbolischen Büchern geradehin ungünstig seye, werden Sie bald noch umständlicher sehen. Wenn er es als seinen Gedanken äusserte, stünde es ihm frey, wie vielen andern; zumal, da ich nicht einmal weis, ob er eine Verpflichtung dagegen auf sich hat. Er gehet aber weiter, und will nicht zugeben, daß eine eigene Privaterkenntnis des Lehrers für ihn selbst, dabey, neben dem Inhalte der symbolischen Bücher, statt finden könne; daher sucht er in meinen Schriften manches auf, um den Schlus [zu machen], daß solche Bücher nun abgeschaft werden sollten. Auch wider diesen Saz, als Aufgabe, hätte ich nichts; ich habe es selbst gesagt, daß unsere Obrigkeiten ihren Vorfahren in dem jure Sacrorum externorum succediren, und daher Kirchliche Verordnungen fortsetzen, einschränken, ändern, erweitern können; so gut als die Fürsten und Staaten im 16ten Jahrhundert; folglich würden aber auch würdige, Theologen und Lehrer, auf denen das Zutrauen des Volks hierinn beruhet, zu dieser neuen Untersuchung oder Berathschlagung mit gezogen werden; wie bey der augspurgischen Confession, Apologie, schmalkaldischen [155] Artikeln und Formula concordiae. Wir sehen es an mehrern Beispielen, (z. E.)zum Exempel 589 articuli visitationis Saxonicae: 590 consensus helueticus und ihrer Geschichte oder ihrem abwechselnden Erfolge. Aber aus diesem jure Sacrorum, wie es besonders durch nachherige Verträge feierlich für die öffentliche Religionsgesellschaft festgesezt worden: können Privati kein Recht herleiten, diese ruhigen Gesellschaften täglich zu stören und zu zerrütten; unter den Vorspiegelungen, einer viel bessern Religionsform und eines Lehrsystems zu grösserer Glückseligkeit der Menschen: als wenn wir an christlicher Wohlfahrt einen grossen Mangel hätten. Ich denke, daß ich deutlich genug hievon rede.

Aber nun die Beschuldigung wider mich. 591‘Wer kann sich auch, wenn er immer lieset, daß ein jeder für sich selbst denken und glauben kann, was er für wahr erkennet; und daß dennoch das Ansehen der symbolischen Bücher so ganz ungekränkt erhalten werden müsse, daß es keinem Lehrer einmal erlaubt seye, nur Vorschläge zur weitern Berichtigung des öffentlichen Lehrbegrifs zu thun, (denn sonst würde er Herrn (D.)Doctor Bahrdt nicht so hart deswegen angesehen haben) enthalten, zu fragen –’ [“]

Lesen Sie meine ehrliche Antwort auf diese vorsezliche Verwirrung und Verdrehung der Sache. 1) Ich habe es schon abgelehnet, daß Herr (D [.])Doctor Bahrdt nur Vorschläge zur Berichtigung des Lehrbegrifs gethan habe; denn dis hiesse der Lehrbegrif von 592Erbsünde, Bekehrung, Genug[156]thuung, wobey gar ein Menschenopfer bisher zum Grunde liege, Rechtfertigung – solle nur weiter berichtiget werden. Können Sie, mein Freund, es gleichgültig ansehen, daß die berlinische Bibliothek hier so gar die historische platte Wahrheit, die Lage des Bekenntnisses, so öffentlich verdrehen will? Ist es eine geringe Sache, mich auf diese Weise vor den Augen des ganzen Teutschlands unterdrücken zu wollen? Es ist durchaus ungerecht gehandelt, Herrn (D [.])Doctor Bahrdt auf diese gewaltthätige Weise noch gar ein Verdienst daraus zu machen, daß er alle drey Kirchen, so voll Einbildung auf sein Ich, 593wie jener Ungenannte oben ehrlich sagte, beschuldigte, 594ihre Lehrsätze von Erbsünde – – seyen wider Schrift und Vernunft. Kann man diese alsdenn durch Vorschläge berichtigen? Kein denkender Leser wird sich hier hintergehen lassen. 2) Will ich diese Verwirrung auseinander legen, die der Recensent zu Hülfe rufte. Es wird von allen Lehrern gerade dieser Zweck ihres Lehrens, das sie nach den symbolischen Büchern, materialiter fortsetzen, gesucht und erreicht: daß jeder Zuhörer nun selbst für sich denken und glauben soll; denn der Lehrer kann nicht für die einzelnen Zuhörer denken und glauben. Aus der Lehre sammlet sich der Zuhörer Erkenntnis, und sie soll und mus seine individuelle Erkenntnis, Ueberzeugung, Entschliessung – werden. Eben daher nun, weil es unzählige Modificationen der eigenen Vorstellungen giebt und geben soll, wird ein Hauptinhalt der Lehrwahrhei[157]ten, loci communes, allen Lehrern von einer Kirchensocietät überreichet; diese Lehrsätze, materias, articulos, sollen sie treiben und erklären; und nun freuet sich der Lehrer und die protestantische Kirche, wenn ihre Zuhörer und Mitglieder über diese Wahrheiten nachdenken; freilich denkt sie jeder in seiner besondern moralischen Localität; diese varietas 595gehört aber [zum] moralischen Ganzen der Gesellschaft. Giebts einen menschlichen Körper ohne Füsse, Hände, Magen – ? das öffentliche Ansehen lutherischer symbolischer Bücher beruhet geradehin auf dem Willen und Befehl der lutherischen Obrigkeit; diese will die Absicht erreichen, daß die Glieder ihrer Religionsgesellschaft in eben den Lehrsätzen den öffentlichen Unterricht bekommen sollen, welche diese lutherische Kirchengesellschaft ferner erhalten und fortsetzen. Diese Absicht wird auch durch unsere Lehrer, welche nach den lutherischen symbolischen Büchern ihren Unterricht einrichten, wirklich erreichet, und zeigt sich in den öffentlichen Kirchen, wo man zur Religionsübung, bey Taufe, Abendmahl, gemeinschaftlichen Gebeten, Anhörung der Predigt, zusammen kommt; denn öffentliche Anstalten haben einen öffentlichen gemeinschaftlichen Endzweck. Nun kommt jezt die privat Religion; die ist frey; sie wird nicht weiter durch das Obrigkeitliche Ansehen und durch symbolische Bücher bestimmt; wenn ein Christ selbst seines Gewissens wegen, Anwendungen davon auf seine eigene privat Religion macht. Die privat Religion ist also nicht an die symbolischen [158] Bücher gebunden. Der Christ kann privatim allerley ihm erbauliche Schriften lesen, welche aber nicht in den Vortrag der Lehren einfliessen können, wenn sie zugleich den Lehrsätzen dieser öffentlichen Gesellschaft entgegen sind. 596In der römischen Kirche ist diese Privatfreiheit so bekannt und ausgemacht, daß jeder Gelehrte seine Privatmeynungen so gar drucken lassen kann; wenn er nur sich bescheidet, die öffentliche Autorität der Kirche nicht anzugreifen, und also unnütze Störungen und Unruhen zu machen. Scholastice disputo, ist die ganze Antwort auf noch so ernstliche römische censuras. Ist etwa bey Protestanten weniger Recht? Nun wird doch wohl ein jeder Leser mich verstehen, wenn ich lehre, die Privat Erkenntnis und Vorstellung des Lutheraners ist nicht an die symbolischen Bücher gebunden; es ist ganz unleugbar wahr. Wir lebten ja sonst in einer greulichern Sclaverey, als sie im Pabstthum jemalen gewesen ist; wo doch 597 Gerson schreiben durfte, es kann der Fall seyn, daß eine gemeine Frau die rechte christliche Glaubenslehre behält; und viele Gelehrte und vornehme Leute sie verlohren haben. Es ist auch ausgemacht, daß ein Christ seine Privaterkenntnis nicht für andere Christen öffentlich aufstellen, und verlangen darf, man solle ihn zum Richter über die öffentliche Lehre machen: die öffentliche Lehre soll nicht für einen Privatus allein eingerichtet werden.

Aber nun weiter 3) 598 Vorschläge – sind einem jeden treuen Lehrer, Professor – gerade [159] in seine Pflicht mit eingerechnet; eben darum sucht man geschikte Personen, und examinirt Candidaten, um zu sehen, ob sie die Lehrsätze völlig, für unsere Zeit, gefasset haben, und im Stande sind, statt der wenigen Zeilen, die in augspurgischer Confession (etc.)et cetera (etc.)et cetera damalen zu einem besondern Zweck, enthalten sind, sie zu erklären, und darüber also ihre Lehrgeschiklichkeit an den Tag zu legen. Wo kämen denn die vielen tausend Schriften und Predigten unserer Lehrer her? Sind das etwa Abschriften der symbolischen Bücher? Ich habe also keine neue Entdekung gemacht, wenn ich es oft wiederhole, die Lehrgeschiklichkeit ist eine immerfortgehende Fertigkeit; sie ist immer grösser, oder schlechter. Jede Societät verlangt, ihre Lehrer sollen jezt, in jetziger Localität lehren: sonst liessen wir blos 599 Luthers Kirchenpostille ablesen. Nun halten Sie doch des Recensenten unredliche Anzeige gegen meine Aufklärung: Herr Bahrdt habe nur wollen Vorschläge thun, zu Berichtigung des Lehrsystems: und ich hätte eine solche Ungerechtigkeit begangen, dieses an Herrn (D.)Doctor Bahrdt nicht zu leiden. Daß in der berlinischen Bibliothek einem alten ehrlichen Professor auf der königlichen Universität zu Halle, so gar ungerecht begegnet werden konnte, oder sollte: ist freilich manchem ein Geheimnis. Herr Bahrdt ist auf einmal unsern Kirchen viel mehr werth worden, als ich. Wozu? Nun muß doch auch folgen, was man sich nicht enthalten kann, zu fragen: [160] 600‘wozu soll die unverbrüchliche Beybehaltung eines Religionssystems dienen, daß weder der Lehrer, noch irgend einer der Zuhörer verbunden oder interessiret ist für wahr zu halten?’ – – wenn ein Semler‘für den ewigen Werth der symbolischen Bücher eifert, so kann ihm nicht das Interesse der Wahrheit, nicht die Sorge für die Glükseeligkeit seiner Nebenmenschen, sondern blos politische Betrachtungen diesen Eifer eingegeben haben. Dis ist noch glimpflich geurtheilet; sonst möchte man eine nähere Ursache finden.’ [“]

Sie werden gewis recht gern mit mir dem Recensenten hier zusehen. Ich antworte 1) es mus doch ein jedes Mitglied einer Societät wissen, daß die Grundsätze und die Absichten, worauf die Verbindung der Societät beruhet, kein Eigenthum eines jeden privat Mitgliedes seyen; folglich auch nicht des Lehrers, der gerade zur Mittelspersohn, diese Absichten immer zu erreichen und fortzusetzen, feyerlich bestellt worden ist. Wie konnte der Recensent sich hier in eine solche Verwirrung einhüllen? Es ist folglich immer falsch, daß der Lehrer nicht für die Grundsätze der lutherischen Kirchengesellschaft [interessirt] seyn könne. Der Fall ist ganz unmöglich. Es ist auch falsch, daß die Zuhörer diese Grundsätze der lutherischen Kirche, als ihrer Gesellschaft, jemalen aufgeben wollen; sie haben daher die heiligsten Verspre[161]chungen ihrer Landesherren sich geben lassen, daß ihre bisherige Gesellschaft nicht soll auf einige Weise gewaltsam oder listig zerrissen werden. 2) Die armselige Betrachtung, Sorge für die Glückseligkeit der Nebenmenschen’ – gehört ganz und gar nicht her; man mus zuerst gerade die Pflichten vertauschen und aufheben, die man als ein Lehrer der lutherischen Gesellschaft wirklich schon hat. Diese Vereinigung unserer kirchlichen Gesellschaft ist gerade um der täglichen Rotten, Secten [und] Trennungen willen, von uns eingewilliget; wir wollen keinem Menschen dis Recht einräumen, unsre Religionssocietät unter der beliebigen Gaukeley zu zerrütten, daß wir eine grössere Glückseligkeit für unsere Nebenmenschen alsdenn schaffen könnten. Die Liebe und Sorge für die Erhaltung fängt ganz gewis von sich selbst an; unsere Societät soll nicht zerrüttet werden, unter gar keinem Vorwande; am allerwenigsten von Herren Basedow und Bahrdt. Ist die Rede aber blos von ohnmasgeblichen Gedanken eines Privati für andere Privatos, da hat niemand etwas dawider; denn da bleibet alles Privatsache. 3) Die Beschuldigung, ich hätte hier politische Absichten’ gehabt – kann ich dem Urtheil des Publikum’s ganz und gar anheim geben; man siehet aber schon vielmehr, als der Recensent sagen wollte. Ich habe als Professor für die Bildung geschickter, würdiger, moralischaufmerksamer Lehrer zu sorgen; ich habe noch nie etwas vorgenommen, die [162] lutherische Religionsgesellschaft, ihren Grundsätzen, Absichten und Rechten nach, öffentlich zu zerrütten; denn da griffe ich in res publicas ein, darauf bin ich in meiner Bestallung nicht gewiesen: ich habe keinen Antheil an der Staatsverwaltung. Was für politische Absichten konnte ich aber nach 30 Jahren wohl haben? [Waren] diese Anstalten, eine ganz neue Religion aufzubringen, die Herr Basedow mit Herrn (D.)Doctor Bahrdt anfänglich gemeinschaftlich, kosmopolitischer Weise, bearbeitete, nicht wichtig genug, mich aufmerksam zu machen? 601In dem Almanach wird geäußert, ich hätte für meinen Applausum Schaden gefürchtet. Soll das hier etwa auch zu verstehen gegeben werden? Nun hierauf mag antworten, wer es der Mühe werth achtet. Herr Bahrdt hat keinem von unsern Magistris die Zuhörer genommen; ich denke immer er würde mir auch nicht alle entfernet haben. Meiner Denkungsart aber ist es darum nicht gemäs, weil ich, wie es zur Ehre unserer Universität notorisch ist, 602die größten, gelehrtesten Männer in der (theolog.)theologischen Facultät stets habe befördern helfen, von denen ich wußte, sie werden gewis mich übertreffen.

Ich gestehe es, daß ich den Unwillen nicht begreifen kann, womit diese Recension mich behandelt. Ich hatte es schon gesagt, daß Luther selbst in den schmalkaldischen Artickeln unsern Lehrern es frey gegeben hat; wie er seinen Catechismus eben so stellet, wer es besser kann, soll es so buntkraus machen als er will; wir sehen es auch [263[!]] an der 603 Confessio Saxonica und Würtembergica, daß man die augspurgische Confeßion für das tridentinische Concilium nicht geradehin wieder abgeschrieben hat. Selbst die Apologie zeiget es, was die Lehrgeschicklichkeit Tag für Tag, noch immer zusetzt, in der Erklärung eben derselben Sachen. Sacrificium und Sacramentum ist in der augspurgischen Confession noch nicht erkläret worden; 604aber in der Apologie geschiehet es: wirklich ohne den Inhalt der Lehren zu ändern. Eben so unbegreiflich ist es mir, daß von Zuhörern geradehin gesagt wird, sie seyen nicht intereßiret. Sie sind, manche wenigstens, nicht intereßiret bey den Formalien; aber auch viele behalten alle Worte des Unterrichts, den sie einmal gefaßt haben; will der Recensent sie bereden, es seye ihnen viel nützlicher, Herrn Bahrdts Bekenntnis nachzureden? Wir überlassen jedem Zuhörer, sich aus dem Unterricht eigene eigenthümliche Vorstellungen zu sammlen; weil es nicht möglich ist, daß die Formulare der Vorstellungen der Individuorum schon in irgend einigen libris Symbolis stehen sollten. Ist aber diese Freyheit, die ich als daseyend aufstelle, selbst zu denken, weil gar niemand anders für mich denken und glauben kann, eben so viel, als: folglich hat weder Lehrer noch Zuhörer eine Verbindlichkeit, oder ein Interesse, in Absicht der Grundbücher der lutherischen Kirchen, wozu sie selbst gehören? So schändlich mus man die Sachen verkehren, um ja mir vorzüg[164]lich alle Schuld zu geben, Herrn (D.)Doctor Bahrdt aber, in der Sache selbst, gar zu vertheidigen. Man kann ja sehen, 605ob ich je die Sache, Erbsünde, oder natürliche moralische Unordnung des Menschen, Genugthuung – weggeworfen habe; wenn ich gleich die eigene freye Erkenntnis davon fordere und behaupte.

Noch einige Gedult, mein Freund! die bahrdtische Beschuldigung, als wenn das kirchliche Lehrsystem der drey Kirchen, 606der Schrift und Vernunft entgegen laufe, zum Unglauben führe – wird auf diese Art, wider mein eigenes Urtheil, wider meine Antwort, recht geflissentlich gerettet. Der Recensent sagt, 607‘ich hätte bey der Vertheidigung diese Lehrsätze fast immer in einem gemilderten Sinne, also in einem andern genommen, als in welchem (Hr.)Herr (D.)Doctor Bahrdt sie bestritten habe.’

Sie werden, lieber Freund, zusehen, ob diese Retirade, die man für (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdt hier öffentlich besorget, in guter Ordnung geschehe? Ich muß wenigstens dahin sehen, daß ich dabey nicht unter die Füsse getreten werde. Zur Noth gesteht der Recensent doch, 608‘freylich hätte Herr (D.)Doctor Bahrdt seinen Tadel in gemässigtern und behutsamern Ausdrücken vorbringen sollen; indes habe er doch offenbar nur immer [165] auf die härteste und unschicklichste Vorstellungsart der angeschuldeten Lehrgründe, Rücksicht gehabt?’

Ohne Zweifel werden biedermännische Leser von dieser Entschuldigung urtheilen, daß sie wenig edle Aufrichtigkeit und 609 bonam fidem des Urhebers entdecke. 1) Es ist lange ausgemacht, daß unsern Lehrern es gewis nicht freystehet, noch weniger es geheißen ist, eben die unschicklichste Vorstellungsart vorzuziehen; daß sie vielmehr einen solchen Vortrag schaffen müssen, wornach die innere Würde und Wahrheit der Sache von jetzigen Zuhörern und Lesern eingestanden werden kann und mus; wenn sie nicht wider eigenes Gewissen, die Sache verdrehen wollen. Noch immer mus es eine aller Annehmung würdige Lehre seyn, daß Jesus Christus gekommen ist, bisherige Sünder in einen bessern Zustand zu bringen. Wir billigen nicht einmal 610 Flacianische Beschreibung der Sünde, wie es bekannt genug ist; und 611schon mehrmahlen habe ich Augustini Stelle (de catechizandis rudibus) nach dem Hyperius, wiederholet, aliter mus ein Lehrer handeln cum urbanis, aliter mit agricolis; aliter mit Hofleuten, aliter mit Gelehrten; aliter mit Lasterhaften; aliter mit ehrbaren Menschen. Selbst in meiner Antwort habe ich (S.)Seite 31. die Sache erklärt; und nun erwischt man diese meine ehrliche Anzeige, um Herrn (D.)Doctor Bahrdt zu helfen. 612Wenn also der Recensent zugiebt, Herr (D.)Doctor Bahrdt könne die Wahrheit im mildern Sin[166]ne, mit ehrlichen Grunde, nicht leugnen, und aber kein Lehrer befehliget ist, den gröbsten Sinn mit den gröbsten alten Beschreibungen zu behalten, und dadurch jetzt Anstos zu erwecken; wenn endlich in allen Lehrbüchern seit den 20–30 letzten Jahren gar keine von solchen härtesten und unschicklichsten Vorstellungen vorkommen: so bleibt es ja eine ganz unschickliche Beschuldigung aller drey großen Kirchen in Teutschland, was in dem Bekenntnis so unredlich geschrieben wurde. Wie so leicht ist es einem rechtschaffenen Mann, zu sagen, ich habe freylich hieran unrecht gethan! Ist das eine Beschimpfung für Herrn (D.)Doctor Bahrdt, oder für den Herausgeber dieses Bekenntnisses? Und ist es ehrlich und würdig gehandelt, in einer Zeit, wo man gleichsam schwärmt oder gaukelt, von lauter neuer Wohlthätigkeit und Glückseligkeit, daß man unsre so guten so ehrlichen Lehrer also beschreibet?

Aber 2) auch dieses näher zu untersuchen, wo ist denn dieser härteste Sinn oder Unsinn jetzt anzutreffen? In welchen symbolischen Büchern oder ihren Erklärungen? Jetzt will man dem Bekenntnis dadurch helfen, es habe nur auf den härtesten Sinn, von Erbsünde, Rechtfertigung, Genugthuung (etc.)et cetera gesehen – Kann man, ohne sich lächerlich zu machen, sagen, daß dis wirklich der Fall des Bekenntnisses ist? Und hat noch je jemand die öffentliche Religionslehre nach den privat Vorstellungen einzelner einfältiger Menschen, oder schlechter Verfasser, beurtheilet? Alle Leser [167] des Bekenntnisses sollen sich hiemit aufdringen lassen, was der Sinn des [Herrn] (D.)Doctor Bahrdts seye, damit er ja noch könne entschuldiget, ich aber verdammt werden. Es sollen Herrn Bahrdts unbehutsame Ausdrücke seyn; die Lehrsätze selbst aber sollen stehen bleiben. Gleichwohl redet das Bekenntnis von den Artickeln selbst, die er glaubet oder nicht glaubet. Es sind also so viel Kirchen, worinn Prinzen und Personen von erhabenem Rang, von Gelehrsamkeit und alter Frömmigkeit sind, es nicht werth, daß man sagen dürfte, Herr Bahrdt that in der Sache geradehin zu viel? Jener Recensent vorhin that also auch unrecht, daß er dis Bekenntnis so beurtheilte; er hätte nur sagen sollen, die Ausdrücke waren nicht behutsam; Herr Bahrdt redet wahr genug; denn er redet nur von dem gröbsten Sinn aller drey Partheyen. Nun, wenn solche grosse Kirchen ein mehreres nicht verlangen dürfen, sondern sich erst hier belehren lassen müssen, das Bekenntnis fehle nur in unbehutsamen Ausdrücken – so mus ich ja stille schweigen, und mus ja, wider alle Einsicht, glauben, was mir die christliche Religion zu glauben nicht auferlegte; ich mus glauben, 613daß ich aus Bosheit, aus politischen Absichten’, oder aus – unrecht gethan habe, durch meine Antwort den Recensenten in eine solche Enge zu treiben. Politisch unrecht habe ich gehandelt, ist völlig wahr; der Recensent aber handelt also politisch recht und klug, und verstehet es, sich in die Zeit zu schicken.

[168] Nun kommt der Text näher auf mich. 614 (Hr.)Herr (D.)Doctor Semler hätte dergleichen Aeußerungen dem Herrn (D.)Doctor Bahrdt nicht rügen sollen, da man in seinen Schriften auch dergleichen findet. So heißt es unter andern in der Vorrede des ersten Bandes seiner ascetischen Vorlesungen’“ – Hier sind Sie wohl, guter lieber Freund, schon selbst auf dem Wege, mich zu beschützen. 1) Die Angabe oder Thesis ist: in meinen Schriften kämen eben dergleichen Aeußerungen vor, 615Erbsünde, Genugthuung (etc.)et cetera seyen wider Schrifft und Vernunft unter die christlichen Lehrsätze aufgenommen worden; seyen Quelle der Sünden und Verachtung der christlichen Religion. Diese, dergleichen Aeußerungen sollten in meinen Schriften vorkommen? Nun, wenn es wahr wäre, würde ich dennoch nicht selbst es für unbehutsame Ausdrücke erklären dürfen. Aber ich hatte schon wider Herrn Basedows arme Urkunde gesagt, sucht ihr bis an den jüngsten Tag! 2) Wenn ich aber auch in der That also gröblich mich an den Lehrsätzen der christlichen Religion vergriffen hätte: würde dis etwas helfen zur Entschuldigung dieses Bekenntnisses? 616Sonst war es schlechter Trost, Socios habuisse malorum [.] 3) Aber gar aus der Vorrede zu ascetischen Vorlesungen; die ich für meine Zuhörer zu allernächst bestimmt habe, die auch wahrlich nicht zur Verachtung der Religion dadurch von mir sind verleitet worden! Lesen Sie doch, mein Lieber, meine Worte noch einmal: 617 [„] den meisten Streitigkeiten in der Formula concordiae gehet es so, [169] daß man nemlich über die Art und Weise einer Vorstellung so eifersüchtig wurde, als wenn alle Kraft und Wirkung der Sache selbst (diese Partheyen behielten Erbsünde, Bekehrung, Rechtfertigung (etc.)et cetera) (z. E.)zum Exempel im Abendmal an solche einzige Vorstellung und Redensart, von Gott gebunden wäre. Diese Mangelhaftigkeit der Einsicht und eigenmächtige Bestimmung einer einzigen Art der Vorstellung von einer Sache, hat von je her die leichte und unanstößige Ausbreitung und Erfahrung der christlichen Religion gehindert, und noch jetzt ist dieses die vornehmste Ursache von sehr vielem Anstos, der endlich zur Verwerfung der ganzen Sache gereichet, weil es den Schein hat, eine Gesellschaft von Menschen wolle sich das Recht geben, die innern Vorstellungen andrer Menschen unter Vorschriften und gleichförmige Gesetze zu fassen; da doch Gott selbst dergleichen Verschiedenheit der [Vorstellungen] nicht nur zuläßt und duldet, sondern auch befördert und erhält.“’

Ist diese meine so wahre so ernsthafte Aeusserung wirklich eben dergleichen als das Bekenntnis enthält? Könnten Sie, lieber Freund, und noch etliche Biedermänner sagen, ja: so wollte ich gern gestehen, ey so habe ich zu stark geschrieben; aber in guten Absichten; denen mein Lebenswandel auch eine Glaublichkeit schaft. Allein nehmen Sie diese Streitigkeiten in formula concordiae. Sind 618 tres caussae conuersionis, wie Melanchthon diese Lehrart von dieser Sache, conuersio, hat, oder nicht? Dis ist die Frage; derjenige Mensch, [170] der seine Bekehrung aus 3 caussis erkläret, hat eben dieselbe eigene moralische Aenderung erfahren, als derjenige, der diese 3 caussas leugnet; und mit der Formula concordiae nur 2 caussas vor der Bekehrung ansezt. Diese Zweierley Gelehrten stritten also über modificationem ihrer Vorstellung, und über Bedeutung des Wortes caussa. Daher konnte ich ja mit Recht angehende Lehrer warnen, ja nicht auf solche Streitigkeiten selbst zu fallen, und sie für wichtig zur christlichen Erbauung zu halten. Noch dazu ist 619in unsern Staaten keine Formula concordiae den Lehrern vorgelegt. Weiter, redete ich etwa hiedurch von der augspurgischen Confeßion, und andern, allen lutherischen Lehrern gemeinen Büchern? Gewis nicht; denn nur ein Ungelehrter könnte sagen, es seyen darinn allgemeine Vorschriften über die einzige Art der Vorstellungen für alle Lehrer und Zuhörer schon enthalten; und die eigene Vorstellung seye einem privat Christen genommen und untersagt worden. 620Die Ueberschrift des 3ten Theils der schmalkaldischen Artickel gehört wieder her. Der Lehrer soll bey seinen Zeitgenossen Vorstellungen erwecken, die sie wirklich zu den Ihrigen machen können; wenn sie gleich nicht gelehrt und systematisch denken. Eben darinn, in dieser eigenen Erkenntnis ist die Zufriedenheit und Verbindung der Lutheraner gegründet; sie können kein anderes Religionssystem verlangen; und ich, der diesen Sachen doch warlich zugesehen hat, konnte am wenigsten von der Parthey seyn, die es sich zur Merite ma[171]chen will, alle Religionspartheyen in einer einzigen Lehrform zu vereinigen; ich sehe den innersten Widerspruch, den Widerstand Gottes in seinem Plane. Und nun mus weiter folgen, auch aus Herrn Bahrdts Bekenntnis kann und soll ein Lehrer alle diese Lehren eben so vortragen, daß die Zuhörer über Bekehrung, Genugthuung – ferner eigene practische Gedanken bekommen. Ist dis nicht gar lächerlich?

621 ‘Noch ein Beyspiel, daß ich mir eben solche Beschuldigungen vormals erlaubt hätte, als ich jezt an Herrn Bahrdt tadelte. In dem Versuche einer freien Lehrart, (S.)Seite 454 –’ Ich brauche dis nicht abzuschreiben. Genug 1) 622der Recensent ist so übereilt, daß er des Richard Baxters Worte nicht einmal unterscheiden konnte. In der That sind es die Worte dieses Engeländers vor 100 Jahren. 2) Umgekehrt aber ist es ein klarer Beweis von dem Ungrund solcher Beschuldigungen wider die protestantischen Kirchen. Wenn schon vor 100 Jahren Gelehrte stets darauf gesehen haben, daß bey uns nicht die fehlerhafte Erbaulichkeit einzelner Lehrer, an die Stelle der Lehre ohne solche individuelle Modification, gesezt werden soll; wenn sie ganz frey solche Fehler der Einbildungskraft getadelt und widerlegt haben: so ist es doch ganz gewis nicht [an dem], daß wir eine Lehrvorstellung von Genugthuung – forderten, welche wider Schrift und Vernunft anstiesse. Will wohl jemand lauter neue ganz andre Gesänge schaffen, weil es hie und da schlechte giebt?[172] Oder ganz andere Gebete, weil manche schlechte ehedem gedrukt worden? Es ist also nicht an dem daß in den libris Symbolicis, eine harte anstössige Lehre uns vorgeschrieben seye. Es ist nicht an dem, daß wir die Worte und Redensarten dieser Bücher jezt behalten und nach lallen müsten die sich doch nur aufs 16te Jahrhundert bezogen haben. Die Lehrsätze, die Sachen, gehören zu dem Inhalte der Grundbücher unserer Gesellschaft, wie ich schon gesagt habe; nicht aber Formalia. Die Frage, 623 ‘sollte Herr Bahrdt bey seinen Einwendungen gegen die Genugthuungslehre, nicht auch hauptsächlich die so gewöhnliche Entgegensetzung des Vaters und des Sohnes, beym Wercke der Erlösung im Sinn gehabt haben’: kann ja niemand besser beantworten, als Herr (D.)Doctor Bahrdt selbst; er kann ja allen andern Sinn wiederrufen; aber folglich auch, 624 daß Gott blos um eines Menschenopfers willen Sünde vergebe, nicht uns als Lehrsaz andichten. Er sagte ja ausdrüklich (S.)Seite 22. 23. daß er ‘die Lehrsätze seiner Kirche hiemit geprüft, und das Resultat der Prüfung hiemit bekannt gemacht habe’; soll dis aber ganz was anders heissen, die Entgegensetzung – so hätte er ja auch ganz anders schreiben müssen.

Immer näher zum Ende. Der Recensent nimmt sich nun seines Clienten so an, daß er ohne [173] Umstände sagt 625‘ich hätte darum keine hinlängliche Vertheidigung der von Herrn Bahrdt angeschuldigten Kirchenlehren gegeben, weil ich sie nicht in dem Sinne vertheidigte, worinnen das Glaubensbekenntnis sie verwirft’“. Dis heißt doch wirklich, jene Beschuldigung und Prüfung der Lehrsätze der drey Kirchen, habe ihren guten Grund, 626 ‘Herr (D.)Doctor Bahrdt hätte nur noch seinen Tadel in gemäßigten und behutsamen Ausdrücken vorbringen sollen.’ Diese Partheylichkeit, welche in der sonst so angesehenen berlinischen Bibliothek jezt, Herr (D.)Doctor Bahrdt zu Liebe, Plaz findet, ist sehr gros und sichtbar. Wenn nun die Theologen der drey Kirchen urtheilen, 627 quod quis per alium Facit – in welchen Verdacht kommt diese Bibliothek? Daß sie nemlich hier [Herrn] (D.)Doctor Bahrdt so ausdrücklich in öffentlichen Schutz nimmt, daß die bisher würdige Lage der drey Kirchen im öffentlichen Staat, wirklich den Makel behält, wir lehren in einem solchen Sinne ‘Erbsünde, Genugthuung (etc.)et cetera (etc.)et cetera welchen Sinn Herr (D.)Doctor Bahrdt mit Recht tadelte in jenem Bekenntnisse. Wenn nun aber die Leser nothwendig zuerst an Herrn (D.)Doctor Bahrdt selbst dencken, der, 628nach mehrern uns bekannten Auftritten seines Lebens, endlich uns ein solch Bekenntnis, nachdem er sich dort weg begeben hatte, anbietet, worinn der Tadel guten Grund haben soll, in einem Sinne, den Herr Bahrdt jezt soll genommen haben; ich sage, wenn die Leser die 629 wormsischen Dinge gar wohl kennen: wo sollen sie denn dem Herrn (D.)Doctor Bahrdt [174] die grosse Hochschätzung der christlichen Religion zutrauen, 630daß ‘ihm das Herz blute’, über ‘allen Systemwust’ in unsern Kirchen, und er dis Bekenntnis darum habe bekannt machen müssen, um dem fernern Unglauben zu wehren, den unsre Lehren befördern sollen? Indes, war es denn nicht höchst nöthig, den Sinn zu bestimmen, den wir lehreten, und den er nun doch so verwerfen wollte, daß ein neu Religionssystem nöthig seye? Der Text lautet: 631daß ‘Gott um eines Menschenopfers willen’ – dis hält er selbst für die Summe der Lehre von Genugthuung; und darum verwirft er diese ganze Lehre. Ich habe die allen drey Kirchen gemeinschaftliche Lehre von Genugthuung, wider eben diese Beschreibung vertheidigt; sie läßt es nicht zu, daß man sie durch ein Menschenopfer – erkläre. In welchem Sinn hat nur Herr (D.)Doctor Bahrdt diese Genugthuung so verworffen, daß meine Vertheidigung nicht zulänglich ist? Und für wen ist meine historische Vertheidigung nicht genugthuend? Für den Recensenten: kann er denn beweisen, daß dieser angebliche andre Sinn zu unserer Kirchenlehre jemalen sey gerechnet, oder uns gar vorgeschrieben worden?

‘Nun sollen Beyspiele angeführt werden. 632Meine Antwort ( (S[.])Seite 44. meiner Antwort) auf das, so Herr Bahrdt wider die gewöhnliche Vorstellung von Erlösung und Genugthuung eingewendet hat, weiset dieses nicht ab’‘trift (Hrn.)Herrn Bahrdt gar nicht; jeder Socinianer, ja jeder von irgend einer christlichen Parthey kann dis unterschreiben, und [175] die Erklärungsart, die er für die schicklichste hält, dabey in Gedanken haben’ – Ich mus den Vorwurf abtheilen. Ohne mich aufzuhalten, will ich nur anzeigen, daß ich (S.)Seite 44. von einer ganz andern Sache zu reden hatte; nemlich ‘von der Nothwendigkeit einer Genugthuung’. Dieses habe ich in der wider mich angeführten Stelle (S.)Seite 44. recht gut beantwortet; 633Herr (D.)Doctor Bahrdt that unrecht, daß er diese Bestimmung der Nothwendigkeit (a parte Dei) mit zu unserer Glaubenslehre rechnete; es war schon seit den Scholastikern theologische Aufgabe, und keine Glaubenslehre. 634Darum schreibe ich: wir freuen uns, daß sie da ist (etc.)et cetera (etc)et cetera. 635Warum nahm nun aber der Recensent nicht meine Antwort auf das 3te Stück (S.)Seite 74. 75. wo Herr Bahrdt, um Christi willen, wie wir lehren, erklärte, um eines Menschenopfers willen? Hier war die Hauptsache. Der Recensent hätte also von diesem meinen Vortrag sagen sollen, ob Herr (D.)Doctor Bahrdt und Socinianer – ihn auch unterschrieben? Ueberhaupt stehet es mir ja frey, meiner Erkenntnis zu folgen; wenn ich die Sachen so gut beschreibe: so liegt weder mir noch der protestantischen Kirche, etwas an dem lateinischen Worte Satisfactio. Mus denn nicht ein jeder Christ die Erklärungsart vorziehen, welche er in jetziger [Zeit] für die schicklichste hält? Warum soll er sie nur in Gedanken haben? Darf man gar nichts in Gedanken haben, um es für sich zu brauchen? Wird es sogleich auch andern nützlich, wenn sie es auch wissen?

[176] Ich mus auch den Vorwurf herschreiben: 636‘hier ist kein Wort von der Art und Weise der Erlösung und Genugthuung (Art und Weise, gehört nicht zum Glauben der Sache;) wie sie in [den] symbolischen Lehrvorschriften vorgetragen wird.’“ Sollte ich denn 1) erzählen, wie wir Satisfactionem den römischen Lehrern damalen entgegen setzten, davon viele, mit den patribus, nur Erbsünde und Tod – hinrechneten? Ist es etwa einem Lehrer befohlen, stets die Zeilen und Worte zu sagen? wenn nun aber (Hr.)Herr (D.)Doctor Bahrdt hier die gewöhnliche Vorstellung von Genugthuung angegriffen hat, wie sie in den symbolischen Büchern stehet, sagen Sie, Freund, wie hat er denn nur unvorsichtig sich ausgedruckt, und die gröbste Ideen vor Augen? Ich dächte der Recensent widerspräche sich sehr derb; Herr Bahrdt soll nur auf die härteste und unschicklichste Vorstellungsart gesehen haben, sagte der Recensent (S.)Seite 47. Hier (S.)Seite 49. sagt er, Herr Bahrdt habe so stark wider die gewöhnliche Vorstellung opponiret, daß meine Antwort ihn nicht träfe; er hält mir gar vor, ich hätte von der Genugthuung, wie sie in den symbolischen Büchern vorgetragen wird – und welche also Herr Bahrdt geleugnet, kein Wort gesagt. Aber ich will ihm den Widerspruch schenken, und nur noch sagen, daß die Rede nicht davon war, ob wir 637 obedientiam actiuam, passiuam, Stellvertretung – und noch [177] vielerley Beschreibungen haben, die ich freylich nicht alle daher setzen mußte: sondern davon, ob irgend eine Vorstellung in unsern symbolischen Büchern 638der Schrift und Vernunft entgegen, und blos dem Unglauben – beförderlich seye, wie Herr (D.)Doctor Bahrdt behauptet hatte. Will der Recensent etwa hiemit selbst sagen, in unsern symbolischen Büchern seyen solche Beschreibungen von obedientia actiua, passiua, und Stellvertretung, welche allerdings mit Grunde in diesem Bahrdtischen Bekenntnisse verworfen worden seyen: so müssen wir sehen, ob er einen neuen Beweis davon geben wird; und nur uns besinnen, daß wir lutherischen oder protestantischen Christen doch eben das Recht behalten, unser Gewissen hier selbst anzuwenden. Dis habe ich recht weitläuftig beschrieben bis (S.)Seite 80. Man könnte ja hiemit zufrieden seyn, wenn man nicht selbst noch ganz andre Absichten hätte.

Die andern Beyspiele sind eben so gezwungen. Kann Herr (D.)Doctor Bahrdt meine Erklärung gar mit seinem Bekenntnis reimen: so hatte er keine Ursache unsre Lehrsätze so greulich zu beschreiben. Die Wortspielerey will ich nicht aufdecken; es ist nicht möglich daß er eben die Vorstellungen mit meinen Worten verbinde, die ich habe; nachdem sein Bekenntnis uns seine gänzliche Entfernung von unserm Lehrsystem, und jene Projecte – entdeckt hat. Und von [178] der Bekehrung? Wenn ich also daran recht schreibe, unsre Lehre von Bekehrung bringt nicht Sünde – hervor; so war ja Herrn Bahrdts Tadel ungegründet. Denn eine 639 ‘Ueberredung, ich kann nichts – ich mus Gotte nur stille halten’: ist nicht ein Theil der unausbleiblichen Folge dieser unsrer Lehre. Denn wir lehren ja zugleich, nun, durch diese christliche Heilsordnung und Kenntnis, werde eben das Vermögen, actiuae, im Menschen hergestellet, wider seine habituelle vorige Gewohnheit, da er ein Knecht der Sünde war.

Nun sind wir endlich fertig, mit dieser so ernsthaften, auf mich so sehr bösen Recension. Denn die Betrachtung, 640 das Vorhaben gewisser Männer, eine Universalreligion oder allgemeines Christenthum, aufzurichten – seye nicht so zu verachten: – will ich gar nicht weiter beurtheilen. Ich habe in der That so ein Herz für alles Gute, als je sich manche beylegen mögen, deren Leben offenbar so wenig privat – als Universalchristenthum an den Tag leget. Und solche Leute kann ich doch wohl gerade beurtheilen! Ob es nöthig gewesen ist, daß ich so ernsthafte Anstalten gegen einen (nach meinem Urtheil) ganz unthunlichen Entwurf gemacht – werden meine Zeitgenossen wohl selbst einsehen; die sich noch immer darinn nicht finden können, daß – wenn Entwürfe zur Empfehlung der Religion, Tugend, und zu grösserer Glückseligkeit der Nebenmenschen gemacht werden sollen: [179] so müssen wenigstens solche Leute nicht dazu kommen, deren Religion und Tugend uns allen so unbekannt ist. Und doch hält sich der Recensent die Spötterey über mich zu gute 641‘meine Bemühung könne nur darauf abzwecken, die Verschiedenheit der Kirchenverfassung und die Mannigfaltigkeit jener Localsysteme in der christlichen Welt aufrecht zu erhalten; die zwar bis ans Ende der Tage öffentlich gelehrt werden sollten, aber eben nicht dürfen geglaubt werden.’ [“]

Es mus doch immer dem Recensenten, (gewisser Umstände wegen,) viel daran liegen, mir ja recht wehe zu thun; auch durch matte, unwürdige Spötterey! Die Localsysteme (die zur Scienz für Gelehrte, und nie zum Glauben der Christen gehören) habe ich nicht hervorgebracht, kann sie auch nicht aufheben, wenn ich auch Lust hätte, in jene Universalgesellschaft überzutreten. Es weis ja wohl ein jeder, daß äußerliche Religionsverfassung zum äußerlichen bürgerlichen Staat gehört; daß besondere Grundsätze eine Religionsparthey von andern unterscheiden, zu Folge der Localität, die gar nicht menschlicher Macht unterworfen werden kann. Die Grundsätze des Protestantismus kann niemand in der Absicht aufheben wollen, um alle Religionspartheyen in Teutschland oder gar in Europa zu vereinigen; ihre Religionssysteme gehören zu ihrer Religionsgesellschaft. Diese Systeme hat noch niemand zum Glauben, zur Seligkeit einzelner Christen gerechnet; sondern zu einer Ordnung, worinn Mittel [180] zum Endzweck festgesetzt sind. Der nächste Endzweck der protestantischen Kirchengesellschaften, den sie durch ihre Kirchenordnung, und Vorschriften der Lehre, durch die sie ehedem vom Pabstthum abtraten, noch jetzt erreichen wollen; ist ihre eigene Erhaltung und Fortsetzung, wider tägliche Zerrüttungen und Unruhen. Alle Gesellschaften haben eine äußerliche Ordnung, woneben aber aller privat Fleiß, und Geschicklichkeit – frey gelassen wird. Der Erfolg der öffentlich festgesetzten Lehrordnung in den Mitgliedern, ist auch an sich selbst frey; niemand hat ein Gesetz gegeben; was für Vorstellungen der Leser oder Zuhörer sammlen und verknüpfen soll; sinnliche, oder reine; zusammenhängende, oder ganz einzelne, die er nach einer eigenen Ordnung so und so wieder erweckt; dis ist seine Privaterbauung. Ich sehe nicht, wo die Sorge des (N. N.)Notetur Nomen für größere Glückseligkeit der Nebenmenschen, ihren Grund herbekommen könne? Die ehemalige päbstliche Vnitas der Kirche möchte hier wieder hervorkommen, wo einige Projectmacher, welche neue Orden stifteten, freylich auf einmal hoch steigen mußten; und wir andern armen Leute, möchten unsere moralische Glückseligkeit und Freyheit unsers Gewissens, wieder der angeblich größern Glückseligkeit des Ganzen, geduldig aufopfern. Indes, ich will diesen Spott und alles übrige mir nachtheilige lieber tragen, und der Kirchengesellschaft, zu der ich gehörte, ehe Usurpatores und 642 Kraftgenies aufstanden, hiedurch einen gegenwärtigen [181] ernstlichen Dienst leisten; den andere inskünftige erst versprechen, wenn ich und meines gleichen Gelehrte von der Religionsgesellschaft, die uns unsre Lage anwies, völlig unserer Dienste entlassen seyn werden.

Hiemit mögen diese Briefe über die Berlinische Bibliothek aufhören; ob ich gleich willens war, über 643noch andre Recensionen mich einzulassen, zumahl von der Biographie; die auch kein Muster der Unpartheilichkeit ist. Ernstlicher redet der 644Verfasser der Recension des wahren Characters des (Hrn.)Herrn (D.)Doctor Bahrdts in vertraulichen Briefen (etc.)et cetera wenn er sagt, Herr (D.)Doctor Bahrdt hat die gerechteste und dringendste Veranlassung, um seinen guten Namen zu retten, freymüthig und offenherzig die wahre Beschaffenheit jener Umstände und Vorfälle, die man ihm hier zur Last leget, dem Publicum vorzulegen. Dis ist ein Biedermännisches Urtheil; dis haben schon seit aller dieser Zeit alle gute Zeitgenossen gefället, welche doch freylich ihr Recht behalten, über diese große Aufgabe ernstlich zu denken. Es ist dis die dringendste Veranlassung seinen guten Namen zu retten – Daß die Schreibart 645 pasquillantisch seye, in diesen Briefen, wird nicht von allen Lesern so leicht eingesehen, als bey dem Kirchen- und Ketzer Almanach; und wenn 646der weggelassene Name des Druckorts [182] und Verlegers, einen sehr gegründeten Verdacht wider die Wahrheitsliebe und die gute Absicht des Verfassers erreget, oder ihn nicht wenig zu bestätigen scheinet: so ist es gerade der Fall dieses Almanachs. Von jenen Briefen ist übrigens der 647Druckort und Verleger eben nicht unbekannt; und hätten freylich viele Zuschauer dieses Auftrittes es desto mehr erwartet, daß die 648 actio iniuriarum erhoben werden würde, 649da Herr (D.)Doctor Bahrdt noch so angesehene Verwandte in Leipzig hat. Die gegründete Achtung des Publikums gegen Herrn (D.)Doctor Bahrdt in Absicht des moralischen Characters, würde auf einmal sich wieder heben, und viele andere Dinge würden sich in eine bessere Lage bringen lassen, wenn er diese dringendste Veranlassung ernstlich anwendete, seinen guten Namen zu retten; sollte es auch in einem 650Zusatz zur verbesserten Auflage des Almanachs geschehen; oder 651in dem Schulalmanach, darinn – besonders Herr – so sehr gepriesen werden soll.

5.

[1]


Berlin,
bey 652 August Mylius, 1780.textgrid:3vrhn
[2]

[3] Ich habe bereits 653in einer kurzen Erklärung textgrid:3rnnd, welche ich in des Herrn Mylius Verlag, im vorigen Jahr, auf einen halben Bogen, bekannt gemacht habe, mich über die Absichten meines Glaubensbekenntnisses herausgelassen, und dieselben gegen zudringliche Beschuldigungen nothdürftig vertheidigt. Diese Erklärung mußte für den damaligen Zwek kurz seyn, und ich habe nicht geglaubt, jemals einer längern und weitläuftigern zu bedürfen: zumal da es mein herzlicher Wunsch war, [4] daß jenes mir durch einen Reichsbefehl abgedrungene Bekenntniß, als eine Sammlung theologischer Vorstellungsarten eines unbedeutenden Privatmanns, eben so schnell vergessen werden möchte, als es war gelesen worden. Denn es war nichts weniger als meine Absicht, mit jenem Bekenntniß einiges Aufsehen bey der Nation zu erregen. Und es hat dieser abgenöthigte Schritt auch gewiß nicht durch mich selbst, weder durch meine Person, noch durch die Art, wie ich ihn gethan, sondern vielmehr durch den 654öffentlichen Befehl der höchsten Reichsgerichte seine Publicität erhalten, und die Aufmerksamkeit meiner Zeitgenossen rege gemacht.

Gleichwohl scheint das deutsche Publikum, zu meiner wahren Bekümmerniß, noch immer jene unwichtige Schrift, nicht nur als einen Gegenstand zu betrachten, an welchen man [5] seine Gabe zu ahnden und zu weissagen üben muß, sondern sie auch als eine unvermeidliche Veranlassung zu wichtigen Schritten von Seiten meiner, und zu merkwürdigen Folgen von Seiten der Nation zu betrachten – weil einige, denen es nicht genügen will, mich durch die Geständniße meiner Privatmeinungen unglücklich zu sehen, durchaus fortfahren, mir die Absicht schuld zu geben, 655als ob ich mich aus Leichtsinn und Uebereilung von der lutherischen Kirche losgesagt, und die Stiftung einer neuen Secte erzielet hätte.

Dieser kränkende Vorwurf, den ich so oft und öffentlich hören muß, nöthigt mich, noch einmal, und – meinem festen Vorsatze nach – zum leztenmale die Feder zu ergreifen; und mich über mein genanntes Glaubensbekenntniß bestimmt und [freymüthig] zu erklären.

1,
2,

[6] 1.

Ich bezeuge also zuvörderst, daß jene Schrift 657nicht Folge des Leichtsinns und der Uebereilung war. – 658Ein höchstes Reichsgericht hatte geurtheilt, ich müsse wegen meiner Uebersetzung des neuen Testaments, aller meiner Aemter entsezt werden; und dabey ausdrücklich anbefohlen, daß ich in einer, an den Reichsbücherkommissarius einzuschickenden, Druckschrift, mich über die meiner Uebersetzung schuldgegebenen Irrthümer erklären, oder aus dem deutschen Reiche weichen solle. Nun war es zwar weder überhaupt, noch durch 659die eingeholten Responsa erwiesen, daß ich, in gedachter Uebersetzung, Hauptlehren der Kirche angegriffen, oder Grundirrthümer ausgestreuet hätte: vielmehr zeugen jene Responsa zur Genüge, daß eine eigentliche Verwerfung wesentlicher Lehren des Christenthums, aus meiner Uebersetzung schlechterdings nicht zu erzwingen sey: indessen mußte ich mich, da diese Richter mir keine Vertheidigung gestatten, noch meinen damaligen Landesherrn, den durchlauchtigsten Fürsten von Leiningen, die ihm allein gebührende [7] Untersuchung der Sache überlassen wolten, jenem Urtheil unterwerfen, mir meine Absetzung *) gefallen lassen, und die Verlegenheit, in die mich jene mir überdem noch abgesonderte Erklärung versezte, eine überströmende Quelle meines Unglücks werden sehen. Denn bisher hatte ich, nach dem allgemeinen Recht der Menschheit, von den Lehrsätzen der Kirche denken können, was ich gewolt. Aber jezt – mußte ich entweder, wider meine Ueberzeugung, Sätze, die ich im Herzen verwarf, öffentlich bekennen, oder mich (nach einer gewissen doppelten Lehrart) hinter zweydeutige Ausdrücke verstecken, oder, der Wahrheit ein Opfer bringen. Mancher Andrer würde freylich in meiner Stelle den Mittelweg gewählt haben. Und es fanden sich auch einige unter meinen Bekannten, welche mir riethen, nicht gerade herauszugehn, [8] sondern mich, in gemilderten Ausdrücken, so zu erklären, daß man mir nicht beykommen könnte. Allein dieser Weg schien mir, – vielleicht habe ich mich geirrt, vielleicht auch nicht – genung 661mir schien dieser Mittelweg eine niederträchtige Heucheley zu seyn. Denn so lange mich keine Obrigkeit um meinen Glauben, in Absicht auf das Detail einzelner und besonderer Begriffe und Vorstellungsarten, befragt hat, so lange habe ich freylich meine Privatmeinungen für mich behalten und verhelen können, ohne mein Gewissen zu verletzen – weil mir die Religion ein so weites Feld des Unterrichts zum Trost und zur Belehrung meiner Gemeinen eröfnete, 662daß ich im Volksunterricht nie nöthig hatte, jene streitigen Punkte zu berühren, wo ich von den Vorstellungsarten des grossen Haufens abwich. – Aber, da ich jezt von dem höchsten Richterstuhle des Reichs aufgefordert ward, Lehrsätze, die ich nicht so glaubte, wie sie der große Haufe glaubt, nicht nur öffentlich zu bekennen, sondern auch in einer Druckschrift zu erklären, daß ich sie nie zu leugnen willens gewesen, – da, sage [9] ich, meine Richter nach meiner innern, geheimen Ueberzeugung ausdrücklich fragten – da konnte ich, bey dem Vorschlage, mich hinter Zweydeutigkeiten zu verstecken, mein Gewissen ohnmöglich beruhigen. Ich hielt es für Pflicht, meine Privatmeinungen freymüthig herauszusagen. Vielleicht daß Andre anders urtheilen. Genung ich urtheilte so, und mein Urtheil ist noch jezt das nemliche. Ich war schuldig, die Wahrheit, so nackend und rein, wie sie in meiner Seele lag, darzustellen. Und ich habe sie gesagt, das heißt, ich habe meine Ueberzeugungen, wie sie damals in meinem Gemüthe sich vorfanden, offenherzig gestanden. Ich habe mich dabey sorgfältig geprüft. Ich habe alle Winkel meines Herzens durchsucht, um wahre, feste Ueberzeugung, von heimlicher Prädilection zu Lieblingsmeinungen, wohl zu unterscheiden. Ich habe das Resultat einer funfzehnjährigen ehrlichen Wahrheitforschung in meiner Seele aufzufassen und meiner Feder mitzutheilen gesucht. Kurz, was ich geschrieben habe, habe ich in keinem Betracht aus Leichtsinn [10] oder Uebereilung geschrieben. Und ich schmeichle mir, daß wenn ich einst Gelegenheit haben solte, mich über mein Glaubensbekenntniß näher zu erklären, die Worte desselben genauer zu bestimmen, und von diesen so bestimten Worten meine Gründe der Welt vor Augen zu legen, jedermann werde gestehen müssen, daß sehr, sehr viel Ueberlegung vor Abfassung dieser Schrift angestellt worden sey. Habe ich es, in Ansehung der Art des Vortrags, in welchen ich dieß abgenöthigte Geständniß meiner Ueberzeugungen eingekleidet habe, einem oder dem andern nicht nach seinem Sinne gemacht, so ist das meine Schuld nicht. Denn dieß ist das unvermeidliche Schicksal aller menschlichen Handlungen, daß keine den Beyfall aller hat: weil jeder einen andern Maasstab hat, nach dem er sie mißt – jeder eine andre Wage, auf der er sie wiegt – jeder einen andern Gesichtspunkt, aus welchem er sie begaft oder – beurtheilt. Genung, daß die Bekanntmachung selbst mir nicht zu schulden kommen kann. Denn sie war Folge des Gehorsams. – Aus freyem An[11]triebe hätte ich vielleicht – gewiß weiß ich es nicht, so wenig ein Mensch in der Welt es weiß, was er in der Zukunft thun wird – vielleicht nie so laut und deutlich gesprochen, wenigstens bey meinem Leben nicht. 663Aber auf Befehl des Reichsrichterstuhls mußte ich; was auch Gott für Folgen über diesen Schritt des willigen Gehorsams zu verhängen beschlossen haben mochte. Und was aus einem solchen Gehorsam entsteht, wären es auch die allerwichtigsten Ereignisse, kann nur der Befehlende, nie der Gehorchende, zu verantworten haben.

1,
1,
2,
3,
4,
5,
6,

2.

Ich bezeuge zweytens, daß ich mich durch mein Glaubensbekenntniß, welches – ich sage es noch einmal, nichts, als abgenöthigtes Geständniß meiner Privatmeinungen war – keinesweges von der lutherischen Kirche habe lossagen wollen. Denn

  • a) erstlich, hört niemand auf ein Glied der Kirche zu seyn, der, im [12] Stillen, den oder jenen Lehrsatz der Kirche sich anders vorstellt, als der große Haufe. Sonst müßten gar viele Lutheraner, Reformirte und Katholiken aufhören, das zu seyn, was sie sind. Denn der innere Glaube wird, durch die äußere Gesellschaft, zu der man sich hält, nicht bestimmt. Jeder selbstdenkende Christ hat seine Religion für sich, das heißt, er folgt innerlich seiner Ueberzeugung, und äußerlich hält er sich, – weil er zu einer sich halten muß – zu einer Kirche, welche ihm vergleichungsweise die Beste dünkt, oder – gewöhnlichermassen zu der, in welcher er geboren ist. Und da die innere Religion zu den Rechten der Menschheit gehört, so ist leicht begreiflich, daß darüber weder Fürst noch Consistorium zu gebieten hat. Die Obrigkeit wacht nur über das Aeußerliche, so fern die Kirche eine Gesellschaft ist. Und ob einer zu einer Kirche gehöre, und, zu welcher er gehöre, das kann nicht nach den Meinungen und innerlichen Vorstellungen der Seele, sondern nach den äußerlichen Handlungen beurtheilt werden. Wer sich also äußerlich zur lutherischen Kir[13]che hält, ihre Gottesdienste besucht, ihre Sakramente gebraucht (etc.)et cetera der ist ein Lutheraner, er mag innerlich glauben, was er will. – Und das habe ich bisher gethan. – Ueber die äußere Religion mögen Menschen richten, über die innere kann nur Gott Richter seyn. – Und man sage hier nicht etwa, daß durch mein Bekenntniß meine Religion aufhöre, eine bloß innerliche zu seyn, und daß sie folglich dadurch, daß ich meine Meinungen laut gesagt habe, ein Object der weltlichen Obrigkeit werde. Denn dieser Einwurf fällt augenblicklich in sein Nichts, wenn man erstlich überlegt: daß Privatmeinungen, die auf höchsten Befehl laut gesagt werden, dadurch nicht aufhören, Privatmeinungen zu seyn; – zweytens: daß auch derjenige, der einzelne Vorstellungsarten seiner Kirche bezweifelt, auch wenn er seine Zweifel laut sagt, deswegen noch nicht aufhört, Glied seiner Kirche zu seyn. Denn es kommt ja darauf an, wie er es sagt. Wenn ich (z. B.)zum Beispiel über das Gesetzbuch meines Königs meine Meinung sagte, und ein oder anderes Gesetz, in einem gewissen vorausgesez[14]tem Sinne, in Absicht auf seine Güte oder Nuzen bezweifelte, würde ich dadurch ein Rebell werden? Und wenn ich so gar in einer Druckschrift, über einzelne Gesetze, Bedenklichkeiten äußerte, und dem Landesherrn einige gründliche Verbesserungen ehrerbietig vorlegte: würde ich dadurch aufhören, ein Unterthan meines Regenten zu seyn? Würde man mir um deswillen schuld geben, daß ich mich vom Staate losgesagt hätte? 664Oder würde mein Wahrheitliebender König nicht vielmehr diese Vorschläge prüfen lassen, und mich, wenn sie gründlich und dem Lande heilsam wären, dafür belohnen? Also – kann ich ja hundert Religionszweifel haben, auch diese Zweifel, und meine vermeintlich bessern Vorstellungsarten laut anzeigen, – so lange ich Gottes Wort und die Sakramente meiner Kirche beybehalte, und mich nicht selbst, öffentlich, – mit deklarirter Resistenz gegen alle Belehrung, – von ihr lossage, so lange bleibe ich Mitglied meiner Kirche. Und so berufe ich mich nun
  • [15] b) auch auf den Augenschein – in meinem Glaubensbekenntniß selbst, welcher jeden, der nur sieht, was er sieht, nicht, was er sehn will, zu dem Geständniß nöthigen wird, daß nicht eine Spur von jener Lossagung darinnen zu finden sey – und – wem damit noch nicht genüget, den erinnere ich
  • c) an jene unzählbare Menge von Beyspielen und Vorgängern, welche lange vor mir, ihre Privatmeinungen über einzelne Vorstellungsarten des Kirchensystems, laut genung gesagt haben, ohne deswegen für Abtrünnige erklärt worden zu seyn. Ich bin zwar nicht im Stande, jezt ein vollständiges Register derselben aufzustellen, dazu eine sehr große Bibliothek erfordert würde: und es würde auch dieß für Kenner überflüßig, und für Unwissende nicht hinreichend seyn, weil diese doch die historischen Quellen nicht benutzen können, aus denen man die Untersuchung über die Aechtheit eines solchen Registers ableiten müßte. Allein ich will doch einige der wichtigsten anfüh[16]ren, deren Untersuchung fast allen meinen Lesern leicht werden wird, und die mir um so mehr zu meiner Absicht hinlänglich scheinen, je gewisser es ist, daß in diesem Falle etliche Beyspiele so viel beweisen als tausend, nämlich: daß deklarirte Abweichungen von den herrschenden Lehrsätzen der Kirche keine Lossagung von der Kirche selbst in sich schliessen. – Hat nicht der 665Herr Abt Jerusalem in seinen Betrachtungen über die Religion den gewöhnlichen Begrif der Erbsünde, vermöge welchen sie eine concupiscentia habitualis, oder wohl gar eine natürliche Abneigung gegen Gott seyn soll, so wie die gemeine Lehre von ihrer moralischen Zurechnung verlassen? Hat nicht 666Herr Consistorialrath Steinbart in seinem Lehrbuche der Religion, betitelt, Glückseeligkeitslehre (etc.)et cetera den systematischen Begrif von der Genugthuung Christi so wohl, als die Athanasianische Dreyeinigkeitslehre, nebst andern sonst gewöhnlichen theologischen Vorstellungsarten, eben so wie ich, als unbiblisch verworfen? Hat sich nicht der 667Herr Oberconstitorialrath [17] sching über die Endlichkeit der Höllenstrafen (668die auch Origenes glaubte) und andere solche Punkte, an mehr als einem Orte, eben so wie ich erklärt? Hat nicht der 669Herr Senior Urlsperger in Augspurg, vor kurzem, in seinen Schriften über das Geheimniß des Vaters und Sohnes, die Lehre der Kirche von der Dreyeinigkeit als falsch und unbiblisch vorgestellt, und eine andre vorgeschlagen, die bis jetzt noch kein Mensch völlig verstanden hat, und 670von welcher ehemals in Göttingen Recensent urtheilte, daß sie sich dem Sabellianismus nähere? Hat nicht Herr Oberconsistorialrath und 671Probst Teller in Berlin, in seinem Wörterbuche denselben Begrif des Glaubens schon vor mir, und andere damit verwandte Begriffe, als schriftmäßig zu beweisen übernommen – den auch die symbolischen Bücher durch den Ausdruck: 672 fides est obedientia erga Evangelium, zu bestätigen scheinen? Hat nicht 673Herr Doctor Semler in seiner neusten Schrift gegen die Wolfenbüttlischen Fragmente, über Geist, Wunder, [18] Auferstehung Jesu, Dreyeinigkeit (etc.)et cetera im Grunde eben solche Gesinnungen geäußert, wie aus meinem Glaubensbekenntniß hervorleuchten? 674Hat er nicht die Lehre von der Inspiration der Bibel eine neue Theorie genannt, die man erst in spätern Zeiten erfunden hat? 675Sagt er nicht in dem angeführten Buche Seite 94. ausdrücklich: „Es ist ganz entschieden, ganz ausgemacht, daß eben diese wörtliche Beschreibung – eine Lehre von dreyen verschiednen Personen, in dem einem göttlichen Wesen – gar nicht zu den Grundlehren der christlichen Religion oder des Christenthums gehöre. Ich habe schon (setzt er hinzu) 676 Gerhards Kritik über die Dreyfaltigkeit und 677 Hunnius Anzeige aus dem Epitome credendorum angeführt, der es gerade heraussagt, daß diese Beschreibung, von dreyen Personen gar nicht nöthig ist, für die Christen?“ – Und wie viel rechtschafne Lehrer der Kirche liessen sich anführen, 678welche wie ich, über Gewissenszwang geklagt, die symbolischen [19] [Bücher] den Gewissen für lästig gehalten, und eine ausgebreitetere Toleranz gewünscht haben? 679Ist aber je ein einziger darüber, wie ich, für einen Abtrünnigen angesehen worden? – 680Und geschieht es nicht noch jetzt in der englischen Kirche, daß einzelne Lehrer und Bischöfe, gewisse Lehrstücke der 39 Artikel öffentlich bezweifeln, einiges davon für schädlich, irrig, (u. s. w.)und so weiter erklären, ja so gar die Abschaffung derselben vorschlagen? ohne daß ihnen irgend jemand dieß als Lossagung von der Kirche anrechnet, oder sie ihres Amts für unfähig erklärt.
8,
9,

3.

681Ich bezeuge endlich auch drittens, daß es mir nie in den Sinn gekommen ist, eine eigne Secte zu stiften. – Ich halte ein solches Vorhaben, bey jetziger Verfassung des deutschen Reichs an sich selbst für eben so abgeschmackt [20] als unmöglich. Hiernächst darf ich mich wohl rühmen, so viel Menschenkenntniß zu besitzen, um einzusehn, daß, gesetzt auch, ich hielte meine Privatmeinungen für die alleinige absolute Wahrheit, dennoch für diese vermeinte Wahrheit, mit einer neuen Secte nichts ausgerichtet seyn würde: weil – so lange Menschen Menschen seyn, wenigstens so lange unter den Menschen der eigne Gebrauch ihrer Seelenkräfte fortdauern wird – auch Verschiedenheit des Glaubens, der Ueberzeugung, und der Vorstellungsarten in der Religion, fortdauern werden. Wozu sollte ich mir also eine neue Secte wünschen? – Nein, wahrhaftig, ich freue mich mit dankbarem Herzen, jedes Schimmers von Licht, dessen mich Gott in meiner Erkenntniß gewürdiget hat, und lebe meines Glaubens so, daß ich dabey das ganze Glück einer beruhigten Ueberzeugung schmecke: aber ich bin so fern von aller Proselytenmacherei, daß ich vielmehr wünsche, es möchten alle spekulativen Gegenstände des Glaubens, allen Menschen, zu eigner For[21]schung frey gegeben, und gar niemanden eine bestimmte Vorstellungsart jener streitigen Lehrsätze mehr aufgedrungen werden.

1
*) 660Welche natürlicherweise mein mit Credit angefangenes Erziehungsinstitut zu Heidesheim niederstürzte, und mich nöthigte, Schulden, die nach und nach getilgt werden solten, unbezahlt zu lassen, und mich meinen Gläubigern mit Hab und Gut Preiß zu geben.
1
nicht Folge des Leichtsinns und der Uebereilung

Anspielung auf b10.

2
Ein höchstes Reichsgericht hatte geurtheilt [...] aus dem deutschen Reiche weichen solle

Vgl. a6f.

3
die eingeholten Responsa

Gemeint sind die Gutachten der theologischen Fakultäten in Göttingen und Würzburg; vgl. 100.

4
Welche natürlicherweise mein mit Credit angefangenes Erziehungsinstitut zu Heidesheim niederstürzte, [...] mich meinen Gläubigern mit Hab und Gut Preiß zu geben

Vgl. Bahrdts beschönigende Darstellung der Ereignisse mit 107 (Heidesheim), 108 (ander Land) und 447.

5
mir schien dieser Mittelweg eine niederträchtige Heucheley zu seyn

Vgl. a9.

6
daß ich im Volksunterricht nie nöthig hatte, jene streitigen Punkte zu berühren, wo ich von den Vorstellungsarten des grossen Haufens abwich

Vgl. a11.

7
Aber auf Befehl des Reichsrichterstuhls mußte ich

Vgl. a7.

8
Oder würde mein Wahrheitliebender König nicht vielmehr diese Vorschläge prüfen lassen, und mich, wenn sie gründlich und dem Lande heilsam wären, dafür belohnen?

Vgl. a9.

9
Herr Abt Jerusalem in seinen Betrachtungen über die Religion

Gemeint ist Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), der nach dem Theologiestudium in Leipzig und Wittenberg, kürzeren Anstellungen in Göttingen und Hannover und mehrjährigen Aufenthalten in Holland und England ab 1742 Braunschweiger Hofprediger und Prinzenerzieher war sowie ab 1752 Abt von Riddagshausen. In seinem unvollendeten Hauptwerk Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, 3 Bde. (11768–1779), äußert sich Jerusalem ausführlich zur „Lehre von der moralischen Regierung Gottes über die Welt, oder Geschichte vom Falle“ (4. Abschnitt aus dem zweiten Band des zweiten Teils, 1779, 627–755). Jerusalem interpretiert die Sündhaftigkeit des Menschen nicht als Folge der einmaligen Sünde des Stammvaters Adams, sondern als Folge seiner Beschränkung als endliches Wesen mit sinnlichen Neigungen (716f.). Die sinnliche Natur sei „der Grund der menschlichen Schwäche, wenn sie von Vernunft und Religion nicht geleitet wird“ (718).

10
Herr Consistorialrath Steinbart in seinem Lehrbuche der Religion, betitelt, Glückseeligkeitslehre

Gemeint ist Steinbarts System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums (11778; 41794, BdN VIII); s. 123. Darin wird die klassische christliche Genugtuungs- oder Satisfaktionslehre (vgl. 360) als unbiblisch und unethisch zurückgewiesen, vgl. §§ 56–66 (118–148). Steinbart spricht sogar vom „kranken Hirn“ (133) der Augustinianer und Anselmianer. Er lehnt ferner, wenn auch um diplomatische Formulierungen bemüht, die athanasianische Dreieinigkeitslehre (vgl. 113 und 236) ab; Jesus war ein bloßer Mensch: „Gott [veranstaltete] unter dem jüdischen Volk zuerst die Geburt eines ganz vorzüglichen Mannes, welchen er mit allen Talenten des Geistes ausrüstete, und mit welchem er so vereint war, daß man an diesem Jesu sehen konnte, wie Gott gegen die Menschen handeln würde, wenn er als Mensch uns erschiene“ (226; Herv. d. Hgg.; vgl. 223); zur Wirkung Steinbarts vgl. auch 156.

11
Herr Oberconsistorialrath Büsching über die Endlichkeit der Höllenstrafen

Anton Friedrich Büsching (1724–1793), lutherischer Theologe, Historiker und einflussreicher Geograph, amtierte seit 1766 als Direktor des Gymnasiums zum Grauen Kloster und Oberkonsistorialrat in Berlin. Bahrdt spielt auf die Allgemeine[n] Anmerkungen über die symbolischen Schriften der evangelisch-lutherischen Kirche, und besondere Erläuterungen der augsburgischen Confeßion (1771) an: „[D]ie Erlösung Jesu Christi gehet auf wirkliche Errettung aller und jeder Menschen, und man kann unmöglich gedenken, daß unserm Gott seine große gnädige Absicht bey derselben, der Hauptsache nach mißlingen sollte: sie muß also an denenjenigen, bey welchen sie auf Erden nicht erreicht werden kann, künftig erfüllet werden“ (93 [§ 37]), was „eine unaufhörliche Dauer der Strafen“ (91) ausschließe.

12
die auch Origenes glaubte

Der antike Theologe Origenes (vgl. 402) lehnte die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen ab und nahm die Allversöhnung aller Geschöpfe (ἀποκατάστασις πάντων) an, vgl. z.B. sein Περὶ ἀρχῶν (De Principiis) I.6.3.

13
Herr Senior Urlsperger [...] in seinen Schriften über das Geheimniß des Vaters und Sohnes [...] die bis jetzt noch kein Mensch völlig verstanden hat

Johann August Urlsperger (1728–1806), lutherischer Theologe, wurde 1772 Senior (Hauptpastor) in Augsburg, legte aber bereits im Jahre 1776 all seine kirchlichen Ämter aus Krankheitsgründen nieder. Er wirkte weiter als Privatgelehrter und Begründer der gegen Deismus und Rationalismus gerichteten Deutsche[n] Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit (Deutsche Christentumsgesellschaft). Urlspergers Versuch in freundschaftlichen Briefen einer genauern Bestimmung des Geheimnißes Gottes und des Vaters und Christi [...] war in vier Stücken zwischen 1769 und 1774 erschienen. Die Zeitgenossen waren sich einig, dass das Werk nicht als ein Muster an Verständlichkeit gelten könne; der Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek 16 (1772), 211, urteilte etwa, der Verfasser mache das Geheimnis der Dreieinigkeit nur „noch verworrener und anstößiger“.

14
von welcher ehemals in Göttingen Recensent urtheilte

Bahrdt spielt auf die Rezension des zweiten Stücks des Versuch[s] in freundschaftlichen Briefen (s. 669) in den Göttingische[n] Anzeigen von gelehrten Sachen, 25. St. (28.2.1771), 209–212, an, nimmt sich bei der Charakterisierung aber einige Freiheit. Laut dem Rezensenten fordert Urlsperger den Vorwurf des Sabellianismus (vgl. 129) zwar heraus, ein solcher Vorwurf sei jedoch gleichwohl „ungerecht“ angesichts der „öfteren Versicherungen, daß er die drey Personen, wirklich als Personen [...] [an]erkenne“ (210) und nicht bloß als die Personifizierung bestimmter Eigenschaften ein und derselben Person.

15
Probst Teller [...] in seinem Wörterbuche

In Tellers (vgl. 545) Wörterbuch des Neuen Testaments (BdN IX) heißt es unter dem Lemma „Glauben“: „Glauben, schlechtweg, bedeutet etwas annehmen, für wahr halten, davon überzeugt seyn [...] und also mit den Zusätzen, an Jesum, an das Evangelium, an den Namen Jesu, ihn, seine Lehre, annehmen, sie befolgen, in Ausübung bringen. [...] Dies ist auch die älteste Erklärungsart. Clemens von Alexandrien sagt ausdrücklich [...]: Glauben nennen wir die Annehmung des auch schon durch die Vernunft erkannten Wahren und Guten“ (31780, 221). Teller wendet sich damit gegen Konzeptionen, die im christlichen „Glauben“ ein Vertrauen (fiducia) auf Gott sehen, das sich weder auf ein bloßes Glauben-Dass gründen oder gar reduzieren, noch (vollständig) durch Belege oder Argumente absichern lässt. Propositionales Wissen über Gottes Schöpfung und Jesu Lebens- und Leidensgeschichte sei, so Vertreter dieser Ansicht, auch Teufeln und Atheisten zugänglich – und trotzdem glauben sie im entscheidenden Sinne des Wortes nicht. Vgl. den 20. Artikel des Augsburger Bekenntnisses, z.B.: „[D]ie schrifft [redet] vom glauben, und heißt nicht glauben ein solichs wissen, das teufel und gotlosen menschen haben, dan also wirtt vom glauben geleret [in Hebr. 11], das glauben sei nicht allein di historien wissn, sonder zuversicht haben zu Gott, [...] das er uns gnedig sei, und heiß nicht allein, solich historien wissen, wie auch di teuffel wissen“ (BSLK 79f.). Besagte Zuversicht äußere sich – so etwa Peter Ahlwardt unter Verweis auf Gal 2,20 in seinen Gründliche[n] Betrachtungen über die Augspurgische Confession, 5. Teil (1746), 373–401, – darin, dass der Glaubende das Verdienst Christi „ergreift“ und es sich zu seiner eigenen Seligkeit selbst „zueignet“, eine Vorstellung, gegen die Bahrdt in a20 Stellung bezieht; vgl. auch 133.

16
fides est obedientia erga Evangelium

Das lateinische Zitat „Fides autem est oboedientia erga Evangelium“ (Glaube aber ist der Gehorsam gegenüber dem Evangelium) findet sich im IV. Artikel (CR 27, 519; vgl. BSLK 220) der von Melanchthon verfassten Apologia Confessionis Augustanae (Oktavausgabe; 1531).

17
Herr Doctor Semler in seiner neusten Schrift gegen die Wolfenbüttlischen Fragmente

Gemeint ist Semlers Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger (1779). Die von Reimarus verfassten und von Lessing herausgegebenen Fragmente waren zwischen 1774 und 1778 in der Zeitschrift Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel erschienen.

18
Hat er nicht die Lehre von der Inspiration der Bibel eine neue Theorie genannt, die man erst in spätern Zeiten erfunden hat?

Vgl. Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten (1779), 280: „Ehe die neue Theorie von Inspiration unter unsre Theologie aufgenommen worden war, welches erst hinter der Zeit Lutheri und Melanchthons, fast unvermerkt geschehen ist [...].“

19
Sagt er nicht in dem angeführten Buche Seite 94. ausdrücklich: „Es ist ganz entschieden [...] für die Christen?“

Die, von der Kursivierung und unbedeutenden Varianzen abgesehen, korrekt zitierte Stelle beginnt bereits auf S. 93 von Semlers Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten (1779). Vgl. auch die ganz ähnliche Formulierung in b28.

20
Gerhards Kritik über die Dreyfaltigkeit

Laut Johann Gerhard (vgl. 415) ist vom Heil zwar ausgeschlossen, wer die Dreifaltigkeit leugnet oder nicht um sie weiß, es ist jedoch nicht für alle Kirchenmitglieder derselbe Grad an Kenntnis der Trinität erforderlich. Vgl. Loci Theologici, lc. III, c. I, § 2: „Excludimus ab hominibus salvandis non solum Trinitatis negationem, sed etiam ignorationem. [...] Non requirimus ab omnibus ecclesiae membris aequalem cognitionis gradum, cum lux notitiae spiritualis ac fidei in quibusdam sit illustrior, in quibusdam vero obscurior“ (zitiert nach der von Johann Friedrich Cotta herausgegebenen Ausgabe, III [1764]).

21
Hunnius Anzeige aus dem Epitome credendorum

Vgl. 237.

22
welche wie ich, über Gewissenszwang geklagt, die symbolischen Bücher den Gewissen für lästig gehalten

Bahrdt dürfte vor allem an die 1767 von dem Berliner Neologen, Pfarrer und wichtigen Rezensenten der Allgemeinen deutschen Bibliothek Friedrich Germanus Lüdke (1730–1792) losgetretene Kontroverse um die symbolischen Bücher denken. Vgl. Lüdke, Vom falschen Religionseifer (1767), 123–125: „Und wenn doch gleichwol in unsern Zeiten verständige und rechtschaffene Leute sagen: Wir sind in allen Hauptsachen des Glaubens mit euch einig, nur in dem und dem Stük denken wir anders, wir wollen auch gerne bey euch bleiben, laßt uns nur darin unsre Freiheit zu denken, zu reden und zu schreiben; so stellen wir [Lutheraner] uns doch den Päbstlern völlig gleich, und wollen sie in aller Absicht nicht für Brüder und rechtgläubige Christen erkennen. [...] es ist nicht gut, daß man noch in unsern Tagen die Lehrer protestantischer Gemeinden auf Menschenwort, dergleichen doch die Symbola der Kirchen sind, vereidet. Bloß auf Gottes Wort in der Schrift solte man sie schwören lassen.“ Gegenwind kam keineswegs nur von orthodoxen Theologen wie Goeze. Während Teller, A.F.W. Sack und Büsching (vgl. 667) sich auf Lüdkes Seite schlugen, verteidigten Johann Gottlieb Töllner (1724–1774; Unterricht von symbolischen Büchern überhaupt, 1769) und Semler (im Apparatus ad libros symbolicos Ecclesiae Lutheranae, 1775) die prinzipielle, wenn auch in bestimmter Weise einzuschränkende, Verbindlichkeit der Bekenntnisschriften.

23
Ist aber je ein einziger darüber, wie ich, für einen Abtrünnigen angesehen worden?

Weder Lüdke noch seine in der letzten Anmerkung erwähnten Verteidiger sahen sich infolge ihrer Kritik der symbolischen Bücher persönlichen Repressalien ausgesetzt. Auf preußischem Gebiet beheimatet standen sie allerdings auch unter dem besonderen Schutz der toleranten Religionspolitik Friedrichs II. (vgl. 685), welcher für das übrige Reich keineswegs selbstverständlich war.

24
Und geschieht es nicht noch jetzt in der englischen Kirche [...] für unfähig erklärt

Vgl. c5f., 461 und 462.

25
Ich bezeuge endlich auch drittens, daß es mir nie in den Sinn gekommen ist, eine eigne Secte zu stiften

Vgl. e5.

Und ich fodere auch bey diesem Punkte alle Unpartheyische auf, mein Glaubensbekenntniß zu prüfen, und, zu untersuchen, ob auch nur die allermindeste Spur des Vorhabens, eine neue Secte zu stiften darinnen zu finden sey.

Eben so öffentlich und freymüthig kann ich mich endlich auch auf die nähern Zuschauer meiner bisherigen Handlungsweise berufen, und von ihnen das Zeugniß erwarten, daß ich nie, auch nur die entfernteste Veranlassung gegeben habe, mir ein so thörigtes Unternehmen zuzutrauen. Ich habe seit meinem [22] Glaubensbekenntniß nichts geschrieben, welches das Publikum aufmerksam auf mich hätte machen können. Ich habe auch keinem geantwortet, der sich berufen fühlte, gegen mein Glaubensbekenntniß zu schreiben oder meinen Charakter durch boshafte Erdichtungen verdächtig zu machen. Ich habe nicht einmal nach der Zeit mit jemand über mein Glaubensbekenntniß korrespondirt, ohngeachtet häufige Anfragen und Veranlassungen dazu geschehen sind. – 682Ich habe nie Erlaubniß gesucht, eigentliche theologische Collegia zu lesen. 683Und ohngeachtet, bald nach meiner Ankunft in Halle, der allerhöchste Befehl an die Universität ergieng, daß man mich nicht hindern solle, den hier studierenden jungen Leuten durch Vorlesungen nützlich zu seyn, so habe ich doch von diesem Recht nicht gleich Gebrauch gemacht, sondern erst auf wiederholtes Anrathen meiner Freunde, und [23] auf das Bitten vieler hier Studierenden, mich erst im vorigen Herbst dazu entschlossen, 684ein practisches Collegium über die Beredsamkeit nach den Grundsätzen des Quintilian und eines über die Anfangsgründe der hebräischen Sprache zu lesen; denen ich künftig nichts als kursorische Vorlesungen über die Klassiker der Griechen und Römer hinzufügen werde. – Mit einem Worte, meine ganze Handlungsweise sieht gewiß keinen Anstalten zu Stiftung einer neuen Secte ähnlich.

Ich suche nichts, und habe bisher nichts gesucht, als was ich schon habe, – und wofür ich dem 685weisen und duldsamen Monarchen, der alle fleissige und nützliche Unterthanen mit gleicher Vaterhuld nährt, und jeden im Stillen seines Glaubens leben läßt, hier öffentlich danke – Schutz [24] und ruhige Existenz. Wer mir stolzere Wünsche und weitaussehende Absichten zugetrauet, hat mich verkannt.

Carl Friedrich Bahrdt.
4,
5,
6,

6.

[I]
(D.)Doctor Joh. Salomo Semlers


Königsberg,
bey 688 Friedrich Nicolovius
1792.textgrid:3rnsb
1,
2,
[II]

[III]

Mit wehmüthigem Vergnügen übernahm ich den Auftrag, die letzte Schrift meines unvergeßlichen Lehrers, des seligen Semler, zum Druck zu befördern; und um so mehr, da gerade diese Schrift seinen so oft und in so mancherley Beziehung geäußerten Grundsätzen das Siegel aufdrückt, und einen ganz unwidersprechlichen Beweis enthält, daß er seine Ueberzeugungen von der eigentlichen Bestimmung der christlichen Religion bis an sei[IV]nen Tod nicht verläugnet, oder abgeändert habe.

Es war eine Zeit, wo Semler bey vielen in den Verdacht gerieth, daß Er, 690unleugbar der erste lutherische Theolog unsers Jahrhunderts, welcher von der langen Anhänglichkeit an ein festes dogmatisches System, abzugehen wagte, und der freyen Untersuchung des Lehrbegriffs eine neue Bahn eröffnete, dennoch wieder von seinen eignen Prinzipien abgegangen sey, oder doch das 691an andern getadelt habe, was er sich selbst für erlaubt gehalten.

An diesem Verdachte war sein Herz und seine Denkart, wie ich immer überzeugt gewesen bin, ganz unschuldig; von seiner Seite gab dazu, die Eigenthümlichkeit seiner Schreibart, und von Seiten derjenigen, die ihn falsch beurtheilten, Mißverstand Anlaß.

Semler hatte 692bey der erstaunlichen Lektüre in die er sich von Jugend auf geworfen, nie einen eigentlichen Fleiß auf Politur des [V] Stils gewandt; hatte, weil ihn hauptsächlich alte Literatur und das unermeßliche Feld der Geschichte beschäftigte, nie sich Zeit genommen, zu einer philosophischen Präcision in der Anordnung und in dem Ausdrucke seiner Gedanken sich zu gewöhnen. Daher konnte es nicht fehlen, daß man ihm oft Inconsequenzen zur Last legte, die es bey ihm wirklich nicht waren. Das Feuer seines Geistes, und sein außerordentlich großes Gedächtniß, verleiteten ihn, jenes zu einer unglaublichen Schnelligkeit in schriftlichen Arbeiten, dieses zu einem etwas zu großen Vertrauen in die Sicherheit seiner Citaten, und in die Bündigkeit seiner Gedanken, die sich, wie er meinte, auf dem Papiere von selbst ergeben würde, so wie er sich derselben innerlich bewußt war. Daher konnte es nicht fehlen, daß man oft in den von ihm angeführten Stellen das nicht fand, was er darin gefunden zu haben versicherte; und daß man oft Widersprüche unter seinen Grundsätzen und Meinungen fand, die, wenn man sich Zeit nahm, ihn recht zu verstehn, wieder verschwanden.

[VI] Wenn man nun aber besonders in Ansehung seiner Vorstellungen vom Wesentlichen der christlichen Religion, und von der freymüthigen Untersuchung des dogmatischen Lehrbegriffs, seit der Zeit besonders, als Herr (D.)Doctor Bahrdt sich nach Halle wandte, hie und da geglaubt hat, er habe entweder aus Animosität, oder weil er sich eingebildet habe, daß die Freyheit der Untersuchung übertrieben werde, und, um nicht zu weit zu gehn, eher ein paar Schritte wieder zurück thun müsse, seine vorigen Grundsätze verlassen, so lag dieser Mißverstand noch mehr an der Uebereilung derjenigen, die ihn so beurtheilten, als an seiner eignen Art des Vortrags.

Nirgends ist er von dem Grundsatze, daß die Untersuchung frey bleiben müsse, auch nur im geringsten abgewichen; aber die Keckheit der Entscheidungen und das despotische Aufdringen seiner Meinungen, das war es, was er immer unleidlich fand, und was er aus Bahrdts Veranlassung nicht zuerst, wohl aber seitdem dieser in Halle zu schreiben anfieng, ungleich öfter [VII] und lebhafter bestritt. Wo er Unkunde der Geschichte fand, bey Untersuchungen, die doch nicht blos philosophisches Raisonnement, sondern Kenntniß der Begebenheiten und Studium historischer Quellen voraussetzten, da schien es oft, als ob er den Schlußsätzen selbst widerspräche, indem er bloß der Methode, dazu zu gelangen, sich entgegensetzte. Wo er trotziges Absprechen, oder intolerante Rechthaberey wahrnahm, da drückte er seinen Widerwillen oft so aus, als ob er eben so wohl gegen den Stoff und Inhalt, als gegen die Form gewisser Aeußerungen, und gegen die unsittliche Art sie anzubringen eingenommen wäre. Hieraus ist auch 693die Art seiner Bestreitung des Wolfenbüttelschen Fragmentisten zu erklären, der sonst, wenn es auf die bloßen trocknen Folgesätze ankam, mit ihm in sehr vielen Punkten offenbar zusammenstimmte.

In gegenwärtiger Schrift nun, die er ganz vollendet, wiewohl ohne Titel, den ich selbst erst habe vorsetzen müssen, hinterlassen hat, finden sich seine Gedanken über das [VIII] Verhältniß der christlichen und natürlichen Religion ungleich dichter zusammengedrängt, besser geordnet, und lichtvoller dargestellt, als ich sie sonst bey ihm gefunden habe; und sie enthält vortrefliche Wahrheiten, die, wenn sie auch für gelehrte und selbstdenkende Leser nichts Neues enthalten, doch nicht nur in Rücksicht auf den Mann, der sie vorträgt, ein neues Interesse gewinnen, sondern auch nicht oft genug wiederholt werden können; am wenigsten ist ihre Wiederholung in unsern Tagen überflüßig, wo es fast das Ansehen hat, als ob einige, wenn auch wohlmeinende, doch gewiß übel unterrichtete Leute, um einer, ich weiß nicht wo existirenden Rotte von Leuten, die das Christenthum untergraben wollen, entgegen zu arbeiten, damit umgehn, das Kleinod der freyen und vernünftigen Prüfung in Religionssachen, was selbst itzt viele verständige Männer in der katholischen Kirche zu schätzen anfangen, uns Protestanten zu entreißen, und uns einer überlieferten Glaubensnorm, (d. h.)das heißt einer päpstlichen Tradition zu unterwerfen; was denn freylich, so lange sie uns Vernunft und Schrift nicht [IX] nehmen können, unmöglich gelingen kann, und wenn sie auch, was einige bereits in Kammern thun sollen, den Herrn Jesum Christum auf öffentlichen Plätzen leibhaftig erscheinen ließen.

Diese ganze Schrift lehrt, wie sehr der verewigte Semler von der großen Wahrheit überzeugt war, die in Lessings Nathan so unübertreflich ausgedrückt ist: 694

Daß Ergebenheit in Gott
Von unserm Wähnen über Gott
So ganz und gar nicht abhängt.

Daher zeigt sich Semler gleich billig gegen orthodoxe und heterodoxe Christen, gegen Christen und Naturalisten, gegen Naturalisten und Fanatiker.

Ihm ist es 695 ‘der allererste Grundsatz der christlichen Religion, ( (S.)Seite 9.) daß ein und derselbe Gott aller Menschen und Völker Herr und Vater sey, daß er nicht auf die äußerlichen Umstände sehe, wodurch sich Ju[X]den von andern Völkern ganz unmoralisch unterscheiden, sondern das Thun und Lassen der Menschen nach dem Maaße ihrer Erkenntniß vom Guten und Bösen beurtheile.’ Wenn man niemals mehr als diesen Grundsatz, verbunden mit der höchst reinen und vernünftigen Sittenlehre Christi für nöthig gehalten hätte, um jemanden einen Christianer zu nennen, was für Unglück, welche abscheuliche Scenen des Verfolgungsgeistes in der christlichen Kirche wären der Menschheit erspart worden!

Semler läßt ausser obigen Grundsatze keinen einzigen sogenannten Fundamentalartikel der Dogmatik als einen nothwendigen Glaubensartikel gelten, den man durchaus annehmen und behaupten müsse, wenn man nicht auf den Namen eines Christen Verzicht leisten wolle; nicht 696die Lehre von der Dreyeinigkeit, nicht die Lehre von der Inspiration der Bücher des (A.)Alten oder (N.)Neuen Testaments, nicht die, von der stellvertretenden Genugthuung Christi; aber er behauptet auch, daß es dem wahren Geiste des Christenthums nichts schade, wenn man [IX[!]] alle diese Lehrsätze annehme; er besteht darauf, daß sich derjenige, der sie annimmt, und der, so sie verwirft, beide einander tragen und keiner den andern mit den schimpflichen Benennungen von Dummköpfen, Fantasten, oder Ketzern und Ungläubigen belegen solle.

Daher bin ich überzeugt, daß er auch demjenigen Naturalisten, der die Sittenlehre Christi, und die große Lehre von dem allgemeinen Antheil aller Menschen an Gottes Gnade, nicht auf Autorität, sondern aus Gründen der Vernunft annimmt, den Namen eines Christen nicht abgesprochen haben würde; nur denket er sich oft unter Naturalisten Leute, welche andere zu Annahme ihrer Meynungen mit einer Art von Gewalt bewegen, oder die öffentliche, bürgerliche Form der Religion eigenmächtig stürmen wollen. Gegen diese Anmaßungen erklärt er sich so laut und ernsthaft, als ihm immer möglich ist.

Daher seine so oftmal wiederholte, so lebhaft eingeschärfte Behauptung des Un [XII] terschiedes zwischen öffentlicher und Privat-Religion. Vergleicht man die in gegenwärtiger Schrift darüber vorkommenden zerstreuten Stellen, so bleibt mir kein Zweifel übrig, daß er hierinnen nicht auch seine Ideen völlig aufs Reine gebracht, und immer consequent gedacht habe, wenn er gleich sie nirgend so gut geordnet, und so bestimmt ausgedrückt hat, als es neuerlich unter andern, und vielleicht vor allen andern mein theurester Freund und College (Hr.)Herr 697 (Prof.)Professor Hufeland gethan *). Kann man sich stärker darüber herauslassen, als wenn Semler 698 (S.)Seite 70. (u.)und (f.)folgende in dieser Schrift sagt: daß wenn irgend eine christliche Religionsparthey sage, sie hätte ganz allein die christliche Religion im Besitz, und auch ganz allein das Recht, eine ewige Seeligkeit von Gott zu erwarten, alle andern Menschen aber, auch alle andern christlichen Familien oder Partheyen, (also auch Socinianer oder andere, [XIII] die in den Lehren von der Dreyeinigkeit, vom Abendmal, von Christi Versönung nicht auf 700 Hutters oder Beyers Compendium geschworen hätten) keine wahre christliche Religion, keinen Anspruch an Gottes Liebe und Gnade hätten, solches eine sehr rohe, ganz unmoralische Anmaßung, ein grober Irrthum, eine grobe Unwissenheit der allerersten christlichen Grundsätze sey: ja daß diejenigen, die andre zu ihrer Religionsform zwingen wollen, eben dadurch beweisen, daß sie selbst die wahre, geistliche oder vollkommnere Verehrung Gottes wissentlich verläugnen oder unterdrücken wollen.

Wenn Semler nun hierbey auf symbolische Bücher und festgesetzte kirchliche Lehrbegriffe zu sprechen kam, so war er weit davon entfernt anzunehmen, daß diese symbolischen Bücher unter den Protestanten, wie sich mancher ganz fälschlich einbildet, beständige ein für allemal festgesetzte Normen seyen, von denen weder Lehrer noch Gemeinden abweichen dürften. Er kannte den Geist des Protestantismus viel zu gut, als daß ihm hätte [XIV] einfallen [können] so etwas zu behaupten. Er stimmte gewiß vollkommen mit demjenigen überein, 701was neuerlich wieder (Hr.)Herr (D.)Doctor Rosenmüller so trefflich auseinander gesetzt hat, und was jedes wahren Protestanten, zumal jedes vernünftigen Lutheraners Grundsatz seyn muß, daß die Freyheit fernerhin die Schrift zu untersuchen, und der beständige Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen der wahre Charakter des Protestantismus sey. Er wußte, daß Glaubensbekenntnisse und symbolische Bücher provisorisch und zu guter äußerlicher Ordnung für eine unbestimmte Zeit entworfen werden, daß die Gemeinden oder Kirchen sie annehmen, und von der Obrigkeit sanctioniren lassen, ohne deswegen ihr unveräußerliches Recht an die stete Verbesserung und Berichtigung ihres Lehrbegriffs aufzugeben. Dahingegen verwarf er wie billig, die Anmaßung einzelner Personen, christliche Religionsgesellschaften in ihrem Glauben gewaltsam stören zu wollen.

Nur gerade hier fehlte es seinem Raisonnement noch an der nöthigen Vollständig[XV]keit und Bestimmtheit. Denn 1. setzte er bey den Naturalisten zuweilen voraus, daß sie die christliche Religion gewaltsam verdrängen oder aufheben wollten. Dazu fehlte es gleichwohl an aller historischer Veranlassung. Selbst wenn einige schwärmerische und unbehutsame Pocher, wie (D.)Doctor Bahrdt (z. B.)zum Beispiel geradehin entscheiden wollten, eine positive Religion, wenn auch ihre Sittenlehre noch so rein wäre, sey zu gar nichts nütze, oder wenn sie behaupteten: die 702Gottesverehrung müsse durchaus ganz rein deistisch seyn; so hatten sie ja damit immer noch keine Gewaltthätigkeit ausgeübt; sie hatten ja blos einen Einfall debitirt, an den sich weder Clerici noch Laici zu kehren brauchen. Im Ernste sieht man auch gar nicht ein, wozu der Naturalist in den protestantischen Kirchen es nöthig hätte, auf eine solche zufahrende, geschweige denn eigenmächtige und gewaltsame Veränderung des öffentlichen sogenannten Gottesdienstes zu verfallen. Niemand zwingt ihn ja, wenn er nicht will, in die Kirche zu gehn; niemand fodert ihm Beichtzettel ab; und wenn ihm die christlichen Sakramente bloße Ceremonien [XVI] scheinen, so müßte er ja sehr unklug, ja wirklich toll und rasend seyn, einen Lärm im Staate darüber anzufangen, damit diese Ceremonien, die einmal eingeführt sind, abgeschafft, und noch dazu eben durch diese Abschaffung eine Menge Leute, denen jene Sakramente ungleich mehr sind, als bloße Ceremonien, geärgert und gekränkt würden. Man fängt aber wie schon gesagt an, hie und da, es sey aus Leichtgläubigkeit oder aus gehässigen Privatabsichten, von einer 703 Rotte von Aufklärern zu sprechen, die gleichsam eine Coalition gemacht haben sollen, um die Aufhebung der öffentlichen kirchlichen Verfassung unter den Protestanten zu bewirken. Man sucht sogar Fürsten und Regierungen zu bereden, daß dieser Rotte von Aufklärern durch öffentliche Anstalten entgegen gearbeitet werden müsse. Das natürlichste wäre wohl, vorerst zu fragen, wo denn diese Rotte existire, was sie denn bereits für geheime Machinationen anfangen, was für Grund zum Verdachte da sey, daß sie dergleichen im Sinne haben. Man weiß ja, daß es heutzutage nicht wohl möglich ist, einen Plan [XVII] durch Correspondenz zu irgend einer gemeinschaftlichen Unternehmung anzulegen, ohne daß die Sache in kurzem bekannt werde. 704Kaum war (z. B.)zum Beispiel von (Hn.)Herrn Bahrdt die Union der Zwey und Zwanziger entworfen, als sie verdientermaßen lächerlich gemacht, und durch 705die Schrift eines einzigen philosophischen und witzigen Kopfes, (Mehr Noten als Text,) gänzlich vernichtet wurde. Aber noch immer hört die Unvorsichtigkeit nicht auf, nicht nur vorhandne Sectennamen so zu misbrauchen, daß wo man (z. B.)zum Beispiel vielleicht nur eine einzige Meinung eines berühmt gewordnen Lehrers antrift, man gleich sein ganzes System voraussetzt, sondern auch immer noch neue Sectennamen zu erfinden, um damit die noch so verschiedene Denkart mehrerer Gelehrten, wenn sie allenfalls in einem oder dem andern Punkte zusammentreffen, unter einer einzigen Kategorie zu begreifen. Kann man wohl einen mildern Ausdruck, als den eines sehr unvorsichtigen Verfahrens dafür finden, wenn jemand das 706 ἀληθευειν ἐν ἀγαπῃ eines 707 Spalding oder 708 Teller und die ganz von dieser abweichen[XVIII]de Procedur eines Bahrdt, in theologischen Untersuchungen, dadurch in eine Klasse setzt, daß er sie allesamt Aufklärer nennt? Gleichwohl gehn einige schon so weit, daß sie sogar, um gewisse Grundsätze in einem noch gehässigern Lichte vorzustellen, Aufklärer und 709 Illuminaten für Synonymen nehmen. Freylich ist dieser unbedachtsame, oder boshafte Namentausch schon so oft in der christlichen Kirche verübt worden, daß sie niemanden, der nicht ganz Fremdling in ihrer Geschichte ist, etwas neues seyn kann. Aber schmerzen muß es doch jeden Freund der Religion und der Menschheit, daß eine so häßliche Unart noch immer in Zeiten sich erhält, wo man längst durch die Beyspiele voriger Jahrhunderte gewitzigt, den Schaden davon hätte beherzigen sollen. Bey dem (sel.)seligen Semler war es nun gewiß nicht Vorsatz, wenn er sich manchmal so ausdrückte, als ob alle Naturalisten in eine Klasse zu werfen wären. Es war bloß Folge seiner Gewohnheit, im Schreiben sich nicht immer bestimmt genug auszudrücken. Er selbst war überzeugt, daß man sogar die Namen Christen [XIX] und Naturalisten nicht geradezu einander entgegensetzen könne, und 710daß der Name christliche Naturalisten keineswegs einen Widerspruch in der Zusammensetzung enthalte. In der That, wenn jemand in der Lehre von der allgemeinen Gnade Gottes, in dem Widerspruch gegen den Polytheismus, in dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, und in der reinen Sittenlehre mit den Grundsätzen Jesu Christi und seiner Schüler übereinstimmt, so weiß ich nicht, warum man ihn, falls er auch alles Miraculöse und Uebernatürliche davon trennte, nicht eben so gut einen Christen nennen könnte, als man denjenigen einen Sokratiker nennen würde, der des 711 Sokrates Denkart und Lebensweise sich eigen machte, ohne deshalb zu glauben, daß er einen besondern Genius gehabt habe. 2. 712Sehr oft eiferte der (sel.)selige Semler, und mit Recht, gegen das Aufdringen seiner Meinungen in Religionssachen. Nur schien er nicht immer daran zu denken, daß derjenige seine Meynung noch nicht aufdringt, der sie in Schriften so viel ihm immer möglich ist, ins Licht zu stellen, zu bestätigen, und entgegengesetzte Meinungen zu widerlegen [XX] sucht. Im Grunde war er zwar völlig überzeugt, daß die Freyheit seine Meinung zu sagen, einem jeden, er möge zu sogenannten Orthodoxen, oder Heterodoxen, Christen oder Nichtchristen gehören, ungekränkt bleiben müsse, aber es lag doch zuweilen in einigen seiner Ausdrücke eine anscheinende Inconsequenz, welche diejenigen als eine Beystimmung, wiewohl mit Unrecht, hätten ansehn können, welche wirklich demjenigen System, was ihnen reine Lehre heist, keinen bessern Dienst leisten zu können glauben, als wenn sie alle, die etwas dagegen schreiben, als Leute verschreyen, die das Christenthum verdrängen, und von der Erde vertilgen wollen. Möchte man doch bedenken, daß man die Wahrheit immer verdächtig macht, wenn man sie der strengen Untersuchung entziehen will, und daß weder Religion durch ihre Heiligkeit, noch Gesetzgebung durch ihre Majestät aufrichtige Achtung erwarten kann, wenn diese nicht auf Prüfung einer ganz freyen und unbestochnen Vernunft gegründet wird. 3. In Ansehung des Volksunterrichts durch Prediger über dogmatische Religionslehren [XXI] scheint es zuweilen, als ob der (sel.)selige Semler, die mannigfaltigen dabey in der Ausübung entstehenden Schwierigkeiten dadurch lösen wollte, daß er zwischen öffentlicher und Privat-Religion unterscheidet. Allein damit ist die Sache noch nicht ausgemacht. Daß einem jeden Menschen seine Privat-Einsichten frey bleiben müssen, so lange er sie nicht äussert, versteht sich ja von selbst, und man braucht darüber kein Wort zu verlieren. Allein der Mensch hat doch auch ein ungezweifeltes Recht, seine Gedanken zu äußern; und die große noch immer nicht ganz bis zu völliger Befriedigung aufgelößte Frage ist: 1) was für ein Recht hat der Staat, die Aeußerungen, oder den mündlichen und schriftlichen Vortrag gewisser Meinungen einzuschränken; und 2) was für Mittel lassen sich, wenn es zur Ausübung dieses Rechts kömmt, mit der Staatsklugheit vereinigen? Was die Religionsvorträge betrift, so hat die verschiednen Fälle, welche bey einer protestantischen Gemeinde vorkommen können, wenn die Einsichten der itzigen Lehrer oder Glieder der Gemeinde gegen die ehemaligen [XXII] sich geändert haben, 713neuerlich (Hr.)Herr (Prof.)Professor Hufeland am bestimmtsten auseinander gesetzt. Aber noch bleibt immer die Frage übrig: welche Methode über dogmatische Religionslehren zu predigen, die bessere sey, so daß weder die Glieder der Gemeinde sich von ihr zu trennen nöthig haben, noch der Lehrer bey seinen geistlichen Vorgesetzten anstoße, noch auch sich entweder als einen Unwissenden oder als einen Heuchler verdächtig mache. Hier bin ich nun geneigt zu glauben, der Lehrer könne sich auf keine bessere Art aus allen diesen Schwierigkeiten heraushelfen, als wenn er bey jeder Gelegenheit, wo er auf christliche Dogmata kömmt, die Geschichte der Religion zu Hülfe nehme, und so viel etwa auch dem großen und gemischten Haufen beygebracht werden kann, anführe, um eines Theils auf die stete Abwechslung dieser dogmatischen Vorstellungen zu führen, andern Theils die christliche (d. h.)das heißt die vernünftige Sittenlehre sicher zu stellen, und zu zeigen, daß diese unwandelbar fest stehe, man möge über das Dogma diese oder jene Vorstellung hegen. Der Prediger müßte (z. B.)zum Beispiel am Oster[XXIII]feste nicht verheimlichen, daß es ehemals viele gegeben und noch itzt viele gebe, die sich von der Auferstehung Christi nicht überzeugen könnten; daß diese ausserordentliche Begebenheit viele Gründe für sich, aber auch wider sich habe; daß man ein wahrer Verehrer Jesu seyn könne, wenn man auch sich nicht zu überzeugen vermöge, daß er auferstanden sey; daß Christus nirgend die Seligkeit der Menschen an diesen Glauben gebunden: daß dennoch der Glaube an diese Begebenheit, für denjenigen, dem sie glaublich oder zuverlässig scheine, ungemein trostreich sey, und man also niemanden darinn irre machen, am wenigsten über ihn spotten, oder mit ihm zanken müsse; daß es aber eben so wenig erlaubt sey, denjenigen für einen Frevler oder Gottlosen zu halten, der die Auferstehung Christi nicht in dem Sinne, wie sie gewöhnlich erzählt und geglaubt werde, für wahr halten könne. Wenn so der Prediger Gründe und Gegengründe neben einander stellte, so würde er keinem Theile seiner Zuhörer anstößig werden; er würde nicht beschuldigt werden können, daß er eine Lehre, die seine Zuhörer [XXIV] beybehalten wissen wollen, ihnen eigenmächtig entziehen wollte, und doch würde er dem andern Theile, der sie für weiter nichts als eine hergebrachte Kirchensatzung hält, weder lästig fallen, noch als ein blinder Nachbeter erscheinen.

Sollte aber auch diese Freyheit dem protestantischen Prediger nicht gelassen werden, so würde die sonst unläugbare 714Nutzbarkeit und Würde des Predigtamts für unsere Zeiten gänzlich zerstört, und der Prediger, der eine vorgeschriebene Anzahl von Glaubensartikeln, wider beßre Ueberzeugung lehren und beweisen soll, ein sich selbst verächtlicher Gaukler, sofern er sie aber ununtersucht nachbeten sollte, nichts weiter als 715ein tönendes Erz und eine klingende Schelle werden. Jena den 3 May 1792.

Chr. Gottfr. Schütz.
4,
5,
6,
7,
8,
9,

(S.)Seite 272. (Z.)Zeile 20. (l.)lies ἐνσπαρτος. (S.)Seite 273. (Z.)Zeile 6. (l.)lies Theurgia.

[1]

So bekannt und geläufig dieser Ausdruck ist, so sehr unbestimmt und ungleich ist doch immer der Begriff, der damit von denen verbunden wird, welche von der christlichen Religion sich diese oder jene Vorstellung machen. Weder alle 716 Liebhaber oder Theilnemer an christlicher Religion haben einerley Begriff davon, noch alle jene andern Religionsparteyen, welche eine jüdische, muhamedanische, 717braminische, – – 718natürliche Religion geradehin und immerfort aller christlichen Religion vorziehen. Diese Frage müste also getheilet werden; was begreift die christliche Religion bey denen, welche selbst Liebhaber und Theilnemer sind? und was für Vorstellung und Begriffe haben hingegen alle jene Anhänger an eine Religion, die das [2] Beiwort christliche nicht hat? Nun müste man weiter fragen, woher kommt der stete Unterschied nicht nur der Anhänger der christlichen Religion von allen andern, die daher Unchristen heissen; sondern auch der so vielen christlichen Parteien selbst, die sich von dem Anfange ihrer neuen besondern Religion an bis hieher, weder in dem Hauptinhalte, noch in der Uebung ihrer christlichen Religion haben vereinigen können, oder vielmehr nicht haben vereinigen wollen? Diese Frage würde nun wieder dieses in sich fassen: ist der erste und fortdauernde Grund dieses Unterschieds der christlichen und unchristlichen Religion in diesen getheilten Menschen selbst, oder ausser ihnen in äusserlichen Umständen, oder in beiden Quellen zugleich zu suchen? Nun müssen wir die Anhänger dieser so verschiedenen Religionsformen selbst zuerst antworten lassen, was sie von dem ersten Ursprunge und Anfange ihrer Religion, in so fern sie eine neue Religion heißt, wissen oder glauben; und nun wird sich zunächst finden, daß überall, oder bey allen Religionsparteien, eine äussere Religion, oder ein bürgerlich festgesetztes Verhältnis öffentlicher oder gemeinschaftlicher feyerlicher Handlungen das neue besondere Band einer jeden Re[3]ligionspartey ausmacht. Es ist bürgerlich festgesezt, daß es so viel öffentliche Religionsdiener geben soll, deren öffentliche oder feierliche Verrichtungen und Geschäfte einmal wie allemal, ihnen [zugetheilt] und bestimmt sind; Geschäfte, welche sonst niemand verrichten darf, er mag übrigens noch so sehr von der ungezweifelten Wahrheit des Ursprungs dieser gemeinschaftlichen Religion, und von dem Vorzuge dieser also bestimmten Verehrung der Gottheit, sich selbst überzeugt finden. Diese öffentliche Religionsform, woran die gemeinen Mitglieder, die nicht selbst Religionshandlungen verrichten, nur leidender Weise oder durch vorübergehende Subordination an die bestellten Religionsdiener theilnemen, beruhet ganz auf der Einrichtung oder Einwilligung der zusammen gehörigen Gesellschaft, in Absicht der festgesetzten Umstände, unter welchen die Mitglieder die jedesmalige gemeinschaftliche Darstellung und Uebung des Betragens wiederholen, welches sie also zur öffentlichen Verehrung der Gottheit rechnen, daß sie es für eine ihnen unerlaubte oder sündliche Aufführung halten, wenn sie nicht diese kentlichen feierlichen Merkmale ihrer gesellschaftlichen oder brüderlichen Verbindung eben [4] so gegen andre darlegen, als von andern annemen wollten. Alle feierliche Handlungen, die von den öffentlichen Religionsdienern einmal wie allemal verrichtet werden, beziehen sich auf die erste Historie, auf den ersten Anfang aller Religionsparteyen; und sind in dieser Absicht der stete Grund von der Fortdauer dieser besondern Religionsparteien, die neben der neuen Religionsform auch gemeiniglich einen neuen besondern Staat ausmachen; so klein auch die Bedeutung dieses Namens, neuer Staat, anfänglich seyn mochte, ehe sein Umfang groß genug zu seyn schien, sich aus der bisherigen Stille und Verborgenheit nun öffentlich aufzustellen, und mit dem übrigen grössern Staat entweder sich zu messen, oder in ein solches Verhältnis zu sezen, durch Verträge oder gute Anerbietungen, als man wirklich zu erlangen zur Zeit hoffen konte.

Aber neben dieser öffentlichen Religionsform, welche alle Mitglieder durch ihre Einwilligung in einer besondern Verbindung mit einander erhält, die mit ihrer bürgerlichen Verfassung immer zusammen hängt: gibt es unter allen Religionsparteien auch eine innere oder Privat-Religion vieler ein[5]zelnen Menschen, die übrigens immer zu der öffentlichen Religionsform, als öffentliche Mitglieder gehören können; wiewol es auch bürgerlich hie und da (leider unter den Christen am wenigsten,) frey stund, seine Gegenwart jener öffentlichen feierlichen Versammlung zu entziehen; wenn nur sonst die bürgerlichen oder gesellschaftlichen Abgaben ferner entrichtet wurden, welche zur Erhaltung der öffentlichen Religionsdiener, oder Gebäude, oder zu andern legitimen Beyträgen, gehörten. In jedem Staat war eine öffentliche Religionsform zunächst zum festern Bande der bürgerlichen Gesellschaft durch Gesetze eingefüret; ohne die freistehende moralische Privat-Religion den einzelnen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft hiemit zu untersagen; sie mußten sie nur der öffentlichen Religion nicht entgegen stellen und einen neuen Staat anfangen wollen. Diese Privat-Religion so wol unter den Christen als Unchristen war zu allen Zeiten da, neben der öffentlichen oder gesellschaftlichen Religionsform, aber auch immer eben so verschieden, eben so ungleich als diese; wenn gleich alle Liebhaber und Theilnemer ebenfalls darin übereinkommen, daß sie in ihrem Thun und Lassen der Gottheit ihre Ver[6]ehrung, ihre Danksagung, ihre Zuversicht, in stillem eignen Bewustseyn beweisen wolten; wie alle Theilnemer an einer öffentlichen Religion es voraussetzten, daß diese feierliche Ordnung der Gottheit mehr gefalle, als wenn sie eine andre Art der Verehrung einfüren wollten. Bey aller öffentlichen Religionsform ist ein besonderer Charakter, der in der wirklichen oder vorausgesetzten Historie einer Nation oder der bürgerlichen Gesellschaft seinen Grund hat, und also gewis nicht zugleich für andere Staaten oder Nationen sich anpassen läßt, so lange diese ihrer ebenfals besondern alten Geschichte den Vorzug noch geben können; oder keine neue Historie erleben, welche ihnen nun wichtiger ist, als die Religionsform, welche sie ehemals vorzogen. Es ist ganz ausgemacht, daß die öffentliche Religionsform nur so lange noch fortgesezt wird, als die Gesellschaft selbst eine solche Einrichtung ihrem übrigen ganzen bürgerlichen Zustande für gemäs und nützlich ansiehet. Denn die öffentliche Religionsverbindung ist geradehin auf einer bürgerlichen Einwilligung gegründet, und sie enthält stets kenntliche Merkmale eben dieser besondern Gesellschaft, welche sich wissentlich zu einer solchen öffentlichen [7] Religionsform vereiniget. Wie es blos von den äusserlichen localen Umständen einer christlichen Gesellschaft abhängt, ob sie so oder so viel Religionsdiener halten kann und will, ob sie schlechte oder prächtige Religionsgebäude unterhalten kann; 719ob sie 2 oder 3mal an Sontagen und Festtagen sich versammeln will; ob alle Sontage, oder alle Monate Abendmal gehalten werden soll: so ist es überhaupt von der ganzen äußerlichen oder öffentlichen Religionsform wahr, daß sie, weil sie local ist und bleibt, nur einen menschlichen, bürgerlichen Ursprung hat und behält. Alle Religionsparteien in alten Zeiten haben zu dem Anfange einer Religionsordnung ein göttliches Ansehen vorausgesetzt; weil man in allen Zeiten und in allen Theilen des Erdbodens, wo Menschen wonten, die Gottheit gleich gut als unsichtbare Ursache neuer großen Begebenheiten nennen konnte; aber die besondere Localität brachte einen steten Unterschied aller Religionsformen mit sich, nach dem steten Unterschied der Völcker, die ihre Gesellschaft nun durch ein gemeinschaftliches Band der Gesammtreligion, oder durch Einheit der Religionsform zu einem festen fortdauernden Ganzen vereinigen wolte. Daher eine feierliche Einheit [8] der Merkmale eingefürt worden, wodurch die Mitbürger einander als fernere Theilnemer an einer gemeinschaftlichen öffentlichen Verehrung der Gottheit immer erkennen, und sich auf die Wahrheit und Gewißheit bürgerlicher Verträge verlassen könnten. Die nächste Absicht aller öffentlichen Religionsformen war diese bürgerliche Vereinigung und Sicherheit alles bürgerlichen Wohlstandes; wenn man auch von Wohlthaten oder vom Zorn der Götter öffentlich redete, verstund man immer bürgerliches oder häusliches Wohlergehen, das zunemen oder abnemen würde; auf moralische Privat-Religion, in so fern sie auf fortgehender eigener Erkenntnis und ihrer Anwendung beruhet, war die öffentliche oder gemeinschaftliche Religions-Form, welche alle Mitglieder einmal wie allemal zusammen hielte, gar nicht berechnet.

So bekannt es unter den Christen ist, daß die Juden sich von allen andern Nationen so unterschieden, daß diese unter dem allgemeinen Namen Goim (Heiden) begriffen wurden, sie aber sich als ein Volck Gottes mit besonderer stolzer Einbildung ansahen, das allein eine solche Verehrung Gottes [9] kenne, und durch seine 720Priester und Leviten leiste, die allen andern Völkern, zu ihren Nachtheil, unbekannt sey: so ganz ausgemacht ist doch 721 der allererste Grundsaz der neuen christlichen Religion, daß ein und derselbe Gott aller Menschen und Völker Herr und Vater sey, daß er nicht auf die äusserlichen Umstände sehe, wodurch sich Juden von andern Völkern ganz unmoralisch unterscheiden; sondern das Thun und Lassen der Menschen 722 [nach dem] Maße ihrer Erkenntnis vom Guten und Bösen beurtheile. In Christo, oder nach der reinen Lehre Christi von dem allgemeinen gleichen Verhältnis Gottes über alle Menschen, war nun der falsche Unterschied, den die Juden zum Vortheil ihrer Nation eingefürt hatten, ganz aufgehoben; Jude, 723Hellen, 724Skythe, 725alle Nationen haben eben so wenig schon einen moralischen Vorzug, als Mann und Frau, Herr und Knecht. Dis wissen wir aus den christlichen Urkunden, welche jetzt das neue Testament oder der neue Bund, die Grundstüze der neuen bessern Verehrung Gottes, heissen, welche nun fast in jedermans Händen sind, und in allen Sprachen gelesen werden können, um einen Inhalt der christlichen öffentlichen oder beson[10]dern Privat-Religion daraus zusammen zu sezen. Desto sonderbarer und auffallender ist es für uns, 726daß schon Tertullian am Ende des 2ten christlichen Jahrhunderts, und nach ihm andere christliche Lehrer, von einer dritten Nation reden; und daß sie die neue Nation der Christen neben Juden und Heyden sezen, daß sie also jenen jüdischen, blos jüdischen Unterschied, nun fortsezen, und Juden, Heiden und Christen neben einander stellen, um alle Menschen unter diese 3 Hauptklassen zu bringen. Da nun Juden und Heiden eine öffentliche National-Religion hatten, welche mit der bürgerlichen Gesellschaft allemal zusammen hing, und blos eine politische Absicht hatte: so legte man eben hiemit den Grund zu einer neuen politischen Gesellschaft, und die ganz andre moralische Natur der christlichen Religion, welche auf alle einzelne Menschen sich bezog, und eine bessere moralische Verehrung des besser erkannten Gottes mit sich brachte, wurde wieder in eine eben so unmoralische blos politische Religion verwandelt. Wenn man diese neue Religion einer dritten, von nun an sich ausbreitenden Nation beschreiben will: so muß man sagen, diese neue christliche Religion begreift [11] neue historische Grundsätze, welche sich von der politischen Historie der Juden und aller andern Nationen unterscheiden, damit die Menschen durch Vorhaltung grösserer äusserlicher oder sinnlicher Wohlfahrt sich von ihrer bisherigen bürgerlichen Gesellschaft losmachen, und in diese vortheilhaftere Gesellschaft der neuen christlichen Partey sich begeben. Daß dieser Endzweck keinesweges in der Lehre Christi und seiner Apostel gegründet sey: wissen wir so gleich, weil wir die christliche Urkunden oder neuen Bücher selbst lesen und ihren ganz gemeinnützigen Inhalt gewiß genug ausmachen können. Allein eben diese christliche Urkunden waren in den ersten 2 und 3 Jahrhunderten noch nicht in den Händen aller der Menschen, welche zu einer neuen christlichen Religionsgesellschaft eingeladen wurden. Der Inhalt dieser Bücher war daher noch lange nicht überall da bekannt, wo es schon christliche Gesellschaften gab; wir könten uns sonst den erstaunlichen Unterschied der Grundsäze und Meinungen eben so wenig erklären, als den gar schlechten moralischen Zustand so vieler Christen, selbst so vieler Personen, die schon zur Clerisey, oder zu den kirchlichen Obern gehören; welchen schlechten, ganz [12] unwürdigen Zustand wir doch theils aus den 727 elenden Schriftstellern, theils aus 728den lauten Klagen eines Cyprians, 729 Eusebius, (bey der 730Verfolgung unter dem Diokletian) 731 Hieronymus (etc.)et cetera so gewiß kennen, daß die gewönlichen guten Vorurtheile von dem Vorzug der so genannten ersten Christen, uns um so weniger irre machen können, als sie ohnehin nicht eine öffentliche Religionsform betreffen, sondern blos manche einzelne Christen angehen, deren wirklich gute Privat-Religion ihr eigener persönlicher Vorzug ist. Nachdem es wirklich mehr christliche Gesellschaften giebt, welche eben diese Urkunden der neuen Religion bey sich eingefürt haben: so ist dennoch die öffentliche Religionsform dieser Gesellschaften keinesweges Eine und dieselbe, wenn sie gleich nur durch das Beiwort christliche Religions-Ordnung von der jüdischen und allen heidnischen öffentlichen Religionsformen allesamt verschieden sind. Diese Verschiedenheit gleichzeitiger neuen Gesellschaften beruhete zwar häufig auf den sehr ungleichen äusserlichen und localen Umständen: es hatte aber auch die Verschiedenheit der Talente und der eigenen Einsicht der ersten Lehrer, einen fast eben so großen, eben so gewissen Einflus. [13] Und eben diese innere Ungleichheit der Christen, die eben so wenig von ihnen selbst abhing, als ihre locale Verschiedenheit ihres menschlichen Daseyns, erzeugete unumgänglich eine Privat-Religion zugleich, neben der äußerlichen öffentlichen Religionsordnung, in welche sie selbst mit einander einwilligten. Denn wie alle bürgerlichen Gesetze und öffentliche eingefürte Ordnungen sich nicht auf die innere stets ungleiche Fähigkeiten, Talente, Natur-Gaben oder Anlagen der Mitglieder in der Absicht beziehen, daß alle Bürger nun einander gleich gemacht und alle zu einer einzigen Stufe der Naturgaben erhoben würden, als welches geradehin unmöglich ist, sowohl an sich selbst als auch in Absicht einer gesellschaftlichen Verbindung, welche durchaus schon eine Ungleichheit und Verschiedenheit der sich verbindenden mehreren Mitglieder einschlieset, um durch zusammengesetzte ungleiche Kräfte desto gewisser den Endzweck, grösserer und gewisser Wohlthat, für alle Mitglieder zu erreichen: so hat auch alle öffentliche Religionsordnung, oder alle äusserliche festgesetzte Form eines gemeinschaftlichen Bekenntnisses der christlichen Verehrung Gottes, in einer bürgerlichen Gesellschaft, keines[14]weges die besondere Privat-Religion aller dazu fähigen Christen aufheben oder vertilgen können und sollen; wenn wir nicht eine rohe Tiranney und Beherrschung des Gewissens, oder der inneren Seelenkraft für die beste Verehrung der unendlichen Gottheit gelten lassen wollen, deren Unmöglichkeit wir doch alle schon eingestehen, wenn wir vernünftige würdige Verehrer des höchsten Wesens seyn wollen. So wenig der Eine Staat für alle andre Staaten, die von ihm nicht abhängen, eine allgemeine Regierungsform festsetzen kann: eben so wenig kann irgend eine christliche Religionspartey einen rechtmäßigen Grund haben, für alle andern christlichen Parteien eine allereinzige gemeinschaftliche öffentliche Religionsform einzufüren; und gar niemalen kan sich irgend ein Regent es vorsezen, 732alle Privat-Religion durch eine Vorschrift der öffentlichen gesellschaftlichen Religionsform zu hindern oder abzuschaffen. Es gibt kein bürgerliches Gebot und Verbot über die eigene Grösse und Anwendung des Verstandes und Urtheils; weil es keine menschliche Gewalt und Macht gibt, welche die logischen unbesieglichen Geseze des Verstandes und Urtheils einschränken könnte. Es gab also und gibt noch [15] immer neben aller äusserlichen Religionsordnung, welche für die Mitglieder einer Parthey auf eine schon bestimmte Zeit gehört, zugleich auch eine besondere Privatreligion, so gar als ausgemachte Pflicht aller fähigen Christen; wenn auch viele andere Christen jenes gemeinschaftliche bürgerliche Bekenntnis für die einzige und beste Verehrung der Gottheit ansahen, in so fern die bestalten öffentlichen Diener der Gesellschaft gewisse feierliche Handlungen verrichteten, bey denen andre Christen als Zuschauer und leidentliche Theilnehmer zugegen zu seyn pflegten. Je mehr eine eigene, tägliche, fortgehende Verehrung Gottes den Christen, welche keine Religionsdiener sind, ganz felet: desto weniger haben sie selbst moralischen eigenen Vortheil von jener fremden feierlichen Beschäftigung; sie sezen blos ihre äusserliche Rechte fort, wonach sie das öffentliche Amt der Religionsdiener in seiner Ordnung einmal wie allemal erwarten, und seine Vollziehung für gerecht und untadelhaft erklären. Hiemit üben sie blos äusserliche gesellschaftliche Rechte aus, wornach sie die Religionsdiener auch wälen, bestallen, oder wieder verabschieden. Diese ganze äusserliche gesellschaftliche Religionsform und gleich[16]förmige Religionsordnung, ist weder zugleich die beste Privatreligion oder besondere Verehrung Gottes, wie sie allen den so ungleichen Christen zukommen mag, welche Mitglieder der Gesellschaft sind: noch hat sie eine innere Unveränderlichkeit, da sie sich auf den steten innern und äussern Unterschied nach Zeit und Ort beziehet, wodurch die Menschen selbst immer schon von andern unterschieden werden. Es ist also auch die Absicht der öffentlichen Religionslehrer, der Religionsbeschützer, der gemeinen Mitglieder der Religionsgesellschaft, nicht geradehin eine und dieselbe; wenn wir diese Absicht nach dem ersten Anfange, nach dem Fortgange und der Ausbreitung dieser neuen Religion beurtheilen. Selbst der Inhalt der neuen christlichen Urkunden belehret uns von dem grossen Unterschied dieser Absichten; und so weit wir eine Historie der Christen kennen, finden wir die ganz gewissen Folgen der sich ausbreitenden neuen Religion so sehr ungleich und verschieden, daß man gar nicht daran zweifeln kan, welches die wirklichen Absichten der christlichen öffentlichen oder heimlichen Lehrer, der Regenten und Anhänger gewesen seyn. Wenn also gleich immer ein und derselbe Name, christliche Religion, [17] behalten worden ist, bis auf unsre Zeit: so ist es doch ganz ausgemacht, ganz unumgänglich, daß die unzäligen Millionen Christen, die sich auf dem Erdboden nach und nach ausgebreitet haben, weder einen und denselben Sachinhalt in ihren Vorstellungen, Urtheilen und Neigungen einmal wirklich angenommen und beibehalten haben, noch auch eine solche Einheit und Gleichheit zur Pflicht und zum moralischen Endzweck haben konnten. Blos in äusserlichen Veränderungen und Handlungen kan es ein und dasselbe Maas geben, sie können nach ihrem Anfang, nach ihrer Dauer bestimmt werden; da aber die Verehrung Gottes eine innere moralische Uebung ist, und die Bewegung des Verstandes und Urtheils von gar keiner äusserlichen Gewalt abhängt, so gar von unserm Vorsatz nicht abhängt, sondern unzäliger Modificationen fähig bleibt: so ist es freylich eine gar natürliche Begebenheit, daß die so ungleichen Menschen, welche christliche Grundsäze zur Verehrung Gottes annamen, weder in den Vorstellungen eines und desselben Inhalts noch in den daraus hergeleiteten Urtheilen und in der Anwendung überein kommen konnten. Diese stete unaufhörliche Ungleichheit [18] und Verschiedenheit ist bei allen Christen, die nicht ganz ein Echo und ein mechanischer Wiederhall todter Töne ihrer Lehrer sind; und sie erstreckt sich auf alle Lehrsätze der Gegenstände, welcher nun christliche heissen. Blos ganz dumme, ganz unfähige Menschen wiederholen alle Worte ihres Lehrers, so lange sie selbst keine eigene Vorstellung ihres Sinns oder Sachinhalts zusammen sezen; in allen fähigern, zum eignen Nachdenken aufgelegten Menschen erzeuget der Unterricht gleichsam einen unsichtbar, unvertilgbar wirkenden Samen, zur eignen Bewegung des Verstandes. Alle diese Ungleichheit und Verschiedenheit der Vorstellungen über die neuen christlichen Gegenstände, verändern nichts in der moralischen Art, oder in der Natur, und in den steten moralischen guten Folgen dieser neuen Vorstellungen; sie unterscheiden nicht nur eine besondere Uebung und Stufe der Gesinnung und Neigung des Christen, von der Uebung und Gesinnung der Juden und Heiden, so weit sie auf einer besondern Historie beruhet; sondern sie verändern auch die vorige innere Gemütsfassung des Menschen, durch die würdigern Begriffe von dem moralischen Verhältnisse Gottes, [19] daß er nun selbst in unaufhörlicher innerer Verehrung Gottes fortgehet. Diese innere Religion ist für den Christen um seines eigenen moralischen besten Zustandes willen die Hauptsache; ist für ihn ganz frey, und hängt blos von seiner eignen Erkenntnis alles moralisch Guten ab; oder er folgt seinem eigenen Gewissen, in seiner Privatreligion; läßt sich aber alle äusserliche oder öffentliche Religionsordnung gern gefallen, wie sie von der grössern Gesellschaft, oder von der Obrigkeit eingerichtet wird, weil der Endzweck derselben sich auf eine große Menge beziehet, die durch einerley feierliche Merkmale sich als Mitglieder einer localen Gesellschaft immer einander wieder zu erkennen geben wollen, und keinen Grund finden, warum sie zu andern Religionspartheien übergehen sollten. Dis ist wol vorläufig hinlänglich, um auf den steten Unterschied der öffentlichen christlichen Religionsform, die zur äusserlichen Vereinigung einer großen Menge zunächst bestimmt ist, aufmerksam zu machen; da hingegen die Privatreligion der einzeln Christen nur für sie selbst zu ihrem eigenen moralischen Wohlseyn gehöret, und nur durch ihr eigen Gewissen bestimmt wird. Wenn nun viele so genannte Chri[20]sten selbst keine tägliche immerwärende, innere Verehrung Gottes kennen und bedächtig anwenden, in allem ihren Thun und Lassen: so finden wir daher in allen Religionsparteien so viele Menschen, die einander so gar in allen Lastern, und in allen öffentlichen Bosheiten ganz gleich sind. 733Es giebt hie und da sehr nützliche Verzeichnisse öffentlicher Missethäter, die als Mörder, Räuber, geflissentliche Diebe, als Kindermörderinnen, Giftmischer (u. s. w.)und so weiter hingerichtet worden sind; (z. E.)zum Exempel Seit 100–150 Jahren, sind in diesen Stadt- oder Amtsgerichten öffentlich am Leben gestraft worden, folgende Personen, männlichen und weiblichen Geschlechts: Zwanzig waren katholischer Religion; 17 waren lutherischer Religion; 11 waren reformirter Religion; 30 waren jüdischer Religion. Muß man nicht durchaus erschrecken, über diese Erscheinung? In allen diesen Religionsformen liegt ein Bekenntnis der Verehrung Gottes zum Grunde; die ersten Grundsätze der neuen Religion der Christen brachten es mit sich, daß kein Christ von nun an als Mörder, Dieb, Ehebrecher, Uebelthäter der bürgerlichen Obrigkeit zur Ausrottung aus der Gesellschaft überliefert werden möge; weil [21] 734der Christ durch neue Erkenntnis gleichsam aus Gott geboren ist, der alle vorigen unordentlichen Lüste und Begierden ein für allemal verabscheuet und nun so in einem neuen Leben wandelt, daß er sein Licht in edlem Thun und Lassen zum Vortheil anderer Menschen leuchten läßt, daß auch diese zu eben solcher Verehrung Gottes gereizet werden, durch das anziehende Beyspiel so würdiger Menschen. Nun wiederhole man diese große Frage, was ist (jetzt, bisher,) die christliche Religion?

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2. Wie ist diese so ungleiche christliche Religion entstanden? die als eine neue Art oder Stufe der Verehrung Gottes sich von den damals bekanten öffentlichen Religionsgesellschaften mit Recht unterschied, und nun wieder, neben einer verschiedenen öffentlichen christlichen Religionsordnung, eine immer ungleiche innere Privatreligion mit sich brachte?

Auf die Frage wie – kann man nicht so geradehin antworten. Denn sie betrift zunächst zugleich die äussere und innere Historie, oder neue Geschichte der Christen; und einer neuen Religionsgesellschaft. Von diesem ersten Anfange einer neu[22]en Religionsgesellschaft, giebt es selbst unter den Christen keine eigentliche zuverläßige Nachricht; sie waren noch nicht öffentliche Gesellschaften, wurden also von Griechen und Römern nicht gelitten; sie hielten sich auch geheim, geraume Zeit. Daher die christlichen von einander noch unabhängigen Gesellschaften, sehr verschiedene Erzählungen, lange Zeit ohne Urkunden, freylich zu ihrer Empfehlung, zusammengesezt und ausgebreitet haben. Es ist aber genug geantwortet, wenn man sagt, die neue Religion der Christen entstund durch die Anname neuer Begriffe und jetziger Urtheile über eine bessere und allgemeinere Verehrung Gottes, als man in der bisherigen öffentlichen Religion der Juden und Heiden antrift. Diese neuen Begriffe und Urtheile von einer bessern würdigern Verehrung Gottes, haben sich zunächst durch die öffentliche Lehre des Jesus als des rechten Messias oder Christus, und nachher durch seine wahren Schüler, Apostel und Jünger, unter Juden und Heiden, immer unter ungleichen Umständen, in ungleichem Inhalte ausgebreitet. Es gab aber schon vorher manche richtigere moralische Begriffe, sowol unter den Juden als auch unter [23] den Heiden; die Liebhaber und Theilnemer aber hatten sich noch nicht zu einer neuen Gesellschaft öffentlich vereiniget. Unter den Juden selbst kommen 735in dem so genannten alten Testament sehr viel wahre Begriffe vor, daß die rechte würdige Verehrung Gottes gar nicht darin bestehe, daß jemand den Priestern und Leviten gewisse Geschäfte, an seiner Statt aufträgt; sondern in der innern Gesinnung aller Menschen selbst, wodurch sie nun ihr Thun und Lassen so gern selbst bestimmen, um den Absichten Gottes gemäs zu leben. In vielen Psalmen und manchen Stellen der so genannten Propheten findet man auch diese moralische eigene Religion. Nun 736hatten auch griechische Juden schon vielerley griechische moralische Aufsätze unter ihren Bekannten ausgetheilet; auch von der bald zu hoffenden Ankunft des Messias manche Vorstellungen aufgebracht und ausgebreitet; wie Pharisäer, 737Essäer und Sadducäer schon aus griechischer Philosophie von neuen viel genützt hatten zu einer sehr verschiedenen Beurtheilung der alten öffentlichen Religion, unter der alle Parteyen begriffen waren. Diese vorausgehenden Stufen werden auch in manchen Büchern des (N. T.)Neuen Testaments wieder [24] angefüret; aber es wird auch gefunden, daß diese neue bessere Einsicht von der Allgemeinheit Gottes und seinen steten Absichten zum moralischen Besten aller Menschen, 738ehedem noch ein Mysterium, oder unbekannt, nur sehr wenig bekannt gewesen; von nun aber durch jetzige neue grössere Offenbarung Gottes, (oder durch Belehrung, die Gott unter diesen Menschen beförderte) überall ausgebreitet werden solle, ohne Unterschied der Nation. Diesen Jesus Christus nennen die Apostel und neuen Lehrer ihren einzigen moralischen Herrn, weil, nach ihrer neuen Einsicht, die Menschen nicht mehr unter dem Moses, oder unter den 739vielerley Engeln und Geistern stehen, welche die Juden seit der griechischen Uebersezung der so genannten 740 LXX, über die 741Goim, oder Heiden, über die (Heiden) Welt zu sezen, angefangen hatten. Die Christen wissen es nun, daß alle Menschen unter einem Gott stehen, wie die Christen unter Einem Herrn, unter dem rechten Sohn Gottes sind, der alle jene Geister ihres Gebiets über die Menschen entsezt, und die Menschen von aller bisher vorausgesezten Gewalt des Teufels physisch oder moralisch erlöset hat. Diese neuen [25] bessern Begriffe und Urtheile beziehen sich zunächst auf die vielen Vorurtheile und Meinungen, welche nach und nach unter den Juden, durch Pharisäer und 742Rabbinen, und durch griechische, politische auch wohl fanatische [Schriften ausgebreitet] worden waren; wozu selbst der Name und die angebliche Bestimmung des Messias zeither schon gemisbraucht worden war. Je mehr diese jüdischen, allerdings jüngeren Vorurtheile oder politische Irrtümer der Rabbinen, erst gesammlet und zusammen gesetzt werden, welches die meisten ältern Ausleger des (N. T.)Neuen Testaments noch nicht thun konnten: desto gewisser und verständlicher werden nun viele Stellen des neuen Testaments, über deren unrechte Mischung und schon lange fortgehende Wiederholung die fähigern Christen zeither wenig gute Anleitung, also manchen Anstos gehabt haben. Eben diese bessern Einsichten und Urtheile, welche den Anfang einer christlichen Religion ausmachen, hätten unter den nunmerigen Christen als neue itzige christliche Vorstellung und Einsicht fortgesezt und immer mehr als unsre christliche Erkenntnis, befördert werden sollen; dafür aber hat man gar die Christen geradehin angewie[26]sen, alle jene jüdischen Meinungen und Vorurtheile als aus göttlicher Offenbarung hergekommene Lehren, in ihrem eigenen Gemüte vollständig zu bewaren, selbst zu glauben oder für allgemeine Religionswahrheiten zu halten; welches doch der christlichen neuen Religion ganz entgegen ist, daher auch diese anfangende christliche Religion gar als eine unveränderliche Summe von stillstehenden Kenntnissen endlich angesehen worden ist. 743 Dieser folglich blos historische Glaube von äusserlichen ehemaligen Wirkungen hat freylich auch die großen neuen Früchte unter den Christen nicht zunächst ausbreiten können, in welchen gleichwohl die christliche Religion bey jedem Christen bestehen sollte, wenn diese neue Verehrung Gottes nach seinem eignen Gewissen eben so in ganz andern äusserlichen Umständen entstehet, wie sie damals entstanden.

3. Wer ist denn, oder wer war dieser Jesus als wahrer rechter Messias im Unterschied der falschen jüdischen Meinung, von einem National-Messias, oder politischen Wohlthäter ihrer Nation?

[27] Diese Frage ist theils historischen theils moralischen Inhalts; daher denn selbst die sehr ungleichen Anhänger dieses Stifters einer neuen Religion, gar verschieden antworteten; nachdem sie theils diese oder jene Bücher, die zur neuen Religion gehörten, oder die Urkunden ihrer neuen Religion annamen, theils so oder so, selbst gebrauchten und erklärten. So ungleich die neuen Urkunden der christlichen Religion so wol an sich selbst sind, als auch von den Lehrern der christlichen Religion erklärt und verstanden werden: so konnten doch gewis alle Christen aller Zeiten und aller Parteien darin erkennen, daß Jesus, als der rechte Messias und Sohn Gottes, der rechtmäßige, annemungswürdige Stifter ihrer neuen Religion seie; daß Gott durch die Lehre des Jesus eine bessere Erkenntnis und Verehrung des höchsten Wesens aufgestellet habe, als die jüdische und heidnische gewönliche Religion bisher in sich begriff; daß alle Menschen nicht blos eine öffentliche Religion, und bestellete Religionsdiener haben, sondern auch eine eigene moralische Religion selbst immer besser ausüben müssen, nach dem Inhalt ihrer eigenen Erkenntnis des viel grössern und unendlichen Verhält[28]nisses Gottes; welches moralische Verhältnis Gottes weder in der jüdischen noch heidnischen öffentlichen Religion, so gut und richtig schon enthalten war, als es nun die Grundsätze die Jesus lehrete, wirklich immer mehr entwickeln sollten. Diese Grundsätze stunden theils dem ganzen bisherigen Judentum, theils dem jetzigen Heidentum entgegen und empfahlen freylich eine höhere und reinere Moral, bessere Erkenntnis Gottes, wider alle jene sinnlichen Lüste und Begierden, welche Juden und Heiden mit ihrer öffentlichen Religion immerfort so gar beschützen und vereinigen konten. Noch für sehr wenige Liebhaber war diese moralische innere Religion, die keine äusserliche Revolution versprach schon umständlich oder annemlich; sehr viele Zeitgenossen hingen an einen historischen politischen Messias, der bald eine bürgerliche glückliche Revolution nach ihren sinnlichen Wünschen, bewerkstelligen sollte. Die Briefe Pauli und anderer Apostel lehren und empfehlen die moralische eigene Religion, und lassen den äusserlichen bürgerlichen Zustand aller Menschen das ferner seyn, was er schon war. Aber es waren schon allerley historische Erzälungen von dem, was der Mes[29]sias zur Vertilgung der Heiden thun werde, ausgebreitet worden nach den Wünschen und Erwartungen der gemeinsten Juden. Wider diese fanatischen falschen Beschreibungen des Messias, wozu man auch schon Stellen der Propheten gemisbraucht hatte, sind die noch übrigen 4 griechischen Evangelia damalen gerichtet, worin die algemeine moralische Bestimmung des Messias der Hauptinhalt ist, der zur Belehrung der damaligen Heiden eine solche Einkleidung bekommen hat, wie sie für diese Zeiten das schicklichste Mittel war, sie endlich zur Veränderung ihrer jüdischen Grundsätze und Vorurtheile und eigener neuen Erkentnis und Ueberzeugung zu bringen 744(μετανοειν, πιστευειν.) Aus solchen neuen Urkunden, aus mehrern oder wenigern, haben die Theilnemer an einem Messias ihren neuen Religionsbegriff von Zeit zu Zeit hergeleitet, und sich immer mehr in neue christliche Parteien oder Familien äusserlich getheilet, die daher auch auf diese Frage: wer ist Jesus Christus? gar verschiedene Antwort zu geben pflegten; alle aber nur Anhänger einer neuen Religion waren, die von dem Stifter Christus, die christliche Religion heißt; ohne daß alle Parteien eben den[30]selben Inhalt oder Lehrbegriff der christlichen Religion hatten, der allemal local ist, oder in besonderer Localität ungleich gesammlet wurde.

4. Welches sind denn die neuen Urkunden, oder die neuen Grundbücher der christlichen Religion, durch deren so verschiedene Anname und Erklärung die Christen sich in so viele Parteien immer getheilt haben, da sie nun selbst öffentliche christliche Religionsformen einfürten?

Sie werden unter den Namen neues Testament, oder neuer Bund begriffen; dieser Name bezieht sich auf den alten Bund, oder das alte Testament, welches die öffentlichen Urkunden der jüdischen Religion und ältere Geschichte dieses Volcks begreift. Diese jüdische Religionsordnung 745hieß ein Bund, den Gott mit dem Patriarchen Abraham schon gemacht, und nachher durch den Moses noch mehr wider alle andre Religionsformen aller andern Völker, bestätiget habe. Dieses mosaische Gesez, welches die ganze Nation der Juden zusammen hielt, wurde nach und nach von der viel [31] bessern eigenen innern Religion, wozu weder Tempel noch Priester gehören, immer mehr unterschieden; daher selbst in jenen spätern Schriften der Juden, die hinter den so genannten Büchern Mosis gesammlet wurden, schon von dieser rechten moralischen Religion, oder von dem 746 bessern Bunde, als der mit den Vätern und Vorfahren des Volks errichtet worden war, gleichsam von weitem Anzeige und Belehrung vorkommt, wornach einst 747alle Heiden, alle Völker Gott loben und preisen, und ein reines Opfer bringen möchten in allen Ländern und Inseln; ohne jüdisches Gesez, oder ohne die jüdische Nationalreligion annemen zu müssen. 748Diese Prophezeiungen oder Weissagungen reden zuweilen, (können wenigstens so verstanden werden,) von einem besondern Knecht oder Diener Gottes, von einem rechten König, oder Gesalbten Gottes, Messias, durch welchen Gott die Ausbreitung seiner Erkenntnis, und den Wachsthum der moralischen Welt befördern würde; wenn gleich viele zumal griechische Juden in einer engen patriotischen Denkungsart dergleichen Stellen blos von einer politischen Wohlfahrt und Erhebung ihrer Nation durch einen politischen Messias zu verstehen pfleg[32]ten. In allen Büchern des neuen Testaments werden daher solche ältere jüdische Anzeigen, um dieser Juden willen, welche eine höhere moralische Gesinnung nach und nach annemen solten, häufig eingemischt mit der 749Nachricht, daß dieses nun erfüllet seie, oder eintreffe an diesem Jesus als Christus; alle andern schon gewönlichen Erwartungen aber keinen vorzüglichen Grund hätten. Durch solche jetzige neue Urtheile wurden immer mehrere damalige Juden in eigenem Nachdenken, überzeugt; sie verliessen also nach und nach die alten jüdischen Grundsätze, und ergriffen diese neue bessere Religion; freylich noch in sehr ungleichen Stufen; daher auch diese Bücher des (N. T.)Neuen Testaments einen sehr ungleichen Inhalt haben. Die historische Existenz dieser nun erst anfangenden neuen Religionsgesellschaft der Christen wird durch diese Bücher so beurkundet, daß über diese neue Begebenheit gar kein Zweifel statt finden kann. Es entstehen mehrere neue Religionsgesellschaften im ganzen römischen Reich, und in andern bekannten Ländern; man muste viele Mitglieder nun auch thätig unterstützen, da sie bey den Juden keinen Unterhalt mehr fanden, daher entstund eine gesellschaft [33] liche Einrichtung, wo es an Verschiedenheit nicht fehlen konnte. Diese Verschiedenheit und Vielheit der neuen Religionsparteien wird durch diese neuen christlichen Schriften selbst immer mehr vergrössert; indem auch aus manchen Gründen oder Absichten, einige Lehrer oder Urheber neuer Gesellschaften so und so viel aus der jüdischen Religion, oder aus anderer Völker Gebrauch oder Cultur, mit in diese Religionsformen einmischten; wie hingegen andre Christen alles jüdische ganz absonderten, durch ihre bessere Erkenntnis; nachher hat man alle neuen Bücher und alle neuen Traditionen zu vereinigen gesucht, um desto mehr eine einige grosse Gesellschaft zu verschaffen.

5. Ist denn ein jedes Buch dieses neuen Testaments dem Inhalte nach den übrigen gleich, daß also eins so gut als das andere eine Urkunde der neuen oder christlichen Religion abgeben kann?

Wenn auf den neuen Grund und Inhalt gesehen wird, wie er dem unmoralischen Juden- und Heidentum entgegen stehet, kan man diese [34] Frage wirklich bejahen. Denn diese neue Religion hat noch nicht ihre ganze Ausbreitung und bestehet nicht in einer einzigen gleich grossen Summe der neuen Einsichten und Urtheile von einer bessern Gottesverehrung, als bisher die gemeinste jüdische und heidnische Religion enthielt. Die 3 neuen Grundbegriffe der christlichen Religion, die sich auf Vater, Sohn und Geist Gottes beziehen, kommen in allen diesen Büchern vor; aber ohne eine feststehende Bestimmung der Vorstellungen, die dazu gehören. Daher sich eben die Christen am allermeisten über diese 3 Grundbegriffe und ihre Verknüpfung, wenn sie gleich nun zur christlichen Religionssprache, einmal wie allemal gehören, getheilt haben. Das Allgemeine davon könnte wol so angegeben werden. 1) Es ist ein einiger Gott, aller Menschen, sowol Juden als Heiden, gemeinschaftlicher Vater und Oberherr. 2) Es ist kein solcher Messias, wie ihn die Juden beschreiben, zu erwarten. Dem Sohne Gottes muß man ein eben so allgemeines Verhältnis über die ganze unsichtbare moralische Welt beilegen, als das Verhältnis des Vaters ist, daß er aller Heiden moralischer Herr und Wohlthäter [35] ist. Der Sohn Gottes und Messias, lehrt die allgemeine Gnade und Liebe Gottes zum moralischen Besten aller Menschen; ihr moralischer unglücklicher Zustand mag so oder so von ihm beschrieben werden. 3) Der Geist Gottes wirket nicht blos unter den Juden in ihren Propheten, sondern unter allen Menschen, zur Beförderung der Absichten Gottes in der ganzen moralischen Welt. Da aber diese einzelnen Bücher eine lokale, historische besondere Veranlassung hatten, und ihre erste Leser sich unter sehr ungleichen Umständen befanden: so ist auch der Inhalt und seine Einkleidung in einem verschiedenen Maase, mit damaliger Einschränkung abgefaßt, und nicht in allen gleich viel von dem Sohn und Geist Gottes gesagt worden. Manche Leser oder erste Schüler der neuen Religion hatten schon eine andere Uebung und Vorbereitung, als viele andre noch nicht hatten; zumal durch den Gebrauch der griechischen Uebersezung und anderer moralischen Schriften, die von 750 alexandrinischen Juden herkommen. Daher selbst die Beschreibungen, die den Sohn Gottes angehen, in diesem N. T. nicht einander gleich sind; wenn in manchen Schriften so gar jüdische Traditionen und Mei[36]nungen von Engeln vorkommen, ohne hiemit Vorschriften für alle ganz andern Christen zu werden. Der Unterschied zwischen 751moralischen Kindern, Unmündigen, oder fleischlichen, sehr unfähigen, sinnlichen Christen, wird selbst in diesen Büchern angezeigt, die 752starke Speise, oder allgemeine Begriffe noch nicht alle vertragen können; die von dem Christus noch immer manche äusserliche Revolutionen, oder ein 753tausendjähriges Reich auf Erden, erwarten; weil sie unter dem Subjekt, Christus, Sohn Gottes (etc.)et cetera einen kleinern halbjüdischen Begriff hatten (etc.)et cetera

6. Da es also ausser diesen Büchern des N. T. damalen noch manche andre Schriften gegeben hat, die schon ihre Liebhaber hatten; als eben diese LXX und so genannte 754 Apocrypha, oder ihres Inhalts wegen geheim gehaltenen Bücher: aus was für Grunde hat man nun nachher so verschiedene sehr ungleiche Schriften, gleichwohl in ein zusammengehöriges Ganzes vereiniget, und sie unter dem Einen Namen neues Testament allesamt begriffen? Sie gehörten nicht gleich gut für alle Christen, wie moralische Kinder und Er[37]wachsene oder Männer sehr ungleiche moralische Narung haben müssen?

Dieser Name, neu Testament, als Inbegrif oder Anzal neuer Bücher der Christen, ist wie das Wort Evangelium für Historie Christi in Palästina, ein jüngerer Sprachgebrauch, der unter den Christen aufgekommen ist, da sie schon sich weit ausgebreitet und Kentnis von vielen solchen Büchern hatten. Einen neuen Bund, neue bessere Grundsäze von innerer Verehrung Gottes, ohne mosaisches Gesez, das nur für Juden gehörte, hatte Jesus, als rechter Christus, zu empfehlen angefangen; und durch seinen Tod bestätigt. Nun konte man kein weltlich Reich des Messias weiter erwarten. Diese neuen Grundsäze an sich selbst, ohne die und jene Einkleidung, machten den neuen Bund, oder den Grund einer bessern Religion aus. In allen diesen freylich sehr ungleichen Büchern gehört die Einkleidung oder die Lehrart nicht selbst, einmal für allemal, zu dem Sachinhalte dieser bessern Religion, oder zur Vorschrift einer einzigen Vorstellung; sondern ist eine damalige, vorübergehende Modification des Unterrichts, nach der [38] ungleichen Fähigkeit dieser Zeitgenossen. Da sie nemlich durch manche Schriften oder Traditionen bisher schon allerley Gedanken und Meinungen angenommen hatten von einer Historie des Messias: so musten die Lehrer der bessern Religion auf diese Denkungsart so weit sehen, um sie, ohne jetzigen Anstos, wirklich auszubessern, das nur moralisch oder durch eigenes Nachdenken dieser Schüler nach und nach erst statt finden und die vorigen Ideen auslöschen sollte. Es waren also diese Aufsäze freylich so ungleichen Inhalts, als die Fähigkeiten der ersten Schüler ungleich waren, für welche sie bestimmt wurden. Diese Schriften waren also auch nicht an mehr als Eine Gesellschaft in Einer Stadt oder Provinz zuerst gerichtet; erst mit der Zeit wurden diese verschiedenen Gesellschaften mit einander bekannt, und fanden also auch andere mehrere neue christliche Schriften oder einzelne Urkunden, die ihnen bisher noch nicht bekannt waren. So wenig Ein gemeinschaftliches Oberhaupt aller dieser erst entstehenden neuen Gesellschaften da war, 755wie denn aus der Apostelgeschichte und dem Briefe Pauli an die Christen in Galatien schon die grose erste Theilung ersehen wird, [39] der Christen aus den Hebräern, und aus den Hellenen: eben so wenig stunden alle diese Christen schon in einer Verbindung, die ja auch, wegen Entfernung der Christen von einander und fortgehender Ausbreitung dieser neuen Grundsäze in mehr Länder eben so wenig möglich war, als wenig eine solche immer nur äusserliche Vereinigung zur eignen bessern und richtigen Religion der einzelnen immer ungleichen Christen, irgend etwas beitragen konnte. Es entstund also erst später im 4ten Jahrhunderte, daß die [Vorsteher] der localen Gesellschaften besonders die Bischöfe, in eine nähere äusserliche Vereinigung traten, und auf eine besondere neue gleichförmige Regierungsart aller Christen dachten, durch eine äusserliche Vereinigung unter sich selbst. Diese 756 Verbrüderung der Bischöfe gehört blos zu einer äusserlichen Absicht; gar nicht zur vorzüglichen christlichen Religionsform in Absicht aller Christen, oder zu ihrer Privat-Religion. Die Bischöfe tauschten also die bisher einzeln daseienden Urkunden gegen einander ein, und so entstund eine Sammlung aller jener zerstreueten Urkunden, 757unter dem Namen Canon; oder ein kirchliches Verzeichnis aller der [40] Schriften, welche die Bischöfe als rechtmäsige Urkunden der (öffentlichen, gemeinschaftlichen) christlichen Religion von nun an in ihren kirchlichen oder localen Gesellschaften gelten lassen wolten; nur aus solchen Büchern wurden die vorzulesenden Texte durch die Religionsdiener von nun an genommen. 758Es wurden daher sehr viel andre bisher freistehende Schriften, allerley Evangelia, Geschichten und Briefe der Apostel, Offenbarungen (Prophezeiungen) von nun an den Kirchenbedienten, oder Clericis, untersagt, und nur unsre 4 Evangelia, Eine Apostelgeschichte des Lucas, 75913 oder 14 Briefe Pauli, 7 oder 4 Briefe anderer Apostel, und eine Offenbarung Johannis, zum neuen Testamente, bey der katholischen bischöflichen Partey endlich gerechnet; und hiedurch eine äusserliche Vereinigung der sonst einander noch nicht unterworfenen Kirchen und ihrer Obern, zu Stande gebracht, also der Grund sehr sicher gelegt, zu einer Herrschaft der kirchlichen Obern über die bisher äusserlich noch freien Christen; welches der Grund einer äusserlich sehr gleichförmigen Religionsform worden ist, wodurch die an sich freie christliche Privat-Religion, die auf der eigenen noch so [41] unterschiedenen Erkenntnis immer beruhet, immer mehr verdunkelt, und selbst das 760Wesen der christlichen Religion, die innere heilige Wirksamkeit zur täglichen Besserung und Vollkommenheit der einzelnen Christen, gar sehr unterdrückt worden ist.

7. Haben denn alle diese Bücher bei den Christen einerley Göttlichkeit, oder eine gleiche göttliche Auktorität für alle nachherigen Christen, daß der Inhalt aller dieser Bücher von allen Christen als Theile ihrer eigenen Erkenntnis, einmal wie allemal behalten und unverändert fortgesezt werden muß?

Wenn diese Frage historisch ist, ob die Bischöfe und Lehrer der christlichen öffentlichen Religion dieses bejahet und alle Christen dazu angehalten haben, diesen schlechten Gebrauch dieser Bücher als ihre christliche vornehmste Pflicht anzusehen: so muß man die Frage bejahen. Die Bischöfe haben allen diesen Büchern und ihrem ganzen Inhalte geradehin einerley göttliches Ansehen beigelegt, und allen Christen diesen ganzen Inhalt, so ungleich er ist, als eine von Gott herkommende allgemeine Beleh[42]rung immer fort zu denken und zu behalten anempfolen; damit sie selbst gar keine neuen christlichen jetzigen Einsichten und Urtheile anfangen solten, als wodurch sie geradehin ewig verdammt würden. Indes, obgleich die meisten Christen sich dieser bischöflichen Kirchenordnung unterworfen haben, da sie noch dazu weder griechisch, noch auch die ältern Uebersezungen verstunden, weil sie eine jüngere Landessprache hatten, also über den Inhalt der Bücher gar nicht selbst in ihren ganz andern Umständen nachdenken konnten: so stunden doch oft einzelne fähigere Lehrer auf, welche diese Last erleichterten. Die Bischöfe hatten die irrige Meinung (wol von griechischen fanatischen Juden) daß jene so genannte LXX Uebersezung aus einer göttlichen Inspiration ihrem Inhalte nach entstanden seie; und 761schon Justinus und nach ihm mehrere bis noch auf den Augustinus, glaubten, diese LXX enthielten durch Inspiration ihrer Verfasser den wahren Grund aller christlichen Religion so gar durch solche Stellen, die im Hebräischen Texte gar nicht oder ganz anders stunden. 762Daher sich unter den Christen eben diese Meinung auch in Absicht der Bücher des (N.)Neuen [43] (T.)Testaments geradehin ausbreitete; und sich bis kurz vor unserer Zeit bei den meisten Theologis, oder Verfassern theologischer grosser und kleiner Lehrbücher für Kandidaten des Lehramts erhalten hat, daß so gar alle Worte und alle Wortfügungen aus göttlicher Inspiration herkämen, und also einen Stillestand eigener jetzigen Erkentnis mit sich brächten, durch blose Wiederholung alles jenes Inhalts in diesen Büchern. Nun man aber nach und nach die Geschichte des Textes des (N. T.)Neuen Testaments etwas genauer zu sammeln angefangen hat: so sind wenig christliche Lehrer ferner so unwissend, daß sie Gottes unaufhörliche Wirkung oder Inspiration ferner an jene griechische Worte und ihren dortigen Inhalt fesseln wolten, da diese Worte geradehin allesamt in vielerley Veränderungen und Umtauschungen angetroffen werden, also auch nicht eine feststehende Summe der Gedanken enthalten können. Gottes Wirkung in den Aposteln oder Verfassern dieser Schriften, auf ihren Verstand und Urtheil zu einer neuen Erkenntnis ist uns nun genug. Es behalten aber alle Christen es frey, ihrer eignen Erkenntnis auch hier zu folgen; und die göttliche Auctorität aller dieser Bücher gerade[44]hin zu behalten; alle Worte für göttlich eingegeben zu halten; so lange sie jene Historie des Textes nicht wissen, oder aber nur auf den Inhalt und Werth der Wahrheiten vornemlich zu sehen, welche in allen Sprachen nun eben dasselbe Verhältnis haben, und die christliche Religion immer über das Juden- und Heidentum erheben, wenn auch nicht aller sogar wörtlich verschiedner Inhalt dieser Bücher zu den Bestandtheilen dieser bessern Religion in Absicht aller und jeder Christen gehören kan.

8. Aber muß denn der Inhalt des Einen Buches mit dem Inhalte aller andern Bücher als ein vollständiges Ganzes zusammen gesezt werden? Haben die Christen würklich in Absicht der christlichen Religion, oder neuen moralischen Verehrung Gottes, vorzüglichen Nutzen davon, wenn sie aus allen diesen Büchern alles zu einem ganzen System oder Lehrbegriff, einmal wie allemal, für sich zusammen sezen?

[45] Man muß wol den so ungleichen Christen, deren Lehrer sogar ebenfals sehr ungleich waren, es frey lassen, hierüber für sich zu entscheiden, sowol in Ansehung der öffentlichen als der Privat-Religion. Freilich hat Christus selbst nur vornemlich mit Juden zu thun gehabt, und es gab den Unterricht damals noch nicht vor dem Ende der Historie Christi, den die Apostel nachher, ebenfals stufenweise, bekannt machten. Kein Apostel hat die Vorschrift gegeben, daß alle nachherigen Schüler, die keine solche Juden waren, eben so behandelt werden solten als die damaligen Juden. Es waren auch diese vielerley Schriften vom Anfange an, über 300 Jahre lang, nicht alle zusammen gesammlet, daß man aus allen alles hätte zusammen sezen können. Da nun alle Christen ihre eigene Erkenntnis und Glauben an Vater, Sohn und heiligen Geist immer mehr erweitern, nicht aber die Meinung der damaligen Juden schon gar ihrer christlichen Religion einrechnen sollen, die bey den Juden noch gar nicht anzutreffen war: so kann es wenigstens nicht eine allgemeine Vorschrift für alle Christen heissen, wenn auch manche Christen eine solche Mischung jener Erzälungen und Anzeigen, [46] würklich zum festen Grunde und Inhalte ihrer eigenen jetzigen Religion rechneten. Der Grund der christlichen neuen Religion begreift nicht die jüdischen Meinungen von Engeln, Dämonen, 763Schoos Abrahams (etc.)et cetera sondern neue, freie, moralische Wahrheiten, welche Christus freilich im Umgange mit Juden also eingekleidet hat, daß er ihren Eingang bei den Juden nicht selbst erschwerte. Die Absicht aller dieser Bücher war doch wirklich, daß nun neue Gedanken und Urtheile, und eine neue jetzige Erkenntnis immer weiter entstehen sollte, in den Theilnemern an einer neuen moralischen Religion. Diese eigene neue Erkenntnis, wodurch man jetzt selbst ein Christ wird und bleibt, stehet noch nicht in diesen Büchern in einer entschiedenen und ausgemachten Vorschrift oder Verknüpfung da; wenn gleich die damalige Meinungen der Juden, welche Christus oder die Apostel besser belehren wollten, oft vorkommen und gemeldet werden mußten. Die Denkungsart der Juden konnte nicht so gleich in eine neue schon ganz christliche verwandelt werden, weil sie an eine jüdische Farbe gewönet waren; aber es stehet nun bei den Lehrern und Christen, was sie von dieser dama [47] ligen localen Modification und Lehrart jetzt zur christlichen neuen Erkenntnis rechnen wollen. Es gehet nun nach der Abtheilung 764in jener Parabel; ein Acker trägt 10–20, ein andrer 60 fältig; oder die Fähigkeit der neuen Christen ist sehr ungleich; sie müssen wenigstens nicht alle in ein einziges Maas gestellt werden, was ihre Privat-Religion betrifft. Sie mögen diese aus diesen Büchern in freier Wahl und [Beurtheilung] sich gewissenhaft aussuchen; wenn auch die öffentliche gesellschaftliche Religionsübung einer feststehenden Ordnung folget, welche sie in Absicht auf den öffentlichen Gebrauch dieser Bücher, bei einer großen Gesellschaft, so oder so angenommen hat.

9. Warum haben aber die Christen aller Parteien aus allen diesen Büchern für ihre öffentliche Religionsform eine feststehende Summe von Lehrsäzen zusammen getragen, von welcher Summe jede Partey die wahre christliche Religion und die ewige Seligkeit aller Christen oder Menschen abhängen läßt?

[48] Diese lezte Meinung kan zwar auf dem Gewissen der Lehrer beruhen, und folglich auch die Gewissen solcher Christen verbinden, welche keine andere Einsicht haben. Im Grunde aber haben alle diese so ungleichen Lehrbegriffe nur eine äusserliche Absicht; nemlich die Vereinigung einer großen Menge zu einer besondern christlichen Religionsgesellschaft zu Stande zu bringen, und nun fortzusezen. Die jedesmaligen Urheber einer solchen Religionspartei hatten über diese Bücher oder Urkunden der christlichen Religion nicht einerley Grundsätze, und konnten sie nicht haben; sie waren aber immer die Anfänger einer besondern christlichen Gesellschaft, und sezten also den gemeinschaftlichen Lehrbegriff feste, der ihre Gesellschaft von andern unterschied, und alle ihre Mitglieder immer durch einen gleichförmigen Unterricht in eben dieser Gesellschaft erhielt, und die Mitglieder anderer christlichen öffentlichen Parteien ganz gewis immer absonderte, um äusserlicher Umstände willen, die schon voraus lagen. Es wurde also eine gleichförmige Erklärung und Anwendung dieser Bücher in jeder besondern Gesellschaft eingefüret mit jetziger Einwilligung der Mitglieder; wo[49]durch diese einmalige Verbindung einer Religionsgesellschaft immer fortgesezt, und die Vermischung mit einer andern Religionspartey oder die tägliche Spaltung und Zerrüttung nun verhütet wurde. Diese allererste äusserliche Absicht der immer neuen Anfänger christlicher Gesellschaften, ist historisch gewis; und diese Vereinigung durch eine gleichförmige öffentliche Lehrordnung war ganz rechtmäßig, da es eine allereinzige allgemeine Lehrordnung weder gab noch geben konnte, die eines göttlichen Ursprungs wegen, oder wegen ausgemachter höchster Vollkommenheit, für alle Christen aller Zeiten schon gehöret hätte. Wenn aber nun Lehrer gar behaupteten, eben diese ihre Lehrartikel in ihrer Religions-Gesellschaft, die sie aus dem (N. T.)Neuen Testament gesammlet hatten, enthielten allein und ausschliessungsweise den wahren Grund der christlichen Verehrung Gottes, und der Wohlfart und Seligkeit, welche Christus wider alle blos äusserliche Religionsordnung so deutlich aufgestellet, gelehret und zuerst für Christen möglich gemacht hat: so ist diese Behauptung schon eine kentliche Abweichung von dem unendlichen Grunde und freien Umfange der christlichen Wohlfart, in besserer Erkenntnis [50] und [Verehrung] des unendlichen Gottes. Denn 765die Erkenntnis und Verehrung Gottes im Geist und in der Wahrheit oder die immer vollkommener wird, und stets ohne äusserliche Einschränkung ist, kan von keinen Bischöfen und Lehrern oder Befehlshabern in ein einzelnes Maas gefasset werden, ohne eben diese vollkommnere fortgehende eigene Erkentnis durch menschliches abermaliges Ansehen unrechtmäßig zu hindern, und in einem einzelnen Kreise herum zu schieben, daß also der Christen eigene freie moralische Verschiedenheit geradehin aufgehoben würde. Der Unterricht Christi und der Apostel hatte kein vorausliegendes festgesetztes Maas, sondern wurde nach den Fähigkeiten der Zuhörer eingerichtet, um sie alle, jeden in besonderer Stufe zu der eigenen, gegenwärtigen, und fortwachsenden Religion anzuleiten. Daher ist auch keine Vorschrift, kein Model oder fester Maasstab für alle Lehrer abgegeben worden; weil ihre Zuhörer nicht immer eben dieselben und unter eben denselben Umständen seyn [konnten.] So bald aber eine grössere Menge von Schülern sich angab, die allesamt zur christlichen Gesellschaft aufgenommen werden wolten: so konnte der Lehrer nicht [51] mit allen einzelnen handeln; und es entstunden nun Lehrformen, wodurch viele oder alle Schüler als wirkliche Glieder dieser Gesellschaft einander erkennen solten; es blieb aber ihre moralische Ungleichheit, wie sie war, wenn sie nicht gesellschaftliche Zusammenkünfte hatten. Da es nun immer mehr viel so genannte Clericos gab, oder Kandidaten, die in den öffentlichen Lehrstand treten oder öffentliche Religionsdiener werden wollten: so wurden auch den Clericis von den Obern oder Vorstehern, dergleichen Vorschriften ihres öffentlichen Lehramts, das sie für mehrere Mitglieder zugleich öffentlich füreten, gegeben. Wenn diese Christen ihre grössere innere Volkommenheit von eben dieser neuen christlichen Sprache, oder buchstäblichen Lehrartikeln schon erwarteten, ohne eigene fortgehende moralische Uebung und Fertigkeiten: so irrten sie freylich, sogar im Grunde einer eigenen besondern Verehrung Gottes; wenn gleich leider die Clerisey sich durch solche ganz falsche Behauptung immer mehr, nicht als Lehrer, sondern als Gebieter und Befehlshaber geltend machte. Aller Erfolg von solchen Lehrformen war in jeder Partei zunächst nur ein äusserlicher; die Fortse[52]zung der gemeinschaftlichen Rechte dieser Religionsgesellschaft. Wenn Christen wirklich innerlich bessere Menschen, bessere Verehrer Gottes selbst wurden, so entstund dis durch ihre eigene Uebung, nicht durch die Lehrartikel, wie sie in der kirchlichen Sprache unverändert von allen Mitgliedern gemeinschaftlich, öffentlich wiederholet werden. Alle Lehrartikel, deren Inhalt eine Religionspartey jezt bestimmt und festsezt und bei ihren Lehrern und Mitgliedern öffentlich, gemeinschaftlich darauf hält: haben durchaus nur einen äusserlichen Endzweck; auf den die grössere Gesellschaft freylich bei den versamleten Gliedern halten kann; weil jede äusserliche durch Vertrag errichtete Religionsform, der Maasstab seyn kann, wornach die Gesellschaft ihre Lehrer und Mitglieder beurtheilt, ob sie dem Vertrage noch entsprechen. Ueber die innere Religion aber kan die Gesellschaft nichts verordnen; sie gehört in die unsichtbare moralische Welt, nicht in die bürgerliche.

10. So haben also die so vielen Parteien der Christen lange Zeit die öffentliche gesellschaftliche Religionsform, die von Menschen eine Ordnung bekommt, der fernern gesellschaft[53]lichen Verbindung wegen gar verwechselt mit der eigenen Privat-Religion aller fähigern Christen, oder aller verständigen Menschen; die eine stets ungleiche Uebung und Fertigkeit mancher einzelnen Christen seyn und immer besser werden kann. Die so sehr ungleichen Folgen der Privat-Religion sind ja nicht schon in der Absicht der öffentlichen Religion enthalten, wenn gleich die Absicht der Lehrformen durch diese Einheit der Lehrordnung einmal wie allemal, gleichsam mechanisch erhalten wird. Denn bey allem gleichförmigen Gebrauche der äusserlichen festen Religionsordnung sind doch die einzelnen Christen einander sehr ungleich in Absicht der eigenen Uebung der ihnen immerfort Tag und Nacht obliegenden eigenen Religion; die öffentliche gesellschaftliche Religionsübung aber ist an eine gewisse Zeit, Ort und Reihe oder Ordnung, in Absicht aller jezt versammleten Christen, gebunden; ohne auf ihre einzelne Privat-Religion in so viel verschiedenen Stufen eben so vorschriftlich schon einzufließen?

[54] Freilich haben die Obern oder Vorsteher der öffentlichen Religion diese grobe Vermischung meist wissentlich und bedächtig eingefüret, wenn auch viele gemeine einfältige Christen von selbst dahin geraten konten, die Verehrung Gottes in einer festen Gewonheit oder Hof-Ordnung gleichsam und Etiquette, christlicher Gesänge, Gebete, und kirchlicher gemeinschaftlicher Handlungen zu sezen, ohne eigene wachsende Erkentnis über das Algemeine, neben der ersten historischen Kentnis des neuen Inhalts dieser Religion: der sich freilich durch neue Vorstellungen und Urtheile von dem alten Inhalt der vorigen Gedanken von Gott und seiner Verehrung gar sehr unterscheiden muste. Rabbinen und jüdische Religionslehrer hatten bis dahin von ihrem Jehova, von seinem Messias, von dem sie als Juden politische Erhebung über alle Nationen hofften, und von dem Geiste Gottes, der solches Reich des Messias durch die Propheten geweissaget haben solte, sehr geringe, sehr niedrige Vorstellungen ausgebreitet und patriotisch genug unterhalten, die sich nur auf die jüdische Nation, auf ihr heiliges Land, auf Jerusalem, und den Tempel bezogen. Der Stand der grossen jüdischen [55] Clerisey, die ganze politische Lage des [Volks], das unter Heiden lebte, und doch Gottes Volk wäre, war in dieser jüdischen Religion vornemlich berechnet; und der würdige Begriff von der Allgemeinheit Gottes, und seinem gleichen moralischen Verhältnis über alle Menschen, also die unendliche freie Verehrung Gottes, wie sie von einzelnen Menschen privatim geleistet wird, in immer verschiedenen Stufen war ganz verloren oder unbekannt worden, durch Uebertreibung der äusserlichen Religion, welche die ganze Nation, als einen politischen Körper zusammen hielt; ohnerachtet in jenen alten Büchern der Juden von dieser eigenen freien Privat-Religion fähiger Menschen so viel Belehrungen und Beispiele gefunden wurden. Durch die Bischöfe ist eben diese blos politische Beherrschung der Christen wieder so erneuert worden, als sie unter den Juden je gewesen ist; daher auch der reine edle freie Geist der neuen Religion, die doch von einem ganz andern moralischen Christus gestiftet, und worinn der offene Zugang zu Gott ohne Leviten allen Christen gewiesen war, durch die Uebertreibung der kirchlichen Religion, und durch zu grossen Einflus [56] der Religionsdiener ganz unterdrückt worden. Es giebt aber doch immer fähigere Menschen, die ihre eigene Erkentnis sich selbst nicht untersagen lassen, wornach sie jene Verehrung Gottes im Geiste und in der Wahrheit selbst innerlich unaufhörlich leisten: wenn auch viele andre Christen dazu nicht aufgelegt sind, und nur die öffentliche Religion mit machen. Alles, was die öffentlichen Religionsdiener, oder Kirchendiener, dem ihnen zugetheilten Amte nach, so verrichten, daß die andern Christen diese Handlungen nicht selbst thun können, gehört zur gesellschaftlichen verabredeten Religionsordnung. Wenn in den Christen ein moralischer Nuzen dadurch entstehen sol, so gehören nun ihre eigenen besondern Uebungen noch dazu. Durch jene Beschäftigungen oder Verrichtungen der Religionsdiener allein wird der Mensch noch nicht seiner christlichen Wohlfart schon theilhaftig; noch weniger ist der Erfolg davon in allen Christen eines und desselben Umfanges. Hier haben aber die Bischöfe diese ganz unentberliche freie, ihnen gar nicht unterworfene Privat-Religion, für unnötig, ja gar für unerlaubt erklärt, und haben den feierlichen öffent [57] lichen Handlungen, die sie selbst immer verrichten, oder durch ihre Unterbediente verrichten lassen, ausschliesender Weise alle Wirkung und Kraft Gottes beigelegt, wodurch alle andre Christen nun ganz gewis schon selig würden. Unfähige, unwissende Kirchenglieder haben dieses leicht und willig geglaubt; wenn man aber dieses geradehin für die wahre christliche Verehrung Gottes halten soll: so wird denen Christen die eigene Erkenntnis und Verehrung Gottes eben so wieder entzogen, und einer menschlichen Autorität einmal für allemal unterworfen, als es durch Rabbinen und Pharisäer geschehen ist; als es aber unter keinem heidnischen Staate in der ganzen Menschenwelt nicht angetroffen wird. Diese Tiranney der Bischöfe 766unter dem Namen der allein wahren Kirche ist von allen verständigen Christen jederzeit eingesehen und verabscheuet worden; indem es eine vorsezliche Verleugnung der wahren Grundsäze der christlichen Verehrung des unendlichen Gottes einschliesset. Die unendliche moralische Herrlichkeit Gottes wird durch die wahre christliche Religion zu allernächst, vorzüglich, unmittelbar bejahet und behauptet. Ein solcher Sohn Got[58]tes und Christus, der selbst es so oft sagt, 767daß er Gott unter den Juden verklären, verherrlichen wolle und solle, wider die bisherige jüdische Mikrologie ist eben das unendliche moralische allgemeine Mittel zu dieser immer fortgehenden Erkentnis und bessern Verehrung Gottes. Aber die Bischöfe und Pfaffen haben die christliche Religion, deren Diener sie nur in Absicht der größern immer ungleichen Gesellschaft seyn sollen, um ihrer eignen Ehre und Vorzüge willen gerade in das Hindernis verwandelt: daß diese unendliche grosse Herrlichkeit Gottes ja nicht weiter von den Christen selbst erkant werden dürfe oder könne, als sie selbst es vorschreiben. Diese Uebertreibung der viel kleinern Absicht der gesellschaftlichen öffentlichen Religion, die sich stets auf die daseiende grosse und immer ungleiche Menge der Bürger beziehet, ist für alle billige und unparteiische Beobachter ganz ausgemacht; und kan nicht anders verhütet und gehörig eingeschränkt werden, als durch das wahre [rechtmässige] Verhältnis der öffentlichen Religionsordnung; das keinesweges ein und eben dasselbe Maas der Privat-Religion für fähige und unfähige Christen mit sich bringen kan, ohne gar eine noch unerträglichere [59] Tiranney von Christo und den Aposteln herzuleiten, als sie schon von den damaligen Pfaffen ausgeübet worden. Es muß also die gesellschaftliche Bestimmung der Religionsdiener, nicht auf aller Mitglieder gleiche blos leidentliche Theilnemung ausgedehnet werden; sondern die Talente und Fähigkeiten der privat Christen, oder der Christen, wenn sie ausser dieser gesellschaftlichen Theilnemung an der feierlichen oder gemeinschaftlichen Religionsbeschäftigung privatim Gott verehren, müssen alle ihre rechtmäßige, ihre selbst moralisch-nüzliche Tätigkeit und Wirksamkeit frey behalten; ohne doch durch diese immer ungleiche Privat-Religion das rechtmäßige bürgerliche Verhältnis der öffentlichen gemeinschaftlichen Religionsform jemalen vorsezlich zu stören, denn hier ist ein anderer Endzweck; eine gesellschaftliche Verbindung. Die Privat-Religion hat aber jedes Mitglied, um seines eigenen moralischen Besten willen, unaufhörlich in innerlicher Uebung, ohne andre Mitglieder, ohne Abtheilung der Handlungen und Geschäfte. Es mus immer bei dem grössern Theil der Religionsgesellschaft stehen, ob sie eine Veränderung der öffentlichen Religionsform für gut und nötig [60] halten kan; sonst wird der Vertrag, den die Gesellschaft sowol mit den Religionsdienern als mit allen ihren Gliedern errichtet hat, täglich von einzelnen Personen zerrissen, und es wird also das Band der Gesellschaft, das eben wider tägliche Zerrüttung und Spaltung geknüpft worden war, immer aufgelöset. Das Gute oder Nötige behält immer seine ungleiche Relation in der Localität; daher sind die so verschiedenen christlichen Religionsparteien in den verschiedenen Staaten, Ländern und Zeiten, worin sich diese Menschen befanden, da sie zur christlichen Gesellschaft gebracht wurden, auf eine unwiderstehliche Weise entstanden. Die Ungleichheit der Menschen in ganz andern Umständen bringt eine Ungleichheit ihrer Gesellschaften, also auch der Religionsgesellschaft mit sich, wobei gleichwol das Prädikat, eine gute nötige Religionsordnung für eine große Menge wirklich statt findet. Diese von Gott selbst herrürende Ungleichheit haben die Päbste und Bischöfe durch ihre neue jüdische Theokratie und Hierarchie, so viel sie konnten, aufgehoben, und für alle Christen auch privatim, eine allereinzige blos äusserliche Religionsform eingefüret mit wissentlicher Unterdrü[61]kung der freien geistlich eigenen Religion der einzelnen fähigern Menschen; daher sind auch die meisten Kirchenglieder in einem Zustande geblieben, der freilich von Verehrung Gottes immer weit entfernet ist.

11. Da sich aber alle diese verschiedenen christlichen Religionsparteien die wahre christliche Religion ausschliessender Weise durch besondere Lehrartikel beilegen, und sogar einander zur Ehre Gottes – verfluchen und verdammen, oder dafür öffentlich ansehen, daß sie an dem unendlichen Gott und seiner moralischen unermeslich herrlichen Gnade keinen Antheil haben könten: wo ist denn nun die wahre christliche Religion bei so vielerley Religionsformen?

Sie ist durchaus in den Gemütern aller wahren Christen unter allen Parteien. Blos die Vermischung der äusserlichen Religionsordnung, welche freilich in jeder Gesellschaft immer nur eine einzige ist, aber nur durch gesellschaftliche Verabredung, zu gesellschaftlicher Absicht und Verbindung aller dieser Mitglieder eine solche Ordnung [62] worden ist, mit der innern stets relative wahren christlichen Religion, (welche den Stufen nach immer grössere oder kleinere, also nie eine allereinzige, sondern immer gleiche Fertigkeit und ohne äusserliche Einheit ist,) hat jenen falschen Eifer unter den Christen ausgebreitet und eben so lange unterhalten, als diese Vermischung dauert. Wenn auch der Vorsaz listiger Menschen, den schon die Apostel damalen neben sich fanden, dis politische gemischte Religionssystem erschaffen hat: so haben sie doch ihren Schülern eben diesen Geist des Hasses und Neides unter der Gestalt der wahren Religion mittheilen müssen, um durch einen grossen Haufen, der zu eignen Kentnissen nicht fähig oder geneigt ist, ihren politischen Zweck immer ganz leicht zu erreichen. 768 Christus hatte sich und das moralische Reich Gottes von allen Königen und Fürsten in äusserlich politischen Staaten, gar sehr unterschieden; 769er machte es seinen Schülern zur Pflicht, alles selbst für sich zu prüfen, und 770für falschen Propheten sich zu hüten, die immer die wahre Religion vorgeben und ihre eigene Prüfung ausschließen würden. Man würde sagen, hie ist Christus, da ist Christus. Eben 771so liessen die Apo[63]stel alle bürgerliche Obrigkeit, alle äusserliche Ordnung stehen, und drangen sich nirgend auf, um alle Menschen zu Einer und derselbigen christlichen Religion, noch dazu in äusserlicher Form und Vorschrift zu zwingen. Es ist also ganz ausgemacht, daß die Bischöfe nach und nach einen ganz andern neuen Endzweck sich vorgesezt, und durch Einwilligung des Staats, dessen Nuzen sie vorspiegelten, immer mehr erreicht haben: als der große moralische Zweck war, den Christus und die Apostel wirklich allein vor Augen hatten, da sie eine bessere, vollkommnere, eigene Privat-Verehrung Gottes lehreten, welche alle Menschen als Kinder Eines unendlichen Vaters ansiehet, und in der Lehre und Historie Christi den freien unendlichen Grund findet, daß alle Menschen, Juden und Heiden von ihnen dafür angesehen werden müssen, daß sie an der moralischen Gnade und Güte Gottes eben so Antheil haben können, als an den Wohlthaten in der physischen Welt, obgleich immer in eben so ungleichen Stufen und Verhältnissen; daß eben derselbe unendliche Geist Gottes in allen Menschen diesen moralischen guten Zustand, ebenfalls in ungleichem Maase befördern könne; daß [64] der nun besser erkante Gott keine äusserliche Opfer oder einerley Ceremonien, Sprache und Vorstellung der Menschen, in seiner Verehrung fordere und erwarte; sondern die Menschen sich selbst ihm zu Ehren in grösserer Bedeutung ganz aufopfern, und 772einander alle als Brüder ältere oder jüngere lieben können. Wenn man also irgend eine äusserliche Religionsform schon für die allein wahre christliche Religion selbst angiebt, die doch eines jeden Christen besondere Privatübung, und immer ungleiche Fertigkeit erst werden und seyn mus: so begehet man einen groben Irtum, der so gar dem Wesen und dem unendlichen Gegenstande dieser wahren Religion ganz entgegen ist. Die äusserliche Religionsordnung beziehet sich stets auf eine öffentliche versammlete Menge, die in einer einzelnen Zeit, und an Einem Orte, jetzt zusammen kommt, um gemeinschaftliche Handlungen mit einander vorzunemen, welche immerfort feierliche öffentliche Merkmale der allgemeinen christlichen Religion sind. Diese gemeinschaftliche Religionsform macht nun für die Christen selbst keinesweges schon ihre Privat-Religion aus; als welche sie selbst, zu aller Zeit, [65] in allen ihrem bürgerlichen und Privat Verhalten, jeder in seinem schon daseienden Maase und Unterschied unaufhörlich allein ausüben, ohne daß Religionsdiener nun dazu gehörten, wie zu jenen öffentlichen Geschäften. 773Diese eigene Religionsübung kann an ihrer Stelle kein Bischof oder Priester, oder Religionsbedienter vornemen. Denn er ist eben nur zu allen feierlichen und gemeinschaftlichen Religionsgeschäften bestalt, welche kein anderer Christ zu besorgen oder zu leisten hat, da er nicht zum Diener der öffentlichen Religionsordnung bestelt ist. Aber die Privat-Religion gehört durchaus allen Christen, und hat kein vorgeschriebenes Maas; der Christ, Lehrer und Zuhörer übt sie nach seinem eignen Gewissen. Wenn es nun also gleich gar vielerley christliche Religionsgesellschaften und also auch öffentliche Religionsformen gibt, wegen der immer grössern Ausbreitung dieser Religionslehren in so vielen Ländern, die nicht einem einzigen Oberherrn bürgerlich unterworfen sind, wie es schon ehedem Christen gab, die nicht unter das römische, griechische, teutsche Reich gehörten, also [gar] nicht einerley Umstände zu Einrichtung einer öffentlichen [66] christlichen Religionsgesellschaft vor sich fanden: so sind doch diese vielerley Religionsgesellschaften, dem wesentlichen Grunde und Inhalte nach, der dem Juden- und Heidentum sowol als der eigenen moralischen Zerrüttung entgegen stehet, nicht ganz andre oder unchristliche Religionsparteien, sondern alle mit einander bleiben christliche Religionsparteien, die Gott nach der Bibel erkennen und verehren. Es ist vielmehr eben dieselbe neue christliche Religion durch die Ausbreitung unter mehrere Völker und Staaten, die von einander schon verschieden waren, unumgänglich mit einer solchen Ungleichheit und Verschiedenheit der Modification in der Anwendung verbunden, als in der Ungleichheit der schon vorausliegenden menschlichen oder bürgerlichen Gesellschaften angetroffen wird. Die neuen öffentlichen Religionshandlungen sind den vorigen jüdischen und heidnischen Religionshandlungen immer geradehin entgegen gesezt bei allen Parteien. Ausser dieser öffentlichen politischen, oder historischen Wahrheit dieser nun eingefürten christlichen Religion, welche mit der Ungleichheit der jedesmaligen bürgerlichen Verfassung immer zusammen hängt, und daher eine unvermeidliche [67] Verschiedenheit annimt: kan es nun zu gleicher Zeit, nach der eben so grossen Ungleichheit des moralischen Zustandes dieser bürgerlichen Christen, bei ihnen allen auch eine wahre christliche eigene Privatreligion geben, wenn sie selbst der neuen christlichen Erkentnis, die sie von Vater, Sohn und Geist Gottes sammlen, praktisch ergeben sind. Denn die christliche Religion bestehet für einen jeden Christen in einer solchen thätigen Verehrung Gottes, die seiner christlichen Erkentnis immer gleich ist. Diese Erkentnis aber hat kein Christ auf einmal und unveränderlich schon beisammen, sondern er kan und sol täglich darin wachsen. Dieses ungleiche Maas der eigenen christlichen Religion, kan gar nicht durch die öffentliche gemeinschaftliche Religion vorgeschrieben oder festgesezt werden; weil diese gemeinschaftliche sichtbare Religionsform immer einerley ist, um eben denselbigen localen Zweck, der blos an eine feierliche Zeit und Ordnung gebunden ist, durch die gleiche Verbindung aller dieser Christen, immer wieder zu erhalten. Wie nun die ganze Gesellschaft über die vorzügliche feststehende, öffentliche, äusserliche, sichtbare Religionsform sich wissentlich vereiniget hat, und kein einzelnes Mitglied darin etwas ohne [68] die andern wieder ändern kan: so ist [umgekehrt] die Privat-Religion allen fähigern Christen stets frei; denn die öffentliche Religionsform betrift nur alle feierlichen oder gemeinschaftlichen Religionshandlungen, die zwischen den öffentlichen Religionsdienern und den übrigen Mitgliedern dieser Gesellschaft, einmal wie allemal bestimmt und festgesezt sind. Wenn nun diese Mitglieder ihre eigene Religions-Erkentnis und Uebung zu Hause, oder ausser der Versammlung hintansezten, und jene gemeinschaftliche Religionshandlung dafür ansähen, daß die höchste Stufe der christlichen Verehrung Gottes darin enthalten und von ihnen öffentlich schon geleistet seie: so wäre dieses 774der alte jüdische Irtum; dem doch die neue bessere Erkentnis Gottes, die jeder Christ sich selbst schaffen mus, als der wahre Grund einer bessern Verehrung Gottes, entgegen stehet. Es ist also ausser Zweifel, daß alle festgesezte Lehrformen, oder Summen der christlichen öffentlichen Lehre, und der feierlichen Handlungen, wie sie einer ganzen Gesellschaft gehört, niemalen den Grund und Inhalt der christlichen Religion überhaupt ausschliessender Weise begreifen kann; es gäbe [69] sonst keine christliche Verehrung Gottes ausser den Versammlungen in feierlicher Zeit, sondern daß es immer mehrere Lehrformen und Summen der öffentlichen Religion geben kan, welche alle das Prädikat, christlich, in der That, und mit Recht haben, und bei allen Theilnemern in noch so entlegenen Städten und Ländern, eine wahre christliche Religion, also auch christliche moralische Wolfart, in vielerley Stufen, mit sich bringen können. Die Ungleichheit der Menschen, welche schon vorausgehet und immer fortdauert, bringt eine Ungleichheit in der christlichen sowol öffentlichen als Privat-Religion bei den Menschen, mit sich. Da nun weder Christus noch ein Apostel ein allgemeines Maas der christlichen Religion für alle Christen festgesetzt und vorgeschrieben hat, theils weil sie nicht Monarchen über alle Menschen und bürgerliche Gesellschaften waren, theils weil dieses in sich selbst unmöglich ist, wenn die Verehrung Gottes eine moralische Natur behalten und der Theilung und Verschiedenheit der Menschen angemessen seyn soll: so kan es auch [hinter] und nach den Aposteln keine solche allgemeine allereinzige Religionsform für alle Christen geben, welche alle [70] andern christlichen Religionsformen nun für ganz falsche unwahre christliche Religionsformen erklärte. Unter allem Volk, wer recht thut, oder seiner [Erkentnis] von Gott ehrlich folget, ist Gott angenem: 775muste auch Petrus endlich lernen und einsehen. Die immer grössere Vielheit und Ungleichheit der Menschen, die nun Christen werden, blos äusserliche oder auch innerliche, macht es unmöglich, daß sie über den Begriff und das Verhältnis Gottes, Christi, des Geistes Gottes (etc.)et cetera über allen wirklich neuen Inhalt des neuen Testamentes eine und dieselbe Summe von Vorstellungen und Urtheilen annemen und immer behalten solten. Zu irgend einer einzigen Stufe christlicher eigenen moralischen Besserung und Wohlfart, ist auch dergleichen völlige Einheit einer Religionsform gar nicht nötig; zu einer und derselben Stufe eigener christlicher Religion sind alle jene so ungleichen Menschen von dem unendlichen Gott nicht berufen oder verpflichtet. Die Bischöfe haben also sehr unrecht die wahre christliche Religion nur an ihre katholische Partei gebunden. Wenn der Zahl nach mehrere Christen eine einzige Religionsordnung bei sich einfürten, so war diese stets [äusserliche] Ein [71] heit durch ihre Verabredung und Einwilligung, ganz recht, um ihrer gesellschaftlichen Verbindung willen, entstanden; und der Zweck hievon war eben diese äusserliche genauere Verbindung, die nun zum Unterschied von andern christlichen Familien auch immer äusserlich, zu äusserlichen [Endzwecken] fortgesezt werden solte. Wenn nun auch die Lehrer oder Vorsteher dieser Gesellschaft gar behaupten, sie hätten ganz allein die wahre christliche Religion in ihrer Partey, und also auch ganz allein das Recht, eine ewige Seligkeit von Gott zu erwarten; alle andern Menschen aber, auch alle andern christlichen Familien oder Parteien, hätten keine wahre christliche Religion, keinen Anspruch an Gottes moralische Liebe und Gnade; so ist diese Behauptung weiter nichts als eine sehr rohe ganz unmoralische Anmasung, an welche verständige Menschen und Christen sich gar nicht kehren. Es ist dis ein so grober Irtum, eine so grobe Unwissenheit der allerersten christlichen Grundsäze, daß solcher Christen so unrichtige Meinung von der Verehrung des unendlichen Gottes gar keine moralische Empfehlung haben kan. Wenn sie aber gar andre Christen zu eben dieser Religionsform mit äus[72]serlicher Gewalt zwingen wollen; weil es hiezu moralische Gründe für die andern Christen, als ihren eigennützigen Absichten hinderlich, gar nicht geben kan: so beweisen sie, daß sie selbst die wahre geistliche oder vollkommnere Verehrung Gottes, wissentlich verleugnen, und unterdrücken wollen.

12. Kan es also wahre christliche Religion oder habituelle reine Verehrung Gottes, den die Christen aus dem (N. T.)Neuen Testament sich anschreiben, bey einzelnen Christen geben, wenn diese gleich nicht eben dieselbe Lehrformen, in so und so bestimmten Artikeln haben, die bey einzelnen Religionsparteien unter den Christen eingefürt worden sind, zu ihrer gesellschaftlichen Verbindung? Kan es also unter den so verschiedenen Parteien, die durch öffentliche Lehrformeln sich bedächtig bürgerlich unterscheiden, wahre christliche Religion, und also christliche moralische Wohlfart geben, wenn gleich jene äusserliche verschiedene Religionsform ferner die Christen äusserlich in besondere Gesellschaften theilet?

[73] Hieran werden wol verständige, unparteiische wahre Christen nicht zweifeln, wenn gleich die grosse katholische Kirche es durchaus nicht eingestund, sondern allen so genannten Ketzern, oder nicht in ihre gesellschaftliche Verbindung gehörigen Christen, die wahre christliche Religion und christliche Wohlfart abzusprechen, 776sogar zum Kirchengesez gemacht hat. Dieses bischöfliche, päbstliche Gesez ist der Grund einer neuen kirchlichen Monarchie und Tiranney; es ist der allgemeine Gift, wovon die wahre christliche Religion, die in allen Christen so frey ist, als die gesellschaftliche Ordnung mit Recht vorgeschrieben wird, nach und nach fast ganz ausgestorben ist. Es ist gleichwol die neue eigene gewisse Erkentnis, daß Gott aller Menschen gnädiger und heiliger, unendlicher Gott ist, und nur auf Thun und Lassen der Menschen siehet, so weit sie das Gute erkennen, der neue Grund einer solchen vollkommnen Verehrung Gottes. Dis ist die wirkliche wahre Offenbarung der Herrlichkeit Gottes, der moralischen Gnade und Liebe Gottes, worin das christlich erkannte allgemeine Reich Gottes bestehet. Alle Heiden können ohne jüdisches geschriebenes Gesez, dessen [74] Modifikation diese Allgemeinheit aufhub, durch 777das Gesez, das Gott ebenfals gleichsam selbst in ihre Herzen schreibt, wie ehedem in Moses Tafeln, das Gute erkennen, und ihn zu ehren, in der und jener Stufe zu leisten sich bestreben. Die ganze christliche Religion beruhet wirklich auf dieser nun erkannten und wider das Judentum geretteten Wahrheiten der moralischen Würde Gottes. Der Sohn Gottes selbst hat diese grössere Erkentnis angefangen, oder 778das jüdische kleinere Gesez erfüllet, die der Inhalt der Verehrung Gottes völliger, grösser, gelehret, als der Buchstabe Mosis enthielt; und nun wird auch 779der falsche Begriff der Juden von einem Sohn Gottes moralisch aufgehoben. Nun finden die Menschen auch 780eine andere vollkommnere Beschneidung; eine 781Verehrung Gottes im Geist und Wahrheit; wozu weder Jerusalem, noch der 782Tempel in Samaria, weder Priester noch Leviten, keine 783Opfer und äusserliche Reinigung weiter gehören. Diese eigene moralische Religion ist ganz frey, entstehet durch stete 784Anwendung des ganzen Gemüts und aller Seelenkräfte des Menschen; und diese eigene Uebung und Fertigkeit bekomt keine abermalige [75] Vorschrift von Bischöfen oder Kirchendienern, wird auch von ihnen nicht statt andrer Menschen geleistet; ist daher immer und stets ungleich; kan gar nicht, ohne Irtum, in einem einzigen Maase angesezt oder vorgeschrieben werden. Weil aber der äusserliche erste Unterricht von der christlichen Religion, zunächst historisch ist, und auf die äusserliche gesellschaftliche Religion gehet, wozu die öffentlichen Religionsdiener in Absicht der mit dem Unterricht verbundenen feierlichen Handlungen bestellt sind: so gibt es eine Lehrart oder Lehrsumme zur Vereinigung der Mitglieder der einzelnen Christen oder Glieder. Die nächste Absicht dieser Gleichförmigkeit, ist nicht, die innere eigene praktische Religion in eine und dieselbe Einheit zu fassen: sondern ist allemal, diese Gesellschaft durch neue Mitglieder zu vermehren, und die kirchliche oder bürgerliche Fortdauer ihres gesellschaftlichen Verhältnisses, gegen andre Mitglieder kentlich an den Tag zu legen. Dis ist ganz gewis die erste und nächste Absicht aller der Handlungen, wozu Religionsdiener bestellt und angenommen worden. Sie sollen den öffentlichen Lehrunterricht zur Vereinigung aller Mitglieder besorgen, wie sie die [76] feierlichen Handlungen in dieser Religionsgesellschaft einmal wie allemal verrichten soll. Diese Beschäftigung ist ihnen durch eine Vorschrift oder Kirchenordnung aufgetragen. Diese Vorschrift hat zum Zweck, eben diese Religionsgesellschaft als solche kentlich, sichtbar fortzusezen; deren Mitglieder durch einerley öffentliche Religionsordnung sich gegen einander ferner als Mitglieder öffentlich zu erkennen geben. Wenn nun aber neben und mit dieser öffentlichen Religionsordnung, (die sehr gleichförmig ist, um eben denselben öffentlichen äusserlichen Endzweck immer gewis und kentlich zu erreichen,) in diesen Mitgliedern auch noch eigene innere Bewegung ihres Verstandes, Urteils und ihrer Neigung gegen Gott und [Christum], und Geist Gottes, entstehen: so gehören diese innern Bewegungen nicht zu der öffentlichen gemeinschaftlichen Religion; sie haben auch keine Einförmigkeit oder ein vorgeschriebenes Maas, wie es für eine Menge und Vielheit eins gibt; sondern sind und bleiben ganz frey, immer ungleich nach der Ungleichheit und Unabhängigkeit der eignen Seelenkräfte der Christen; sie befördern aber in allen Christen eine neue moralische Fertigkeit, Gott [77] immer mehr thätig zu verehren. Blos in dieser eigenen Privat-Religion entstehet und bestehet die moralische Wolfart der einzelnen Christen, die freilich auch die öffentliche Wolfart der ganzen Religionsgesellschaft ihres Theils gern befördern, wenigstens niemalen vorsezlich hindern; weil ihre eigene moralische Wolfart durch die gemeinschaftliche öffentliche Religionsordnung, welche die Lehrer mit den übrigen Mitgliedern einmal wie allemal äusserlich verbindet, gar nicht gestöret wird. Wenn also dieser ganz ausgemachte Unterschied, das sehr verschiedne Verhältnis und der sehr ungleiche Endzweck der gemeinschaftlichen Religionsübung, (die blos in gleicher Fortsezung der feierlichen Theilnemung an der Religionsgesellschaft bestehet, und an einzeln Zeiten und vorübergehenden Versammlungen gebunden ist,) wirklich eingesehen und vor Augen behalten wird: so kan die bisherige Vermischung der freien Privat-Religion, welche immerfort eine Ungleichheit der eignen Erkenntnis und ihrer Anwendung zu innerer moralischen Veränderung voraussezt und erfodert, wol nicht ferner also Statt finden: daß die öffentlichen christlichen Religionsgesellschaf[78]ten diese Verschiedenheit ihrer öffentlichen Lehrartikel und der gesellschaftlichen Religionsformen, (die allemal nur auf die äusserliche Fortsezung der angefangenen Religionsgesellschaft gehet) ferner dafür ansehen, daß die praktische christliche Religion mit allen ihren moralischen neuen Folgen, allen andern Gesellschaften darum fele, dieweil sie nicht eben dieselben Lehrformeln und eben dieselbe äusserliche Ordnung und Form der feierlichen feststehenden Merkmale einer Religionsgesellschaft angenommen haben. Denn die eigene praktische Religion der einzelnen Christen kann durchaus nicht einerley Maas und Summe haben, weil die christliche Privat Verehrung Gottes eine moralische Fertigkeit aller Christen ist, die an keine Zeit, an keinen Ort, an keine locale Ordnung anderer Mitchristen gebunden seyn kann. Der einzelne Christ kann seine innere Verehrung Gottes, den er christlich immer mehr zu erkennen sucht, zu seiner eigenen moralischen Wohlfart, im ganzen völligen Gebrauch aller seiner Seelenkräfte ausüben; sein eigen Gewissen, seine eigene Erfarung regirt diese Privat-Religion, ohne auf den Sontag und Festtag, oder auf eine grosse und kleine [79] Versammlung mehrerer Mitglieder der öffentlichen Religionsgesellschaft zu warten; wie er selbst und sonst niemand für ihn, weder Prediger noch Gesellschafter, unaufhörlich Gott anbetet, lobet und preiset, Gott täglich in allen Umständen frey und unabhängig vertrauet, und hiezu an keine öffentliche Vorschrift, oder an keine Formel eines Hymnus oder Gebetes schon gebunden ist; als welche durchaus allemal sich auf eine Versammlung vieler Christen beziehet, deren Vielheit durch diese Ordnung, auf etliche Zeit an einem und demselben Versammlungsorte, zu einer Gleichförmigkeit ihres gemeinschaftlichen Betens, Singens, Zuhörens, oder ihrer Theilnemung an einer Taufhandlung, am Abendmal etc. vereiniget seyn muste, wenn nicht ein jeder etwas anders singen, beten, kurz etwas nur wider diese Feierlichkeit vornemen, und also alle einander stören solten. Es ist und bleibt ein grober Irtum, wenn man die Absicht und die äusserlichen Folgen einer Religionsordnung so verkennet oder übertreibet, daß die moralischen christlichen Fertigkeiten an irgend eine solche äusserliche Religionsform ein für allemal von Gott durch die neuen Grundsäze der christlichen Religion [80] gebunden seien. Es ist eine fast wissentliche Verunehrung und Verleugnung des unendlichen herrlichen und moralisch wirkenden Gottes. Protestanten können am wenigsten eine solche sichtbare Pfafferey stehen lassen, die gerade durch 785eine Nachahmung der ehemaligen politischen römischen Regierung über den großen Staat, entstanden ist.

Es verhält sich eben so mit der andern, oder anders ausgedrückten Frage. Es mögen noch so viel einzelne Parteien sich in die neu entstehende christliche Religion theilen durch eine Ungleichheit der Lehrartikel von Vater, Sohn, heiligen Geist; von Christo, von Taufe, Abendmal (etc.)et cetera so haben sie doch alle mehr oder weniger Antheil an der christlichen Religion, wie sie der jüdischen und heidnischen entgegen stehet. 786Wenn Paulus sich über jene Spaltung zu Corinth so deutlich heraus läßt, da einige als 787Anhänger des Petrus, des Apollos (etc.)et cetera sich vorzüglich geltend machen wolten, daß er keinesweges diese Ungleichheit selbst für moralisch unrecht erkläret, sondern als unvermeidlichen Erfolg durch die ungleichen Religionslehrer ansiehet, es geradehin als absurd ansiehet, [81] daß eine Partey um ihres Lehrers willen, der nicht zugleich an mehrern Orten, Lehrer seyn kann, sich für viel bessere Christen halten will, als andre Christen nun wären: so hat gleichwol die bischöfliche Auslegung dieses so klare Urteil Pauli völlig umgekehrt erklärt, als solle es gar keine Ungleichheit der neuen Religionsgesellschaften neben einander geben. Ist etwa Christus, die christliche Religion und neue Verehrung Gottes, durch den Petrus, Apollos, Paulus in grössere und kleinere Theile abgesondert und nur zum Schaden der andern unrecht getheilet worden? Alle christliche Lehrer sind 788Arbeiter an demselben neuen Anbau, den Gott angefangen hat, und aller moralische gute Erfolg entstehet weder durch den Petrus noch durch den Apollos, sondern durch den ungehinderten Einflus Gottes, den die Christen nun alle besser erkennen, und nach ihrer Erkentnis verehren. Es ist und bleibt von nun an eben derselbe Grund, 789 Christus, als Eckstein einer moralisch freien Religion, deren Absicht stets auf die Theilnemer selbst gehet, ohne eine Unterwerfung aller Christen an Petrum oder Paulum. Diese neuen Lehrsäze von Einheit und Allgemeinheit Got[82]tes widerstehen eben der Uebertreibung aller äusserlichen Religionsform, die zeither bey Juden und Heiden nur zu politischen Absichten bestimmt war, ohne in den Menschen eigene freie moralische Bewegungen im Verhältnis auf die moralische Würde Gottes anzurichten. Wenn nun aber die Partey des Petrus, oder irgend eine christliche Religionsgesellschaft ihre Lehrartikel, die zur äusserlichen Unterscheidung von andern christlichen Gesellschaften nach den Umständen festgesezt worden, dafür ansiehet, daß alle andere christliche Parteien nun gar keine wahren Christen seyn, und Gott gar nicht christlich verehren könnten, dieweil sie nicht eben diese Lehrartikel hätten, ob sie gleich wirklich lauter christliche Lehrartikel haben: so ist ja dieses ein gerader Widerspruch gegen die neue vollkomnere Lehre, von moralischer Verehrung des moralisch erkannten Gottes. 790 Geist und Wahrheit, oder eine vollkommnere Stufe der eigenen Verehrung Gottes, hat Christus so gelehret, daß sie für alle Menschen gehören könne; er hat keine Lehrartikel aufgesezt, weil er noch keine öffentliche große Gesellschaft gestiftet hat, für welche ganz allein bestimmte Lehrartikel gemacht werden, [83] um sie als eine solche Gesellschaft neben andern fortzusezen. Wenn Christen also diese Vermischung der gesellschaftlichen und der ganz einzelnen Privat-Religion, und diese Uebertreibung der gesellschaftlichen öffentlichen Religionsordnung, fortsezen: so entfernen sie sich in der That von der wahren, ächten, christlichen Verehrung Gottes, und fallen wieder in das Judentum zurück. Ist aber auch unter den Christen von einer gewissen Zeit an eine Nationalreligion da; so ist sie doch nur eine äusserliche politische Ordnung, welche keinesweges sich für die allereinzige wahre christliche Verehrung Gottes ansehen kann, ohne eine ganz grobe Tiranney über die Christen für das Mittel anzunehmen, wodurch die gröste christliche Verehrung Gottes, ohne moralische Theilnemung der Christen, geleistet würde. Dis ist doch Atheismus.

13. Hienach gibt es also auch eine wahre Verehrung Gottes, ausser der Bibel, oder eine so genannte natürliche Religion; wenn sie gleich nicht die historisch neuen Vorstellungen von Gott begreift, welche die Christen zu ihrer christlichen Verehrung Gottes aus dem [84] (N. T.)Neuen Testament oder aus der ganzen Bibel sammlen. Welches sind denn nun die vorzüglichen Grundartikel der christlichen Verehrung Gottes, da es auch noch andre Stufen der Verehrung Gottes gibt, denen das Beiwort christlich nicht zukomt?

Freilich gibt es auch bei vielen Menschen eine natürliche Religion, in welche auch ehedem verständigere Menschen sich getheilt haben, neben der politischen Volksreligion. Sie kan und muß auch eine wahre Verehrung Gottes seyn, nach der Erkentnis, die sich Menschen vom höchsten Wesen sammlen konnten. Da aber die christliche Religion Lehrsäze begreift, welche aus der Bibel gesammlet worden sind, in welcher auch allgemeine moralische Begriffe vorkommen, und also nicht allein dem öffentlichen Juden- und Heidentum, sondern auch der eigenen moralischen Verderbnis sinnlicher Menschen noch mehr entgegen stehen, als mancher bisherige Inbegriff der natürlichen Religion, und das Judentum immer mehr unter andern Völkern sehr verdorben worden war: so ist die christliche Religion ihrem ausdrücklichen neuen oder grössern [85] Inhalte nach, von aller sowol jüdischen als blos natürlichen Religion ganz gewis immer unterschieden; man mag die christliche Religion in einer Sammlung öffentlicher Lehrartikel, oder bey einzelnen Privat-Christen damit vergleichen. Wenn man also nach den vorzüglichen Grundartikeln der christlichen Religion fragt, so verstehet man es entweder von dem öffentlichen Lehrbegriff besonderer christlichen Parteien; oder von der praktischen Privat-Religion geübter Christen. In der ersten Bedeutung gibt es mehr besondre Grundartikel der öffentlichen verschiedenen Religionsform, weil es mehr christliche Gesellschaften gibt, die im Gebrauche der Bibel einander nicht schon unterworfen seyn konten. Diese öffentlichen Lehrartikel, es mögen mehr oder weniger gezält werden, machen allemal den Grund und Boden einer jeden christlichen Gesellschaft, als Gesellschaft aus; ob sie aber alle gleich gut zum Wesen der christlichen Religion bey allen Christen aller Zeiten gehören, kan von keiner solchen Gesellschaft so entschieden werden, daß alle Christen aller andern Zeiten immer eben diese Artikel annemen müsten, oder das Wesen der christlichen Religion nicht gekannt hätten. [86] Denn alle Erkentnis aller Menschen, also auch der Christen, ist successiv, und hat nie eine unveränderliche Ausdenung oder Vollkommenheit. So waren gleich im Anfange dieser neuen Gesellschaft zwo große Parteien, die gar sehr von einander in den Grundartikeln abgingen, wodurch sie schon als neue Parteien entstanden waren; nemlich 1) Christen aus den Juden; 2) Christen aus den so genannten Heiden; beide Parteien waren Anfänger einer neuen Religionsgesellschaft, die von den besondern Grundsäzen, wornach sie einen Christus oder Messias beschrieben, Christianer, oder Anhänger des Christus hiessen. Juden-Christen, behielten Gesez Mosis, Beschneidung, Sabbat (etc.)et cetera mit in ihren Grundartikeln; namen auch keine Schriften oder Lehrsäze Pauli an, keine Geschichte der Apostel, worin Paulus so viel ausgerichtet hat; kein Evangelium auch keinen Brief Johannis, und hofften auf ein bald entstehendes sichtbares Königreich in Palästina, das Christus nun wider die Heiden aufrichten würde, worin sie an allen sinnlichen Freuden tausend Jahre lang einen Ueberflus haben würden. Nie war diese Partey mit den andern Christen in der äusserlichen Religions[87]form vereiniget, und so sehr schlecht auch die moralische Erkentnis und Uebung dieser Juden-Christen war, hat doch Paulus ihnen diesen geringen Stand völlig frey gelassen, und sich nicht zum Oberhaupt oder Censor über sie gemacht; weil jede öffentliche Gesellschaft ihre eigene gesellschaftliche Einrichtung frey hat, wenn auch andre Zeitgenossen Mängel darin finden, und lieber eine neue Gesellschaft für ihres Gleichen errichten. Eben so wenig machten die Christen aus den Heiden eine Gesamtgesellschaft aus unter einem einzigen Oberhaupte; und bis in den ersten Theil des 4ten Jahrhunderts waren alle Bischöfe oder Oberhäupter über mehrere kleine christliche Gesellschaften der verschiedenen Städte von einander ganz unabhängig; wenn gleich der eine grössere Theil schon es auf eine Gesamtkirche oder Verbindung aller Christen angefangen hatten, die sich durch den Namen die katholische oder grössere Kirche ganz eigenmächtig aufwarf, um alle kleinere Gesellschaften mit sich zu vereinigen. Diese nun neue politische Einrichtung eines christlichen Nebenstaats, neben dem ältern bürgerlichen Staat hat es geradehin und allein mit einer äusserlichen Religionsordnung zu thun, [88] und gehet blos auf die Vergrösserung und gewissere Fortsezung dieser Partey, wider alle andern christlichen Religionsfamilien, hängt also auch durchaus mit dem großen Staate so oder so weit zusammen. Alle Verordnung der 791 Concilien, oder mehrerer Bischöfe betreffen die äussere Religionsordnung, die Vorrechte der Clerisey, die Vorschrift über die kentlichen Merkmale, wodurch Christen ferner in der katholischen Kirche bleiben, oder diese äusserlichen Rechte verlieren. Wenn also auch die Bischöfe nun immer mehr Lehrartikel bestimmen, in einer rechtmäßigen Kirchen- oder Religionssprache über den Sohn Gottes, Geist Gottes, über 2 Naturen Christi (etc.)et cetera so gehören diese bischöflichen Lehrartikel doch nicht zu dem Wesen der christlichen Verehrung Gottes überhaupt, welche alle Christen immer nach ihrer eigenen Erkentnis ausüben müssen, neben aller öffentlichen oder gemeinschaftlichen Teilnemung an den feierlichen localen Zusammenkünften vieler beisammen lebenden Christen; sondern alle diese Kirchenartikel machen den besondern localen Grund einer einzeln ausdrücklich vereinigten Religionsgesellschaft aus, deren Mitglieder nicht zu andern christlichen Religions[89]gesellschaften gehören können, wenn sie ihre hiesigen äusserlichen einmaligen Rechte behalten wollen; denn Christen sind und bleiben zugleich locale Bürger, 792Professionisten (etc.)et cetera Da nun fast alle christliche Religionsparteien diesen Fehler begingen, daß sie ausser den öffentlichen localen Rechten ihrer Religionsverwandten, auch so gar die größte und einzig gewisse moralische oder innere Wohlfart der Menschen an ihre öffentlichen Lehrartikel, und an ihre öffentliche Religionsform banden, da doch die innere moralische christliche Seligkeit auf dem eigenen moralischen Verhalten der so verschiedenen Christen ganz allein beruhet, oder eine stete Folge der praktischen, habituellen, eigenen Verehrung Gottes ist für alle Menschen nach dem Maas ihrer Erkentnis: so ist der wahre Grund dieses gemeinschaftlichen Fehlers leicht zu entdeken; nemlich die neue besondre Absicht aller Obern in den besondern Religionsparteien, ihr eigen Ansehen zur steten Beherrschung aller Christen, auch aller Obrigkeiten, desto gewisser zu erweitern, wenn alle Christen ihre moralische jezige und ewige Wohlfart nur von diesen kirchlichen Artikeln, und von der Gemeinschaft [90] mit solchen Kirchen, abhängen liessen. Da der wirkliche Gebrauch der Bibel (die lange Zeit nur in den Händen der Clerisey war) noch nicht für alle Christen statt fand, und der große Haufe, wenn es auch Uebersezung gab, nicht lesen konte, auch überhaupt die öffentlichen Religionshandlungen ganz allein der Clerisey gehörten, den Clericis aber von den Bischöfen eben alle Lehrartikel zunächst vorgeschrieben wurden: so ist in jenen Zeiten es sehr begreiflich, daß die meisten so genannten Christen ohne alle eigene Erkentnis die Rechtmäßigkeit und ausschliessende Wahrheit ihrer bisherigen öffentlichen Religionsform ganz leicht und fest geglaubet, also alle andere Christen ja alle Menschen, die nicht mit ihm in kirchlicher Brüderschaft stunden, für geradehin von Gott verdamte gottlose Leute gehalten, sie also ernstlich gehasset, verfolget, und hiemit die ganz falsche Gewalt ihrer Clerisey so anerkant haben, daß sie an eigene, besondre, innere Verehrung Gottes weiter gar nicht gedacht haben. Es ist gleichwohl ganz ausgemacht wahr, daß die öffentliche Religionsordnung die daseienden moralischen ungleichen Fähigkeiten der Christen nicht aufheben und unter[91]drücken sol; und daß die öffentlichen Religionsdiener durchaus nicht diejenige christliche Verehrung Gottes durch ihre gewönlichen Amtsverrichtungen schon leisten und bewerkstelligen können, welche von allen einzelnen Christen selbst innerlich, unaufhörlich nach ihrem ganzen Vermögen, geleistet werden kann und sol. Daher sind auch wahre Christen, die ihrem Gewissen täglich geradehin zur Verehrung Gottes folgten, von diesen Bischöfen als gottlose Kezer eben so verfolget worden, als die moralisch rohen zornigen Juden den Christum und seine Schüler verfolget haben. Bei aller Verehrung also der kirchlichen Lehrartikel, ist die wahre christliche Religion in den einzelnen Christen, wie sie ihre eigene christliche Verehrung Gottes ausmachen sollte, immer mehr verdunkelt, und durch die feierliche äusserliche Religionsform meist aufgehoben worden. Hier war die natürliche Religion, was die Moralität betrift, besser und würdiger, als eine solche Kirchenreligion, unter den politischen neuen Oberherren, und doch hatten viele Privat-Christen ihre eigentümliche christliche Religion, die nicht die natürliche heissen kann; denn sie sammleten sie aus der Bibel.

[92] 14. Die protestantischen Lehrer rechnen ja aber eben diese Bischöflichen Lehrartikel von Dreieinigkeit, von 2 Naturen Christi [und] ihrer Vereinigung etc. mit zu den allgemeinen Grundartikeln der allein wahren christlichen Religion; und 793beweisen alle diese Kirchenlehren mit gar häufigen Stellen der Bibel; da doch die römischkatholischen Gelerten selbst behaupteten die Bibel sey ohne Tradition unvollständig; wozu sie eben diese Artikel anfüreten, daß sie in der Bibel feleten, oder nur mangelhaft und unvollständig darin gefunden würden; die katholische große Kirche bauet eben auf diese katholische Artikel die Nothwendigkeit eines Oberhauptes aller Christen, das über alle so verschiedenen Erklärungen der Bibel immer den richterlichen Ausspruch thun, und also die Einheit der christlichen Lehre und Einheit der Religion, (oder den Stillstand eigener Erkentnis) erhalten muß, durch die entschiedene Verdammung aller andern Menschen, die nicht zu dieser Einen Religionsform gehören. Es kann also die natürliche Reli[93]gion auch jezt einer so unrichtigen Kirchenreligion vorgezogen werden.

Dieser Vortrag ist nun historisch richtig; es ist leider die bisherige Geschichte der öffentlichen Religionsordnung, wodurch eben die katholische Kirche die wahre unendliche christliche Religions-Erkentnis und ihre vielfältige Anwendung, also ihren gewissen innern Unterschied von aller blos natürlichen oder unchristlichen Religion sehr unrecht in ein feststehendes Formular, in eine gesellschaftliche Einheit, in eine Observanz, in eine Unterwerfung an die kirchlichen Obern, oder an die Clerisey, nach und nach verwandelt, und in eine feierliche, gemeinschaftliche blos äusserliche Gewohnheit und Ordnung der Gesellschaft verkehret hat, wobei für die Christen keine innere eigene freie Verehrung Gottes weder natürliche noch eigene christliche, übrig bleiben solte. Hiedurch sind auch die Regenten so gar der Kirche, oder der Clerisey eben so unterworfen worden, wie alle gemeinen Christen; und so ist jene freie Erkentnis, die eigene Beurtheilung alles dessen, was mit der geoffenbarten Herrlichkeit Gottes bei jedem ein[94]zelnen Christen einstimmig ist, [(]welches die Ehre und den Vorzug der christlichen Religion und ihren Unterschied von aller menschlichen äusserlichen Ordnung ausmachte,) geradehin aufgehoben worden. Aus der neuen Wohlthat für alle Menschen, daß sie alle Gott immer mehr selbst erkennen und zu eigener moralischen Wohlfart ganz frei, im Gebrauche ihrer ganzen Seelenkraft, anwenden können, haben die Bischöfe ein neues unerträgliches Joch gemacht, welches viel drückender ist, als je die jüdische Religion war, wie schon 794 Augustinus zu seiner Zeit ehrlich sagte und doch selbst zu noch mehr Unterdrückung half. Gleichwol ist die neue Grundlage der christlichen Verehrung Gottes, eben diese, daß 795der alte Geist der Furcht und Knechtschaft, der Gott nicht kannte, ausgetrieben ist; daß Christen keiner menschlichen Sazung jemalen selbst, ihrem neuen Bewußtseyn nach, unterworfen seyn können, wenn man sie auch mit noch so viel Vorschriften äusserlicher Handlungen oder Ordnungen einschränkt: behalten sie doch innerlich alle Freiheit, eine bessere Erkentnis Gottes für sich selbst vorzuziehen, um die wahre, bessere Verehrung Gottes gewis[95]senhaft zu behalten. Gott ist es selbst, der die innerliche Wohlfart der einzelnen Christen für jeden Christen, immer mehr täglich schaft und befördert, durch seinen alles wirkenden Geist, den kein Concilium, keine kirchliche Vorschrift, auch keine Spötterey und kein böses Exempel falscher Christen, unwirksam machen kann. Wenn nun die Bischöfe diese innere freie Wohlfart der Christen an ihre Lehrformeln binden wollen: so weiß jeder verständige Christ für sich, daß sie dieses gar nicht im Stande sind; weil die eigenen Vorstellungen der Christen, und ihr freier Zugang zu dem ihnen immer mehr bekanten Gott, weder Pabst noch Concilium, weder Engel noch Teufel, auch keine blos natürliche Religion, geradehin aufhalten, hemmen oder unterbrechen kann. Es ist also [sichtbar], daß die Bischöfe mit ihren Lehrartikeln nicht auf diese innere freie Religion zu derselben leichtern Beförderung, gesehen haben; sondern daß sie blos die äussere Unterwerfung ihrer kirchlichen Unterthanen, und die feste Verbindung eines großen Kirchenstaats zur Absicht gehabt haben; und das war doch weder Christi noch seiner treuen Schüler Absicht. Nur ganz unwissende Menschen, oder ein[96]verstandene Theilnemer an dieser politischen Beherrschung der Menschen konnten es gelten lassen, daß Gott und Christus 796durch einen so gar zweideutigen Pabst, als durch einen Vicarium, oder durch ein Concilium die ewige Seligkeit der Menschen austheilen oder absagen lasse. Eine leichtbegreifliche Convenienz hat viel Regenten ehedem oder auch noch jezt hie und da dazu gebracht, den großen Beistand der einmal so mächtigen Kirche zu politischen Absichten zu nuzen. Die ganze nach und nach erwachsene Kirchentheologie, wohin alle jene spizigen Lehrmethoden gehören, war das Eigentum der Clerisey, und hatte blos diese monarchische Kirchenregierung zum täglichen nächsten Endzweck; die ganze öffentliche Religionsform wurde durch diese Theologie immerfort bestimt; und der erste nächste gewisseste Erfolg war, daß die Mitglieder oder Unterthanen der Kirche nun alle die öffentlichen Rechte genossen und behielten, welche die Regenten an diese Religionsform bürgerlich gebunden hatten. Wer davon öffentlich oder deutlich abwich, verlor diese Rechte, wurde ausgestoßen, und fiel in die Strafen, die auf so genante Kezerey gesezt waren. Aber durch alle diese äus [97] serlichen Veränderungen wurde der innere Zustand des Christen, sein eigenes habituelles Verhältnis gegen Gott, nicht im allergeringsten verändert. Es sind ganz thörichte Anmassungen, wenn Bischöfe von ihrem kirchlichen 797 Anathema nun sogar die ewige Unseligkeit dieser ausgestossenen Christen als eine Folge abhängen lassen wollten. Man mus es so gar eine grobe atheistische Vermessenheit nennen, und eine ausgemachte Beleidigung aller Moralität, daß die Kirche gar alle Christen mit bürgerlicher Gewalt verfolget hat, welche nicht die von Zeit zu Zeit eingefürte Kirchensprache über die öffentlichen Lehrartikel, auch dafür ansehen, daß ihre eigene rechte Verehrung Gottes in der buchstäblichen Bejahung schon enthalten seie; und es wusten, daß ihr eigener immer wachsender Glaube an Vater, Sohn und heiligen Geist zu ihrer moralischen Wohlfart durchaus daneben noch nötig seie, daß jene Lehrformeln nur einen Erfolg ausser ihnen in der äusserlichen Gesellschaft hervorbringen können; daher lehrten die Protestanten so eifrig, 798allein durch den eigenen Glauben hat der Mensch seine christliche Seligkeit. Es ist also gewis, daß die Bischöfe nur auf die Ein [98] heit einer gesellschaftlichen Religionsform gesehen haben, zu welcher Religionsform eben die glänzenden Stufen der Clerisey und die Nothwendigkeit eines so zahlreichen kirchlichen Hofstaats immerfort gegründet waren. Blos in einer solchen monarchischen Kirche ist ein allgemeines Oberhaupt, ein Richter über alle christliche Vorstellungen und Urtheile, und ein (sehr übel erdichteter) Statthalter Christi nötig; damit alle Christen einmal wie allemal Unterthanen dieser Religionsherrschaft bleiben, und so viel an weltlichen Gold und Silber bezalen, als die große Pracht der Kirche immer [nötig] hat. In den Gemütern aber der Christen ist entweder moralische Unwissenheit und ruhige Finsternis noch vielmehr da, als unter Juden und Heiden; oder wirkliche geheime Misbilligung dieser atheistischen Tiranney, und eine stille ganz andere eigene Verehrung Gottes; wie es so gar an vielen Christen nicht gefelet hat, die ihre ganz andre gewissenhafte Erkentnis auch öffentlich an den Tag gelegt, und gern mit Verlust ihrer Güter, sogar mit großer Quaal und Marter, endlich auch mit ihrem Tode bestätiget haben. 799Es ist jezt die Rede nicht davon, ob [diese] Christen [99] wirklich hiezu verbunden gewesen sind; genug so gottlos handelte die sogenannte Kirche, wenn Landesherrn den Pfaffen nachgaben. Die schmalkaldischen Artikel haben diesen Unterschied der freien eigenen christlichen [Religion,] die blos auf der Bibel beruhet, wenn auch der Inhalt noch so ungleich gesamlet wird, von der äusserlichen Religionsform, worin es nach menschlichen Rechten einen Pabst und Bischöfe und Lehrformen geben möchte, so deutlich an den Tag gelegt, 800und die Entberlichkeit eines Concilium, in Absicht der lutherischen Religionsform so gut dargethan, als je etwa hundert Jahre vorher 801 Gerson in der Schrift de auferibilitate papaetextgrid:3rnrq, es schon mit Bewilligung des französischen Staats, gethan hatte. Nimmermehr wird jene alte kirchliche Finsternis und falsche Macht wieder zu der alten Grösse kommen, und doch wird die wahre rechte Verehrung Gottes unter den Christen immer mehr wachsen; wenn sie gleich von vielen für Thorheit und Schwärmerey gehalten wird.

Was aber diese Aufgabe betrift, von Zulänglichkeit oder Unvollkommenheit der Bibel, [zu] [100] den Grundartikeln der christlichen Religion; so beruhet die ehedem so große Streitigkeit zwischen Protestanten und Papisten eben auf dieser Zweideutigkeit des Namens, Grundartikel der christlichen Religion. 802Die papistischen Gelerten rechneten auch jene apocryphischen Bücher im (A. T.)Alten Testament mit zu canonischen Büchern; und dis thaten sie nach ihrem besondern Kirchenrecht; da aber Protestanten durchaus nicht ein solches Ansehen der römischen Kirche ferner zugaben, sondern sich selbst zu einer besondern Religionspartey machten, wozu sie ebenfalls alles Recht hatten, nach der Bibel: so felen hier manche Lehrartikel noch, welche in der römischen Kirche wirklich da sind; 803wie im Colloquio zu Regensburg die papistischen Theologen es als einen Glaubensartikel ansezten, das Hündlein (Tobiae) wedelte mit dem Schwanze. Wenn nun die Rede war, von articulis fidei (catholicae, latinae) de trinitate, persona et duabis naturis Christi; welche die römischen Gelehrten dafür ansehen, daß sie 804nur ex traditione oder per auctoritatem ecclesiae ihre Gewisheit und Daseyn hätten, in der Bibel aber nicht enthalten wären; (gleichwol aber allen Christen zur [101] Seligkeit, und zur christlichen, besten Verehrung Gottes einmal für allemal nötig wären:) so hätten die Protestanten diese lezte, in ( ) eingeschlossene Behauptung, geradehin leugnen sollen. Denn diese Artikel in jener Reduplication sind nicht allgemeine Artikel der christlichen Gottesverehrung; sondern sind besondere Lehrartikel der so genanten katholischen oder gar nur lateinischen Kirche, welche eben zur Unterscheidung dieser Kirche von allen daseienden andern christlichen Parteien, durch katholische Bischöfe erst nach und nach festgesezt worden sind; nicht aber zur Seligkeit aller Christen von Christo oder den Aposteln festgesezt worden sind. Die katholischen Christen finden kein Hindernis an ihrer christlichen Seligkeit, durch diese Lehrformeln; aber andre Christen finden keinen Grund, diese katholischen bischöflichen Lehrartikel, in diesen Formeln und Worten, zu ihrer Seligkeit zu rechnen; da sie nur zur Theilnemung an der katholischen Gesellschaft gehören, in welche jene andre Christen mit einzutreten keine Ursache finden, die mit ihrer christlichen Seligkeit zusammen hinge. Die Bibel behält also ihre Zulänglichkeit zur eignen Selig [102] keit aller gewissenhaften Christen; wenn die Christen gleich sehr ungleiche, verschiedene Summen der öffentlichen und Privatreligion aus der Bibel sammlen. Denn die Ueberzeugung der Christen von der moralischen Güte und Liebe Gottes, wonach er selbst in ihnen alle moralische Wohlfart befördern will, gibt ihnen den steten Grund ihrer innern fortgehenden Wohlfart; ihre moralische Sprache darüber ist ihnen ganz frey, so lange sie nicht mit andern sich äusserlich vereinigen. Diese unaufhörliche Wirkung Gottes hängt aber nicht an einer und derselben Summe oder Reihe von Gedanken und Lehrsäzen, wodurch sich ja die Christen immer von einander als verschiedene Menschen unumgänglich unterscheiden müssen. Vater, Sohn und Geist Gottes werden also von den ungleichen Christen wirklich auf christliche Art verehret, und diese neue Gesinnung bringt die Christen zu immer mehr moralischer eigener Wohlfart und Seligkeit. Alle christliche neue Erkenntnis also vom Vater, Sohn und Geist, ist an sich wirklich in und aus der Bibel möglich, und für den Glauben und die eigene innere Religion der Christen hinlänglich; aber in der Beschreibung und Erzälung [103] dieser christlichen Vorstellung können die Christen nicht übereinkommen, weil sie von einander immer innerlich und äusserlich schon verschieden sind. Wenn aber solche Beschreibungen festgesezt werden für eine Menge von Christen, so geschiehet diese Bestimmung allemal zum äusserlichen Beweise einer daseienden Vereinigung dieser Gesellschaft, in Absicht der Theilnemung an einer gemeinschaftlichen öffentlichen Religionsübung. Diese oder jene Bestimmung aber zum gemeinschaftlichen öffentlichen Zweck verändert nichts in der christlichen Gesinnung, worin der einzelne Christ seine Seligkeit von Vater, Sohn und Geist immer privatim in einer verschiedenen Stufe, ohne alle andere Privat Christen, sich aneignet. Diese Privat-Religion wird durch alle gemeinschaftliche oder gesellschaftliche nicht verändert; wie jeder Privat-habitus bleibt, bey aller Gesellschaft. Eben in dieser freien Privatübung bestehet der wesentliche Charakter der christlichen Privat-Religion, welche durchaus nicht an irgend eine einzige äusserliche gleichförmige Ordnung gebunden werden kann; indem alle äusserliche Ordnung nur einen äusserlichen immerfort gleichen Erfolg haben kann; [104] die individuelle Ungleichheit aber bleibt durchaus [an] der christlichen Privat-Verehrung Gottes, daß diese Christen in ihrer Privat-Religion wirklich immer Christen sind und bleiben, und keine Naturalisten werden können, verstehet sich offenbar ganz von selbst. Sie lassen sich hier Fanatiker, wie dort von den Pfaffen Häretiker nennen. Die Bischöfe haben freilich diesen innern steten Unterschied der wahren christlichen Verehrung Gottes in den einzelnen Menschen durchaus unterdrückt, weil sie sonst hätten gestehen müssen, daß auch Arianer, 805 Photinianer, und alle so genannten Ketzer in der That eine Stufe der christlichen Verehrung Gottes, also auch eine Stufe wahrer christlicher Seligkeit haben könnten; und da wäre die angebliche Einheit, Unveränderlichkeit, Infallibilität der katholischen Kirche sogleich in den Augen aller nachdenkenden Christen weggefallen, und man hätte diese äusserliche Kirchen-Regierung, 806Kirchen-Polizey, ganz gewis nur als eine menschliche Ordnung erkannt, an welche Gott freilich seine beste Verehrung und die [christliche] eigene Wohlfart, in Absicht aller Christen keinesweges selbst gebunden hatte. So rechtmäßig [105] es also ist, daß jede grössere christliche Religionsgesellschaft, zur kentlichen Unterscheidung ihrer einstimmigen Glieder, eine öffentliche Lehrformel durch die Religionslehrer zur öffentlichen gemeinschaftlichen Unterweisung festsezt und beibehält: so falsch ist es doch, wenn irgend eine christliche Religionspartey die innere tausendfach verschiedene christliche Privat-Religion in eben dieses blos äusserliche Maas einfassen wil; und es ist gar empörend, wenn sie behauptet, die ganze moralische Wohlfart und Seligkeit aller Menschen, habe Gott selbst an eine einzige jüngere Lehrformel eben so gebunden, wie die öffentlichen Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft an diese gesellschaftliche Religionsform durch die Obrigkeit so oder so gebunden worden. Man müste alle christliche Begriffe von Gott geradehin leugnen oder heimlich verspotten, welche Begriffe doch durchaus nun von allen Christen aus der Bibel nach eigenem Gewissen gesammlet werden, was die Gewisheit ihrer eigenen Ueberzeugung und Wohlfart betrift: wenn man bejahet, Gott, den sonst die Juden für ihren Gott hielten, (weil alle Heiden unter Engeln stunden, nach den jüngern Grundsäzen der [106] politischen Rabbinen) seie nun der Christen Gott exclusive worden, und zwar nur der großen katholischen Partey. Es ist der erste Grundsaz der christlichen Gottesverehrung, Gott ist und bleibt aller Menschen Gott und Vater in einem und demselben allerhöchsten unendlichen Verhältnis. Nun wird ferner eben so der jüdische falsche Begriff von einem politischen Könige Messias, der auch nur der Juden Wohlthäter seie, weggeworfen, und ein unendlicher, ganz besonderer Sohn Gottes, als moralischer Oberherr aller Menschen, auch wider die Juden, bejahet, dessen Erlösung ebenfals allen Menschen in moralischer Ordnung zu gut komme, nach der Einsicht fähigerer Christen; wenn auch manche Beschreibung sich auf den 807Teufel, als bisherigen Herrn der heidnischen Welt Κοσμοκρατωρ, oder sonst auf kleinere jüdische Begriffe beziehen. Eben so wird der Geist Gottes in Absicht moralischer Wirkung von den Christen ganz anders praktisch erkannt. Hier mus nun der besondere eigene Glaube der einzelnen Christen durchaus nach ihren Gewissen Statt finden; denn durch die menschliche Lehrform wird nur die äusserliche Theilnemung [107] an der öffentlichen Religionsgesellschaft bewirket, die freilich einen feststehenden Sprachgebrauch zu den öffentlichen feierlichen Religionsmerkmalen mit sich bringt. Es können auch die so vielen Christen, wenn sie zu eigener Erkentnis und Verehrung Gottes noch nicht fähig sind, ihre Privatreligion nach eben diesen Lehrbeschreibungen ein für allemal annoch abmessen oder einrichten. Aber diese Wiederholung oder Nachahmung der öffentlichen Religionssprache, die nur zu allen gemeinschaftlichen feierlichen Religionshandlungen gehörete, ist nicht das einzige oder beste Maas für die besondere eigene Verehrung Gottes in Absicht aller Christen, die an Fähigkeiten andere übertreffen. Noch vielweniger aber hat Gott alle Menschen aller Zeiten zu einer und derselben christlichen öffentlichen Religionsform oder zum gleichen Gebrauch der Bibel verbinden wollen, welches ohnehin sogar unmöglich ist.

15. Was ist nun für ein Unterschied zwischen der eigenen christlichen und der so genannten natürlichen Religion? da es unter den Christen selbst nicht einerley öffentliche Re[108]ligionsform gibt, und keine christliche Religionsform ohne moralisches besonderes eigenes Verhalten der Privat-Christen, eine ware würdige Verehrung oder Verherrlichung Gottes dadurch ausmacht, daß die Religionsbedienten festgesezte feierliche Cerimonien in Gesellschaft oder auch in Theilnemung der versammleten Christen, einmal wie allemal, ihrem Amte nach verrichten, oder in der öffentlichen gemeinschaftlichen Religionssprache reden?

Freilich ist ein wirklicher nicht blos historischer Unterschied da; sonst wären alle Christen zugleich Naturalisten, und diese könten sich ja nicht wider die Christen so bedächtig erklären wollen, um eben Naturalisten und keine Christen zu seyn. Es kan aber keine Partey wider die andere eine solche Entscheidung aufstellen, daß der Unterschied oder die Einheit wirklich so eingesehen würde, daß nun alle Naturalisten den Vorzug einer bestimten christlichen Religionsform anerkennten; oder alle Christen sich verbunden hielten, aus bisherigen Christen nun lieber Naturalisten in dem oder jenem [109] Umfange zu werden, um ja eine grössere moralische Wohlfart, in einer vollkommneren Verehrung Gottes, sich zu schaffen; dieses ist wol an sich selbst klar. Es wird immer eine Ungleichheit der christlichen Religionsform geben, wenn auch alle Christen ihre christliche Verehrung Gottes durch ihr immer würdigeres moralisches Verhalten, in allem Thun und Lassen, an den Tag legten, oder neben der bürgerlichen öffentlichen Religionsordnung sich auch der Privat-Religion nach allem ihrem Vermögen selbst befleißigten. 808Umgekehrt mus es eine öffentliche gemeinschaftliche Religionsform geben, so bald eine große Menge schon eine besondere Gesellschaft ausmacht, und daher eine gemeinschaftliche feierliche Uebereinstimmung in festgesezten Merkmalen verabredet oder bey sich einfüret. Durch welche Merkmale diese Menge ihre fortgehende Religionsgesellschaft immer wieder erkennet, und andre nicht zu ihr gehörige Zeitgenossen unterscheidet. Durch diese festen Merkmale einer daseienden Verbindung dieser immer verschiedenen Menge zu einer gemeinschaftlichen feierlichen Beschäftigung, wird zunächst nur die jedesmalige Versamlung äusserlich, kentlich regirt oder einge[110]schränkt, in Absicht der Art und des Maßes der Theilnemung an der eingefürten öffentlichen gemeinschaftlichen Religionsform; wobey die Theilnemer nach ihrer innerlichen Thätigkeit und moralischen Beschäftigung immer unkentlich oder ungewis bleiben; wenn sie auch alle sichtbaren Handlungen in der öffentlichen Form, wirklich mit machen. Denn es ist und bleibt unbekant, wie viel ihr eigen Gemüt und inneres [Bewußtseyn] an diesen äusserlichen Merkmalen Theil nimmt. Es kan bloße Gewohnheit, oder eine besondere Absicht [seyn,] wenn jemand alle solche feierliche Versamlung in äusserlicher Sitsamkeit, oder gar merklicher Andacht, fleißig besucht, und sich auszeichnet, blos um sich zu empfelen, und seine häuslichen Vortheile dadurch leichter zu vergrössern. Es können also auch Naturalisten, in blos politischen periodischen Absichten, sich als Theilnemer [an] der öffentlichen christlichen Religionsform darstellen, und sind doch selbst weit genug entfernt von der christlichen Privat-Religion; zufrieden mit einer sogenannten natürlichen Religion. Den innern Zustand des Naturalisten kennen freilich [die] Christen eben so wenig, als wenig er die eigentlichen [111] christlichen Uebungen und Erfarungen kennt, die er wol gar für fanatische Verirrungen und für seinen Nachtheil ansiehet, und desto mehr sich selbst von der christlichen innern Religion abwenden zu müssen urtheilet. Dieses ist Historie der Christen und Naturalisten; es gab immer beide Classen unter den Menschen, wenn sie auch nicht immer durch diese Namen unterschieden wurden. In so fern aber die öffentliche Religionsform ganz gewis ein rechtmäßiges Band der bürgerlichen Gesellschaft ist; müsten sowol Christen ihre eigene ganze oder beste Verehrung Gottes nicht blos in die Theilnemung an der öffentlichen Religionsform sezen; als auch Naturalisten ihre eigene Privat-Religion, die sie die natürliche nennen, nicht der gesellschaftlichen öffentlichen Religionsform ausdrücklich entgegen stellen, und das bürgerliche gesellschaftliche Verhältnis aufheben, da ihre eigene besondere Verehrung Gottes ihnen durch die öffentliche Religionsform eben so wenig genommen wird, als wenig die felende christliche Privat-Religion durch die öffentliche Religionsordnung allen Mitgliedern derselben gleich gut eingehaucht wird. Wenn uns nun die Historie leh[112]ret, daß leider beides von Zeit zu Zeit geschiehet: so müssen wir auch aus der Historie lernen, was dieses beyderseits unrichtige Verhalten für Folgen in der großen bürgerlichen Gesellschaft gehabt habe. So nachtheilig es für die moralische Welt ist, wenn die öffentliche Religionsform über ihren bürgerlichen gesellschaftlichen Zweck hinausgehet, und gar die innere moralische Wohlfart aller Zeitgenossen schon ausmachen will, welche Pfafferey freilich die guten Christen Jahrhunderte lang vor Augen sehen: so wenig hat doch wirklich die bürgerliche Gesellschaft Nuzen und sichern Vortheil davon, wenn die öffentliche Religionsordnung überhaupt verspottet und verächtlich gemacht wird. Jeder weise Regent hat daher dieses nicht gestattet; denn es gehört gar nicht zu der noch so vollkommnen eignen Privat-Verehrung der Gottheit, daß (gesezt auch einfältiger) unwissender Menschen gute Meinung und moralische Gesinnung aufgehoben oder verächtlich werde. Wenn jede öffentliche Religionsform eben darum eine gewisse feste Summe begreift, von Formeln und Handlungen, wodurch eine große ungleiche Menge der Mitglieder sich als eine zusammengehörige Gesellschaft immer wieder [113] gegen einander zu erkennen gibt: so ist für alle moralische Stufen dieser Mitglieder vom Staate rechtmäßig und hinlänglich gesorgt, ohne daß eine einzige Stufe für alle Menschen eingefürt werden müsse, nach dem Gutdünken einiger Mitbürger, welche durchaus die natürliche Religion vorziehen wollen. Die ruhige Verbindung der ganzen immer ungleichen Gesellschaft läßt dennoch so thätigen Mitgliedern den Privat-Gebrauch aller ihrer Seelenkraft zur besondern Verehrung Gottes, wenn sie gleich aus Liebe zu ihren Mitbürgern auch die öffentliche Religionsordnung wehrtschäzen, und die unfähigeren Christen können ihre ganze Andacht aufbieten, da sie doch allen andern Nebenmenschen nicht ins Herz sehen können, und ihre eigene Andacht dadurch nicht gestört wird, daß manche nicht so oft in die Kirche oder zum Abendmal kommen, als sie es so gern thun. Ueber die besondere Privat-Religion gibt es sonst nirgend eine 809Inquisition als noch in manchen Ländern, die der päbstlichen Kirchenzucht mehr Platz lassen. Daß hiemit Gott recht vorzüglich verehret werde, wenn Menschen zu einer äusserlichen Einheit, in Religionsmerkmalen gar mit Gewalt gezwungen werden: 810haben schon alle [114] verständige Heiden ehrlich geleugnet, und ernstlich gemisbilliget, selbst ein Julian. Christus aber hat am allerwenigsten eine solche Religions-Curie oder Inquisitions-Kammer gestiftet. Es komt alles auf weise Regenten an, das Verhältnis der daseienden öffentlichen Religionsform so zu beschüzen: daß gleichwol die besondere Privat-Religion aller fähigen Zeitgenossen nicht zu ihrem moralischen Nachtheil, geschwächt wird; daß aber auch die innere Ruhe und Zufriedenheit der so vielen andern Menschen, die viel mehr zu ihrer Verehrung Gottes rechnen, nicht für geringer angesehen wird als das Recht jener fähigern Zeitgenossen.

16. Es gibt also zunächst diesen Unterschied, zwischen der christlichen und natürlichen Religion, daß jene überal unter christlichen Nationen schon die öffentliche ist, als das öffentliche Band der christlichen großen Gesellschaften; die natürliche Religion ist aber ohne eine gemeinschaftliche öffentliche Form und gesellschaftliche besondere Verfassung; die freilich allemal eine besondere, verschiedene große Gesellschaft voraussezt, wenn ein [115] öffentliches kentliches Band, durch eine fest immer kentliche Religionsform da seyn soll. In einer so genannten natürlichen Religion gibts aber keinen historischen Anfang, auf den sich neue besondre Symbola und Cerimonien, oder feierliche Merkmale beziehen könten. Man könte also wol den Unterschied der christlichen und natürlichen Religionsform noch genauer bestimmen; sonst könte ja die natürliche Privat-Religion wirklich neben der christlichen öffentlichen Religionsform zugleich bestehen?

Ich habe es schon gesagt, daß dieses ganz gewis gar oft als Historie, Statt gefunden haben mag, und wol häufig noch jetzt so ist; da ja viele Christen ihre Lehrsäze so wenig selbst bejahen und hochschäzen, als die Naturalisten es thun. Es kan jemand ein äusserlicher Christ seyn, und Theil nemen an allen Merkmalen, woran die christliche äusserliche Gesellschaft sich immer kent, und einander äusserliche Rechte gesellschaftlich gewäret; er ist aber hiemit noch nicht innerlich oder [116] mit Einstimmung seines eigenen Verstandes und Willens in innerer Uebung einer christlichen Verehrung Gottes beschäftiget. Diese eigene innere freie Verehrung Gottes war der neue Grund und Inhalt dieser christlichen neuen Religion, der einen neuen Begriff, neuen historischen Sachinhalt aufstellete, welcher neue Sachinhalt sich weder im Judentum noch Heidentum bisher befand. Dieser neue Sachinhalt verringerte theils den vorigen Inhalt der jüdischen Religion, theils bestimmte er den Vorzug dieser neuen viel gemeinern oder über die jüdische Nation hinausgehenden Religion, durch Erweiterung des Begrifs einer periodischen besondern moralischen Offenbarung oder Belehrung Gottes, welche die Juden nur ihrer Nation beigebracht hatten; die aber nun als fortgehend vorausgesezt wird, zur fortgehenden freien Erkentnis und Verehrung Gottes, statt der Einschränkung, so nach Mosis Geseze bisher durch Priester und Leviten statt fand. Die christliche Religion, oder Verehrung Gottes, wie sie von Christen fortgesezt wird, sezt also stets diese vorige jüdische Religion als die unvollkomnere voraus, und entstehet wirklich durch neue grös [117] sere Begriffe von Gott, und durch ihre freie innere Anwendung. Die Juden sagen, Gott hat sich unsern Vätern und Vorfahren so geoffenbaret, daß wir eben hiemit eine bessere Verehrung Gottes leisten, wenn wir Mosis Geseze immer beobachten; als wenn andre Völker, (ohne unsre Schriften,) Gott mit andern Gebräuchen, in Wiederholung einer ganz andern Historie ihrer Vorfaren, oder in Betrachtung des Reichs der Natur, in eigener innerer Bewegung ihres Gemüts, zu verehren meinen. Die Christen sagen, die jüdische Religion ist noch nicht die allerbeste Verehrung Gottes, der ja aller Menschen Gott so gut ist, als ihr ihn zum Gott einer Nation durch eine besondere Nationalsprache machen wolt. Er hat sich auch nicht blos unter euren Vorfaren, sondern in den Herzen und Gemütern aller Menschen geoffenbaret, aber nicht auf einerley Weise, in einer unveränderlichen Stufe; 811so wenig er alle Menschen in einerley oder gar unveränderlichen Zustand und Verhältnis ihres Menschenlebens gesezt hat, welches schon die physische Beschaffenheit und stete Veränderlichkeit des Erdbodens unmöglich macht, 812auf dem Menschen sich nach Gottes Ordnung und Wil[118]len, immer mehr ausbreiten sollen, ohne allein in Palästina wahre und glückliche Menschen zu seyn. Wenn nun gleich die immer verschiednen Menschen so vielerley Nationen ausmachen, und diese von Gott sehr ungleiche Vorstellungen haben: so ist es doch nicht wahr, was ihr zeither so eigenliebig denket, daß andere Völker unter dem Gebiet mancher Engel und böser Geister stünden; und von Gott ganz und gar abgerissen und entfernet wären. Eure eigenen alten Bücher enthalten so gar den Samen und Stoff zur offenbaren Bestätigung unserer neuen bessern Verehrung Gottes, wenn es anders euch um diese immer bessere Verehrung Gottes zu thun ist. Ihr hoffet auf eine neue Periode, auf einen Messias, aus diesen und jenen Stellen eurer alten Bücher. Sehr gut; vergesset nur nicht, daß Gott aller Menschen Gott gleich gut in einerley moralischen Verhältnis ist; berechnet nicht eure bürgerliche Wohlfahrt nach Träumen müssiger eigennüziger Rabbinen, die jene alte Historie misbrauchen. Wo solte ein Grund herkommen, daß Juden die Oberherrn und Beherrscher aller Völker würden, darunter wol manche besser als ihr Juden bisher, sind. Eure frommen wei[119]sen alten Lehrer waren nicht so kindisch; ihr müßt einen grössern erhabnern Sinn jener Stellen von moralischer Wohlfart der Menschen, zu einer moralischen Ehre und Herrlichkeit Gottes, verstehen lernen! Warum denkt ihr einen so fabelhaften Messias? 813Aus der Unterwerfung an Römer und an andre heidnische Oberherrn, die so gut Menschen sind, als ihr, wird euch ein Sohn Gottes gewis nicht erlösen; der kan ja über die Menschen keine andern Grundsäze haben, als 814sein Vater, den ihr den Hochgelobten immer nent; aber auch in Absicht aller Menschen, so verschieden sie von Juden sind, mus er der Hochgelobte eben so gut heissen, als in Rücksicht auf eure Nation. Diese Ausbreitung der Erkentnis der Ehre und Herrlichkeit Gottes ist schon in euren alten Schriften, aber freilich noch nicht so helle und deutlich versprochen, versichert, enthalten, als ihr nun durch die neuere Geschichte eurer Zeit es immer mehr einsehen könt. Wie viel 815gelerte Juden haben nicht schon zeither aus griechischen, wie ihr sagt, heidnischen Schriftstellern, ganz gern ihre moralische Erkentnis erweitert? 816Wenn ihr auch gar sagt, die Heiden haben es aber aus unsern [120] Büchern ehedem entwendet: so sehet ihr doch, daß Gott die moralische Erkentnis nicht euch zum Eigentum machen wil. Leset die Klagen und Bestrafungen in euren alten Büchern, über die blos äusserlichen Religionsgeschäfte; es ist ja klar, daß es noch eine bessere Verehrung Gottes gibt für alle einzelne Menschen, als ihr blos durch Priester und Leviten einmal wie allemal besorgen lasset. Da ihr nun so gerne in patriotischen Stolze glaubt, daß Gott euch durch Abraham, Mosen und Propheten ehedem belehret habe: warum wollt ihr es uns wehren, daß wir glauben, eben derselbe Gott habe diesen Jesus zum rechten Christus und allgemeinen moralischen Herrn unter uns aufgestellet, 817der keinesweges ein König und Monarch der Juden auf Erden seyn solte; darum ist er von den Todten auferweckt und gen Himmel erhoben worden, 818wo der Sohn Gottes ja ohnehin schon immer gewesen ist, in dem unendlichen Schooße des Vaters. Ihr müßt also einen viel höhern Begriff vom Sohne Gottes annemen; wonach er auch über alle Engel und Geister erhaben ist; und wir können so kein Gebiet der Engel über die Heiden ferner glauben; es kan kein 819 Reich der [121] [Finsternis] oder des Teufels ferner so geben, als eure Rabbinen, spät genug es erdacht haben, um euch desto mehr von allen andern Völkern abzusondern und unter ihrer schlechten 820Religionsbotmäßigkeit zu erhalten. Es gibt auch andre Sünden, als wider Mosis Gesez; wider 821ein ungeschriebenes, in dem Gewissen der Menschen bekantes Gesez; dieses hat Gott durch seinen Sohn weit über jene kleine Gesezgebung Mosis erheben lassen, aber durch eben den Christus ist uns auch die neue Erkenntnis der Gnade und Vollkommenheit Gottes so geoffenbaret worden, daß wir keine so geringen 822Opfer mehr nötig haben, als ihr bisher bestellen lasset. An diesem Christus haben wir Opfer, 823Hohenpriester in dem allerhöchsten Verstande; ohne diese Mikrologie zu behalten, die bisher unter Menschen mit diesen Namen ausgedrückt worden. So kennen wir auch 824eine ganz andre Beschneidung, wozu wir eure Religionsdiener nicht weiter brauchen; Gott reiniget selbst unsre Herzen durch unsern eignen Glauben, worin wir immer mehr wachsen und zunemen, also auch ganz andre Früchte dieser neuen Einsicht zur rechten Ehre Gottes bringen. Ihr habt auch jene alte [122] Macht und bürgerliche Gewalt nicht mehr, daß ihr die jüdische Religion uns aufzwingen köntet; einer daseienden bessern Erkentnis aber müssen wir, eben zur Ehre Gottes, folgen. So entstehen also unsere christlichen Gesellschaften, worin eure Beschneidung und 825Osterlam, eure Sabbate gewis nicht fortgesezt werden können, weil euer alter historischer Zusammenhang nur eine jüdische partikuläre Religion mit sich bringt, die wir durchaus nicht für die bessere Verehrung Gottes halten können (etc.)et cetera Ich habe hiemit nur zeigen wollen, daß die christliche neue Religion vom Anfange an die historische jüdische Religion voraussezt, und in einem steten Verhältnis der Ausbesserung oder Berichtigung dagegen stehet; also nicht in der gemeinen Bedeutung die natürliche Religion heissen kann, welche die Naturalisten jezt vorziehen wollen. Jene ersten Lehrer der neuen bessern Religion brauchen also in ihren neuen Urkunden, (auf denen ihre neue freie sehr ungleiche Religionsform beruhet, weil nicht alle diese Schriften auf einmal da, und nicht schon in aller Lehrer Händen waren) allerley damalige griechische Schriften, die schon mehreren Juden gemein waren, zu einer [123] noch bessern Belehrung eben dieser Juden. Sie erweitern also den Grundsaz von Offenbarung Gottes an einzelne Menschen, der vorher meist auf Prophezeiung äusserlicher bürgerlicher Begebenheiten unter Juden und benachbarten Völkern ging; daß er nun auf moralische Belehrung jeziger Zeitgenossen gehet, und sie verweisen ihre Schüler auf diese nun bekanten Wirkungen des Geistes Gottes in ihnen selbst. 826Der Geist Gottes wird zeugen, wie es Luther übersezt; oder 827euch immer mehr lehren, unterweisen, versicherte Christus selbst. Diesen Grundsaz einer erweiterten Offenbarung und Wirkung Gottes, leugnen aber alle Naturalisten, und denken nicht einmal daran, 828daß die natürlichen Seelenkräfte der Menschen schon von vorneher, oder von ihrer localen Anwendung eine so ungleiche Stimmung haben: daß durchaus ihr eigen Nachdenken über das Verhältnis Gottes einen ungleichen Gang behalten mus; wie die Entschliessung zu dem und jenen Grad ihrer äusserlichen Beschäftigung, zu der oder jener Profession, Unternemung und Lebensart, ganz ausgemacht immer ungleich ist und bleibt; wenn sie gleich eine und dieselbe Natur [124] als Menschen hatten. Und dis wirklich zum grössern Besten andrer Menschen neben und nach ihnen, wie zu ihrer eigenen grössern Zufriedenheit. Nie werden also Naturalisten den Begriff von Gottes Verhältnis und Wirkung auf die Seelenkräfte mancher Menschen, ganz und gar abschaffen oder aufheben, ausrotten können; am wenigsten aber die wirkliche moralische Historie dieser ungleichen ersten Christen, zu einem bloßen Naturalismus machen können. Es bleibt allen andern Zeitgenossen frey über jene moralische Geschichte der Christen ganz anders, eben zur Ehre Gottes, zu denken; wie es ihnen auch ferner frey und unbenommen bleibt, eben jezt in sich selbst Gottes moralische Einwirkung ernstlich zu erwarten und zu finden. Mögen Naturalisten immer dieses eine fanatische Verirrung nennen; mögen sogar spotten über diese guten Menschen, die Gott so ernstlich verehren, und sich gern spotten lassen! Genug, immer gab es auch diese besondere Classe Menschen, und sie kann nie unter den Menschen felen. 829Im (N. T.)Neuen Testament wird sie wirklich als eine fortgehende moralische Familie, von den andern Menschen unterschieden, die im[125]mer Κοσμος heissen, weil diese vornemlich sich nur mit der sinnlichen, sichtbaren Welt beschäftigen; der Geist Gottes wirket nicht in diesen Menschen, oder die übrige Menschenwelt hat diesen Geist Gottes noch nicht, durch welche Gott manche Menschen nun belehret von ihrem grössern moralischen Vortheil. Dieses ist damalige und jezige Historie; die Naturalisten können diese Historie durch alle ihre ganz andere moralische Historie nicht umwerfen. Auf diesem Grundsaze von steten Wirkungen des Geistes Gottes in manchen Menschen, beruhet die neue christliche Religion. Diesen Geist Gottes hatten die Apostel und damaligen Lehrer der neuen, ganz gewis viel bessern, würdigern, eigenen, freien Verehrung Gottes; sie ist also ihrer Natur nach immer in dem Gebrauche der Seelenkräfte der Christen, wie je die Naturalisten ihre Seelenkräfte gebrauchen; und wenn sie in den Christen felet, so haben die Christen nun blos eine äusserliche neue Religionsform, wodurch sie unter einander zu einer neuen Religionsgesellschaft verbunden sind. In dieser Ungleichheit der Theilnemung an dieser Wirkung des Geistes Gottes, oder in der Ungleich[126]heit der Beschreibung und der Anwendung dieses neuen Grundsazes, ist alle jene Verschiedenheit der alten und neuen christlichen Religionsparteien ferner gegründet, und es bleibet doch bey dieser Ungleichheit, bey allen Parteien eine wirkliche christliche Verehrung Gottes, welche einen besondern Charakter hievon behält, den die jüdische und alle heidnische und natürliche Religionsform niemalen hat, und nicht haben kann. Die Juden gehen durchaus nicht über die äusserliche Historie ihrer Vorfaren oder Nachkommen hinaus; sie erwarteten vielmehr eine noch herrlichere politische Wiederholung; daher kann die jüdische und christliche Religionsform durchaus nicht vereiniget werden; die Juden warten auf Revolution und sinnliche Freuden. Wenn aus Juden Christen wurden, so verliessen sie den vorigen jüdischen Grundsaz, daß die jüdische väterliche Religion überhaupt die beste und Gott anständigste sey; sie namen den neuen Grundsaz an, von nicht blos ehemaliger historischer, sondern fortgehender moralischen Offenbarung und Belehrung Gottes durch seinen Geist. Die neuen Christen behielten und behalten alle diesen Grundsaz, wenn sie gleich weder einer[127]ley oder gleichviel neue christliche Urkunden hatten, noch auch in der Auslegung und Anwendung derselben übereinkamen. Eben jener neue Grundsaz brachte diese fortgehende Verschiedenheit der immer mehreren Parteien mit sich; weil der Umfang des vorausgehenden Grundsazes (fortgehende von Menschen nicht eingeschränkte Belehrung Gottes durch seinen Geist in manchen Menschen) ganz frey und unabhängig von den christlichen Lehrern und Zuhörern angewendet werden konte. Man konte nun allen mündlichen und geschriebenen Unterricht der Apostel und ihrer Schüler eben so wohl ganz buchstäblich in sein Gemüt aufnemen, welches meist der Fall war, worinn unfähigere Lehrer, Schüler und Theilnemer sich befanden; als man die unmittelbare Einkleidung und damalige locale, modificirte Beschreibung von der eigenen jezigen Erkentnis der Sachen und Wahrheiten, in allem Ernst, in würdiger Verehrung Gottes, unterscheiden konte. Beide behielten den neuen Grundsaz, Gott belehret uns in moralischer Absicht durch seinen Geist besser als wir von den Rabbinen, oder durch uns selbst im Gebrauche jüdischer Grundsäze belehret wurden; [128] dieser bessern Erkentnis müssen wir folgen. Diese neue eigene Uebung brachte unfelbar eine neue fortgehende moralische ganz gewisse Erfarung. Wenn auch die grössere Kirche nach und nach den heiligen Geist nur ihren Bischöfen, und den von diesen geweiheten Religionsdienern beilegte, und allen so genannten Kezern den heiligen Geist gar absprach, 830woher eben ehedem viele so gar die von Kezern ertheilte Taufe nicht für gültig hielten: so behielten doch alle verständige Christen es ganz frey, diese Wirkung des uneingeschränkten Geistes Gottes für allgemein, also auch ihnen nicht entstehend, anzusehen; und so erweiterte sich die gleich große eigene Ueberzeugung von der Wahrheit aller besondern Stufen und Classen der christlichen Religion in allen immer neuen Parteien, gleichsam von selbst, wirklich in aller Unschuld und Ehrlichkeit, wenn auch listige Absicht und politischer Vorsaz nicht dazu gekommen wäre, die freilich schon im ersten Anfange nicht felete und in der Menschenwelt nie felen wird. Wenn nun auch Naturalisten auf ihrer ganz andern Meinung bleiben, (welches ihnen gewis frey stehet, und andern Christen wenigstens an ihrer eigenen christlichen [129] Verehrung Gottes gar nicht hinderlich ist,) 831und sagen, daß dieses nur ein orientalischer Sprachgebrauch sei, oder ein Ueberbleibsel aus der Kindheit der moralischen Welt; es sei nicht wirklich in den Christen ein besonderer neuer Grund, oder eine Wirkung Gottes da: so gestehen sie ja hiemit den ganz gewissen Unterschied einer solchen Religion, die auf dem Grundsaze beruhet, (es gibt eine fortgehende Wirkung Gottes zur grössern moralischen Wohlfart der Menschen); oder den Unterschied dieser christlichen Religion, von derjenigen Religion, die man die natürliche nent. Nicht einmal den christlichen Sprachgebrauch behält der Naturalist, weil er alle jene christlichen Begriffe nicht annimt, welche so vielerley christliche Parteien durch verschiedene öffentliche Religionsformen und besondern biblischen Sprachgebrauch theilen. Er ziehet daher eine natürliche Religion vor, als wenn die christliche Religion auf einem Grundsaze beruhete, der wider die allgemeine Natur der Menschen ansties, dieweil sie Gott als den Oberherrn der so genannten Natur in ein grösseres fortwärendes Verhältnis gegen einige Menschen sezte, als diese Naturalisten selbst beja[130]hen. Dis ist doch eine stete 832 petitio principii, welche verständige Christen nicht für einen besondern Grund, der ihre eigene moralische Ordnung schon völlig widerlege, ansehen können. Die 833moralische Welt ist ganz gewis nicht weniger in sehr ungleiche Climata, oder unabänderliche Einflüsse schon getheilt, als die Lage der Erdkugel, durch welche die Arten der physischen Produkte immerfort verschieden sind. Es konnte also an Naturalisten so wenig felen, als an einer ihnen immer entgegen stehenden Partey; und 834da der Ertrag der moralischen Welt eben so unendlich ungleich seyn kann, ohne Schaden der einzelnen Subjekte, wie wir es in der körperlichen Welt, bey aller immer großen Unwissenheit einsehen: so kann kein Grund angegeben werden, warum es nicht eben so wol unter den Menschen ernstliche Liebhaber einer fortgehenden moralischen Wirkung Gottes ferner geben möge, die ihre Verehrung Gottes und die Erfarung ihrer grössern moralischen Wohlfart immer weiter selbst darauf bauen: als es Naturalisten immer gibt und geben wird, welche den Grundsaz von Gottes moralischer steten Wirkung im Menschen zur besondern Regierung ihrer Seelenkräfte, für sich nie bejahen. [131] Eigensinn, Anmassung, Stolz, Ueberhebung mus es durchaus heissen, wenn der eine Theil von diesen 2 Parteien den andern neben sich nicht dulten, und menschlicher Rechte und Pflichterweisungen nicht wehrt oder fähig halten wil. Es ist ausgemacht unwahr, daß die Ehre und Grösse Gottes durch die Einheit eines Grundsazes unter den Menschen viel mehr befördert werde, zum Besten der so ungleichen Menschen, als durch Ungleichheit, die wir dafür erkennen, ohne ihre Folgen zu wissen. Es ist unerträglich, wann das 835Proselytenmachen und Annötigen zu einer einzigen Religionsform, als eine große Wohlthat für die moralisch von einander unabhängigen Menschen, und als die allerhöchste, reinste Stufe der Verehrung Gottes, anempfolen werden sol: mögen Christen oder Naturalisten diesem Irtum anhängen.

17. Aber solte es denn in der That nicht besser, nüzlicher für die Menschen seyn, wenn der Unterschied der öffentlichen Religionsformen aufgehoben würde, und alle Menschen entweder eine christliche ganz gleiche oder eine [132] natürliche Religion zur gemeinschaftlichen Verbindung annämen?

Das würde eigentlich heissen, ob nicht manche Köpfe und Liebhaber der eignen Verdienste auf diesen Vorschlag wol kommen möchten, oder schon lange gekommen sind? Ob nicht manche Menschen sich es herausnemen, sich an die Stelle Gottes zu sezen, und sich zuzutrauen, daß sie das moralisch Gute und Bessere in Absicht der unzäligen immer ungleichen Menschen, aus ihrem einzelnen Kopfe ganz richtig zu übersezen, und nun ein neues Grundgesez für die ganze moralische Menschenwelt abzufassen, gar wohl im Stande seien? Dergleichen ganz und gar eigenliebige und eigensinnige Projektmacher hat es in der Menschenwelt immer gegeben, von denen endlich die Päbste und 836die sogenannte einzige wahre Kirche es schon gelernt haben, die freie immer ungleiche christliche Religion eben so zur allereinzigen Religion für alle Menschen ein für allemal in eine unveränderliche Form zu fassen, und für alle Menschen ein viel grösseres Glück und Wohlergehen in diesem Leben, ja gar eine ewige Seligkeit hiemit zu assecu [133] riren; wobey auch die so genannte Kirche, oder Clerisey, gewis an allem menschlichen bürgerlichen Guten, an Ehre, Macht und Reichtum viel weniger einen Mangel gehabt hat, als an moralischen gemeinnüzigen Vorzügen, worin Heiden und Muhamedaner diese christlichen Gestalten häufig zum wahren Besten anderer Menschen, und zur Rettung der Moralität, und Ehre Gottes, sehr übertroffen haben. Je mehr die ehrliche Geschichte dieser Päbste und Bischöfe ins wahre Licht gestellet wird, desto weniger finden unsre Zeitgenossen eine Ursache zu wünschen, daß sie doch in jenen Jahrhunderten möchten gelebt haben. Wenn nun hingegen sehr viel Naturalisten eben diesen alten ganz falschen Grundsaz, von gröster steter Einheit der moralischen Menschenwelt aufstellen, und durch eine natürliche Religion alle übrigen historischen Religionsformen ganz abschaffen wollen: so treten sie ja völlig an die Stelle jener Päbste, welche die stete unabhängige Freiheit der moralisch eigenen Privat-Religion durchaus aufgehoben haben. Sie wiederholen also eine blos politische Aufgabe, in Absicht der Einheit aller öffentlichen Religionsform für alle Menschen. 837Es ist [134] aber eine unendliche Aufgabe, worin das gröste Wohlergehen aller so verschiednen Menschen, bürgerlich und moralisch bestehe, das nun an die bisherige Stelle des gegenwärtigen Wohlergehens mit vorzüglichem Rechte gesezt werden sol? Bescheidene Menschen solten nicht so übereilt um sich greifen und über das gröste Wohl der ganzen Menschenwelt absprechen, darin sie kaum einem kleinen sehr eingeschränkten Ameishaufen selbst ausmachen. Nach der christlichen Hauptlehre 838sollen alle Menschen Gott lieben von ganzen Herzen, nach allen ihren Kräften, deren Ungleichheit immer fortdauern mus; und nun soll jeder seinen Nächsten in allen Fällen lieben, als sich selbst, wo die locale Ungleichheit ebenfals immer da ist, und nicht aufgehoben werden kann. Diese praktische Religion kann nun immer da seyn, bey noch so groser Verschiedenheit der Kräfte des Verstandes; und wenn diese praktische Religion sich unter den Christen (die Wirkungen Gottes annehmen glauben und gelten lassen,) immer mehr ausbreitet, so ungleich auch ihre Theorien und Lehrformen sind: so ist die Wohlfart der Nebenmenschen so gewis schon berechnet, daß eine allgemeine [135] öffentliche Religionsform weiter gar kein Projekt werden kann. Die bürgerlichen Namen, römischkatholisch, lutherisch, reformirt, Jude, 839Mennonit (etc.)et cetera beziehen sich auf die politische Ungleichheit der öffentlichen Gesellschaften; wenn diese eine bürgerliche gute Verbindung haben, so können sie jedem Staate ganz gleichgültig seyn, und der Privat-Religion, die noch weniger ein einziges Maas haben kann, ist die öffentliche Religionsordnung nie hinderlich. Zu welchem großen Endzweck solten nun alle öffentlichen Religionsparteien in den einzigen Naturalismus übergehen? Sollen die Staaten mehr Macht und Sicherheit wider innerliche Unruhen dadurch erhalten? das werden weise Regenten schwerlich bejahen, da sie auch den Naturalisten nicht ins Herz sehen können. Sollen die bisherigen Zeitgenossen bürgerlich glücklicher werden? Man müste sie also schon als sehr unzufrieden voraussezen oder machen; und wer kann alle Privat-Wünsche befriedigen, wenn die Menschen nicht eine unsichtbare Regierung höher sezen über alle ihre Veränderung? Sol mehr Moralität gewis alsdenn wirksam werden? Es bleibt aber eben die bisherige innere und äussere Ungleich[136]heit der Menschen, wie sie seit Jahrtausenden gewesen ist.

Aber es ist wohl wahr; wenn der bisherige öffentliche kirchliche Lehrstand unter den Christen mehr um einer bequemen oder geehrten Lebensart willen ergriffen wird, als um die Zuhörer in eigner freier Privat-Religion ernstlich zu befördern, an welcher ohnehin so viel Prediger viel weniger selbst Theil nemen, als an ihrem Stande und Rechten in der Gesellschaft, und wenn Naturalisten immer mehr aufmerksam sind auf diese Mängel des Lehrstandes, als daß sie die vielen thätigen, wenn auch einfältigen Christen in Rechnung sezen, wenn die Rede ist von dem wirklichen bisherigen Nuzen der christlichen Religion für den Staat: so werden beide Parteien einander ferner zu verkleinern und verächtlich zu machen fortfaren, und die grössere Ehre Gottes dort, und den grössern Nuzen der Zeitgenossen hier, so aufstellen, daß in der That das gemeinschaftliche Wohl des Staats, worin Christen und Naturalisten frey und ungehindert leben, durch solchen eigenliebigen Wortstreit sichtbar zerrüttet wird. Dieser Zerrüttung aber abzuhelfen, [137] ist weder die Abschaffung aller christlichen Religion, noch die gewaltthätige Unterdrückung des Naturalismus, ein würdiges und sicheres Mittel. Wie Naturalismus durch eine christliche Religionsform anderer Zeitgenossen gar keine solche Gewalt leidet, die sein eigen Gewissen für ihn selbst unthätig mache; Naturalisten also, ihres eigenen moralischen Vortheils wegen, gar nicht auf die Abschaffung der öffentlichen christlichen Religionsform antragen können, ohne sehr stolze Verachtung der viel grössern Gesellschaften: so haben auch christliche Lehrer es nicht zur vorzüglichen Pflicht, die öffentliche Religionsform, deren bestalte Diener sie sind, so falsch zu empfelen, daß Haß und Verachtung derjenigen Zeitgenossen, die Naturalisten sind oder heissen, zum ersten und gewissesten Merkmal eines wahren Christen angenommen würde. Die innere eigene Religion ist gar keiner menschlichen Lehrform, sondern Gotte und dem Gewissen allein unterworfen. Hier haben alle christlichen Parteien einerley Feler wider einander begangen, und sogar ihren Vorzug in der Verehrung Gottes darein gesezt, daß sie einander geradehin alle wahre Verehrung Gottes abgespro[138]chen haben, weil sie nicht eben denselben Begriff mit den christlichen Lehrartikeln verbunden haben; welches doch so gar unmöglich ist, da es bey den Christen keine Knechtschaft und Unterwerfung des Gewissens an das Gewissen anderer Christen geben kann.

18. Aber warum haben denn die Christen so vielerley, so verschiedne Lehrbücher, Katechismen, Glaubens- oder Lehrbekenntnisse, symbolische Bücher, Gesangbücher (etc[.])et cetera? Diese so verschiednen Bücher, die oft auch gar wider einander gerichtet sind, können doch nicht zur Erleichterung und Beförderung der praktischen Religionsübung dienen, welche doch ganz allein die beste und wahre Verehrung Gottes für alle Menschen ausmacht?

Man könnte eben so fragen, warum gibt es so verschiedne, so ungleiche bürgerliche Regierungsformen, Statuten, Stadt- und Landrechte, die oft einander entgegen sind? Bey allen diesen ungleichen politischen Verfassungen gibt es überall gute glückliche Bürger und Unterthanen; indem [139] die besondere einzele Wohlfart gerade in der Beobachtung der daseienden wirklichen, jezigen bürgerlichen Verfassung bestehet. Wie an dieser Verschiedenheit nicht die Bosheit, der wilde Vorsaz, der bloße Eigensinn, Schuld ist, sondern eine nicht aufzuhebende Ungleichheit solcher Umstände, die ausser dem Willen der Einwoner der und jener Gegenden da war, und nicht weggeschaft werden konnte: so ist es auch mit der Ungleichheit der äusserlichen christlichen Religionsformen beschaffen. Die Menschen waren schon verschieden nach innern und äussern Umständen, da sie die christliche Religion zur neuen, öffentlichen, gemeinschaftlichen Verbindung annamen, und die vorige jüdische oder heidnische oder papistische, bischöfliche verliessen. Eben so waren die Lehrer verschieden, welche den christlichen Unterricht zum ersten ausbreiteten. Es wurde also immer der Inhalt der öffentlichen Religionsform ungleich angenommen; und so blieben mehrerley öffentliche Religionsformen neben einander stehen, so bald es mehrere christliche Gesellschaften neben einander gab, die einander auch hierin durchaus nicht unterworfen seyn konten, wie sie in der öffentlichen politischen Regierungsform [140] einander nicht unterworfen waren. Um ihre gleichen Rechte ferner gewis zu genießen und zu behaupten, machte jede Partey ihre besondere Lehrbücher, wodurch die eine Gesellschaft als solche von den andern immer unterschieden blieb. Wenn Christen in einem Staate öffentlich Schutz geniessen wolten, musten sie den Inhalt ihrer Religionssäze der Obrigkeit vorlegen, und dabey nun zu beharren versprechen; denn [die] Obrigkeit hielt sich nun an diese Bekentnisse, und die neuen Religionsverwandten musten sich solche Schranken gefallen lassen als die Ruhe und Wohlfart des Staats, der die neuen Schutzverwandten, unter dieser Bedingung aufnam, es jedesmal mit sich brachte; daher selbst unter christlichen Kaisern, Königen und Regenten die Duldung mehrerer christlicher Parteien keinesweges von gleichem Umfange war. Es haben also alle diese Bekentnisschriften zunächst eine bürgerliche äusserliche Absicht, damit der Staat darin gewis ist, daß dieses auch gute, ruhige, nüzliche Bürger sind und bleiben wollen; und zugleich gehen alle solche Lehrbekentnisse auf das eigene Gewissen, auf das daseiende Maas der Erkentnis der Mitglieder einer Partey, in Absicht [141] der gemeinschaftlichen Verehrung Gottes in ihren Versamlungen. Diese christliche Religion läßt übrigens die bürgerlichen Geseze und Verordnungen des Staats stehen. Daher stehen auch alle diese neuen Familien die der Staat beschüzt, immer unter der Oberaufsicht des Staats, daß sie ihre Lehrformeln nicht heimlich verändern, und die erlangten Rechte zum Nachtheil anderer Nebenparteien, und zur Zerrüttung des Staats, nicht überschreiten dürfen. Es war also auch diesen Parteien das Proselyten werben ohne Vorwissen des Staats, verboten. Es ist und bleibt dieses alles eigentlich eine politische Aufgabe, oder ein bürgerlicher Gegenstand, wenn christliche Familien so gros wurden, daß sie der vorigen ältern Religionsform merklichen Abbruch hiemit thaten; daher die ältere katholische Partey jederzeit solche neue Religionsfamilien durchaus unterdrückt, und ihre Lehrformeln als kezerische niemalen erlaubet hat. Es waren ganz besondere äusserliche Umstände, die im 16ten Jahrhundert es mit sich brachten, daß beide protestantische Parteien wider die bisherige päbstliche Religionsform, sich eine besondere eigene Religionsform wälen konten. 840Die Augspurgische Confession heißt auch an[142]fänglich eine Apologie und Schuzschrift wider die vielen Lästerungen, als ob die Lutheraner gar von der christlichen Religion und aller bürgerlichen Ordnung abgefallen wären. Die Protestanten sezen, nach ihrer Ueberzeugung, zum Grunde, daß bey ihnen eine bessere christliche Verehrung Gottes, und der ächte Inhalt der christlichen Lehre seie; welches freilich die härtern Papisten durchaus nicht zugeben wolten. Die nächste Absicht solcher Bekentnisse ist also wirklich immer in Verhältnis auf andre daseiende christliche Parteien noch jezt zu beschreiben. Protestanten wolten nicht mehr den bisherigen Lehrbegriff der römischen Kirche, als die beste Lehrform behalten; Lutheraner wolten auch von der 841 zürchischen Partei sich unterscheiden, die im teutschen Reiche noch nicht gedultet wurde. Der neue protestantische Lehrbegriff ist bestimt diese neue Partey als solche fortzusezen, wider die spätern Kirchensazungen der Päbste und Bischöfe; alle Lehrer sind also daran gewiesen was ihr öffentliches Amt betrift, und alle andern Mitglieder haben sich daran gebunden in allen feierlichen Versammlungen und gemeinschaftlichen Religionshandlungen; damit [143] die Gesellschaft einander als gleich gute Mitglieder immer erkennen kann. Allein nun ist und bleibt die freie ungleiche Privat-Religion eines jeden einzelnen Christen in jeder Gesellschaft, immerfort in der besondern Stufe, worin ein Christ neben den andern Christen wirklich selbst stehet; und eben dieselben Wirkungen des unendlichen uneingeschränkten Gottes befördern die besondere moralische Wohlfart in allen Christen, welche der eigenen innern Religion ergeben sind; ohne daß der Unterschied, der die grossen Gesellschaften der Christen bürgerlich, äusserlich so wol abtheilet, als ihre Mitglieder ebenfals äusserlich vereiniget, dieser eigenen innern Religionsübung irgend einen moralischen Nachtheil bringe; wie hingegen die äusserliche Vereinigung vieler Christen in einer gemeinschaftlichen Religionsform gar keinen innerlichen Nuzen für sich selbst schaft, wenn diese Christen ohne alle innere Religionsübung solche feierliche, gesellschaftliche Handlungen eben so blos äusserlich verrichten, als sie in der öffentlichen Form enthalten sind. Hier haben freilich die kirchlichen Obern fast aller Parteien einerley Feler begangen, wie schon berürt worden, daß sie die innern guten [144] [Folgen], welche eines und desselben Gottes unsichtbare Wirkungen einschlossen, welche also stets moralischer Natur, und nie gesellschaftlicher oder bürgerlicher Art sind, eben an ihre öffentliche Religionsform gebunden haben; da doch die christliche Theilnemung an den moralischen Wohlthaten Gottes, die sie Christo und dem Geiste Gottes danken, durchaus nicht von menschlichen, bürgerlichen Gesellschaften weiter eingeschränkt werden können. Wenn diese praktische Religion unter den Christen aller Parteien immer die Hauptsache wäre und sich immer mehr in allen Gegenden ausbreitete: so würden die Naturalisten ihre meisten Einwürfe verlieren, und blos jene Wirkung Gottes bezweifeln; das stünde ihnen freilich ganz frey; aber die gewissen grossen Folgen der christlichen innern Religion blieben in den Christen, ohne bei Naturalisten vorzüglich gefunden zu werden.

19. Warum wird es aber den Christen selbst so schwer gemacht, über ihre Religion frei zu denken und zu urtheilen, daß daher eben die Naturalisten über Religionszwang klagen kön[145]nen, daß man von lauter Heuchlern redet, die ihre eigene Erkentnis nicht öffentlich lehren wolten, oder dürften; woher eben für die ganze christliche Religion der Vorwurf von 842Priester- und Pfaffenbetrug – schon so lange Zeit und so bitter gemacht wird?

Es ist wahr, daß in manchen Ländern oder so genannten Kirchenordnungen selbst der Protestanten, von Zeit zu Zeit zu hart und streng über die symbolischen Bücher, und eine schon eingefürte Lehrordnung gehalten worden ist; theils schon gegen das Ende des 16ten [Jahrhunderts], 843bis nachher der öffentliche Religionsfriede auch auf die Reformirten im teutschen Reiche erstrekt worden; theils auch aus Herrschsucht und Stolz mancher Theologen, die sich wirklich zu Gebietern über den Verstand anderer Gelerten und Ungelerten aufwarfen, 844daher schon Spener über solchen Misbrauch der symbolischen Bücher ernstlich geklagt hat. An sich selbst aber behalten alle denkende Christen den freien Gebrauch ihres Gewissens zu ihrer eigenen Privatreligion, wenn sie auch die öffentliche Lehrformen und Religionsordnungen nicht [146] nach ihren besondern Einsichten ändern können, (die ja auch nicht blos um der verständigern Glieder willen da sind;) sondern die gesellschaftliche Absicht und eine kirchliche Polizey gern gelten lassen, in allem, was zur feierlichen, gemeinschaftlichen Theilnemung an Gesängen, Gebeten, Predigten, Formularen zur Taufe, Abendmal gehöret. Die eigene Privatreligion aber behält alle Mittel frey, zur immer grössern eignen Kentnis und Anwendung zur gewissen und grössern christlichen Wohlfart des Menschen; [und] weil jene öffentliche Religionsform nur auf einige Zeiten, und auf Zusammenkünfte vieler Christen sich beziehet, kan kein verständiger Christ sagen, diese gleichförmige Theilnemung in der [Versamlung] in der und der Zeit, hindere ihn gar an seiner innern Privatreligion. Es gibt daher häufig unruhige Köpfe, eingebildete Alleswisser, und selbstsüchtige Leute, welche so leicht über die gemeinschaftliche Religionsform, als über eine unleidliche Knechtschaft immer Klagen erheben. Alle öffentliche Einrichtung beziehet sich auf eine große sehr ungleiche Menge; und kein guter Bürger übereilt sich mit Tadel solcher öffentlichen [147] Einrichtungen, die ihm selbst nichts schaden, und vielen andern sehr nüzlich sind, ja wol so lieb sind, daß sie durchaus nichts geändert wissen wollen. Hierauf beziehen sich alle öffentlichen Kirchenordnungen, und sezen es voraus, daß verständige Christen, 845 die sich selbst berichten können, wie Luther redet, um so vieler andern willen sich auch nachgebend fügen, wenn es gleich für sie selbst einer Anordnung [nicht] bedurft hätte. Es sol Anstand und Würde zumal für den großen Haufen unterhalten werden; hiezu gehört eine gleiche Ordnung, der sich alle, ohne Ausname, um eben ihrer Verbindung sich bewußt und öffentlich, merklich geständig zu seyn, unterwerfen. Die Vornemen und noch so verständigen Glieder sollen eben durch ihre Gleichförmigkeit diese willige Subordination befördern; weil der grössere Haufe einen sinlichen gleichen Eindruck zum ersten erwartet, bis sich nach und nach eigne Fähigkeit und Uebung reget.

Diese weise Einrichtung, worin durchaus auch manche Kirchenpolizey befindlich war, haben selbst Prediger entweder nicht gekant, oder als ihrer Be[148]quemlichkeit und ihrem Ansehen dienlich, selbst unrichtich angewendet; haben der öffentlichen Religionsform, die meist durch sie allein ausgerichtet wird, einen zu großen Einflus beigelegt auf die Seligkeit ihrer Zuhörer; als wenn die christliche Seligkeit statt finden könne, ohne eigene stets fortgehende innere Uebung der Zuhörer; haben daher einerley Glauben und Beifal der Zuhörer gefordert, ohne in ihnen eigene immer freie Erkentnis zu befördern. Durch diese Gewohnheit und Anhänglichkeit an die äusserliche Kirchenordnung wird aber eben jener Religionshaß und falsche Eifer erzeuget und fortgesezt, wider alle Christen, die daneben sich einer eigenen fortgehenden Erkentnis befleißigen; und ihre eigene innere Verehrung Gottes in Absicht ihrer selbst, höher achten als die feststehende äusserliche Religionsordnung, wodurch nur eine gesellschaftliche Verbindung fortgesezt wird. Da aber alle öffentliche Religions- oder Kirchenordnung menschlich ist und bleibet, und nur zur äusserlichen guten Ordnung, in großen Versammlungen gehöret, die immer aus sehr ungleichen Mitgliedern bestehen, welche eben jezt ihre Vereinigung und Verbindung an den [149] Tag legen sollen, wozu durchaus äusserliche feste gleiche kentliche Merkmale gehören: so müsten Prediger diesen großen steten Unterschied der äusserlichen und innerlichen christlichen Religionsübung, immer mehr erklären, wenn die rechte würdigste Verehrung Gottes den Christen wirklich mehr bekant werden soll. Es ist ganz unmöglich, daß alle Christen des ganzen Erdbodens eine allereinzige öffentliche Gesellschaft ausmachen, und einerley Lehrform und Religionsform haben und behalten solten; es ist auch nicht nötig zu der moralisch eigenen Wohlfart aller Christen, denn die Verehrung des unendlichen Gottes kann nur durch das eigne Gewissen eingeschränkt werden. Es war also Parteygeist, und nicht die wahre beste Verehrung Gottes, wenn eine Partey ihre Einrichtung und Ordnung der gesellschaftlichen Religionsübung, ihre Lehrform und Lehrart, allen andern Christen als unentberlich zur christlichen Seligkeit aufdringen wollte; denn Gott ist es selbst der uns selig macht durch Christum; gewis nicht durch unsre Formeln darüber; sondern in moralischer eigener Uebung. Alle Lehrformeln, wenn sie auch einen Unterschied der christlichen Gesellschaft mit sich [150] brachten und fortsezten, waren hiemit nicht von dem neuen allgemeinen Grunde der christlichen Verehrung Gottes abgewichen, der wahrhaftig aller christlichen eigenen innern Religion gemein bleibet; wie ja sogar alle christlichen Parteien wirklich auch die Bibel oder das apostolische Symbolum zum gemeinschaftlichen Lehrgrunde und Lehrbegriff immer behalten. Es war aber ein ganz falscher Grundsaz, daß alle Christen zu der christlichen sowol öffentlichen als eigenen besondern wahren Verehrung Gottes einerley [äusserliche] schriftliche Formeln, Gesänge, Cerimonien haben und behalten müsten. Daher entstehet alle fernere unchristliche Begegnung gegen einander. Die christliche Verehrung Gottes ist so unendlich in Stufen und im Inhalte, als die Gegenstände es alle sind, welche das Nachdenken der so verschiedenen Christen immer mehr entwikeln kann. In allen christlichen Gesellschaften aber wird zum Anfange und zur Fortdauer der Gesellschaft eine gemeinschaftliche Religionssprache öffentlich eingefüret und festgesezt; weil in keiner localen Gesellschaft alle andern auch localen Gesellschaften begriffen und eingeschlossen werden können. Es ist ganz [151] gewis, daß in jeder christlichen Religionsgesellschaft eine christliche Verehrung Gottes da seyn kann; es ist eben so gewis, daß Christen eine eigene innere Verehrung Gottes daneben sich schaffen können und müssen, 846wenn sie ihre moralische Wohlfart nicht als eine physische Folge ihrer gesellschaftlichen Religionsform ansehen sollen; welches eine grobe äusserliche Beherrschung der Christen mit sich brächte. Es ist aber freilich sehr bald eine solche Beherrschung aller Christen von den vielerley Urhebern christlicher Religionsparteien beabsichtiget worden; sie haben daher einen solchen physischen Erfolg ihrer eingefürten Cerimonien, ja gar ihrer Formeln von christlichen Worten, immer mehr bejahet und aufgestellet; und nun konten sie durch immer neue Erfindung ihrer Partey einen Vorzug geben wollen, da doch aller Vorzug der Christen als Christen allein in moralischen Fertigkeiten bestehen solte, wodurch sie die grössere Verehrung Gottes leisteten. Freilich trat nun christliche Superstition von Zeit zu Zeit an die Stelle der jüdischen und heidnischen; wir wollen es entschuldigen mit den Stufen der moralischen christlichen Kindheit. Es mus aber der wahre Charakter der christlichen [152] Verehrung Gottes ernstlichst behauptet werden, wonach der mögliche gewissenhafte Gebrauch des eigenen Verstandes aller fähigen Christen, zur freien Betrachtung und Anwendung aller christlichen Begriffe und Gegenstände, ihre Privat-Religion ausmacht. Wenn daher Prediger geradehin die Anwendung der Vernunft schelten und verwerfen, und einerley Glauben fordern für das was sie öffentlich, gut oder schlecht, vortragen: so vergessen sie 847 Pauli Vorschrift, der eine treue Lehrgeschicklichkeit zur eignen freien Ueberzeugung der Zuhörer von Lehrern fordert; διδακτικος soll der Lehrer seyn. 848Die Christen würden zu todten Maschinen gemacht, wenn die öffentliche Religionsform, die nur zur gesellschaftlichen Ordnung gehört, in so viel tausend Zuhörern einen und eben denselben Erfolg ihrer Seligkeit hätte, durch Anwendung des Gedächtnisses, ohne eigenes individuelles Nachdenken. Die Zuhörer würden also sich als todte Materialien von den Lehrer verarbeiten lassen; und diese knechtische Unterwerfung hatten freilich Pfaffen und Mönche ehedem wissentlich zur rechten christlichen Verehrung Gottes eingefüret; die Zuhörer wurden wirklich [153] als Christen das Eigentum der Kirche; sie durften nicht selbst christlich nachdenken. Gleichwol müssen umgekehrt die Zuhörer nur durch den öffentlichen Unterricht dazu angeleitet werden, sich mit freien Gebrauche ihres Gewissens ein moralisches Eigentum zu schaffen und zu erwerben, das zu ihrer besondern christlichen immer bessern Verehrung Gottes bestünde. Die öffentliche Religionsform aber kann nie das Eigentum eines Privat-Christen werden, sie gehört der ganzen Gesellschaft und nur diese kann Aenderungen darin machen; daher müssen auch privati sich nicht anmaßen sie zu verändern; oder sie geben schon geheime Absichten zu erkennen, denen dieses 849 jus publicum sacrorum communium noch im Wege stehet.

Der Vorwurf von Heuchlern wird gar unrecht hieher gebracht. Er würde alle eigene Unterwerfung an jede öffentliche gesellschaftliche Ordnung aufheben. Lehrer in den öffentlichen gesellschaftlichen Versammlungen sind nicht bestellet ihre Privat-Einsichten aufzustellen; um sich gar wider die Grundsäze ihrer Gesellschaft zu erklären, [154] und einen neuen Inhalt zu empfelen, der sogar den historischen localen Charakter der christlichen Religion auslöschen müste. Eine große Gesellschaft gab den Auftrag, Diener ihrer öffentlichen Religionsordnung zu seyn. Diese gesellschaftliche Religionsordnung ist über den angesezten Prediger, was seine öffentliche Amtsfürung betrift. Er hat hier keine Freiheit, wenn die Gesellschaft sie nicht bewilligt. Die Gesellschaft ist Herr über ihre Verbindung, die gar nicht philosophisch, sondern ganz bürgerlich ist, und bürgerlichen Vertrag zum Grunde hat. Die Besoldung ist und bleibt eine bürgerliche Prämie für den Lehrer in der Religionsgesellschaft; sie wird nur ertheilt, so lange der Religionslehrer den Vertrag hält. Unsichtbare Eigenschaften, Einstimmung des eignen Gewissens bey dem Lehrer, konte die Gesellschaft nie in Rechnung nemen. Wenn er also seinem Gewissen folgen, und so gar den Grundsäzen dieser Gesellschaft entgegen handeln wil, als Lehrer: so kündigt er selbst den bisherigen Vertrag auf; ob er als Naturalist ein moralisch würdiger Mensch sei, gehet diese öffentliche Gesellschaft gar nichts an; sie beruhet hier auf äus[155]serlichen feststehenden Merkmalen, die eben wider dergleichen Eingriffe und Verwechselung des Verhältnisses, das im Vertrage bestimt war, 850 sanciret sind.

20. Ist denn aber diese immer gleiche öffentliche, gesellschaftliche Religionsordnung allen einzelnen Mitgliedern gleich gut, einmal wie allemal, notwendig zu ihrer eigenen Privat-Religion?

Diese Frage gehört für die Privat-Christen selbst und kann nicht durch andre so entschieden werden, daß jeder Christ nun selbst in Absicht seiner eben so entscheiden und sich einem fremden Ausspruche unterwerfen müste. Es war ein politischer Misbrauch der Clerisey, daß sie diese Frage bejahete, wenn auch die öffentliche Religionsform noch so eigennüzig für sie selbst eingerichtet war. Hiemit hat sich die Clerisey eigenmächtig aus dem ganzen bürgerlichen, gesellschaftlichen Verhältnis herausgehoben, und ihren Stand als allein oder doch vorzüglich göttlich ansehen lassen, der doch ohne bürgerliche Gesellschaft, zu welcher [156] er selbst in wahrer Abhängigkeit immer gehöret, gar nicht da wäre. Hiemit hat sie auch die Geschäfte oder Dienste, welche nur durch die Clerisey allein verrichtet werden nach dem Auftrage der Gesellschaft, ungebürlich an sich gerissen, und sie viel zu wichtig und gros gemacht. Diese alten Irtümer oder Künste müssen ernstlich entblößet werden. Jeder Stand der Menschen, die Christen sind, worin einer den andern nach Gottes so kentlicher Ordnung, bürgerlich, häuslich, moralisch nüzlich ist, mus eben so göttlich heissen, als der Stand der so genannten Clerisey oder Geistlichkeit, oder Kirchendiener. Jeder Diener der öffentlichen Religionsverfassung kann die Wichtigkeit seines Berufes ihm selbst immer sehr ernstlich vorhalten, um sich immer mehr zu großer Treue zu ermanen; aber andern Menschen muß er nicht blos seinen heiligen Stand an sich schon als götlich vorhalten; sondern wissen, daß er selbst seinen Stand ehren, oder bei andern geringschäzig machen kann. Aber es war auch ungerecht, daß selbst unter Protestanten manche Dissidenten die ganze öffentliche Religionsordnung hasseten, und öffentlich verächtlich machten, als wären alle Kirchendiener blos [157] eigennüzige Pfaffen; daß sie 851auf das Kanzelholz schmäleten, 852 Beichtstul und Höllenpful zusammenreimeten, 853ein armes Wortspiel mit Bibel, Bubel, Babel aufbrachten (etc.)et cetera Es ist doch ganz unrecht, über die und jene Mängel, die in allen menschlichen Einrichtungen schon sind oder sichtbar werden, wild und zornig zu spotten; es ist wider die Pflichten der Gesellschaft, in welcher man doch auch viel Gutes genießet, das sonst nicht so gewis da wäre. Gute Menschen tragen gern einander, ohne sich selbst zu erheben; jeder behält demnach sein inneres Bewußtsein und sein eigen Gewissen frey. Der große Unterschied der Zeit, worin Christen sich in eine öffentliche Religionsform vereinigten, brachte allemal auch einen Unterschied des Inhalts der Religionsform, und selbst auch der Privat-Religionsübung mit sich; und dieses damalige Maas war wirklich das Maas das in jene Zeit und für damalige Christen gehörte, es mochte mancher Privat-Christ auch zu viel von der öffentlichen Religionsform erwartet haben; besser wuste er es nicht. Wer aber selbst eine [eigne] Erkentnis hatte, der behielt sie, und vermehrte sie für sich zu seinem moralischen Vortheil, mochte [158] die öffentliche Religionsform noch so schlecht für ihn heissen. Als äusserliches Mitglied dieser äussern Gesellschaft blieb er doch im Besiz seiner Einsichten, hielt aber nicht für nötig seine Privat-Uebung öffentlich aufzustellen, und gar bürgerliche Zerrüttung damit zu veranlassen. Das moralische Leben, die neue Wohlfart der Christen ist verborgen mit Christo in dem unendlichen Gott; wenn Christus in dem Christen lebet, (und das ist ganz frey,) so ist dis für andre Menschen eine unsichtbare Geschichte, und ist blos individueller innerer Zustand dieses Christen; wie jeder häusliche Vortheil des fleißigen geschiktern Bürgers sein wahres geheimes Eigentum bleibt. Häufig aber haben die Bischöfe dieses verborgene, freie innere Leben der Christen, das in dem unendlichen Gott verborgen ist, durchaus abschaffen und durch die öffentliche Religionsform ganz hindern wollen; weil alle diese verständigern, moralischen, glückseligen Christen, den falschen übertriebnen Werth der bischöflichen Religionsordnung zu gut kennten, als daß sie ihn für sich selbst, und für ihre ganze Privat-Religion geradehin hätten gelten lassen; daher sind alle jene greulichen tirannischen Auftritte [159] entstanden, welche diese christliche (bischöfliche) Religion 854 geradehin stinkend gemacht haben, für alle gute würdige Menschen. Da aber unter Protestanten es keine gewaltthätige Erhebung der öffentlichen Religionsform über die eigene Privatreligion verständiger Christen gibt: so haben diese auch gar keine Ursache, sich über die gesellschaftliche Religionsordnung, wenn sie auch Mängel darin finden, zu beklagen; indem ihre freie Privat-Verehrung Gottes, ihr ganzes inneres Leben durch gar nichts äusserliches gehindert werden kann. Es mus demnach eine öffentliche christliche Religionsform geben, selbst um der grossen Gesellschaft willen; noch ehe die Rede ist von moralischer Privat-Religion, die hinter dem öffentlichen Unterrichte entstehet. Wenn aber declarirte Naturalisten sich wider alle christliche Religion geradehin aufstellen: so ist gewis, daß sie diese innere Religion der wahren freien Christen gar nicht kennen; und daß sie also nicht als gute Mitbürger sich betragen, wenn sie die öffentliche Religionsform irgend einer Gesellschaft verspotten, und ihre eigene moralische oder unmoralische Privatübung zur Vorschrift für alle Menschen [160] erheben wollen. Hier müssen Obrigkeiten die öffentliche Religionsform aller Parteien, die in ihrem Staate schon da sind, wider solche Beschimpfungen sicher stellen. Es ist gar nicht die Rede von Wahrheit, von Aufklärung und Privat-Erkentnis, deren Untersuchung allen fähigen Menschen heilige Pflicht ist und bleibet zur wahren Verehrung Gottes, nach ihrem eignen Gewissen. Es ist blos 855die Rede von gesellschaftlichen Rechten und Verträgen; wohin alle Gedanken oder Grillen von Naturstande, von Menschenrechten, von kosmopolitischen Anstalten gar nicht gehören. Die öffentliche Religionsordnung beziehet sich, wie schon gesagt worden, zunächst auf eine Gleichförmigkeit in der gemeinschaftlichen Theilnemung an feierlichen äusserlichen Handlungen, die Merkmale der Religionsordnung ausmachen, worin sich jezt alle Mitglieder kentlich vereinigen. Hiebei bleibt aber der ganze besondere Unterschied aller Mitglieder, wonach ihr innerer moralischer Zustand ungleich ist. Die periodische oder an Zeit und Ort gebundene Gleichförmigkeit in diesen feierlichen Merkmalen einer ein für allemal bestimten Gesellschaft vereiniget [161] eine Menge und Vielheit der Mitglieder für diese Zeit und zu diesen öffentlichen Handlungen in gemeinschaftlicher bürgerlicher Absicht; denn die Christen bleiben Bürger. Aber sie bleiben innerlich sehr verschiedne Christen, und haben nicht einerley Maas ihrer Privat-Religion, oder der Erkentnis. Protestanten lehren nicht, daß die ganze christliche eigene Wohlfart darin bestehe, daß Christen in einer großen Anzal eine äusserliche Ordnung ihrer öffentlichen Religionsbeschäftigung, allesamt so oder so oft beobachten. Pfaffen und Mönche haben ehedem diesen groben Irtum zu befördern gesucht; daher entstund eine äusserliche Tiranney und Herrschaft der Clerisey, die ehemals nur aus Religionsdienern bestund, welche aber nun Gebieter wurden, wonach die eigene Seligkeit der Christen gar nicht statt finden solte, wenn die Christen sich nicht durch diese Kirchendiener gar beherrschen liessen. 856 Luther hat im 2ten Theil der schmalkaldischen Artikel dieses schändliche Pabsttum sehr gut aufgedekt. Die Protestanten haben keinen Pabst über ihren eigenen Glauben. Dis war List, Unwissenheit und Aberglauben, der freilich alle unfähigen Chri[162]sten bezwingen konte; wir wissen aber, daß eine freie unsichtbare Kraft Gottes, die wir selbst erfaren, uns selig macht durch Christum, es mag diese Bestimmung durch Christum, so oder so verstanden werden. Diese eigene Erfarung kann durch die öffentliche Religionsform befördert, aber nie ganz gehindert werden, bey verständigen Christen. Man hat aber leider jezt Christen, die von dieser Erfarung so wenig wissen, als Naturalisten. Selbst Lehrer hatten häufig nur den Schein einer christlichen Gottseligkeit; es hies Fanaticismus, was sonst 857 Geist und Kraft hies. Wie konte nun die öffentliche todte Religionsform den wahren Christen ferner lieb seyn? wie konte sie Naturalisten moralisch empfolen werden? Der protestantische Staat hat indes seine Clerisey einer solchen Vorschrift [und] Ordnung unterworfen, als jede Religionsgesellschaft selbst eingefürt hat; in dieser äusserlichen Religionsordnung sol jede Gesellschaft frey sich fortsezen. Denn die eigene innere christliche Verehrung Gottes wird durch alle äusserliche Ordnung in öffentlichen feierlichen Zusammenkünften gar nicht gehindert, was verständige Christen betrift. Für den großen Hau [163] fen aber mus es eine solche Ordnung geben, die er immer wieder dafür erkennen kann, daß es seine bisherige Religionsordnung ist, woran seine Rechte in der Gesellschaft ganz kentlich hängen.

21. Was heißt denn bey den Christen Seligkeit durch Christum? Christus hat ihnen die Seligkeit erworben; zur Seligkeit ist notwendig –? Da die Bischöfe diesen Weg der Seligkeit allein zu lehren hatten: 858so scheint es ja freilich, daß kein Christ selig werden könne, ohne durch die Lehrer und Bediente der öffentlichen Religion; und daß notwendig alle andre Menschen, die nicht Christen heissen, aller Seligkeit entberen! Das wäre doch aber eben keine sonderlich würdige Folge einer Offenbarung Gottes, wenn die Christen diesen groben Irtum angenommen hätten!

Es ist freilich auf diese Frage ehedem zu wenig gesehen, und noch weniger immer gut und richtig geantwortet worden; 859wenn gleich dieser [164] Ausdruck σωτηρια, Seligkeit oder selig werden, gar oft im teutschen (N. T.)Neuen Testament vorkommt, wie das hebräische Wort ebenfalls gar oft gefunden wird, ohne eine bestimte Erklärung der Sache. Menschen werden errettet, oder in einen Zustand des Heils, Wohlseins wieder versezt, den sie verloren hatten: bezog sich zunächst auf allerley äusserliche Gefar oder Unglük oder Elend, worin sie sich befunden hatten. 860Dein Glaube hat dir geholfen, oder hat dich wieder gerettet aus deiner Krankheit, hat in griechischen eben dis Wort, das sonst Seligkeit übersezt wird. 861Er wird sein Volk selig machen von ihren Sünden, verstunden viele Juden, er wird die Juden erlösen von der bisherigen Herrschaft der Heiden, in welcher sie sich 862 zur Strafe der Sünden ihrer Väter und ihrer eigenen bisher befunden. Dis war überhaupt die falsche Hofnung der Juden, die von dem Messias die Erlösung von der fremden Oberherrschaft erwarteten. Die neue Lehre Christi und der Apostel widersprach dieser leiblichen politischen Seligkeit und Wohlfart, die Gott freilich schon an eine allgemeine Ordnung bey allen Menschen gebunden hatte, ohne eine gleich große Stufe des menschlichen Wohlseyns für die [165] Menschen festzusezen. In der ganzen Menschenwelt gab es eine hinlängliche äusserliche oder leibliche Wohlfart für die Menschen, wenn sie die Mittel dazu anwendeten; es war also eine sehr unwürdige Denkungsart der Juden, wenn sie gar allein die höchste Stufe eines fröhlichen Lebens im Genusse aller sinnlichen Begierden, ohne alle Arbeit, oder eine solche Erlösung von ihrem Messias erwarteten. Nun sahen die Juden alle andre Menschen (die äusserlich glücklich genug lebten, ohne Juden zu seyn,) oder alle so genannten Heiden dafür an, daß sie unter besonderer Herrschaft des Teufels und böser Geister stünden, wie die Juden allein das Volk Gottes wären. 863Es wird also in vielen Stellen des N. T. von nun an die Seligkeit oder Erlösung der Heiden bejahet, weil Christus dazu gekommen wäre, als der rechte Sohn Gottes, das bisher durch den Teufel gleichsam verengerte Reich Gottes wieder ganz herzustellen, und alle Menschen zu gleichen Theilnemern an diesem moralischen Reiche Gottes zu machen, wenn sie nun durch neue Erkentnis allesamt Gottes Kinder werden wolten. Es ist eben nicht schwer, die damalige Relation solcher Stellen auf jenes jüdi[166]sche alte Vorurtheil einzusehen; nun konnte ganz recht behauptet werden, 864Gott, der nun würdiger erkannt wird, will also, daß allen Menschen (moralisch) geholfen werde; (daß sie selig werden, σωδηναι im Griechischen,) und also daß sie immer mehr selbst zur Erkentnis der Wahrheit kommen. Nun wissen es die Schüler der Apostel, 865daß Christus dem, der bisher des Todes Gewalt hatte, nach bisheriger schlechter Erkentnis, dem Teufel, alle Macht genommen; oder 866daß er die bisherigen Werke und Geschäfte des Teufels zerstöret, kurz, alle Menschen aus dem unglückseligen Zustande erlöset habe, den die Juden sonst die Macht des Teufels über die heidnische Menschenwelt zu nennen pflegten; und nun können also und müssen die Christen jenes jüdische Vorurtheil wider die Heiden faren lassen, und sie als eben so gute Kinder Gottes ansehen, wenn sie Gott nach dieser Lehre Christi verehren. Es gibt auch deutlichere Stellen; 867Christus hat uns erlöset von aller vorigen Ungerechtigkeit, 868oder von allem vorigen eitlen Wandel, 869von der unwürdigen Herrschaft der sinnlichen Begierden; 870er ist gestorben um unsrer Sünden willen; oder wenn 871 Christus sagt: [167] mein Blut wird vergossen zur Vergebung der Sünden proprie oder logice verstanden. Alle solche klaren Redensarten beschreiben Christum als den Urheber einer moralischen Wohlfart und Seligkeit in Absicht anderer Menschen, welche jene jüdischen Vorstellungen vom Reiche des Teufels unter den Heiden, nicht schon gehabt hatten. Daß nun die Christen nach und nach entweder alle diese Beschreibungen buchstäblich verstanden und immer zusammengesezt haben; oder aber das Algemeine darin, die Belehrung von der bisher unbekannten moralischen Güte und Gnade Gottes gegen Menschen, die ihren moralischen schlechten Zustand gern mit dem freien Genusse einer moralischen Ordnung, zur wahren Verehrung Gottes, vertauschen wolten: ändert nichts in dem Hauptbegriffe Seligkeit, oder seligen moralischen bessern Zustande der Christen, den sie durch Christum ganz gewis überkommen können, 872wenn sie die Gnade und Wahrheit Gottes immer mehr erkennen und sich zueignen. Es stehet allen Forschern des (N. T.)Neuen Testaments frey, daß sie eine Auswahl solcher Redensarten vornemen, wenn sie einsehen, daß 873jene jüdische Meinung von den unreinen oder verwor [168] fenen Heiden keinen gültigen Grund hatten, sondern vornemlich aus einigen Stellen der griechischen Uebersezung der LXX hergeleitet worden sind, der man unrichtig eine götliche Eingebung beigelegt hat. 874Es haben daher freilich die meisten Kirchenväter eine solche locale Theorie beibehalten, Christus habe die Menschen aus der physischen Gewalt des Teufels erlöset. Es sezen aber auch manche dazu, durch bessere Belehrung von dem Ungrunde der jüdischen Meinungen. Dis ungegründete Ansehen der LXX galt freilich noch lange unter den christlichen Lehrern; 875die ältere lateinische Uebersezung aus ihr hat eben diesen Zusammenhang aller jüdischen Gedanken lange fortgepflanzt unter den lateinischen Christen; und nach der lateinischen Lehrart hat sich auch der gemeinste teutsche Unterricht sehr gleichförmig gerichtet; aber alle fähigern Christen konten ihre Privat-Erkentnis zu eignem grössern Nutzen selbst samlen, aus jenen Stellen des (N. T.)Neuen Testaments, wo die Hauptsache, das Algemeine angegeben wird, ohne jene jüdische Farbe. Allen andern Christen aber stehet auch frey, alle solche Stellen ferner zusammen zu sezen, und sich die Erlösung Christi und [169] die Erwerbung ihrer Seligkeit ganz buchstäblich damit zu beschreiben. Ein großer Feler der ältern Lehrer war es, wenn man es nicht durch die rohen unfähigen Zuhörer entschuldigen mus: daß sie immerfort mehr jene jüdische Farbe behalten, und das Algemeine dadurch wieder verdunkelt haben. 876So hies es überhaupt: Christus ist für die Sünden gestorben, vor der Taufe; bey Kindern für die Erbsünde, bey Erwachsenen für alle vorigen Sünden; wer aber nach der Taufe Sünde thut, muß durch die Kirche nun selig werden, und ihre Anstalten und Vorschriften anwenden. 877Die Seligkeit selbst wurde gar erst nach dem Tode der Christen angesezt, und doch musten die meisten eine unbekante Zeit 878im Fegefeuer erst sich reinigen lassen von den Sünden, die sie im Leben nicht genug gebüsset hatten. Nun sezte die Kirche 879das [Meßopfer] ein für die Sünden der Lebendigen und Toden, und lies viele Messen für die Seelen im Fegefeuer Jahr aus Jahr ein halten. Hier hat die christliche eigene freie Verehrung Gottes gar eine schlechte unwürdige Gestalt bekommen; daß es fast in gar keinem Sinne mehr wahr ist, Christus selbst sei und bleibe in freier moralischer [170] Bedeutung, unser σωτηρ, Herr und Heiland, einmal wie allemal; nemlich in moralischer Ordnung, in unserm jetzigen täglichen Bewußtseyn, in unserm Glauben, oder in eigener Ueberzeugung und Zuversicht, die auf der neuen Erkentnis immer mehr beruhet. 880In der orientalischen und lateinischen Kirche stund die Seligkeit der Christen allein bey der Clerisey, und in der Gemeinschaft mit der katholischen Kirche. Die Protestanten haben viele von diesen jüngern ganz und gar unapostolischen Lehrsäzen aufgehoben; aber demohnerachtet noch zu viel Einheit oder Gleichheit des öffentlichen oder in Worten gefaßten Glaubensbekentnisses beibehalten, woran die Seligkeit der Christen hängen solle. Sie haben noch immer alle Redensarten aller Bücher des (N. T.)Neuen Testaments zusammengesezt, 881wenn gleich schon Flacius sein Corpus doctrinae N. T. 1) aus den Evangelien; 2) aus den Briefen gesamlet hat, und die Bücher des (N. T.)Neuen Testaments sehr ungleich sind. Es komt doch immer auf die eigene Erkentnis der Christen an, wie sie die moralischen Wohlthaten, die sie nicht einem falschen jüdischen Messias, sondern dem moralischen Christus danken, sich jezt gedenken, und wie sie [171] es sich beschreiben, daß sie durch Christum sich selig finden; keinesweges aber komt es darauf an, daß jede dortigen Redensarten buchstäblich alle zusammen getragen, und grössere, würdigere Vorstellungen dadurch auf immer bey uns, in ganz andrer Zeit, gehindert werden. Es ist einerley Wohlthat und Seligkeit. Ob Christen 882 proprie oder improprie, logice, einen Saz sich zu ihrem jezigen wahren Nuzen vorstellen: ändert nichts in dem wohlthätigen und verdienstlichen Verhältnis Christi; also auch nichts in der Seligkeit der Christen. Wenn gleich selbst manche Lehrer dieses nicht einsehen: müsten sie doch nicht so päbstisch handeln, und einander die unsichtbare christliche Wohlfart absprechen, um buchstäblicher todter Zeilen willen. So wol die Theilnemung hieran, als der Umfang selbst ist und bleibt ausser allem menschlichen Gebiete und Befelen. Wie nicht alle Menschen eine und dieselbe Stufe menschlicher, bürgerlicher, häuslicher, physischer Wohlfart haben können: eben so ungleich und veränderlich sind die Stufen des Bewußtseyn einer christlichen innern Wohlfart; wenigstens hat weder Christus noch ein Apostel es gefordert, daß alle Christen ein gleiches [172] Maas der Erkentnis und der Anwendung der Erlösung und Seligkeit haben müsten. Ueber alle andern Menschen, die das Glück noch nicht haben, christliche Belehrung von der Verehrung Gottes zu bekommen, dürfen und wollen geübte Christen ohnehin gar nicht urtheilen; oder sie vergessen es, 883wes Geistes Kinder sie seyn sollen.

22. Es gibt aber doch so vielerley christliche Begriffe und so mancherley ernstliche Vorstellungen, nach den besondern Parteien, eben über die so genannte Erlösung, 884über eine Satisfaction, über Zurechnung der Gerechtigkeit oder der ganzen moralischen Vollkommenheit Christi, als Gott und als Mensch, die 885 allein durch den Glauben dem Christen zu Theil wird; über die Kraft des Blutes Christi, 886daß auch ein Tröpflein kleine die ganze Welt kann reine, ja gar aus Teufels Rachen frey los und ledig machen (etc.)et cetera: daß hiemit die Christen selbst eben immer von einander getrennt und uneinig bleiben; wenn sie gleich alle bey solchem Widerspruch sich auf Beweise der Bibel berufen. [173] Gleichwol ist im ganzen (N. T.)Neuen Testament niemals eine solche genaue Bestimmung anzutreffen, welche die andern Vorstellungen ausschlöße.

Aus allen solchen Ungleichheiten entdeckt sich zwar eine wirkliche bisherige Geschichte der Christen, die in der besondern Bestimmung des Sinnes dieser neuen Säze und Redensarten von einander abgehen; und wie konte es an einer Geschichte der so großen neuen Religionsfamilien felen? Aber dieses ist nur ein Beweis, daß die Christen von einander unabhängig, und in der eigenen Uebung und Gebrauche ihres eigenen Urtheils immer sehr ungleich waren; und eine solche Verschiedenheit macht eben die wirkliche Ausbreitung, den Wachstum, die steten Folgen der neuen Grundsäze aus; ohne einigen Widerspruch gegen das Wesen der neuen Religion selbst. Alle christliche Familien und Parteien behalten den neuen Grundsaz der christlichen Religion, Gott hat durch die lebendige Erkentnis eines solchen Christus oder Sohn Gottes unter den Christen eine grössere und gemeinnüzigere Offenbarung und Belehrung angefangen, von [174] einer moralischen Religion, deren Umfang mit der reinen uneingeschränkten Erkentnis aller noch so ungleichen Christen gleich fortgehet, und also an sich selbst, durch keine äusserliche locale Gesezgebung, oder bürgerliche Verfassung verengert, festgesezt, und ein für allemal unveränderlich bestimmt werden kann. Denn alle äusserliche Vorschrift kann nur das äusserliche Verhältnis derjenigen Menschen angehen, die äusserlich der Zeit und dem Orte nach, jedesmal zusammen gehören; und hiemit schon von andern immer verschieden sind. Ihre innere Ungleichheit und Verschiedenheit bleibet das, was sie ist; daher haben auch die Apostel kein feststehendes Maas aufgestellet, wonach die so ungleiche Kraft des Verstandes, des Gedächtnisses, der Imagination (etc.)et cetera in allen Christen eine allereinzige Stufe haben solte. Wie in mehrern Schriften der Apostel, und selbst in Christi Reden, vielerley Anspielungen auf den Inhalt des alten Testaments vorkommen, und manche Allegorien angefangen worden sind, welche die damaligen Zeitgenossen gleichsam anleiten, wie sie ihre eigenen Vorstellungen für sich selbst, ohne durch das (A. T.)Alte Testament gehindert zu werden, frey vorne[175]men und ausbreiten können, indem die eigene Uebung des Nachdenkens und Urtheiles, zu dem Wesen der christlichen eigenen Religion gehört, in steter Beziehung auf die geringere jüdische Religion: so ist der freie eigene Gebrauch des Nachdenkens über den Inhalt und Umfang der christlichen Verehrung Gottes, eine ausgemachte Pflicht für alle fähigern Christen, die sie sich selbst durchaus schuldig sind, und woran sie durch gar keine äusserliche Lehrform gehindert werden können. Die Ungleichheit der öffentlichen Lehrformen ist ebenfals durchaus unvermeidlich, wegen äusserlicher localer Ungleichheit der Menschen, die nun in verschiednen Umständen, welche Zeit [und] Ort immer mit sich bringen, sich in eine christliche Religionsgesellschaft vereinigen, und eine gemeinschaftliche Lehrform unter sich äusserlich einfüren. Gesezt auch, daß alle ersten Lehrer dieser neuen Gesellschaft blos ihrem christlichen Gewissen folgten, und gar nicht auf eine unedlere Nebenabsicht mit sehen: so sammleten sie doch nur eine solche Erklärung der neuen christlichen Säze und Redensarten aus einigen Büchern des (N. T.)Neuen Testaments, als ihnen die nächste war. Ihre Schüler stimmeten nun ein in solche [176] Beschreibungen, und nun wurde diese Lehrform das gemeinschaftliche Band, das diese christliche Religionsfamilie äusserlich zusammenhielte, oder in ihren feierlichen Zusammenkünften durch eben diese bestimmten Merkmale einander als Mitglieder Einer Gesellschaft immer zu erkennen gab. Nun gehen mehrere Lehrer entweder für sich selbst oder als Missionarien ihrer sehr verschiedenen Brüderschaften immer weiter in Städte und Länder des Orients und Occidents, und legen christliche Colonien an: es werden also immer mehr christliche Lehrformen in immer neuen christlichen Colonien aufgebracht, welche alle ganz gewis den Grund einer christlichen Verehrung Gottes enthalten, auch ganz gewis allesamt grössere oder kleinere Zweige der christlichen Religion heissen müssen, und unter ihre Familien oder Colonien neue christliche Begriffe und Theorien immer mehr ausbreiten. Wenn nun gleich ehedem die katholische Partei alle andern Colonien, die nicht zu ihrer äusserlichen Lehrform gehörten, für Unchristen oder Kezer ansahe, und die wahre christliche Religion, also auch die Seligkeit der Christen (was man auch unter Seligkeit jezt verstehen wolte,) [177] nur an ihre katholische Lehrform (ohne allen Grund) anhinge: so müssen doch alle verständigen unparteiischen Christen urtheilen, daß diese Anmasung der katholischen Partei gar keinen christlichen Grund habe. Nun verhält sich die Sache eben so in unserer Zeit. Im 16ten Jahrhundert entstehen neue christliche Parteien, welche alle von der alten päbstlichen Partei oder lateinischen Religionsform abtreten; Protestanten, die endlich öffentliche Religionsrechte im teutschen Reiche bekommen; 887 Anabaptisten, die nachher als Mennoniten hie und da öffentliche Gesellschaften ausmachen; 888Anhänger der schwenkfeldischen Schriften; viele Socinianer, unter sich selbst nicht einig, so wenig es die Gelerten in der römischen und protestantischen Kirche je waren, in Absicht gelerter Fragen, die zur algemeinen christlichen Religion nie gehören können, weil sie aus gelerten Uebungen entstehen. 889In England und Holland entstehen noch einzelne christliche Familien etc. Alle diese Parteien haben eine besondere öffentliche Lehrform, wodurch sie sich von einander äusserlich, oder in der Einrichtung ihrer sichtbaren öffentlichen Religionsform, immer unterscheiden, je nachdem [178] Verträge oder politische Umstände eine verschiedene äusserliche Lage mit sich bringen. Es sind aber und bleiben alles Zweige der äusserlichen oder sichtbaren christlichen Religionsform, wie sich diese neue Religionsform immer von aller jüdischen und heidnischen Religionsform unterscheidet. Wenn nun 890gleich vom Anfange dieser neuen Trennung her, sowol die römischen Päbste die Protestanten für Kezer und Unchristen bei ihren alten Anhängern sogleich erklärt haben; als auch selbst protestantische Gelerte diese päbstliche Tiranney im Kleinen nachgeamet, und selbst 891 Luther den Zwingli einen Heiden gescholten, auch 892die nachherigen lutherischen Theologen den Calvin, Beza erschrecklich verkezert, 893auch die Socinianer geradehin für Unchristen angesehen haben, 894wie die ältern Reformirten die jüngern Arminianer verdammten: so ist doch und bleibt wahr, daß die Ungleichheit der öffentlichen Lehrformen gar nicht das Wesen der christlichen Verehrung Gottes aufheben kann, nach der gewissenhaften Einsicht fähiger praktischer Christen. Es werden freilich auch die entgegenstehenden Urtheile nicht aufhören; aber so bald in öffentlicher Gesellschaft Nachtheil dadurch entstehen [179] kann: gibt der Staat den nötigen Maasstab wider unnüzen Eifer; und beide Theile behalten ihre Meinung für sich.

Was insbesondere den einzelnen Inhalt dieser Frage betrift, so gehört es zur Freyheit des Gewissens aller derer Christen, welche die Erlösung Christi jezt aus ihrem eigenen Gesichtspunkte ansehen, und eine Satisfaktion Christi für ihre Sünden in ihrem Bewußtseyn, und eine 895 Zurechnung der Gerechtigkeit Christi für ihre täglichen Mängel, von ganzem Herzen billigen und glauben, und in diesem alleinigen Glauben, auf ein unendliches Verdienst Christi, ihre eigene innere Ruhe, und eine immer weniger ängstliche Zuversicht zu dem heiligen gerechten Gott, festhalten. Kein guter billiger Mensch kann sie auch darum verspotten, wenn sie dem Blute Christi eine alles vermögende Kraft in Absicht auf sie selbst, zu ihrer moralischen Ruhe, zuschreiben. Sie haben doch eben so viel freies Recht zu der Anwendung der Beschreibungen im (N. T.)Neuen Testament auf sich selbst, zu ihrer eigenen Erbauung, als je die Socinianer und Naturalisten haben mögen, dieses ganz anders zu [180] beurtheilen. Es ist und bleibt also gewaltthätig, wenn Socinianer die ihnen geläufigen Begriffe, worin ihrem Gewissen ein völliges Genüge geschiehet, nun allen andern Christen aufdringen wollen, die ihre gewissenhafte Ruhe ebenfals bei ihrer moralischen Zuversicht schon haben und genießen, in ganz andern Begriffen, die sie ohne einigen Einwurf oder Zweifel zu haben, bisher angenommen und ganz gewis durch ihre Erfarung bewäret gefunden haben. Ist es denn so schwer den ehrlichen Grund dieser Ungleichheit auf beiden Seiten, als eine verschiedne Historie beider Christen oder beider Parteien da stehen zu lassen, wo er sich ein für allemal findet? Ist es möglich, daß Christen ferner einander vorsagen, du raubst Christo alle seine Ehre, wenn du nicht eben so [von] Christo und seiner Satisfaktion für dich privatim denkest, als ich für mich es denke? Kann dieses wahre christliche Verehrung des unendlichen Gottes heißen, wenn Menschen [einander] gebieten, was sie für eine einzele Lehrform in ihrem Gemüt vorziehen sollen, da alle Lehrform nur zunächst äusserlichen Erfolg haben kann, an sichselbst aber dem so verschiednen Gewissen durchaus [181] wieder privatim unterworfen bleibt, nach der höchsten Regel, 896ich mus Gotte mehr in meinem Gewissen und eigener Ueberzeugung gehorchen, der mir in der Bibel dieses sagt, als andern Menschen. Die Ungleichheit der Menschen, in Absicht der innern Fähigkeiten, war doch nicht aus Bosheit und eigenem Vorsaz der Menschen entstanden; weil sie gerade nur solche Vorstellungen und Urtheile über christliche Gegenstände annemen und behalten können, als ihre Fähigkeiten und ihre Anwendung es zulassen. Wenn wir nun die psychologische Unmöglichkeit einsehen, daß so verschiedne Menschen innerlich einerley Bewegung und Maas des Verstands anwenden, sobald sie in ihrer Lage, als Individua selbst christliche eigene Vorstellungen samlen; und wenn eigene Erkentnis, eigener Glaube oder 897 moralische Gewisheit, durchaus für jeden Christen zur wahren christlichen Verehrung Gottes gehöret; wenn diese endlich durchaus nicht [einerley] Grad und Maas weder haben noch immerfort behalten kann, um eine moralische Fertigkeit zu seyn: warum hören denn Christen nicht auf, die innere beste christliche Verehrung Gottes, wozu eine Ungleichheit durchaus gehöret, so sehr zu ver[182]kennen und so übel zu behandeln, daß sie die ganz andre Absicht aller öffentlichen localen Lehrformen, gar aus dem Gesicht verlieren, und eine einzige Lehrform gar zu dem Wesen der wahren christlichen Verehrung Gottes bei allen Christen so ganz ungerecht, ganz unchristlich fordern? Alle Protestanten lehrten eine Kraft Gottes, der ein unendlicher Gott ist, die sich auf die Gemüter der Menschen, der Christen durch die göttlichen Wahrheiten erstrecke, gewis nach seinem Wohlgefallen, nach seinem Vorsaz; wenn ist diese moralische Hand Gottes kürzer oder gar uns unterworfen worden? Wie können die einzelnen christlichen Lehrformen in den Christen diese heilsame Gnade und 898freie unendliche Kraft Gottes durch einige todte Worte hindern?

So bald wir die Historie der öffentlichen Lehrformen aus den ältern Zeiten zu Hülfe nemen: fällt uns ihre stete Abwechselung und Succession in die Augen; und es gab doch christliche Verehrung Gottes, es gab ein unendliches Reich Gottes in den Menschen. Lange Zeit hatten viele Christen gar schlechte Begriffe, von dem Verhältnis der Er [183] lösung Christi. Viele zogen jene Ausdrücke, 899 Lösegeld, 900erkaufen (etc.)et cetera gar dahin, 901es habe Christus dem Teufel sich als ein Aequivalent für das Recht gegeben, das er bisher an den Menschen durch die Sünde gehabt hat. Ich brauche die Abwechselungen der Vorstellung in christlichen Lehrsäzen hier gar nicht zusammen zu zälen; 902in unserer Zeit hat die Historie der christlichen Lehrform ein grösseres Licht hinlänglich ausgebreitet. Genug, wir wissen historisch, die folgende Erkentnis trat immer an die Stelle der vorigen, so bald diese als schlecht und ungegründet eingesehen wurde. Dis traf alle Artikel, bei allen verständigen Christen; der große Haufe hatte gar keine eigene Erkentnis; sehr wenig historische Ideen behielt er einmal wie allemal, und lies Gott durch die Clerisey bedienen. Hiezu haben freilich die Bischöfe und die Religionsdiener gern geholfen; denn sie lebten herrlich in aller menschlichen Glückseligkeit, und gebrauchten die Religion der immer unwissenden Christen zu einem Mittel ihres menschlichen Wohllebens; dis ist nun so historisch gewis, daß 903selbst edle würdige Männer in der römischkatholischen Kirche diesen Misbrauch der öffentlichen Reli [184] gion eingestehen. Da im 16ten Jahrhunderte es mehr denkende ernstliche Christen gab, so wurde die bisher still liegende Kirchenlehre aufs neue untersucht; und nun war es unvermeidlich, die Protestanten schnitten alle kirchlichen Satisfaktionen ab, und lehrten eine allereinzige Satisfaktion, die Christus ein für allemal geschafft hat; und allein der Glaube, oder die Ueberzeugung hievon, die innere neue Uebung, macht alle Christen der Folgen selbst theilhaftig. Wir änderten eben so den Begriff Iustificatio, kurz, die Protestanten haben keinen Grundsaz von Infallibilität und Unveränderlichkeit einer einmaligen Theorie, oder öffentliche Lehrform, an welche die Seligkeit aller Christen von Gott gebunden worden sei, sondern geben ihrer Lehrform nur ein bürgerliches menschliches Ansehen, daß es von keinem einzelnen Mitgliede öffentlich angegriffen, oder verächtlich gemacht werden kann, unter der erborgten Maske von Menschenrecht und Freiheit im Stande der Natur. Weder die christliche Verehrung Gottes, noch irgend eine Summe von natürlicher Religion kann einen wahren moralischen Vorzug darin finden, daß die vorige vorüberge [185] hende Geschichte anderer Menschen blos wiederholet und einmal eben so viel wie allemal in einem christlichen oder natürlichen Lehrbegriff enthalten ist. Diese Einheit gehört allemal für eine äusserliche Gesellschaft, um äusserlicher Folgen willen. Durch die gesellschaftliche Einheit wird der innere unumschränkte moralische Raum, worin sich der Privatverstand beweget, nicht beenget. Es mus oder kann ein jeder fähiger Mensch ausser der gesellschaftlichen Religionsform auch noch die eigene freie Bewegung seines Gemüts auf die moralischen Objecte unabhängig von andern Menschen anwenden. 904Kein Befel, keine Vorschrift kann diese innere eigene Kraft fähiger Menschen von innen aufheben oder einschränken, daß sie nun eine allereinzige Summe so wol als Richtung ausmachen müste. Nun mögen noch so vielerley neue Säze und Redensarten im (N. T.)Neuen Testament vorkommen, 905von Christo und seiner Versönung, daß er ein Opfer, ein Hoherpriester ist für die Sünden der Menschen: so werden doch keine physischen Veränderungen hiemit beschrieben: es ist weder physische Wirkung, noch physischer Erfolg da; es gehört alles in das Reich der Moral, und [186] beziehet sich auf Menschen, welche entweder die alten Vorstellungen, die sie schon hatten, nun wiederholen; oder aber bessere Begriffe an die alten Redensarten aus eigener moralischer Uebung, anhängen. Diese eigenen moralischen Betrachtungen fähigerer Menschen, haben keine allereinzige Bestimmung schon über sich, die sie um irgend einer Auktorität willen ihrer eigenen Erkentnis vorziehen müsten. Wenn sie aber in einer Gesellschaft durch eine öffentliche Lehrform einmal wie allemal aufgestellet werden, so beziehet sich diese neue menschliche Verordnung nur auf die Einschränkung der verschiedenen Vorstellungen in Absicht der feierlichen Mittheilung an andre; daß sie nicht eine tägliche Zerrüttung veranlassen sollen, durch ihre immer abwechselnde öffentliche Mittheilung an andre Mitglieder: weil schon öffentliche Lehrer bestellet sind, um die gemeinschaftliche Religionsform, welche das öffentliche locale Band dieser Christen ist, zur Erhaltung dieser Gesellschaft fortzusezen. Die innere eigene christliche Religion wird nicht für alle Christen durch eine öffentliche Religionsform schon bestimmt; ihr ganzer moralischer Unterschied, der [187] immer gros ist, bleibt; sie werden nie vereiniget oder eingeschränkt. Daher wird im (N. T.)Neuen Testament niemalen eine allereinzige Bestimmung des Sinnes dieser Redensarten festgesezt, wenn gleich hiemit eine neue Sprache für die christliche Religion entstehet; die, wie alle Sprachen zur gesellschaftlichen Verbindung gehört. Da aber die Mitglieder einer christlichen neuen Gesellschaft schon einige moralische eigene Uebung mitbringen: so bleibet die Verschiedenheit der christlichen Privat-Religion, bei aller äusserlichen Vereinigung zu einer neuen äusserlichen Gesellschaft; weil fähigere Christen schon mehr moralische Vorstellungen haben und samlen, die alle unter der neuen Sprache von ihnen mit begriffen oder verstanden werden können; wenn gleich viele andre unfähigere Christen nur eine einzige Vorstellung ein für allemal kennen. Es ist, wie schon mehrmalen angemerkt worden, kein Protokoll, kein Register der allein rechtmäßigen vollkommensten Vorstellung im (N. T.)Neuen Testament gegeben worden; die damaligen Begriffe bei Juden- und Heidenchristen sind nicht fernerhin die unveränderlichen allerbesten Begriffe, die nun von allen Christen blos wiederholet werden solten; in[188]dem alle Christen, wenn sie selbst denken, von allen Christen immer wieder unterschieden sind, wie gar keine Fertigkeit in mehrern Subjekten eben dieselbe Fertigkeit ist und bleibet. Die christliche eigene Verehrung Gottes mus immer der eigenen Erkentnis gleich seyn, und die eigene Erkentnis der immer verschiednen Christen kann innerlich durchaus nicht eben dieselbe seyn; sie ist und wird grösser oder kleiner nach der innern und grössern Fähigkeit der Christen; und es bleibt dennoch wahrhaftig in allen solchen praktischen Christen die rechte geistliche Verehrung Gottes; wenn sie gleich nicht eine unendliche ist, sondern immer nur eine sehr eingeschränkte, wie der Mensch es selbst ist. Alle bisherigen Lehrformen also, welche bei allen christlichen Gesellschaften zu ihrer äusserlichen Verbindung eingefüret sind, entfernen sich nicht schon von dem neuen Grunde und Wesen der christlichen Privat-Religion; die öffentliche Gleichförmigkeit oder Gemeinschaft eines Lehrbegrifs verbindet nur eine jede solche locale Gesellschaft in Absicht der feierlichen gemeinschaftlichen Merkmale dieser fortdauernden Verbindung mit einander. Diese Unterscheidung von an[189]dern christlichen Religionsparteien sagt nun nicht, daß andre Christen durchaus gar keine wahre christliche Verehrung Gottes hätten; denn dis sagten nur Päbste und Pfaffen. Es darf auch kein Haß oder Verachtung anderer Parteien zu einem Vorzug einer Partei gerechnet, und gleichsam zur besondern Verehrung Gottes angenommen werden, es würde vielmehr eine große Unvollkommenheit solcher kindischen Christen an den Tag legen. Niemand kann sich herausnemen, seine Einrichtung und Wahl des besondern Lebens als das algemeine Model aufzustellen, wonach alle andre Zeitgenossen sich richten müßten, um eben so ruhig und glücklich zu werden; denn dis lezte wäre eine ausgemachte klare Thorheit; Es sollen nicht alle Menschen auf eben der Stelle eines andern Individui stehen wollen, weil es unmöglich ist. Jeder wälet sich daher eine Stufe bürgerlicher Wohlfart, und behält sie, die für ihn möglich ist. Wo komt nun diese rohe Anmaßung unter den Christen her, daß eine besondere Lehrform, die nicht ohne Localität und gegenwärtige Einschränkung seyn kann, das allgemeine Maas für alle Christen in allen andern Umständen, (denen sie ohne [190] Wahl und Vorsaz unterworfen sind und bleiben,) ein für allemal werden sol? Es kann keiner den andern in seine eigene Lage und daher abhängende Uebung übersezen oder erheben. Wir freuen uns, wenn wir arme dürftige Nebenmenschen gleichwol in ihrer Lage zufrieden und vergnügt sehen. 906Es sind wenigstens thörichte unglückliche Grundsäze, wenn eine äusserliche Gleichheit aller Zeitgenossen eingefürt werden wil, wodurch alle immer fortgehenden Stufen wieder aufgehoben würden, zu denen die gesellschaftliche Verbindung alle kultivirten Völker erhoben hat. Wie können nun gar Christen es zu ihrer eigenen rechten Religion rechnen, daß andre Christen ja keine eigene so oder so weit verschiedne Privat-Religion haben, als jene zu beschreiben gewont sind. Wie kann die größte Verehrung Gottes in dieser Unterdrückung der moralischen freien Natur der Menschen bestehen? Warum sol die alte jüdische oder eben anfangende Sprache der Christen, nicht mit der fernern Erkentnis sich erweitern? Der Verstand der fähigern Menschen bleibet eine freie Kraft, die ihre Natur nicht verliert, wenn sie christliche Objekte zu betrachten und genem zu halten sich entschliessen. Alle Verbind[191]lichkeit zur Schonung und Ertragung der moralischen Schwachen und Kranken, aller Wachstum vom Kleinen ins Große würde ja gleich wegfallen, wenn eine allereinzige Vorschrift nun die Seelenkraft aller Menschen, die Christen werden, nach Einem Maas physisch einrichten könte! Blos ganz andre Absichten können hiedurch gesucht werden; 907grössere Ehre Gottes, gewissere moralische Wohlfart der Menschen darf man nicht mehr vorwenden. Und wie hat eigentlich der öffentliche Lehrer von seiner Gesellschaft den Beruf bekommen können, (anstatt seine Zuhörer nach ihrer gemeinschaftlichen Lehrform, wodurch sie eine Gesellschaft sind und bleiben, zu eigener innerer Verehrung Gottes immer mehr anzuleiten,) über andre Menschen, Christen oder Unchristen, unaufhörliche Endurtheile vorzusagen? Wie kann dieses Erkentnis und Verehrung des unendlichen Gottes befördern? Der eigene Verstand, das eigene Gewissen der Zuhörer sol durch den öffentlichen Lehrer nicht knechtisch gefüret und gleichsam gefangen gehalten werden; sie würden ja sonst alle dem Lehrer nun unterworfen, und hörten auf ihren eigenen Verstand für sich zu gebrauchen, und [192] bekämen keine eigene innere Religion. Diese Uebung ist aber nicht nur ihnen selbst unentberlich, zu einer wahren [Beruhigung] bey so vielen Zufällen ihres Privatlebens; sondern kann auch nicht fehlen, ohne die gewisseste Sicherheit und größte Veredlung der Nebenmenschen gar sehr zu verringern; wenn sie gleich einen Catechismus behalten. Denn die bürgerlichen Gesetze sind nicht im Stande, in den häuslichen Zusammenhang und das Privatleben, in die inneren Bewegungen und anfangenden Absichten der Menschen einzudringen; die äusserliche [Religionsordnung, die] nur historisch gelernt wird, und nur zu feierlichen Handlungen gehört, kann dies eben so wenig; blos die eigene gewissenhafte Religionsübung gibt dem Menschen eine richtige Richtung, wenn er die wahre Verehrung Gottes kennt, die kein öffentlicher Religionsdiener für ihn vollziehen kann. Dieser neue christliche Sinn, diese eigene innigste Verehrung Gottes, kann in den Privatchristen aller besondern Parteyen, bey noch so ungleichen Lehrformen da seyn; und diese Allgemeinheit ist und bleibt der wesentliche Character dieser bessern Religion. Die Christen bekennen und glauben, daß der Geist [193] Gottes 908die ganze Christenheit auf Erden, in allen so verschiedenen Zungen und Sprachen, also auch in allen verschiedenen Vorstellungen, die sie als ungleiche Christen haben mögen, hält in einem Sinn gar eben; durch jenen Mißbrauch der gesellschaftlichen lokalen Lehrformen aber leugnen sie diese Allgemeinheit der eignen moralischen recht christlichen Religion.

23. Es mag freilich die Bestimmung der öffentlichen Religionsdiener noch manche Berichtigung und genauere Anweisung bedürfen. Sie sollen iener immer ungleichen Versammlung durch ihren Vortrag von christlichen Grundwahrheiten moralisch nüzlich seyn, und die Privatreligion zu Hause, im übrigen Leben bey allen befördern; gewis nach den ungleichen Umständen und Fähigkeiten der immer ungleichen Zuhörer. Ob dis dadurch geschiehet, daß sie von Dreieinigkeit, von Gottheit Christi, von Versöhnung der Menschen, von alleinseligmachendem Wort Gottes – einmal wie allemal, wider alle andere Christen und Menschen so gar leicht abspre[194]chen: ist doch eine wichtige Frage, deren Beantwortung den übrigen Zeitgenossen nicht ganz genommen werden kann, welche so gern den Wachsthum der innersten rechten Verehrung Gottes durch die vernünftigen Menschen, eben zum grossen Segen der Menschen befördert sähen! Wenn es aber nun den verständigen Christen freystehet, privatim über den Sinn und die Anwendung der christlichen Redensarten und Begriffe nachzudenken, die freylich sehr verschieden, nicht in einerley Abmessung, selbst im (N. T.)Neuen Testament vorkommen: so müssen ja die so genannten Naturalisten es noch vielmehr frey behalten. Ich halte es für billig, zuzugeben: daß für viele Leser des (N. T.)Neuen Testaments eine Vorstellung von Satisfaction in der oder [jenen] Stelle wirklich einen Grund gehabt habe, auch noch habe; daher ich es eben für kein Verdienst um unsre Zeitgenossen halte, wenn man sie darüber verspottet. Aber ich finde doch noch nicht, selbst im (N. T.)Neuen Testament daß alle Menschen eine Satisfaction für ihre Sünden erst voraussetzen müssen, um in der täglichen Verehrung Gottes als Christen, [195] durch ihr Thun und Lassen, desto weiter zu kommen. Für die Juden war dieser Begriff nöthig, Christus ist für die Sünden der ganzen heidnischen Welt, auch für die Sünden der Juden, als ein rechtes moralisches Opfer, gestorben; dies ist ein neues Urtheil; er ist nun die beste, größte Versöhnung der Menschen, die sonst Gottes Zorn und Strafe fürchten mußten, in eigner Unruhe, oder nach jüdischen Urtheilen. Die Heiden, die nun aufhören zu sündigen, müssen daher als Mitbrüder, als Kinder des Einen gemeinschaftlichen Vaters behandelt, nicht mehr gehasset werden – – wenn aber ich die Gnade und Liebe Gottes kenne, ohne vorher je diese Vorurtheile wider die Heiden, oder von Nothwendigkeit der äusserlichen Opfer gehabt zu haben: so ist es mir ja nicht nöthig, diesen relativen Begriff aufzunemen; und wenn manche Christen dennoch mich davon überzeugen wollen, ich könne sonst 909Gott nicht von ganzem Herzen und allen Kräften lieben, wenn ich nicht von ihnen 910die jüdische Redensart, vom Zorn und Eifer Gottes, zu meiner Er[196]kenntniß zusezen und anknüpfen würde: so nöthigen sie mich, daß ich ihren ganzen Begrif so entwickele, daß die blos menschliche locale Lage, worin er entstund, eben keinen Vorzug behalten wird vor der Verehrung Gottes, die ich wirklich habe und behalte, ohne eine Satisfaction.

Und ich würde mit Ihnen mich darüber in keinen Streit einlassen, da Sie von den unbilligen Spöttereien, wodurch keine eigene Erkenntniß sondern geheimer Haß und Erbitterung befördert wird, so weit entfernt sind. Es muß freilich den so verschiedenen Christen freystehen, sich eine Auslegung ihres (N. T.)Neuen Testaments zu wehlen, welche ihren Fähigkeiten gleich ist; also auch eine praktische Anwendung des angenommenen Sinnes vorzuziehen, die nun ihre eigene Fertigkeit ausmacht. Wenn man fragt, gehört eine Satisfaction zum Wesen der christlichen Religion? so kann man nicht geradehin für alle Christen so entscheiden, daß sie alle diese Entscheidung nun annehmen müssen, oder sonst selbst es ganz gewiß inne würden, daß sie alle christliche Verehrung Gottes gar verlohren hät[197]ten. Die Protestanten haben die einzige Genugthuung Christi, und zwar nicht blos für die Erbsünde, wider die alte lateinische Lehrform, bejahet und nun alle Satisfactionen aufgehoben, welche sonst als ein Theil der (römischen, kirchlichen, sacramentlichen) Busse allen Kirchgliedern schwer oder leicht aufgelegt wurden. Daher wird auch diese Wohlthat Christi, seine Genugthuung, in den protestantischen öffentlichen Lehrformen noch fortgesetzt; sie ist ein Grundsatz wider die päbstliche und pfaffische Tiranney; und eine stete Unterscheidung unserer Kirche von der socinianischen Geselschaft. Aber die Privatchristen behalten es frey, das Algemeine, wozu der Tod und diese Historie Christi als ein Mittel gehörte, selbst zu erkennen. erl_f_23_3Sehr gelehrte Väter, Scholastiker, bis auf den Calixtus, haben es bejahet, Gott könnte das menschliche Geschlecht, auch auf andere Weise, zu immer grösserer moralischer Uebung und Fertigkeit bringen, ohne diese Historie Christi. Es gibt auch lange 912die Behauptung, daß das Blut Christi nur als causa moralis anzusehen sey, und nicht physice wirke. Schon vor mehr als hundert Jahren hat Richard Baxter, ein unbeschol[198]tener scharfsinniger Theologus in England, in dem Buch Methodus theologiaetextgrid:3rns0, den gemeinen Begrif von Satisfaction, der für die geringen Fähigkeiten der meisten Christen so erbaulich und fruchtbar ist, in Absicht der verständigern und fähigern Christen, als ganz ohne einen Grund und unmöglich beurtheilet; ohne dem Wesen der christlichen Religion hiemit irgend einigen Schaden zu thun. Denn alle successiven, localen modificativen christlichen Vorstellungen entfernen sich zwar, mehr oder weniger, von den vorigen oder andern Vorstellungen anderer Christen, aber sie entfernen sich hiemit nur von dem Zufälligen, nicht von dem Wesen der christlichen Religion. Umgekehrt hat 914der grosse Philosoph Wolf, in den marburgischen Nebenstunden eine völlige Demonstration der Satisfaction schriftlich aufgesezt, ohne 913 Baxters Methodus Theologiaetextgrid:3rns0 zu kennen oder zu widerlegen. Weder ehedem noch jetzt, war und ist dieser Begrif bey allen Christen schon eben so da, und er kann nicht allgemein werden für alle Christen, weil sie nie in Einer Lage ihrer Uebung sind. Er gehört also freilich nicht zum Wesen der christlichen Vereh[199]rung Gottes bey allen so unendlich verschiedenen Christen, indem die christliche Religion selbst nicht eine solche Einheit und Unveränderlichkeit zuläßt, eben um eine christliche Verehrung Gottes zu seyn. Immer vermischt man die einzelne Wirklichkeit der christlichen Religion in subjectis, wozu allemal eine andre Zeit und Localität gehört, mit der allgemeinen Quelle, woraus diese abgeleitete jedesmal wirkliche Religion ihr einzelnes Daseyn immer noch bekommt, die den unzälichen Individuis frey stehet, wenn sie entweder selbst ihre christliche Religion sammlen nach eigner Fähigkeit oder von andern Christen, die sie über sich setzen, eine Form sich geben lassen. Nun mögen die Christen aus dem (N. T.)Neuen Testament so oder so viel zur wahren christlichen Religions-Erkenntniß rechnen: so haben sie doch immer alle eine christliche Religions-Summe, die immer von Juden- und Heidenthum durch viel mehr Moralität verschieden ist. Diese Verschiedenheit ist aber so groß, als die Ungleichheit der Fähigkeiten und der Uebung ist, welche diese Menschen schon mit bringen, da sie zu einer christlichen Religionspartey treten, oder in derselben nun selbst untersuchen und denken; [200] daß sie entweder ganz allein die gesellschaftliche Lehrform annehmen und immer behalten, weil sie keine eigene Fähigkeiten anwenden; oder noch neben der gemeinschaftlichen Religionsform ihre eigenen Vorstellungen für sich, zur Privatreligion zusammen setzen. Im leztern Falle finden wir gewiß eine noch bessere würdigere Verehrung Gottes, die das Wesen der christlichen Religion 915für alle fähigern Menschen, oder für πνευματικους ausmacht; der erste Fall aber behält eine Gleichförmigkeit in den äusserlichen Merkmalen einer Gesellschaft, ohne täglichen moralischen Wachstum dieser gemeinen Christen. Das (N. T.)Neue Testament lehret auch selbst, daß das Maaß des Glaubens oder der neuen Erkenntniß und Verehrung Gottes, durchaus nicht gleich seyn könne, welches eine allgemeine ganz ausgemachte Erfahrung ist, bey aller Vielheit der Subjecte aller Arten. Es ist mehr oder weniger moralische Vollkommenheit in den Individuis. Blos die neue Kunst oder der Vorsatz der Menschen kann den natürlichen Unterschied äusserlich aufheben, der sonst in der Ungleichheit der Zeit und des Orts natürlicher Weise immer da ist. Der Unterricht nun, den die [201] Aufsätze von der Lehre Christi und der Apostel, in diesen neuen Schrifften der Christen, oder im (N. T.)Neuen Testament geben, ist wirklich nach der der damaligen Menschen sehr weißlich abgefasset, ohne daß einerley moralischer Raum für die neuen Vorstellungen der Christen schon abgesteckt wäre. Ihre moralische neue Bewegung ist ganz frey, was ihre Privaterkenntniß betrifft; sie können ihre Erkenntniß täglich vermehren und verbessern. So bald aber mehrere Christen in eine Gesellschaft zusammen treten, setzen sie ein Drittes fest, worin sie immer öffentlich, kenntlich, äusserlich übereinkommen wollen, um diese gesellschafftliche Verbindung zu behalten, wodurch alle Mitglieder einander immer wieder kenntlich sind. Sie behalten aber ihre Privatfähigkeiten und ihren Privatgebrauch, oder die besondere natürliche Summe ihrer Seelenkräfte ganz frey, wenn sie nicht in den feyerlichen Versammlungen sich befinden, wodurch sie entweder nur ihre öffentliche Religionsverbindung fortsetzen, oder auch ihre innere Empfindung damit selbst verbinden. Der Unterscheid dieser vielerley Religionsgesellschafften der Christen, ist also immerfort ohne ihren Vorsatz ausser ihnen [202] selbst da; ist so unmoralisch, als der physische Unterschied der körperlichen Grösse. Eine 916 Discantstimme, in Gebeten und Gesängen, ist so wenig unchristlich oder christlich, als eine Alt- Tenor oder Baßstimme; alle aber vereinigen sich, um des Wohlstandes willen, in einer Melodie der gemeinschaftlichen Gesänge; die Melodie gehört nicht zur Religion sondern zur Gesellschafft. Wie kam es nun, daß christliche Gesellschafften ihre besondere, nie allgemein nothwendige Lehrform, allen andern christlichen Parteyen unter der Maske einer nothwendigen Einheit aller Begriffe und Urtheile über christliche Lehrsätze, aufdringen wolten? Es ist ja ein grober Irrthum, daß die Verehrung Gottes ein allereinziges Maas bey allen Christen und Menschen haben könnte oder müßte! Diesen Irrthum begehen Socinianer und Naturalisten jezt nicht weniger, als ehemalige catholische Bischöffe und eigennützige Pfaffen. Die unendliche moralische Herrlichkeit Gottes kann in keinem stets particulären Entwurfe so beschrieben werden, daß nun alle andere Menschen gar nichts von Gott erkennten, und ihn gar nicht moralisch verehrten: wenn sie nicht eben dieselben Begriffe [203] ganz genau immer wiederholeten. Es thun also Socinianer und Naturalisten eben so unrecht, wenn sie ihre besondere ihnen gehörige Theorie dafür ansehen, daß alle Menschen sie von ihnen annemen müssen; als jene Christen unrecht thun, welche eine bestimte Satisfaction, die sie nach ihrem Gewissen behalten, allen andern Menschen unter göttlicher Auctorität anempfelen, und ihnen sonst gar ewige Verdammniß ankündigen. Verständige, moralische, geübte Menschen solten die 917Unendlichkeit der moralischen Welt, und die Ungleichheit der Colonisten, die sich darin frei anbauen und immer eben demselben Gott angehören, besser kennen: als daß sie ihre individuelle Ordnung gar zur höchsten Stufe der wahren Religion für alle andre Menschen erheben wolten.

24. Es wird also die Lehre der grossen Kirche von einer so bestimten Dreieinigkeit ebenfals nur zum gesellschaftlichen Lehrbegrif mancher Christen gehören, nicht aber zum Grunde aller moralischen Wohlfart und Theilnemung an Gott in Absicht aller Menschen von Gott verordnet heissen?

[204] Es ist wol kaum ein Zweifel daran, daß ein Begriff von Dreieinigkeit nur zu christlichen Verehrung Gottes gehört, wie sie dem Juden- und Heidentum entgegen stehet. Sie ist ein unwidersprechlicher Charackter der christlichen neuen Religion; die 3 Hauptbegriffe, Vater, Sohn und Geist, (die im (N. T.)Neuen Testament noch keine einzige oder ausschliessende Bestimmung bey sich haben,) gehören zum Inhalte und Grunde einer ieden christlichen Religionsgesellschafft; die Christen können die jüdische Religion nicht behalten, denn sie haben neue Begriffe von Gott, ihrer innern Würde und Grösse wegen, vorgezogen, die sie nun nie wieder mit den kleinern, geringern jüdischen Begriffen von Jehovah, vom Messias, und Geist Gottes, vertauschen können. Verständige Christen sezen aber noch mehr Vorstellungen hierüber zusammen, die sie sonst kennen. Diese ungleiche Uebung des Verstandes und der Cultur unterscheidet nun die Christen selbst von einander; indem sie hiedurch neue Gesellschafften werden; alle aber sind und bleiben Christen. Der äusserliche Unterschied, worin sie sich schon als Menschen und Bürger befinden, macht nun auch einen äusserlichen Unterschied [205] der Christen, die immer Menschen bleiben, und ihr locales Verhältniß nicht wegschaffen können. Noch so viele besondere Modificationen der Vorstellungen über Vater, Sohn und Geist Gottes, schaffen kein Gegentheil des Christentums, sondern eine grössere Ausbreitung der christlichen Gesellschafft; es bleibt aber eben derselbe neue Grund und erste Inhalt einer neuen Religion durch den Glauben an Vater, Sohn und Geist Gottes. Diese mehreren verschiedenen christlichen Geselschafften bleiben nun entweder neben einander, ohne eine Verbindung zu einer einigen grössern Gesellschafft; oder ihre Obern vereinigen sich unter einander, woraus die katholische Partey worden ist; und diese füret eine gemeinschaftliche, gesellschafftliche, gleichförmige Sprache ein für alle ihre Kirchendiener, durch grosse Zusammenkünffte mehrerer Bischöfe, die 918seit dem nicänischen ersten Concilio, oder christlichen Landtage, die Homousie des Sohnes Gottes, als eine katholische Bestimmung, eingefürt haben, um alle Arianer und andere christliche Geselschafften auf immer von sich zu unterscheiden. Es wurde niemand zu irgend einer Stelle als Religionsdiener zugelassen, als wer das nicänische [206] Symbolum beiahete; und ein jedes gemeines Mitglied dieser katholischen Geselschafft lies sich mit keinem Kirchendiener anderer christlichen Parteien in eine Theilung ein, an andern Lehr- und Kirchenformen. Es ist aber eine unverzeihliche Anmassung der katholischen Clerisey, wenn sie die moralischen stets freien unsichtbaren Folgen aller christlichen Religionsübungen bey allen einzelnen Christen, an eben diese katholische neue einseitige Kirchensprache gebunden hat; daß kein Christ nun zu seiner moralischen eignen Wohlfart an Vater, Sohn und Geist Gottes wirklich, moralisch, glauben könne, als wenn er sich in dieser katholischen Partey äusserlich befände, und von Dreieinigkeit katholisch reden lerne. Diese Anmassung ist ganz und gar unchristlich, und eine politische Wiederholung des niedrigen Judentums; keinesweges aber der Charakter der besten christlichen Verehrung Gottes. Alle Geselschafften haben das Recht, einzelne Mitglieder auszuschliessen; aber diese verlieren dadurch nur jene vorigen geselschaftlichen Rechte. Wenn also die katholischen Bischöfe ein Anathema aussprachen: so war dieses eine Entsezung von den kirchlichen und bürger[207]lichen Rechten. Es war aber gewaltsame ganz unchristliche Tiranney, wenn sie nun gar behaupteten, hiemit seie den abgesonderten und ausgestossenen Christen auch aller Antheil an moralischer Wohlfart, und aller eigene innere Zutrit zu Gott, aller Glaube an Gott und Christum gradehin genommen, und er der eigenen Verdamnis nun von Gott selbst unterworfen worden. Die Fortsezung oder Entziehung der geselschaftlichen Rechte stund bey den Obern der Geselschafft; aber über die moralische Welt, über die moralische innere Uebung der Christen, also auch über die ewige Seligkeit, hatte weder ein Bischof noch viel Bischöfe irgend eine Gewalt, ausser in der Meinung ganz unwissender Menschen. Es ist und bleibt also eine Pfaffenerfindung, welche der christlichen bessern moralischen Religion ganz gerade widerspricht: daß man nun 919diesen falschen Lehrsaz einfürte, kein Mensch kann selig werden, ohne durch die katholische Kirche. Hiemit hat die bischöfliche Politik die Macht der Kirche auch über alle christliche Regenten und Obrigkeiten erhoben; der gemeine Pöbel lies sich gleich zur Rebellion bringen, wenn die [208] Obrigkeit den Päbsten und Bischöfen nicht Gehorsam leistete. Gleichwol behielten alle Kezer, und alle mit dem Anathema belegten Menschen, ihr ganzes Bewustseyn von ihrer herzlichen Verehrung Gottes, nach allen ihren Begriffen, von Vater, Sohn und Geiste Gottes. Die kirchliche Lehre also und kirchliche Sprache, von 3 gleich wesentlichen Personen in einem Wesen, gehört nur zu der besondern öffentlichen Geselschafft. 920Ich wil, doch sehen, sagte Luther, wer mich zwingen wil, homousios zu sagen; und 921 Calvin und mehr würdige Gelerte bedauerten es ganz laut, daß man die Worte drey Personen so gebieterisch eingefüret habe. Niemand kann über das Gewissen andrer Menschen, worin sie nur sich selbst mit Gott beschäfftigen, herrschen; Es müssen also zwar auch die katholischen Christen ihrer Erkenntnis folgen, wenn sie selbst dafür halten, daß es zu ihrer Seligkeit gehöre, die Dreieinigkeit in jener Kirchensprache auch für sich selbst also zu beschreiben; aber es kann niemand es allen Christen oder gar allen Menschen auf dem Erdboden zum Gesez machen, daß sie eben so ihre Verehrung Gottes durch eine einzige Vorstellung vom Vater, [209] Sohn und Geist, bestimmen müsten, oder sonst gar nicht moralische Wohlfart und Seligkeit haben könten. Wenn auch manche Christen dieses glauben, so ist ihr Glaube eben ihre Anmassung oder Unwissenheit.

25. Ich frage aber wieder: Worin bestehet nun das Wesen der christlichen Religion, die da ist und da bleibet, wenn ein Christ auch nicht zur katholischen Religionspartey gehörete?

Hierüber können nur verständigere Christen mitsprechen, die es wissen, daß sie so viel Christen, von so ungleichen Fähigkeiten, nicht dahin bringen können, daß sie eben diese Einsicht annämen, und die Ungleichheit der öffentlichen Religionsformen nicht ferner so beurtheileten: daß nur eine einzige solche Religionsform die wahre seligmachende Religion enthielte. Es ist dis eben so viel als wenn der Einwoner der Schweiz, oder in Teutschland, oder in Grönland, in Ost- oder Westindien sagte: es gibt nur Eine Narung und Erhaltung der Gesundheit für alle Menschen. Eben jener alte Feler, den die Bischöfe und Pfaffen so politisch genäret [210] haben, (als gäbe es nur eine allereinzige Summe, eine allereinzige Lehrform, welche ausschliessender Weise, durch die Kraft der geweiheten Clerisey, die Mitglieder selig mache,) hat sich bisher unter Protestanten noch hie und da erhalten; 922 extra ecclesiam lutheranam non dari salutem, war noch vor 50–60 Jahren eine öffentliche Disputation; und in den meisten polemischen Schriften herrschet diese absprechende Decision über Grundirtümer; so wenig sie bei den Gegenparteien irgend einen Erfolg und Eingang hat. So lange man Seligkeit nicht richtiger erklärt, daß dazu allemal noch ein Religionsdiener und die öffentliche Religionsordnung in ihren Formalien durchaus nötig ist, wenn ein Christ selig leben und sterben sol: wird ein seltsamer patriotischer Eifer [um] die grössere Ehre Gottes in allen Parteien sich erhalten, und den Vorzug der Seligkeit behaupten. 923Da aber die christliche Wohlfart und Seligkeit nicht erst mit dem Tode anfängt, wie die Juden ein Paradies, einen Schoos Abrahams erst dahin sezen; sondern in den Folgen christlicher eigener Gesinnung und Fertigkeiten bestehet, wodurch ein jeder Christ die wahre rechte Verehrung Got[211]tes innerlich, unaufhörlich, unsichtbar leistet; und diese Gesinnung in allen wahren Christen selbst, wenn sie auch nicht mehr mit andern reden könnten, immer mehr da seyn mus: so mus auch das Wesen der christlichen geistlichen Religion in diese eigene Anwendung der wachsenden Erkentnis gesezt werden, welche ein Christ aus der Lehre Christi und der Apostel in dem oder jenem Maase sammlet. In allen christlichen Religionsparteien aber bleibet diese eigene geistliche Religion ebenfals möglich; denn sie hängt mit der Wirkung des Geistes Gottes zusammen, die durch alle gesellschaftliche Einrichtung und äusserliche Verfassung nicht gehindert werden kann. Also müsten alle wahre Christen, besonders alle Lehrer der christlichen Verehrung Gottes, nicht ferner die gesellschaftliche verschiedne Lehrform, wodurch die Christen über Vater, Sohn und Geist Gottes sich in locale Gesellschaften theilen, dafür ansehen, daß nur in einer einzigen Lehrform der christliche rechte Glaube an Vater, Sohn und Geist Gottes, also enthalten und eingeschlossen wäre: daß der Geist Gottes sonst in allen andern christlichen Lehrformen nicht wirksam seyn könne, zu der neuen fortgehenden Erleuchtung, Besserung, [212] und christliche Unterweisung der Theilnemer an einer solchen verschiedenen Lehrform. Denn eben diese eigene moralische freie Uebung und 924Fertigkeit, welche Buße und Glauben im (N. T.)Neuen Testament heist, und in steter eigener Anwendung der moralischen Erkentnis in jedem einzelnen Menschen bestehet, welche Christus, Paulus, Johannes damalen auszubreiten anfingen: felete bis dahin in der jüdischen und heidnischen Religion. Sie felete ganz und gar oder wurde doch nur von einigen wenigen Zeitgenossen in der Stille gekannt. Die politische Verehrung Gottes wurde nur durch bestellete öffentliche Diener, an gewissen Tagen in gewissen feststehenden äusserlichen Cerimonien, also nur politisch, äusserlich verrichtet oder bezeichnet; diese Cerimonien beförderten vielmehr den Hang zu sinnlichen Begierden unter den Juden und Heiden, als daß eine moralische Gesinnung allen Theilnemern an dieser öffentlichen Religionsordnung zur eignen Pflicht gemacht worden wäre. Nun wird aber das algemeine moralische Reich Gottes durch die neuen Begriffe aufgestellet; für die Juden, mit steter Anwendung und besserer Erklärung ihrer Nationalbücher; für die Nichtjuden mit vor[213]züglicher Empfelung des moralischen Verhältnisses Gottes, dessen Reich der sichtbaren Natur die Menschen zeither häufig so unwürdig gebrauchten, daß sie ihre moralischen Anlagen zu innerer Verehrung des unsichtbaren Gottes, in vielen Lastern und gar in Zerrüttungen des Körpers ganz vernachläßigten, und dadurch sich selbst und ihre Nebenmenschen ganz unvernünftig herabwürdigten, und also immer mehr Uebel und Elend, wider die kentlichen Absichten Gottes, einander zubereiteten. Nun war es die erste Predigt oder Lehre: jeder Mensch mus die moralische Würde Gottes selbst lebendig zu erkennen anfangen, und dadurch seine bisherige Gesinnung und Neigung immermehr zu verbessern sich bestreben. Jeder mus selbst davon gewis und überzeugt werden, daß es für ihn auch eine moralische, nicht sinnliche, thierische Wohlfart und Seligkeit gibt, die ihm grösser und würdiger wird, als der bisherige sinnliche thierische Gebrauch seines Körpers. Dis wird ihn nun zu einer rechten innern Verehrung Gottes bringen, in einer neuen immer vollkomnern Anwendung aller Kräfte seines Gemüts und Leibes (etc.)et cetera Kurz, die ganze Lehre Christi und der [214] Apostel gehet dahin, ein jeder mus sich selbst auf Erkentnis Gottes, Christi, des Geistes Gottes, und ihre immer bessere Anwendung legen; für ihn, an seiner Stelle, daß er nun unthätig würde, 925kann kein Priester das leisten, was jeder schon zur Pflicht hat, in Absicht seines eigenen Verhältnisses gegen Gott; wie niemand für ihn essen, trinken, schlafen, gesund seyn kann. Man kann also mit Recht sagen, Christus ist der Urheber der eigenen freien Privat-Religion aller Christen; er lehrete eben die Unentberlichkeit der eigenen innern Verehrung Gottes für alle dazu fähige Menschen, da die bessern Begriffe von Gottes moralischem Verhältnis, das nicht blos auf Juden ging, gerade zum neuen Grunde gehörten, weswegen eine solche Privatreligion so gern vorgezogen wurde. Die mächtigen 926 Vorurteile der Juden, daß andre Völker vor Gott unrein hiessen, wurden nun immer mehr umgeworfen, je mehr die eigene moralische genaue Beurtheilung in den Zeitgenossen zunam. Man erkante die innere Wahrheit dieser obliegenden eigenen Verehrung Gottes, wovon in der That keine Dispensation gedacht und zugegeben werden konte, nach dem eigenen in[215]nern Bewußtseyn des Menschen. Kein Tempeldienst enthielt oder leistete dieses, was der Mensch Gotte schuldig zu seyn, so gern erkente, und so ernstlich einwilligte. Für bisherige Juden muste jezt noch viele Verknüpfung mit dem und jenem Inhalte ihrer ältern Bücher statt finden, bis sie selbst diese moralischen Wahrheiten in eigner Erkentnis fasseten; ihr Gedächtnis und ihre Einbildungskraft war mit alten Bildern schon angefüllet oder gefärbet. Daher ist auch die erste neue Sprache der Christen noch halbjüdisch; aber die alten Ausdrücke und Redensarten bekommen nun, wenn der Christ sie auch behält, einen immer größern Inhalt. Es war auch nicht unglaublich, daß schon damalen, neben der öffentlichen alten Religionsform, jener Dichter oder Prophet ebenfals schon diese eigene moralische Erkentnis gehabt, und dunkel zu verstehen gegeben habe. Die Beweisart war also auch damalen mehr historisch, und local; da und da ist schon lange durch eben den Geist Gottes diese moralische bessere Erkentnis bejahet, oder davon geweissaget worden. Es stehet auch jezt allen Christen frey, diese alte Beweisart für sich ferner gelten zu lassen, wenn ih[216]re Verehrung Gottes dadurch gewisser oder ihnen fruchtbarer wird. Eben so gehet es mit den 927 Christen älterer Zeit, so lange sie noch äusserliche Begebenheiten und Veränderungen erwarteten, die zu einem sichtbaren Reiche Christi gehören sollten. Sie sezten eine Historie Christi so zusammen, daß fernere große Historien ausser ihnen erwartet werden konten; allein diese damaligen Mängel in der christlichen Erkentnis müssen nicht fortgetragen werden, als seien es wesentliche Theile der neuen bessern Verehrung Gottes, in Ansehung aller Christen, die sich in ganz andern innern und äussern Umständen immer mehr befinden, als die damaligen ersten Schüler dieser moralischen Religion. Hier ist alles Befelen, alles einseitige Entscheiden über das Wesentliche der christlichen Religion, ganz umsonst; verständige Christen wenden ihre eigene Erkentnis an, was ihren besondern Gebrauch des (N. T.)Neuen Testaments betrift. Ob dieses zur damaligen Modification nur gehöre, oder in eben der buchstäblichen Abfassung immer zum Wesen der christlichen Verehrung Gottes gehöre kann niemand entscheiden, was alle fähige Christen betrift; weil die Art der Vorstellung, wel[217]che unter den Juden statt fand, nicht zur wirklichen steten Vollkommenheit der Vorstellung als ein wesentlicher Theil gehört, sondern in der damaligen Fähigkeit der ersten Theilnemer an einer neuen Religion ihren nächsten und vorübergehenden Grund hat. Es ist also diese neue moralische Uebung und Historie dieser gewesenen Juden, nicht zugleich geradehin dieselbe feste Vorschrift und das Maas für alle nachherigen Forscher und Liebhaber der christlichen Religion, die sie in ganz andern Umständen samlen und anwenden; wie alle Privatgeschichte eines jeden Menschen nie schon eine Vorschrift für alle andern Menschen ist oder seyn kann, ausser für noch unfähigere, die also unter ihm stehen. Die Succession der menschlichen Kentnisse und Beurtheilungen über alle ehemalige Kentnisse hat einen unveränderlichen Grund ausser denen Menschen, die vorher vor unserer Zeit eine christliche Religion sich gesamlet hatten. Die Kraft, welche hier angewendet werden kann, hat, wie die ganze moralische Welt, einen von aussen unbestimlichen Umfang, so wol als Kraft, als auch was die Anwendung betrift. Es ist also die Beurtheilung, ob [218] diese und jene Vorstellung einiger, auch vieler vorigen Christen stets eben so zu dem Wesen aller christlichen Religion, (der öffentlichen und besondern) gehöre, stets frey für die einzelnen fähigern Forscher dieser Aufgabe. Wenn die wesentlich moralischen Wirkungen und praktischen Erfolge da sind in einem Menschen, welche zu der neuen christlichen Religion immerfort einmal wie allemal gehören: so ist auch die neue moralische Kraft da, welche eine christliche Religion als eine bessere Fertigkeit (Gott immer mehr selbst zu erkennen und zu ehren,) hervorbrachte. Ist also die eigene ernstliche Bemühung da, welche damalen bey Juden und Heiden 928das eigene jezige moralische μετανοειν, πιστευειν, oder immerwärende Besserung der Gesinnung und der Neigung, (durch die Verknüpfung der Vorstellungen von Gott, von Christo, vom Geist Gottes) und also ein edles tugendhaftes Verhalten hervorbrachte, was dem Juden und Heiden vorher felete: so ist das Wesen der christlichen praktischen Religion noch jezt da, wie sie den bessern moralischen Zustand aller 929 Selbstchristen mit sich bringt und befördert. Es wird aber durch alle jene Bestimmung der Bischöfe, wie man über [219] Dreyeinigkeit bey ihnen, in dieser Gesellschaft reden soll, diesem Wesen der praktischen christlichen freien Religion gar nichts zugesezt, wie das so schlechte Verhalten der katholischen Partey gegen alle andern Parteien, für jeden verständigen Zuschauer, hinlänglich beweiset; also gehören alle nachherigen successiven Lehrbestimmungen der so genannten Kirche, nicht einmal wie allemal zum Wesen der christlichen praktischen eignen Religion aller wahren Christen; sondern zu der Unterscheidung der mehrern kirchlichen Gesellschaften, in dem daseienden bürgerlichen Staate. Es ist aber nun auch eben so gewis, daß diese kirchlichen Lehrsäze, da sie einen andern blos äusserlichen Erfolg haben, dem Wesen der christlichen Privat-Religion gar nichts schaden können, bey allen verständigen fähigern Christen, die das Allgemeine der christlichen Verehrung Gottes, das allein praktisch angewendet wird, selbst nun unterscheiden von dem historischen Einzelnen und Besondern, welches blos zu localen besondern kirchlichen Gesellschaften gehört; wenn auch viel Bischöfe, Lehrer und Christen diese Unterscheidung nicht gelten lassen, sondern immer be[220]haupten, ihre kirchlichen Bestimmungen, der Dreieinigkeit (etc.)et cetera gehörten einmal wie allemal zum Wesen der wahren christlichen Religion, die einen jeden Christen der christlichen Wohlfart und Seligkeit theilhaftig macht; und es fände also keine christliche Seligkeit statt, ohne eben dieselbe Lehrbestimmung, die doch allezeit nur zur Verbindung der äusserlichen Gesellschaft gehört.

26. Aber die katholischen Lehrer und alle Protestanten haben doch eben diese Lehrbestimmungen von Dreieinigkeit (etc.)et cetera in der Bibel gefunden, und daraus hergeleitet; warum stimmen nun nicht alle Christen darin überein, da sie doch alle die Bibel annemen?

Erstlich ist es nicht geradehin wahr, daß die katholischen Lehrer ihre bestimte Lehre von Dreieinigkeit aus der Bibel hergeleitet hätten. Die ganze spätere Kirche hat diese Bestimmung aus Tradition und aus dem Ansehen der Kirche bewiesen; das ist, sie hat die Auslegung der Bibel durch ihre einseitige [locale] Tradition und durch das Ansehen der Kirche also bestimt, daß in diesen [221] und jenen Stellen ihre Lehre von Dreieinigkeit (etc.)et cetera wirklich enthalten seie. Man wuste wohl, daß alle diese Stellen von andern Christen, Arianern, 930 Photinianern (etc.)et cetera ganz anders erklärt wurden, daß nun die katholische Lehre von Dreieinigkeit keinesweges darin gefunden wurde; daher muste die Tradition und Auctorität der (heil.)heiligen Kirche den Beweis schaffen, der in der Bibel gar nicht da ist, sondern durch die ungleichen Leser immer ungleich gefunden wird. Zum andern haben freilich die Protestanten vom 16ten Jahrhunderte her, sich nun auf die Bibel berufen, 931da Katholicken die Unzulänglichkeit der Bibel zum Beweise aller christlichen Lehrartikel, ganz öffentlich behaupten, und die Instanz so gar von der Dreieinigkeitslehre hernemen. Nun legten sich die protestantischen Lehrer darauf, diese katholische kirchliche Lehre von Dreieinigkeit in so und so vielen Stellen des (A.)Alten und (N. T.)Neuen Testaments als göttlich entschiedene Lehre, ohne Beistand der Tradition anzuweisen. Aber, wenn man auch die Uneinigkeit und Verschiedenheit selbst der protestantischen Ausleger nicht besonders anrechnet, wo es so gar 932 Caluinum iudaizantem gibt: so kann doch keinesweges diese kirch [222] liche Lehre von Dreieinigkeit durch wirkliche Beweisstellen als damaliger ausgemachter Begriff, so dargethan werden, daß nun alle Christen dieses eingeständen, welche solche Stellen in der Bibel nun lesen. Man mus also geradehin leugnen, daß die kirchliche katholische später bestimte Lehre von Dreieinigkeit, zum algemeinen Grunde und Inhalte der christlichen Religion wirklich gehöre, 933wie schon vorhin (Frage 14) eben dieses da gewesen. Die Grundbegriffe, Vater, Sohn und Geist, gehören zur algemeinen christlichen neuen Religion durchaus, unumgänglich; denn sie stehen dem Juden- und Heidentum immer gleich gut entgegen. Aber eine besondere neue nachherige Bestimmung über einen einzigen 934 modum cogitandi und loquendi gehört allezeit nur zur besondern äusserlichen Religionsgesellschaft, und hat zunächst eine jezige Auctorität der Bischöfe und Vorsteher der Parteien zum Grunde; der auch seine gesellschaftliche Rechtmäsigkeit hat und behält; und so gar bey vielen Lehrern und Christen in einen biblischen Grund wieder aufgelöset werden kann; aber dis geschiehet durch ihre eigene besondere Erkentnis, wodurch also [232[!]] die fernere eigene ganz andere Erkentnis aller andern Christen nicht umgeworfen werden kann. Eben daher ist vom Anfange der christlichen neuen Religion eine stete Theilung der christlichen Parteien immer da gewesen; und sie hatten doch alle diese neue christliche Religion, oder die Verehrung des Vaters, Sohnes und (heil.)heiligen Geistes, im Unterschied der alten jüdischen und heidnischen Religion unter sich fortgesezt. Wenn nun Lehrer der Einen Partey dieses unumgänglichen Unterscheides wegen oder dieser steten localen Verschiedenheit wegen, die andern Parteien verfluchten und für [gottlose ] Unchristen erklärten: so ist dis doch kein Beweis der vorzüglichen Wahrheit und Unentberlichkeit ihrer besondern Lehre von Dreieinigkeit, zu jener ersten algemeinen Absicht und neuen Wirkung der christlichen Religion. Mετανοειν, πιστευειν, Fleis in aller christlichen gemein nützigen Tugend zur Ehre Gottes, und durch den (heil.)heiligen Geist, solte in allen Christen nach der Lehre Christi und der Apostel immer mehr statt finden. Es war keine Bejahung annoch davon einer Homousie dreier Personen in der Gottheit; welche Bestimmung noch dazu im 4ten Jahrhundert nur [224] 935 unitatem specificam anzeigte, wie Johannes, Petrus, Paulus, Eine naturam humanam einer speciei haben; wofür die spätern Lehrer unitatem numericam gesezt haben. Diese successiven Vorstellungen können durchaus nicht algemeine, unveränderliche für alle Christen werden; so wenig alle Christen in einerley Zeit und Raum da sind. Eben so musten auch Arianer, Photinianer diese gleichgute praktische Religion allen Catholicis zugestehen, weil sie auch nicht an den heftigern Widerspruch gegen Homousie gebunden seyn konte. Denn gute fromme Katholiken konten die Unendlichkeit und Unbegreifligkeit des Wesens Gottes bei der Homousie ganz unbesorgt annemen, und recht glückliche praktische Christen seyn. Aber wo wäre bey dieser gegenseitigen Billigkeit der neue Stand der Clerisey und Bischöfe so wichtig und ansenlich, und gar der Richterstul der Seligkeit und Verdammung der edlern Menschen geworden! Es ist also Sektengeist, der einige stets unbestimmliche, nach der Bibel freie und immer neue christliche Begriffe, ein für allemal bestimmen wolte. Die Kirche wolte nun durch politischen Beistand über alle Christen, und [225] Menschen herrschen, und ihre bürgerlichen Beyträge und Schenkungen allein genießen, die sie sonst mit den andern Parteien hätten theilen müssen, wenn der Regent mehrere christliche Parteien in einer und derselben Stadt neben einander hätte stehen und sich frey ausbreiten lassen. Nun sagten katholische Bischöfe, wir haben für die Seelen der Unterthanen zu sorgen; (so nicht geradehin wahr ist;) die würden alle ewig verdammt, wenn sie arianischen Gift einsaugten; oder vom Vater, Sohn und (H.)Heiligen Geist, nicht eine und dieselbe Sprache redeten, die wir einfüren; der Kaiser mus also unsre Lehre von Dreieinigkeit durch Geseze und Landesverweisung, ein für allemal beschüzen, wenn er ein christlicher Kaiser und ein Vormund der wahren Kirche seyn will. Von nun an gehört also die katholische Lehre von Dreieinigkeit zur Landes- Staats- oder Hofreligion, und es wird also wirklich blos eine politische Aufgabe entscheiden, ob es zum grössern Wohlseyn des Staats gehört, daß alle Unterthanen zu einer allereinzigen öffentlichen Religionsform angehalten werden? Diese politische Entscheidung kann aber der freien Privatreligion, die [226] im Gewissen des Christen ihren Grund hat, nichts geben und nemen.

27. Wie wird es aber nun mit der Gottheit und den beiden Naturen Christi gehen, wenn die kirchliche Lehre von Dreieinigkeit nicht zur praktischen Religion aller Christen in allen Zeiten einmal für allemal gehöret?

Diese Lehre bleibt eben so dem besondern Gewissen aller Christen ganz frey; sie wird nie von allen Christen ein für allemal für unwahr und ungegründet erkant, also auch nicht aufgehoben werden, als ein ausgemachtes Hindernis der praktischen christlichen Religion. Wie könte dis ein Hindernis für diese ruhigen Christen werden? welche ja den Siz dieser Lehre in der Bibel immer finden und behalten! Wenn gleich die kirchlichen Lehrsäze von der Person Christi, wie sie ehedem von den katholischen Bischöfen wider den 936 Apollinarismus, 937 Nestorianismus, 938 Eutychianismus, 939 Monotheletismus in öffentlicher Kirchensprache beschrieben und bestimt wor[227]den ist, was ihre damaligen kirchlichen Unterthanen betrift, nicht in eben jener Relation immer fort dauert. Es bleiben nicht eben dieselben Menschen und Zeiten, also kann diese kirchliche Relation auch nicht blos aus der alten Zeit fortdauern; wie gar keine menschliche Erkentnis unveränderlich ist. Diese ältere historische Relation war ohnehin stets schon darin ungewis, daß gerade eine Vorstellung des Apollinaris, Nestorius, Eutyches, durch diese Gegensäze widerlegt wurde, und doch es ungewis war, daß diese christlichen Lehrer in der That eben diese Vorstellungen gehabt hätten, die man ihnen beilegte. Selbst der Begrif, Gott (Christus ist Gott,) war im Orient ein Verhältnis gegen alle andre Dinge die unter Gott als unter ihrem Herrn stehen; im Occident aber bezeichnete der Name Gott nicht dis Verhältnis, sondern die Substanz Gottes selbst, und schlos dieses Verhältnis erst ein. Wenn nun die lateinischen Christen den Sohn Gottes sich vorstelleten und beschrieben, 940so verstunden sie in eben der Substanz Gottes ein 2tes Subjekt: consubstantiuus secunda in deo persona, sagte schon Tertullianus. 941Die im [228] Orient aber sagten, Gott hat dieses Subjekt zum Sohn (d. i.)das ist zum Mitregenten über alles gemacht; und dis verstunden manche wieder nur logice, es ist ein solcher Sohn Gottes nun bekant worden als Oberherr über alle Geister und Engel, deren bisheriges Gebiet über die Erde er nun aufhebt durch eine bessere Erkentnis von Gott, und durch Aufhebung der Abgötterey; 942andre aber sezten das Entstehen und Daseyn dieses vorher unbekanten Sohnes Gottes gerade vor die Erschaffung aller Dinge, wie sie sich nemlich die Schöpfung in der Zeit vorstelleten und ließen alle Geschöpfe durch diesen Erstgebornen Gottes zum viel geringern endlichen Daseyn bringen. Ob nun in den und jenen Stellen der griechischen Uebersezung des (A. T.)Alten Testaments und in manchen Stellen des (N. T.)Neuen Testaments wo der Sohn Gottes durch manche Zusäze beschrieben wird, durchaus nur die eine Vorstellung gebilliget worden sei: konte nicht durch diese Stellen selbst einmal für allemal entschieden werden; es wurden ohnehin manche Schriften des (N. T.)Neuen Testaments nicht von allen Lehrern und Christen zugleich angenommen. Folglich muste die allgemein gültige oder in Einer Gesellschaft [229] angenommene gleichförmige Vorstellung durch die besondere Einwilligung und Verordnung dieser Gesellschaft nun erst festgesezt und entschieden werden; damit nicht zugleich eine andre Erklärung des Namens Sohn Gottes die Gesellschaft täglich zerrütten möchte. Es wurde aber durch eine grössere Beschreibung diesem Subjekt selbst nichts von nun an zugesezt, und durch eine kleinere ihm nichts genommen. Dem unbekanten, und von den verschiednen Meinungen unabhängigen Subjekt widerfärt durch diese verschiednen Beschreibungen gar nichts; aber es entstehet nun eine Geschichte der Christen, welche sich über die Beschreibung des Sohnes Gottes so theilen, daß sie mehrere Gesellschaften ausmachen, weil sie eine verschiedne Religionssprache unter sich einfüren konte; denn sie standen nicht unter einem und demselben Oberherrn; oder die Obrigkeit wolte auch nichts wider Eine Partey entscheiden, um politischer Ursachen willen, 943wie der Kaiser Aurelianus im (J.)Jahr 275 der italischen oder römischen Loge den Vorzug gab, daß nun in Antiochien kein Bischof einer andern Loge weiter seyn solte. Es gehet wirklich dem Sohne Gottes nichts ab, [230] wenn die Christen über ihn verschiedne Meinungen haben; wie ja Gotte selbst, der eher und weiter bekant war, als ein besonderer Sohn Gottes, dadurch nichts zu oder abgehet, daß Menschen nicht wissen und beschreiben können, was er unendlicher Weise und unermeßlich ist. Aber die Oberhäupter der verschiednen Religionsgesellschaften ergreifen diese Verschiedenheit der Beschreibung von dem Sohne Gottes, um ihre blos politischen Absichten zum Vorzug ihres Standes, und zur Beherrschung der Christen unvermerkt und gewis zu erreichen, wenn die Christen indes auf einander ernstlich aufmerksam wurden, und die Eine gesellschaftliche Sprache von dem Sohne Gottes für die einzig wahre Beschreibung der rechten Ehre desselben, also ihre Religionspartey für die einzig wahre christliche Kirche hielten, und wider andre Christen, als Feinde und Lästerer des Sohnes Gottes einen öffentlichen Haß einfürten, und gar einander deswegen um Leib und Leben brachten. Dieser ganz grobe Misbrauch der Clerisey, wonach sie Sprachgebrauch und Redensarten, die stets successiv sind und mit der Erkentnis zugleich fortgehen, also für eine Gesell[231]schaft in einer Zeit und Ort gehören, und nur einen äusserlichen Zweck haben können, zum Wesen der christlichen Religion, wie sie allen noch so verschieden redenden Christen immer gehört, überhaupt gerechnet hat: ist wol sichtbar genug; er kann auch nicht weiter fortgesezt werden, indem alle verständige Christen es wohl wissen, daß 944diese ganze Religion, also auch die Kentnis eines Sohnes Gottes, um ihres moralischen Besten willen da ist, und die Christen nicht da sind, um blos eine kirchliche Regierung über sich und gar über ihr Gewissen, gleichsam zur Ehre Gottes und des Sohnes Gottes zu begünstigen; da in Worten und Redensarten nur eine Verbindung der Menschen zu einer Gesellschaft zu Stande gebracht wird; ohne daß dieses zugleich die beste Stufe der christlichen thätigen Religion werde; zu der dennoch nicht alle Christen gleich gut von Gott selbst verbunden heissen könnten.

Mit der ganzen kirchlichen Lehre von zwoen Naturen Christi, und wie ihre Vereinigung und Wirkung zur Erlösung der Menschen beschrieben werden sol: verhält es sich eben so. Dis sind keine Zusäze zu der christlichen praktischen [232] Religion, oder zu der freien Verehrung Gottes, wie sie aus den neuen Schriften der Christen, in eigenem Gebrauche des Gewissens, immer mehr, täglich besser, statt finden kann; wozu ja die Kirche hinter der Zeit Christi, und der Apostel, kein Recht hätte: sondern es ist die gelerte Uebung der katholischen Candidaten, welche hiedurch sich von den so genanten Kezern unterscheiden solten. Wenn gleichwol die Kirche nach und nach aus diesen successiven gelerten Uebungen gar algemeine Glaubensartikel für alle Christen gemacht hat: so hatte sie eben so wenig einen moralischen Grund dazu, 945als wenn sie ein Fegfeuer nach dem Tode, Anrufung vieler kirchlichen Heiligen und Märtyrer, ein Meßopfer für Lebendige und Todte, Ablaßzettel zur Erlösung aus dem Fegefeuer, die Mönchsgelübde, Infallibilität und Almacht der Kirche (etc.)et cetera zu Glaubensartikeln erhoben hat. Wenn die Protestanten gleichwol eben diese Lehrartikel von den 2 Naturen Christi und ihrer ganz bestimmten Vereinigung wirklich beybehalten, bey der Reformation, da sie doch jene andern bischöflichen oder päbstlichen Kirchenartikel ganz und gar verworfen haben: so ist es eben so be[233]greiflich, als es sich gar wohl erklären läßt, 946warum in Sachsen damalen die äusserliche Reformation nur in einem kleinern Umfange statt gefunden hat, als in der vom teutschen Reiche ganz unabhängigen Schweiz. Beide protestantische Parteien musten sich sehr vorsichtig hüten, daß 947die alten kaiserlichen Strafgeseze, die wider die Kezer reden, nicht sogleich wider sie zu Hülfe gerufen werden konten. Diese Lehrsäze der katholischen Kirche von Christo waren aber auch der praktischen [Religion] keinesweges so hinderlich, als jene spätern päbstlichen Artikel; sie behielten vielmehr eine sehr leichte moralische Anwendung. Je mehr man alles geistlich Gute von Christo nun ganz frey erwartete, und es sich durch die und jene Theorie erklärte, oder in stiller Andacht täglich nüzte: desto mehr fielen alle Mitverdienste der Heiligen und der Mönche weg, ohne die ein Christ im Pabsttum sonst nicht selig werden konte. Die Protestanten änderten also hier noch nichts in der alten lateinischen Kirchenlehre von der Person und den Naturen Christi: aber sie haben auch hiedurch diesem Kirchenartikel ein göttlich Ansehen nicht geben können, wenn er es nicht schon von den Aposteln selbst [234] hatte. Ob nun die Apostel eben dieses gelert haben, gehört immer noch für das freie Gewissen der fähigern Christen, die nun es bejahen, oder verneinen; ohne die Wohlthaten Christi an sich selbst zu verändern; diese sind und bleiben unsichtbare Gegenstände der christlichen Erbauung, und können nie wegfallen; indem die neue Religion eben in diesen unsichtbaren moralischen Wolthaten und ihrem fortgehenden Nuzen bestehet.

28. Also wären ja wol alle dogmata der spätern Kirche, oder der Bischöfe, nicht eigentliche algemeine Religions- oder Glaubenslehren für alle Christen, und noch weniger für alle Menschen, ohne deren tägliche gleichförmige Bejahung und buchstäbliche Wiederholung man gar keine moralische Wohlfart und Seligkeit, keinen Antheil an Gott haben und geniessen könte?

Freilich nicht; dogmata fidei hat man sehr übel geradehin Glaubensartikel vertauscht. Der Glaube der einzelnen Christen, das ist ihre [235] eigne christliche Religion ist frey aus den Lehren Christi und eigenem Nachdenken hergeleitet; hat keine dogmata weder von Rabbinen noch von Bischöfen zu seinen innern Bestandtheilen von Zeit zu Zeit anzunemen. Alle sogenannte dogmata sind erst von Bischöfen auf ihren kirchlichen Landtägen zusammengesezt worden, zunächst wider sogenannte Kezer, und also für die Candidaten ihrer Clerisey, nicht aber als neue Zusäze zu der christlichen Religion. Es werden neue Bedingungen der Gesellschaft, aber nicht der Seligkeit der Christen, die ein für allemal ihrem Gewissen folgen müssen und auf vielerley Fragen, die sich nur auf die Gesellschaft beziehen, privatim zu antworten keine Ursache haben. Es ist ein gar kentlicher Feler, oder vielmehr eine bedächtige Politik der Bischöfe, daß sie eben diese ihre eigenen Schöpfungen für wesentliche Theile der christlichen Religion überhaupt haben ansehen lassen, die freilich 948nun gar Geheimnisse heissen, weil kein Mensch den Inhalt dieser kirchlichen Lehrsäze verstehen könte, und nur die Geistlichen diese geistlichen oder geheimen Sachen verstünden; also auch allen andern Christen zu ge[236]horsamer Aufname zu überliefern hätten; wenn sie gleich selbst, wie aus ihrem Leben zu sehen, alle diese Dinge nicht für wahr und so gar ein moralisch Leben nicht für nötig hielten. Hundert und tausend Legenden von Heiligen, von Mirakeln, von Erscheinungen erzälten sie eben so, blos für andre einfältige Christen, damit sie immer weniger zu freier eigener Erkentnis und moralischer Beurtheilung gelangen könten. Durch alle jene dogmata wurden immer mehr Supplemente zur Historie Christi, und also gar zur christlichen Religion erschaffen, woran doch kein Apostel je gedacht hatte; Christum nur nach dem Fleische, oder nach einer Historie, welche sinnliche Empfindungen angehet, kennen, war nur für die einfältigen, unfähigern Menschen; den Fähigern blieb es frey, über alles Sinnliche sich zu erheben, und lauter moralische Wohlthaten Christi zu behalten. Aber die Kirche hat die eignen jezigen Gedanken der Christen ganz und gar ausgeschlossen, und so konte die Kirche immer neue Lehrartikel erschaffen, wie sie neue sinnliche 949 Festtäge für die Christen ankündigte; die doch weder Christus noch die Apostel eingefürt hatten. Durch die [Fest[237]tage] unterstüzte man die neuen Lehren; die Christen lernten sie nun um des historischen Christus willen hochschäzen, und sezten ihre ganze Religion in die fleißige Feier solcher Festtage, wovon sie immer mehr Historien und Fabeln hörten und ganz leicht glaubten; worüber die eigene Verehrung Gottes ganz verdunkelt wurde, die sonst sehr bald diese falsche und blos politische Religion richtig beurtheilt haben würde. Desto eifriger hielten nun Pfaffen und Mönche über dieser Kirchenreligion, wovon sie selbst immer mehr Nuzen hatten, da sie indes den äusserlichen Kirchenchristen ganz sicher, ganz schändlich und unchristlich eine ewige Seligkeit versprachen, wenn sie nur alles das glaubten, was die Kirche glaubte. Denn die Kirche konte allein selig machen, 950wenn sie wolte. Je unwissendere Menschen also, desto bessere Glaubige; 951durch so viel paternoster, aue Maria, Weihwasser, Meßhören, Almosen, Anruffen der Heiligen – endlich lezte Oelung und Bestellung der Seelmessen, mußte man gewis selig werden; und desto gewisser mußten alle andere Christen, zumal Kezer, ewig verdammt werden, weil es die Kirche täglich ganz ernstlich versicherte. Was ich [238] hier sage, ist von allen wahren verständigen Christen in allen Jahrhunderten eingesehen worden; wenn gleich die tirannischen Pfaffen und Mönche diese wahre christliche freie Religion immer mehr zu unterdrücken suchten. Finden aber noch jezt Christen ihre Erbauung bey solchen späten Kirchenlehren: so behalten sie alles; aber es sind nicht allgemeine Glaubensartikel; und diese Christen gaben ihnen eine solche practische Bestimmung, die jene Bischöfe und Pfaffen nie kanten oder schäzten.

29. Bey jenen Mirakeln und Legenden – muß man doch daran denken, 952daß ja selbst noch iezt Protestanten einen Beweis der Wahrheit der christlichen Religion von Mirakeln und Weissagungen (etc.)et cetera entlenen; warum sol nun dieser Beweis nicht ferner zum Vortheil der alten katholischen Kirche taugen, da sie alle ihre dogmata durch unaufhörliche miracula bestätiget hat?

Was das lezte betrift, 953so sind die miracula der nächsten Jahrhunderte gar zu ungewis und [239] zweideutig; ja häufig als listige Betrügereien bekant worden, die Protestanten haben also hier den Untersaz geradehin geleugnet, daß wirklich hier solche miracula geschehen seien; sie haben aber freilich den Obersaz noch stehen lassen; miracula dienen zum Beweise der Wahrheit der christlichen Religion, weil es eine sehr alte Meinung ist und die so genannten Wunder, die im neuen Testamente in einigen Büchern gemeldet werden, damalen Beweise der Wahrheit und Göttlichkeit dieser neuen Religion gewesen wären. 954Es ist aber allerdings kein Theil der christlichen Religion oder algemeinen Glaubenslehre, daß alle Christen über diese Zeichen und Wunder im (N. T.)Neuen Testament durchaus einerley denken müsten, und sonst keine wahre christliche Religion haben würden, wenn sie diese Erzälungen ganz liegen liessen, da sie ihnen so dunkel sind. So gar ist es noch ungewis, ob diese Erzelung, selbst ihrer Abfassung nach, sich wirklich eben so oder zu eben der Absicht, auf diejenigen Christen beziehen, welche nachher diese Evangelia lasen und beurtheilten; wie sie sich freilich zunächst ehedem auf solche 955 Juden beziehen, die durchaus immer Zeichen und Wunder sehen [240] und hören wolten, ehe sie selbst glaubten; und dieses Glauben war, 956wie Bengel selbst gestund, noch lange nicht unser christlicher Glaube. Wahr ist es doch, daß Christus selbst jenen Menschen den Vorzug gibt, 957 die nicht sehen (also auch nicht hören, was andre gesehen haben) und doch selbst gläuben. Wenn auch, 958wie zu Ende des Evangelii Johannis stehet, diese Zeichen damalen erzälet wurden, damit diese nächsten Leser und Zuhörer nur glauben möchten, Jesus sey der Christ und 959daß sie durch diesen ihren Glauben (ohne jüdische Irrtümer, immer mehr sich glücklich finden,) und das Leben haben möchten, in seinem Namen oder durch diesen ganz andern Christus, wobey ihr moralisches Wachstum eingeschlossen wird: so ist doch dieses nicht für alle nachherige Christen eben so anzuwenden, wenn diese nachherigen Menschen sich nicht schon in jener kleinen Denkungsart befinden, welche durchaus ferner von Zeichen und Wundern zuerst hören wolten. 960Ganz recht sagten auch die zu Samaria, Joh. 4. wir glauben nun nicht um deiner Rede willen, von dem Wunder, daß Jesus deine bisherige Hurerey wisse: sondern wir [241] haben selbst gesehen, und erkant (etc.)et cetera oder wir sind durch unser Nachdenken überzeugt; sie hatten aber keine Zeichen und Wunder Jesu hier zu sehen bekommen. Es beruhet also die ganze Aufgabe von Wundern, auf der Voraussezung: daß diese Erzehlungen eben so gradehin für alle Christen als Christen, bestimt gewesen seien, als die Lehren Christi und seiner Apostel? So leicht man nun eben diese Frage gemeiniglich bejahet, nach der ältern kirchlichen Lehrart (die blos auf dem kirchlichen Rechte des so genanten Canon beruhet) so wenig ist sie doch hiemit bewiesen für die Christen, die gar nicht in der Denkungsart stehen, als eben diese Juden, sondern leider nun erst eine jüdische sehr unmoralische Denkungsart, zu ihrem moralischen Schaden, auf sich übertragen, durch diesen Misbrauch jener Bücher. Die gemeine Denkungsart der Juden ist und war eine sinnliche kindische Nachlässigkeit, wonach sie auf Zeichen und Wunder in der sinnlichen körperlichen Welt warteten, und es voraus sagten, daß Gott um ihrentwillen, so oft sie es erwarten wollen, erst dergleichen Zeichen und Wunder geschehen lassen müsse; sonst hät[242]ten sie gleichsam ein altes Vorrecht, ihren Verstand, ihr Nachdenken noch immer nicht selbst anzuwenden, und über neue Stufen der Erkentniß, selbst frey und ernstlich moralisch zu urtheilen. Wenn nun gleich in diesen Erzälungen mehrere solche Dinge vorkommen, die nach dem kleinen oder moralisch ungültigen jüdischen Sprachgebrauche damals Zeichen und Wunder heissen könnten: so ist doch diese dort gewälte Einkleidung oder Erzälung eben nur um solcher Juden willen da, die iezt noch christliche Juden sind; keinesweges aber kann diese jüdische Denkungsart eine algemeine Schuldigkeit oder ein unleugbarer Vorzug aller Christen werden. 961Freilich hat die Kirche auch das so genante donum Miraculorum gar als fortdauernd angesehen; aber diese Gewohnheit der Kirche beweiset eben so wenig, als jene Gewohnheit der Juden. Es ist immer petitio principii, daß damalen miracula einen wahren Begriff eingeschlossen hätten den die Christen von den Juden annemen müsten, weil hier von Zeichen und Wundern etwas erzälet wird. Wie kann jüdische Denkungsart nun eine christliche worden seyn? Allein ich dächte, daß ein noch [243] viel wichtigerer Grund da wäre für alle die Christen, welche diese Wunder nicht dafür ansehen, daß sie die anderweitige edlere Wahrheit der christlichen Religion vorzüglich beweisen könnten. Diese christliche Religion oder die Verbindung neuer Begriffe von der Herrlichkeit Gottes, von deren Wahrheit wir uns überzeugen (ohne Wunder) war ja damalen noch nicht da. In der Lebenszeit Christi war der (heil.)heilige Geist die moralische volkommene Erkenntnis Christi den Christen noch nicht bekant, sondern wurde erst hinter dem Tode Christi immer mehr und mehr ausser Palästina ausgebreitet, daß Jesus der Christ seie: war der einzige Satz, der für die Juden aus diesen erzälten Wundern sich zunächst ergeben solte; dies hies aber noch immer einen Christum nach dem Fleische, oder in sinnlichen jüdischen Charakter als Urheber eines äusserlichen neuen Reichs zum politischen Flor der Juden kennen und ansehen. Sehr viele glaubten also, Jesus ist der Christus; aber sie behielten zugleich den jüdischen ganz falschen Begriff von der kleinen ganz falschen Bestimmung des Messias, wider die Heiden, zum Beweise aber der geistlichen volkommenen Religion, welcher Umfang der Er[244]kenntniß und Erfarung gar nicht für die Anfänger gehöret hat: sind nicht nur gar keine Zeichen und Wunder jemalen geschehen; sondern es konten auch keine statt finden; weil die Erwartung solcher Wunder oder sinlichen Begebenheiten, eben der alte Geist und Fehler des gemeinsten Judentums war; der gewis nicht fortgesezt wurde durch diese reine christliche 962 ἀληθείαν, durch πνευμα, 963oder durch die eigene starke Speise der freien volkomnen Christen; diese Wunder gehören also durchaus für die moralischen Kinder, für die Unmündigen, die den 964 Christus nur nach dem Fleische, oder in sinnlicher Erwartung noch sehr unvolkommen, und noch sehr unrichtig kennen, und also freilich tägliche Veränderung in der äusserlichen Welt (ihrer alten Gedanken wegen, also zur Fortsetzung ihrer moralischen Kindheit,) erwarten. 965 Wunder und Zeichen fordern nur die Juden, sagt Paulus ganz recht und er tadelt es hiemit. Man kann wol noch dazu sezen, 966weil die Juden die Körperwelt unter dem Mond dem Gebiet der guten und bösen Engel unterworfen hatten und also bey diesen Vorurtheilen 967eine weise unverbesserliche Ordnung in [245] dem einzigen Reiche der Natur gar nicht vor Augen hatten, indem 968 böse Geister in der Luft herrschten, also auch in die Menschen durch die Luft eingehen, und sie beherrschen, oder besizen könnten: so mußte auch durch eine andre übernatürliche Kraft, durch Wunder, solchen Geistern damalen Widerstand geschehen. Jene Vorurtheile lagen äusserlich schon voraus; diese Erzählungen beziehen sich ganz allein darauf. Waren jene Voraussezungen nicht von Störung der Natur durch böse Geister (etc.)et cetera so war kein Gegenmittel nötig. Kurz diese ganze Einkleidung ist um jener Zeitgenossen willen da, welche vom Messias eben so Wunder und Zeichen erwarteten, wie Moses und andere Propheten gethan hätten und der Erfolg, wenn diese Juden nun glaubten, Jesus – – sei der Christ, oder Messias, war gewis noch nicht eine Vorstellung eines moralischen Verhältnisses dieses Messias in Absicht des Antheils aller Menschen, an einem und demselben Gott, der gleich gut aller Menschen gnädiger Vater seie. Denn diese Begriffe sind erst nach und nach viel später, durch fortgehende Belehrung des Geistes Gottes in den Aposteln, entstanden, und [246] sehr bedächtig mitgetheilet worden; und zwar gerade ohne allen Einfluß jener Zeichen und Wunder, davon in allen Briefen der Apostel gar nichts wieder vorkommt.

969Der ganze Beweis aus so genannten Weissagungen in den Schriften des (A. T.)Alten Testaments ist eben so blos relativ; beziehet sich zunächst auf Juden, die aus ihren Propheten schon einen jüdischen Messias, für sich, nicht für alle Menschen, erwarteten. Die moralische Allgemeinheit des Messias, ist selbst noch nicht in diesen Propheten kenntlich genug bestimt, wenn auch manche Stellen ihrer Reden von Juden auf einen Messias gedeutet wurden; Es war noch ein Geheimnis, noch unbekant, öffentlich noch nicht gelehret worden; es ist nun erst unter Christen eine neue grössere Erkenntniß entstanden. Die Algemeinheit der moralischen Wohlthaten des Messias, ist ein ganz neuer Begriff, ist der Grund des neuen Bundes zur Widerlegung des jüdischen Particularismus; es ist eine neue Belehrung, eine neue Stufe der Erkenntniß, welche dem Geiste Gottes iezt von Christo und von den Aposteln ganz eigentlich [247] beigelegt wird, damit jüdische Mikrologie nicht zum Nachtheil einer bessern Gottesverehrung noch immer fortdauern könne. Wenn also Stellen aus dem alten Testament im neuen angefürt werden: ist es eben um dieser Juden willen; damit sie einen grössern Verstand an die alte kleinere Auslegung nun anknüpfen lernten. Es können Christen dies eben so machen; aber die Lehre Christi und der Apostel ist ihnen viel näher. Es stehet also den Christen frey; aber es ist keine algemeine Regel für alle Christen: die christliche Religion aus Mirakeln und Weissagungen sich zu beweisen. Die christliche Verehrung Gottes kann auch ohne jene Ideen statt finden.

30[.] Warum nennen aber die Christen diese bessere Erkentnis eine neue Offenbarung oder Belehrung Gottes? Es konnte ja eine Folge des natürlichen Menschenverstandes seyn, der freilich über die jüdischen periodischen Meinungen und Hypotheses sich in einzelnen Menschen nach und nach erheben, und neue Urtheile ergreifen und die jüdische Vorurtheile auslassen konnte?

[248] Wo solten aber die ersten Christen einen Grund gefunden und ihn also vorgezogen haben, diese alte jüdische Sprache, die von Offenbarung, Belehrung Gottes schon lange wusten, gar nicht zu brauchen, da sie doch mit Juden reden und sie in moralischer Erkenntniß weiter bringen wolten? Sie musten ja wol dieselbe Sprache behalten, um neue grössere Vorstellungen nun dadurch auszubreiten, welche sie selbst angenommen und vorgezogen hatten. In der moralischen Sprache der Juden waren schon die Worte und Zeichen, das Reich Gottes wird bald kommen, durch den Messias; 970der und jener Prophet redet davon, er war getrieben durch den Geist Gottes; 971nun trifft es ein, es wird erfüllet, was da geschrieben stehet; 972 uns hat es Gott näher offenbaret durch eben diesen Geist, der in den Propheten dort etwas dunkel, und von weiten davon ehedem schon geredet hat! (etc.)et cetera dies war also ein sehr gutes Mittel zum Endzweck; es war die beste Lehrmethode. Es kann aber auch gar wohl wahr seyn, daß Apostel und Schüler Christi in allem eigenen Bewußtseyn von sich es sagten, der Geist Gottes hat dieses mir geoffenbaret, wie dort in jenen [249] Propheten schon etwas davon vorkomt. Daß also nicht blos die jüdische Sprache iezt bedächtig fortgesezt worden, sondern daß die Christen aus eigner Historie und Erfarung recht ernstlich und eifrig also reden. Die bessere oder grössere Erkenntniß hatte der Christ, es seie kein sinlich äusserlich Reich Gottes in Palästina zu erwarten; Gott könne keinen so unwürdigen Messias, nach jüdischen Begriffen, bestellen; alle Menschen gehörten schon einem Gotte an, der nicht ihren politischen Untergang, sondern ihrer aller moralische Wohlfart durch den Messias nach unbegreiflicher Weisheit und Gnade, besorgen und wider jüdische Irrtümer bekant machen wolle, wozu das Nationalgesez Mosis, der Hohepriester, der locale Tempel (etc.)et cetera gar nicht nöthig seyen; es gebe 973eine geistliche viel vollkomnere Beschneidung, eine algemeine volkommene Aussönung der Menschen mit Gott, in der Erkentnis der Liebe Gottes, aus der Historie und Lehre Christi, durch bessere Erkenntnis der Menschen von der moralischen Würde Gottes; daß sie nun selbst Gerechtigkeit und Heiligkeit immer mehr liebeten und leisteten – – Wie solte man diese neue bessere [250] Religionslehre damalen diesen Juden anders anempfehlen, als durch eine einzige Offenbarung und Belehrung eben des Gottes, der ehedem unter den Juden durch die Propheten, die sein Geist antrieb, schon manches geredet oder geleret hätte? Und was ist denn die Folge des natürlichen Nachdenkens in einigen solchen fähigen oder geübten Menschen, um ja alle Ordnung und Wirkung, die von Gott selbst unbekanter Weise herkäme, hier auszuschliessen? Haben die Naturalisten wirklich ein ausgemachtes Vorrecht vor jenen guten Christen und Aposteln, dieweil sie iezt ganz anders hievon reden, daß blos die Folgen des ganz natürlichen Nachdenkens sie, ohne Gott, ohne Geist Gottes, oder ohne Einfluß des würdigern Begrifs von Gott, über jene Rabbinen und Juden von selbst erhoben haben? Es liegt doch wol alles an der Sache; die christliche Religion ist eine höhere Stuffe, lehrt einen algemeinen Messias und Geist Gottes zum moralischen Besten aller Menschen, sie mögen der Nation nach Juden oder Heiden seyn. Die schlechten jüdischen Begriffe musten doch weggeschafft werden; und diese neue Begebenheit ist da, ist wirklich worden, durch [251] einen moralischen Messias. Ob diese Erhebung und Veredelung alter jüdischer Redensarten nun in der gemeinen christlichen Sprache beschrieben wird, eine neue Stufe der ehmaligen Offenbarung und Wirkung Gottes hat iezt angefangen; oder ob Naturalisten sagen, es gab gar keine Offenbarung und Belehrung Gottes ausser der Succession der Uebung des Menschenverstandes über moralische Dinge; das macht doch wol keine solche Veränderung, daß die Naturalisten durch ihre Sprache eine viel bessere Religion schon ausübten, als die Christen, die eine christliche Sprache daneben behalten. Ein für allemal ist das ganze menschliche Geschlecht im gleich guten Besiz, von dem unsichtbaren, allerhöchsten Wesen und von seinem wirksamen steten Verhältnis mit einerley Rechte unter zweierley Meinung zu wälen; eine nimt eine stete Wirkung und Regierung Gottes an, freilich durch so genante Natur, aber ohne Gott selbst daran zu binden; sie sezt vielmehr voraus, Gott könne auch neben und über die Natur mancher Menschen zuweilen wirken, auf eine uns nicht bekante Weise; die andre läßt blos natürliche Wirkungen auf einander folgen, und leugnet al[252]les Uebernatürliche, wodurch etwa Menschen neue Vortheile zu ihrer physischen oder moralischen Volkommenheit entstehen können. Ist es wohl möglich, daß eine Partey den Sieg erwarten oder sich schaffen wil über die andre? So lange die Menschenwelt uns bekannt ist, erfolgte dies nicht; wird es wol von nun an erfolgen? Was ist denn die Natur aller uns so oder so weit, oder gar unbekanten Dinge ohne die unendliche allerhöchste Natur, die über alle von uns genente Natur ist? Oder ist diese etwa gar nicht einmal über die Natur der Menschen? Es wird also immer eben auf die Natur und Uebung einiger Menschen ankommen, daß sie gerne an die höchste Natur denken, und ihre neue seltenere Wirkung für wahr halten; wie es hingegen in der Natur und Uebung anderer Menschen seinen Grund hat, daß sie eine solche Relation des höchsten Wesens zu einigen Menschen nicht voraussezen. Ich dächte, wir fänden diese doppelte Gesinnung oder Neigung der Menschen so gar gewis und historisch wirklich: daß wir es für ganz unnütz hielten, darüber ferner zu streiten, damit nur der Eine Theil allein recht habe. Es ist und bleibt Geschichte der Natur [253] der so ungleichen Menschen, daß die Menschen sich hierüber recht bedächtig, ernstlich, gewissenhaft theilen. Aus der Natur der Menschen kann man nicht eine und dieselbe Anwendung ihrer innern Kraft, und einerley Bewustseyn der innern Veränderungen, noch weniger einerley moralische Sprache herleiten; da die Natur der Dinge, oder der Grund ihrer innern Bewegung von kleinern zum grössern, uns ganz gewis iezt noch eben so unbekannt ist und bleibt, als ehedem. Das Unsichtbare gehet noch immer vor und neben allen Sichtbaren her; das Denken und Urtheilen über dieses innere Unsichtbare, mus daher immer unter den Menschen eben so ungleich und verschieden seyn, als die Stimmung der Menschen durch verschiedene Talente und Vorzüge sich an den Tag legt, ohne daß diese Stimmung eine algemeine Beschaffenheit aller Menschen werden kann. Oder wäre es schon Beschimpfung, daß Menschen sich über die Natur der sinnlichen Dinge gern erheben? Durch den Ausdruck übernatürliche Offenbarung beiahen also die Christen etwas, das die [Naturalisten] nicht bejahen. Ist diese Verschiedenheit beider Classen etwas an sich Ungereimtes bey den Naturalisten? Mus es nun auch [254] bey dem Christen ungereimt seyn? wo käme denn dieses Muß her? anziehende und abstossende Kraft mus doch wol in der moralischen Welt eben so immer zugleich da seyn, als in der physischen körperlichen Welt; beiderley Kraft gehört auch in die Natur der Menschen in Ansehung dieser Aufgabe.

31. Hiemit wird sich aber der Fanatismus oder Enthusiasmus unter den Menschen ferner ausbreiten, der immer so viel Böses befördert hat, als man dem Naturalismus nicht Schuld geben kann!

Es kann gleichwohl kein billiger bedächtiger Beobachter der Menschengeschichte so geradehin absprechen, der so genante Fanatismus (welcher Name einen sehr ungleichen Zustand begreift) habe lauter Böses für die Menschen mit sich gebracht. Man hat vielmehr immer zu allen grossen schweren, standhaft ausgefürten Unternemungen einen besondern nicht gewönlichen Einflus und Beistand der Gottheit, als ungezweifelt angenommen. 974 ἐπιπνοην adspirationem dei nente man schon lange vor der Zeit der Christen; [255] und 975 Stoiker erinnerten ihre Schüler an den Geist Gottes, der in ihnen wonen und wirken wolle: an 976die geheimen Grundsätze der Magisten will ich nicht erinnern, die historisch hergehören. Genug, es ist historisch wahr, daß oft ein besonderes Bewustseyn oder Vertrauen mancher Menschen, das eine grössere unsichtbare mitwirkende Kraft zum Grunde sezte, sehr viel grosse neue Vortheile zum Besten anderer Menschen zu wege gebracht hat; Es ist also nicht wahr, daß aller sogenante Fanaticismus, der ohnehin, wie gesagt, einen sehr ungleichen Zustand begreift, wenn man gleich einerley Wort gebraucht, lauter oder mehr böse Folgen für die Menschen immer gehabt habe und haben werde, als sich Vortheile und gute Folgen eben daher berechnen lassen. Man muß die Lage und Verknüpfung der Menschen und die Folgen ihres Thuns und Lassens sich in einem gar zu kleinen Umfange und eigenliebig vorstellen, wenn man so leicht über das Gute und Böse unter den Menschen überhaupt absprechen wil. Es gibt immer Misbrauch so gar des ganz ausgemachten Guten. Wenn also listige boshafte Menschen die grossen Ideen von Gottes Wirkung zu ihren [256] bösen Absichten gemisbraucht haben: so ist es deswegen doch nicht wahr, daß alle Aufmerksamkeit und Zuversicht auf besondere Wirkungen Gottes, allemal ein schädlicher Fanaticismus, und für uns und für alle Menschen geradehin eine sehr nachtheilige Gesinnung seie, die einmal einen wirklichen Grund hätte, sehr gute Folgen zu erschaffen; und daß man also vielmehr sich von dieser Hypothese ganz entfernen, und den Naturalismus als eine reichere und sichere Quelle von lauter guten Folgen in der Menschenwelt, vorziehen müsse. Wie so gar ungleich ist doch selbst dieser Naturalismus, indem ja Natur einzeler Menschen ebenfals nicht einerley Umfang oder Anlage begreift! Wie wenig ausgemacht wahr ist es, daß jeder Naturalist einen jeden so genanten fanatischen Christen, in Absicht des moralischen eigenen Zustandes, und des schuldlosen Betragens gegen andre Menschen, ganz gewis immer sehr weit übertreffe! Wo solte also der Grund hergenommen werden, zu der gleichsam pflichtmäsigen Bemühung, alle so genante fanatische Gesinnung überal auszurotten, also auch alle christliche und biblische Sprache, welche einen nähern Zusam[257]menhang mit Gott anzeigt, geradehin abzuschaffen? Es ist doch wahr, 977in Gott leben, weben und sind wir; wie soll lauter Böses daher entstehen? Aller Misbrauch ist und war doch immer nur zufällig; nicht immer hat ihn böse Meinung oder Gesinnung erzeuget; er würde, wenn diese Menschen auch ausser Europa, ausser der christlichen Religionsgesellschaft lebten und gelebt hätten, dennoch statt gefunden haben. Böse, verdorbene Menschen würden also überal sich als Böse gezeigt haben, wenn sie auch keine Gestalt von Fanaticismus, keine Behauptung oder Meinung von übernatürlicher Offenbarung dazu hätten misbrauchen können. Allen andern Menschen aber muß doch auch diese ihre moralische Uebung, Erfarung, Fertigkeit, als ihr innerer Zustand frey bleiben, da sie doch wirklich nicht immer mit einem Nachtheil, oder Misbrauch verbunden ist, den ein Naturalist durchaus hier übereilt voraussezt. Es ist und bleibt, auch in der moralischen Welt Tag und Nacht, Wärme und Kälte, gleich notwendig, wenn es an manchen Arten moralischer Producte, die auch nicht gleich sind, wenn wir auch ihren Nutzen nicht [258] einsehen, als doch hier der Fall nicht ist, nicht ganz felen sol; Und wie kann doch ein Naturalist sich anmassen, mehr Freiheit hier zu brauchen, als er dem Anhänger an eine übernatürliche Offenbarung erlauben wil? hat er Gründe, die ihn hindern, sie in Absicht seiner für wahr oder auch für ungleich zu halten: so sind es ja doch nur Gründe für ihn, die auf gar keine Art eben so allen andern Menschen zu kommen können, eben wegen des vorausliegenden Unterschieds. 978So sagt einer erst neuerlich: Gott würde durch eine übernatürliche Belerung den natürlichen Gang einzler Menschen stören und es würde mit sich bringen daß Gott durch die schöpferische Einrichtung nicht alle seine Werke habe erreichen können; ja es würde durch eine Offenbarung in Ansehung der schon daseienden Verkettung der Ideen des Menschen so etwas geschehen, als wenn man einen Haufen Sand in eine Uhr schütten wolte (etc)et cetera. Nun so mag dieser Naturalist also diese Gedanken für so wichtig halten, daß er keine übernatürliche Offenbarung selbst annimt; aber muß denn nun auch ein jeder Christ um seines eigenen Besten willen, ein solcher Naturalist werden? Wenn der natür [259] liche Gang mancher Menschen diesen Begriff von Uebernatürlichen und Unsichtbaren schon mit sich bringt, wie es historisch wahr ist: wie kann durch die Bejahung einer übernatürlichen Belerung eben dieser natürliche Gang dieser Menschen gestöret heissen? In der Natur mancher Menschen liegt also dieser Begrif. Wie folgt aber eine Unzulänglichkeit der weisen Schöpfung, wenn neben der physischen natürlichen Bewegung, auch eine nicht physische moralische in manchen Menschen mit wirket? Es ist ja doch gar schlecht geurtheilet, 979wenn der Naturalist die unendliche Weisheit Gottes dahin ziehen wil, daß ausser der physischen Ordnung aller Dinge, die doch von Gott immer abhängt, Gott gar keine Wirkung weiter übrig haben könne; als wenn die Natur aller Dinge dem Naturalisten so bekannt wäre, daß er nun wüßte, es seie gar keine weitere Wirkung Gottes übrig; und als wenn Gott nicht selbst unendlich mehr seie und wirke, als was Menschen in der und der guten oder schlechten moralischen Uebung von Gott bejahen mögen! so leicht ist die Unendlichkeit Gottes abgeschaft, durch das Wort natürlich; und es ist doch selbst die so genante Natur, körperliche und [260] geistliche für uns immer unendlich! Mit unendlicher Weisheit hat Gott die Geseze aller Dinge ein für allemal verordnet! Und – – – daher folgt, er hat daneben eine Wirkung auf manchen Menschen übernatürlich, wie einige Menschen reden, auch noch anwenden können? Aber es konte ja in dieser unendlichen Weisheit für einige Menschen eben bestimt seyn, daß sie an eine übernatürliche Weisheit Gottes denken, neben der so genanten Natur; wie sie auch an das Unsichtbare und Unkörperliche denken, das immer eher ist, als das Sichtbare und Körperliche. Warum sol Offenbarung Gottes zugleich einen Streit mit der Weisheit und Güte Gottes mit sich bringen? Andere Menschen finden viel mehr Weisheit und Güte Gottes darin und sind zu bescheiden, als daß sie dem höchsten Wesen aus ihren Kopfe hierbey anweisen, oder auch gar alle andre Menschen Vorschriften machen wollen was sie von dem Unsichtbaren denken sollen. So lange die Folgen der beiaheten Offenbarung nur in den bejahenden Menschen selbst einfallen, und ihre moralische Besserung mit sich bringen: kann kein anderer Mensch über ungerechte Beeinträchtigung klagen; wenn [261] aber jemand aus Offenbarung äusserliche Zerrüttungen der bürgerlichen Gesellschaft vornemen wil, so wird der Beweis bald da seyn, durch den hinlänglichen Widerstand der Gesellschaft, daß Gott dieses nicht haben wolte. Aber wo sol der Widerstand herkommen, der die Christen am fernern Glauben einer Offenbarung Gottes hindern solte? durch den Namen, Dumkopf, Fantast, läßt sich kein vernünftiger Mensch dazu bringen, sich alles eigene Urtheil zu untersagen.

32. Aber es ist doch unter den Christen durch ihre Offenbarung, die Schwärmerey von Geistern, Erscheinungen, unsichtbaren Wirkungen und täglichen Wundern zu allernächst befördert worden? Dies kann doch keine Folge von einer wahren Belehrung Gottes seyn, also ist bey den Christen keine göttliche Offenbarung, wenn sie gleich dergleichen bejahen. Die Historie lehret es ganz unwidersprechlich, daß es bey keinem Staat so viel anhaltenden und immer wachsenden Aberglauben gegeben hat, als bey den Christen.

[262] Und hieraus sol also diese Historie eingesehen werden, daß die ersten Urheber dieser Bejahung, es habe eine neue Offenbarung Gottes ihnen bessere Erkentnis geschaft, und sie also von Juden und Heiden getrent, sich selbst geirret, oder daß sie es bedächtig vorgegeben haben, um sich desto mehr Anhänger zu schaffen! Ich dächte doch nicht daß jener Schlus und gar eine wirkliche Historie, aus solchen Gedanken, notwendig entstehen müssen; vielmehr dieses, daß nachher manche, daß viele Christen den wahren moralischen Inhalt der neuen Belerung, die bey einigen Menschen durch Offenbarung entstanden hies, vernachlässiget, und gar bedächtig gemisbraucht haben. 980Wir wissen aber ohnehin, daß die guten Früchte einer neuen Belerung – kein physischer unausbleiblicher Erfolg heissen können, sondern eine moralische Natur behalten; oder, daß es nun auf die Menschen ankömt, ob sie diese neue Belerung (die so oder so von Gott kam, nach der Ueberzeugung einiger Menschen) moralisch gut für sich anwenden, oder mit Beibehaltung ihrer sinlichen Begierden gar zum Mittel verkehren, andere Menschen zu hintergehen. Hienächst kann man [263] ja nicht sagen, daß diese neue Belerung unter allen Christen ohne einen verhältnismässigen guten Erfolg geblieben seie; daß aber alle Christen nun eben so lauter guten Gebrauch von einer neuen Belehrung machen solten, kann ja niemand zu einem unausbleiblichen Merkmal der Wirklichkeit dieser Belerung Gottes so machen, daß alsdenn es keine solche Belerung einiger Christen gegeben habe, wenn diese Belerung nicht lauter vortrefliche Folgen bey allen Christen immer hervorbrachte. Oder sind Vorschriften und Geseze darum so gleich nicht gute Vorschriften, weil sie nicht durchgängig von allen Mitgliedern zu ihrem Nutzen beobachtet werden? Wenn wir also die Ursachen des felenden grössern Erfolges, immer bey den ungleichen Menschen selbst finden können, warum sol es nun gar ein Beweis werden, daß in der That dies neue Mittel als neu, oder als von Gott iezt veranstaltet gar nicht in dem Bewustseyn der Menschen gegeben habe: dieweil sehr viele Christen es gar nicht oder nicht gut und zu grossen Folgen genüzt haben? Da es nun doch gewis ist, daß viele Menschen diesen Begriff einer göttlichen Offenbarung sehr gut an[264]gewendet haben zur Hintansezung des Juden- und Heidentums auch zum eigenen grossen moralischen Wohlstand, so ist also mehr moralisch Gutes damit befördert worden, in allen Jahrhunderten bis hieher, als ohne diesen Begriff sonst statt gefunden hätte. Da wir es so gar zur Pflicht haben, ehmalige Feler und Misbräuche, welche durch unwürdige Lehrer und falsche Christen eingefüret worden sind, sorgfältig aufzusuchen, und diese Offenbarung Gottes gar nicht von uns so gebraucht werden soll, daß wir in einer steten blinden Abhängigkeit von den vorigen sogenanten Christen und ihren guten und schlechten Lehrern stehen bleiben: so hört aller jener Aberglaube bey uns ganz gewis auf, wenn wir diese Offenbarung für uns richtig anwenden werden; und die aus einem Misbrauch entstandenen Folgen eines grossen Aberglaubens fallen geradehin weg; können wenigstens von billigen Gegnern nicht für iezt uns vorgehalten werden. Uebrigens wird ja keine bestimte einzelne Art und Weise dieser Offenbarung, allen Christen zu glauben aufgelegt; denn sie ist und bleibt unbekant. Genug, die Christen liessen den Ursprung der neuen Religion [265] mit einer Wirkung Gottes zusammen hängen; ob nun dieses blos ihr Aberglaube war, oder ob sie selbst einen Grund hatten, eine solche Wirkung Gottes in ihm als nur daseiend zu glauben: ist die Aufgabe, die kein Theil wider den andern schon entscheiden kann.

Es ist aber auch noch weiter wahr, daß nicht alles als schändlicher Aberglaube anzusehen ist, was so leicht iezt von vielen Naturalisten dafür angerechnet wird. Es war freilich unrecht, daß man ehedem den Christen, welche nicht zur Clerisey gehörten, allen eigenen freien Gebrauch dieser Bücher, der neben dem öffentlichen Kirchengebrauch noch statt finden konte, durchaus verboten und verwehret hat; denn es ist die erste Forderung der neuen Belerung, daß die Menschen ja mit eigener Aufmerksamkeit über die ihnen gehörige Stufe der Religion nun nachdenken und urtheilen sollen. Nicht alle Christen solten ein und dasselbe Maas ihrer Erkentnis und der Uebung dessen, was sie erkanten, ein für allemal als die einzige Religion, behalten. Folglich war es auch keine Vorschrift dieser neuen Belehrung, daß alle [266] Christen aus allen Büchern der Bibel oder des (N. T.)Neuen Testaments einerley Summe zu ihrer gegenwärtigen Erkentnis samlen solten; 981das Alte ist vergangen, es ist alles neu worden, (oder das Alte sol als unnötig immer mehr erkant werden, und neue iezige Erkentnis sol an die Stelle des Alten kommen) war gleichsam die Hauptsumme der neuen Belehrung; weil die moralische Volkommenheit und Herrlichkeit Gottes nur in einem unbegränzten Raume gleichsam erblikt wurde; da jedem Christen das Maas seines Glaubens oder seiner Religion für ihn selbst, ganz frey blieb; und es war und blieb doch ein christlicher Glaube, in eigner neuen Fertigkeit aller Christen. 982Wie es Eine Taufe war, sie mochte im Jordan, oder in einem Teiche, oder in einem Brunnen irgend eines Landes ertheilet werden; es blieb ein und derselbe Grund der neuen Religion, zu der man durch die Taufe als ein nun kentliches Mitglied neben andren aufgenommen wurde. Daß aber nun Lehrer alle Schriften der Bibel, und allen Inhalt aller Kapitel, und alle Anzeigen damaliger Vorstellung und Urtheile, nach und nach ebenfals mit zu dieser neuen unveränderlichen Belehrung für [267] alle Christen gerechnet haben: ist ein gar sichtbarer Feler oder Irrtum voriger Zeit; oder ist doch eigenes Urtheil mancher Christen, die sich dabey moralisch wohl befinden; wenn auch andere Christen anders urtheilen, und ebenfals keinen moralischen Schaden davon haben. Wenn man auch eine gesellschaftliche Uebereinstimmung der Kirchendiener im öffentlichen Gebrauche der Bibel als ein rechtmäsiges Mittel ansehen konte, eine solche Gesellschaft vor täglicher Zerrüttung durch immer neue Anfänge zu behüten: so hätte man dies doch nicht mit zum steten unveränderlichen Endzweck der Offenbarung rechnen sollen, was durchaus nur ieziger besonderer äusserlicher Endzweck der Kirchenlehrer und der Vorsteher einer schon grossen christlichen Religionsgesellschaft heisen konte. Blos durch diese Mischung aller Bücher und alles ihres so gar sehr ungleichen Inhalts in eine unveränderliche Summe, hat man so gar jüdischen alten Aberglauben, der darin gemeldet wird, auch den Christen als geoffenbarte Wahrheiten mitgetheilt, und hiedurch freilich die immer volkommenere geistliche Religion, die in gegenwärtigen eigenen Thun und Lassen, also in eig[268]ner immer grössern Erkentnis und Ausübung bestehet, in eine ängstliche Widerholung und Mischung aller Zeilen der Bibel verwandelt. Nun stunden alle Christen immer fort in einem Kreise stille, aus dem sie nie heraus gehen durften, um nicht Kezer und also ewig verdamt zu werden. Aber alle diese Einwürfe und Vorwürfe, welche selbst von manchen Protestanten schon wider die falsche Kirche gebraucht worden sind, treffen die an sich selbst behauptete neue Offenbarung, neue moralische Haushaltung Gottes, unter den bisherigen Juden und Heiden, ganz und gar nicht. Wir würden diese neue Belehrung Gottes, oder bessere Begriffe von moralischer Verehrung Gottes, haben und behalten, wenn wir auch nicht so viel Bücher des (A.)Alten und (N. T.)Neuen Testaments in Händen hätten, wenn wir auch viele Erzehlungen von so genanten Wundern gar nicht wüsten. Alle Christen werden immer mehr selbst davon gewis, daß sie von Gott durch unaufhörliche Mittel beleret werden; sie haben selbst höhere Begriffe von Sünde und aller moralischen Unordnung, aber auch nun von der unendlichen moralischen Gnade und Liebe Gottes. Diese neue Einsicht der Christen, diese eigene [269] Betrachtung über die moralische Güte Gottes, neben der bekannten sichtbaren Schöpfung, gehöret zu der so genanten neuern viel herrlichern Offenbarung Gottes; auf diese eigene practische Uebung und Erfarung der Christen kommt die Hauptsache an, wenn sie eine neue Offenbarung Gottes in jener Zeit immer noch bejahen. Auf die geschriebenen Bücher, auf ihre Vielheit oder Abkürzung, auf eine Samlung von jüdischen alten und spätern Ideen, als Samlung, oder in damaliger Verkündung komt nur wenig an; denn dies wird nicht unsre eigene Religion; und ist wenigstens den Lesern frei gelassen. 983 Geist und Leben, Geist und Wahrheit, Volkommenheit, Geist und Kraft zum göttlichen Leben und Wandel ist die Hauptsache in der neuen Religion; und die läßt sich ohne eigene Versuche und Erfarung solcher Wirkungen Gottes, gar nicht erkennen; läßt sich aber auch, wenn es einmal eigene Fertigkeit und Erfarung ist, durch allerley Einwürfe oder Spott und lustige Wendungen eines Naturalisten, aus dem Christen nicht so gleich wieder entfernen. Dieser Charakter enthält den kentlichen Unterscheid von Naturalismus; der [270] siehet jenes alles für fanatische Verirrung an; aber hiemit wird die Erfarung der Christen nicht zum Undinge oder Fanaticismus gemacht.

33. Zugegeben, was diese eigene Erfarung und Gewisheit mancher Christen betrift, eben so bleibt einer bey seiner Erfarung, der ein Gespenst gesehn oder gehört hat; daraus entstehet doch eben gar kein Beweis für einen andern. 984So heißt es, Gott ist dem Abraham, dem Moses – – erschienen; ein Engel ist erschienen; hiemit bekömt ein anderer keinen Grund ebenfals zu glauben, was ein anderer also beschreibt, wie er es erfaren haben wil (etc.)et cetera

Ganz gewis; aber ist das Nichtglauben anderer nun auch eine Widerlegung für den, der da glaubt oder überzeugt ist, daß er Gottes Wirkung erfärt? hat deswegen Abraham, Paulus – keine neue grössere Erkentniß bekommen, weil andre diese Beschreibung gar nicht gelten liessen oder verspotteten? Man darf es keinem Naturalisten übel nehmen, daß er dergleichen Beschreibung nicht [271] so leicht oder gern gelten läßt, als manche andre Menschen; es sollen auch solche Beschreibungen nicht in wörtlicher Abfassung eigentlich eine besondre Kraft beweisen in Absicht aller andern Menschen. Es ist vielmehr eine alte ungegründete Forderung der Pfaffen und Mönche, daß nun alle Menschen die Offenbarung Gottes nebst der ehemaligen auch wol schlechten Beschreibung derselben so gleich auch immer gelten lassen, und Kirchenchristen werden müssen, wo sie nicht ewig verdamt heissen wollen. Ich behaupte hier nur umgekehrt eben so viel: es ist gar kein Grund da, daß alle Christen nun um ihres grössern Wohlergehens willen, Naturalisten werden sollen; wenn gleich Naturalisten immerfort solche Gründe nicht finden oder gelten lassen, welche bey den Christen noch immer zu ihrer Gewisheit einer göttlichen Belehrung gelten. Die neue Offenbarung fand vornehmlich Statt, zu einer bessern volkommenern Erkentnis moralischer Wahrheiten, als bis dahin unter Juden und Heiden schon da war; zumal zur Widerlegung der falschen Begriffe von einem Messias und zur freien Uebung in der eigenen ernstlichen Verehrung Gottes. Diese neue Gesellschaft hat also keinen An[272]theil mehr an der alten kleineren jüdischen Religion, an ihren Opfern – sie kent eine geistliche oder volkommenere Religion. Es wurden hier viel jüdische Redensarten behalten; aber in neuer Bedeutung; ob gleich viele Leser das alte hielten, um der alten Redensarten willen. Die Menschen sind ja ungleich. Von der ersten Pflanzung der neuen Religion unter den eigentlichen Heiden als Heiden, im Unterschied von Juden, wissen wir zu wenig, als daß wir die Lehrmethode näher kennen und betrachten könten; selbst die Schuzschriften oder Apologien, die wider die gröbsten heidnischen Lehrmeinungen vornemlich sich herauslassen, kann man hier nicht brauchen. 985Indes bejahen doch so gar mehrere christliche Schriftsteller, daß Philosophen, Dichter, Historiker – eben dieselben moralischen Begriffe und Wahrheiten schon so oder so weit gekant hätten, wenn gleich der gemeine Haufe nicht davon belehret worden, daß es einen 986 λογος [ἐνσπαρτος] durch die Vernunft, die in einigen Menschen so weit reichen könte, immer gebe; 987 nemo sine Christo nascitur, sagte so gar Hieronymus. Es ist uns aber kein aneinander hängender Vor[273]trag übrig, wie er zur Einladung der Heiden zur christlichen practischen Religion eingerichtet gewesen, wenn auch von der gesellschaftlichen Religionsordnung etwas gesagt wird. Es war aber doch die besondere Einwirkung Gottes auf die Gemütskräfte der Menschen, 988eine [Theurgia], vielen platonischen Schülern gar geläufig, 989wie die Stoiker davon reden, daß Gott in manchen Menschen wone. Genug aber; ich lasse es den Naturalisten gern frey, daß sie durch die und jene Begriffe oder Lehrsäze mancher Theologen immer mehr Anstos gefunden haben, als Reitzung, sich zu einer christlichen Erfarung und Uebung (die von der blos gesellschaftlichen Religionsform gar sehr unterschieden ist;) auf einige Zeit zu entschliessen. Ich behaupte nur, daß wir Christen eben so viel Recht und Freiheit haben müssen, alle bisher bekanten Gründe für den Naturalismus ebenfals noch immer für ganz unwirksam auf uns anzusehen. Kein verständiger geübter Christ kann dahin gebracht werden, den Tausch mit dem Naturalisten für seinen ausgemachten moralischen Gewinn schon anzusehen; er verliert vielmehr das Bewustseyn, das ihn so gewis beruhiget, eben durch diesen Widerstand beruhiget.

[274] 34. Aber wie kann denn ein verständiger Christ die gewöhnliche öffentliche Religionsordnung selbst genem halten oder mit halten? Was für unschickliche Gesänge, Gebete, Vorträge, und was für seltsame Cerimonien muß er sich gefallen lassen? Viel besser thät er ja, wenn er sich hievon geradehin losmachte, und als ein freier Naturalist sich von so schlechten Mitchristen als die meisten sind, nun absonderte?

Sollen denn alle verständige Christen den Unterschied vergessen, der äusserliche und innerliche Christen so weit von einander theilet? Ein Christ, der verständig heißt, findet bey dem Naturalismus nichts, das ihm fehle, so lange er ein Christ ist; und bey den schlechten Christen findet er immer mehr Ursache, ferner der wahre Christ zu bleiben, und vielleicht andern moralisch nützlich zu werden, die erst leichtsinniger Weise sich noch mehr verderben lassen. Solten denn wol so viel äusserliche Christen, worunter auch wirklich innerliche wahre Christen sind, gerade um jener Mängel willen, sich gar der Religionsgesellschaft ent[275]ziehen? Niemand kann um so vieler bösen verdorbenen Menschen willen, die ganze Gesellschafft seiner Stadt, oder seines Orts, meiden, oder sich davon trennen. Sehr viele Pflichten würden alsdenn gar nicht geleistet werden, wenn jeder seine gröste Bequemlichkeit und ganze Behaglichkeit nur in Rechnung brächte. 990Wenn nun viele unfähigere Menschen bisher an den Kirchengesängen und gemeinsten Cärimonien nicht nur keinen Anstos finden, sondern umgekehrt an- und umgestossen würden, wenn verständige Christen so gleich öffentliche Veränderungen eigenmächtig anfingen oder beförderten, ehe diese vielen Menschen zu einer auch nur kleinen eigenen Erkenntnis gebracht werden, so veranlassete man ja wol gar wilde Schlägereien und öftere Tumulte in solchen Gemeinen, und zerrüttete nach und nach die ganze bürgerliche gemeinschaftliche Verbindung, ohne bey andern mehr Gutes wirklich zu machen. Und gesezt dis wäre wirklich eine wohlfeil und leicht bewerkstelligte moralische Aufklärung des gemeinen Haufens; wäre man auch sicher, von den viel grössern guten Früchten solcher blos äusserlichen Veränderung? Denn äusserliche müssen [276] sie doch nur heissen. Wir wollen aber verständige Christen daneben ferner annemen; die manches Lied nicht mitsingen; es stehet ihnen frey; manche Gebetsformel selbst ganz übersehen; gelegentlich aber darüber ganz sanft und vorsichtig sprechen so wol mit den Predigern, als mit andern in der Gemeine. Hiemit ist noch gar nichts geschehen, das vorgegriffen heissen könne worüber eben immer die erste Misbilligung entstehet; der eine ehrliche Mann spricht mit einem andern und dritten; der gemeinnützige Prediger stimt sich auch herab, und erwartet gleichsam von der Gesinnung der Zuhörer die Erlaubnis. Nach und nach läßt er manche Lieder liegen; vertauscht oder verknüpft manche Zeilen in Gebetsformeln mit gemeinnüzlichern. – Auf gar viele Art und Weise werden also diese verständigen Christen den andern noch immer nüzlich; sie hindern auch die leichtsinnige, gewis unmoralische Einbildung vieler übereilten Zeitgenossen, die sich über alles wegsezen, und wenigstens gern Naturalisten heisen wolten, weil sie einige Spöttereien aufgefangen haben. Im Ganzen mus der Prediger das Seine durch Aufmerksamkeit auf die Zeitumstände, rechtschaffen thun; die Zuhörer [276[!]] selbst zum Mitdenken antreiben, nicht auf die Vernunft selbst schelten, wo er nur den Misbrauch oder gar den Mangel tadeln solte; nicht immer von Naturalisten und Kezern reden, weil es ganz zur Unzeit und von ganz unchristlichen Folgen ist; den wirklichen Unterschied der Stufen des eigenen Christentums, von aller Religion aller Menschen immer mehr anzeigen und darthun, bis aus Kindern moralische, erwachsene, immer bessere Christen werden. Eben so muß er alle unrechte Hochachtung der Bibel immer besser entblössen; denn 991die Christen sind nicht um der Bibel willen da, allen ihren Inhalt nach der Reihe selbst eben so zu deuten und zu bejahen wie es jene Juden thaten, und Juden blieben; sondern die Bibel ist um der Christen willen da, daß sie immer bessere, glücklichere Kenner des ihnen zunächst nötigen Inhalts der Bibel ganz frey werden sollen mit Unterscheidung des ihnen unnüzlichen. Nun würde der Vorzug und das Lob des Naturalismus seine wahren Schranken behalten müssen, und die Naturalisten fänden nicht alle Tage an dem schlechten Amte des Predigers und an den Lastern der falschen Christen den alten [278] Stoff, sich geltend zu machen; und gute thätige Christen nämen es überal mit dem Naturalisten auf, was den Beweiß betrifft, in gemeinnüziger, unverlezlicher Tugend. Wenn nun dennoch der Naturalist den freien Gebrauch der Bibel seinen Zeitgenossen entziehen und seinen eigenen Naturalismus dafür aufstellen wolte: so überträte er seine Pflicht als Nebenmensch und als geselliger Unterthan, der über die Einrichtung der öffentlichen Religion, was das feste Verhältniß gegen den ganzen Staat betrifft, öffentlich nichts zu verordnen hat. 992Denn in der Gesellschaft schon leben, und doch auf den Stand der so genannten Natur sich berufen, welche Natur doch ebenfals nicht alles auf einmal oder in gleichen Maas aus allen Menschen gemacht hat: ist eben kein Grund, der ruhige Bürger aufmerksam und lüstern machen würde, einen ungewissen Stand der so ungleichen Natur, ihrer so festen gesellschaftlichen Lage aufs ungefäre vorzuziehen.

35. Es ist also doch der Naturalismus mancher Zeitgenossen selbst für die sonst schlechte öffentliche Religion der so schlechten Christen sehr nützlich worden?

[279] Ganz gewis! aber wird er allen Staaten wirklich geradehin noch nüzlicher seyn, durch Aufhebung aller christlichen Religion, als wenn er neben der christlichen Religion in solchen Schranken gehalten wird, als weise Regenten das Verhältniß aller öffentlichen Religion selbst beurtheilen? 993Alles, was wirklich nüzlich ist, ist es nur durch die Schranken und durch das gehörige Maas; also hat auch der Naturalismus, was seine äusserlichen Folgen betrift, äusserliche Schranken. Zu viel essen und trinken, zu viel Thätigkeit und Unthätigkeit, – kurz, zu viel ist allemal nicht mehr nützlich. Der Feler, den man der öffentlichen Religion wirklich vorhalten konte, war ebenfals das zu Viele, das nimium. Man hatte zu viel Göttliches, Unveränderliches, nach und nach in der öffentlichen Religionsordnung vorausgesezt; und es ist doch in allen menschlichen Einrichtungen das Göttliche nicht da, das ein für allemal volkommen und also unveränderlich ist. Viele Theologi hatten zu viel von der Bibel, so wol von Inspiration des Textes, als auch von ihrer gleichen Notwendigkeit zur moralischen Wohlfart, bejahet; zu viel von den Lehrsäzen, und [280] Artikeln, die nach und nach ein Systema theologicum ausmachten, und das Systema war doch nicht mehr, als ein periodisches Lehrbuch für Candidaten einer gewissen Zeit, worauf immer wieder andre Bücher in immer andrer Zeit folgen konten. Zu viel hatte man der Theologie beigelegt, und die Theologie war doch kein Unterricht von Seligkeit aller Menschen; sonst konten alle Ungelerte nicht selig werden. Zu viel hatte sich die Polemik angemaßt, ohne weiter die Parteien zu besiegen, als durch hämische Folgerungen. Zu viel hatte man als ausgemachte Wahrheit in die Kirchenhistorie gerechnet, und vieles waren alte Meinungen und sehr ungewisse Tradition. – – Von der Kirche selbst hatte man zu viel Gutes geprisen, bis gar zur Entscheidung der Seligkeit (etc.)et cetera alles dieses, was freilich zu viel, und ohne gleich guten Grund war, haben so viel gelerte und ungelerte Naturalisten aufgedeckt. Aber sie thun auch selbst zu viel, wenn sie alle christliche Religion selbst in so vielen Stufen der einzelnen Fertigkeiten, für blossen Fanaticismus erklären; das können sie ja nicht wissen; solten also auch den Christen den Gebrauch ihres Verstandes und Her[281]zens, in Anwendung der Bibel gegen das Unendliche höchste Wesen, ganz frey lassen; fromme, tugendhafte Christen nicht darum immer verspotten, weil sie dem höchsten Wesen mehr Wirkung beilegen, als Naturalisten. Denn dieses eigne Christentum beleidigt keinen Nebenmenschen, der Christ mag sich selbst damit beschäftigen, wie er will. Zu schlecht versahen allerdings viele Prediger ihr öffentliches Amt; es war und ist häufig blos ein guter Narungsstand, der vorher wenig Aufwand so gar in Moralität erforderte, [und] nachher fast auf eine Handwerksordnung sich stüzte, und bloßen Gehorsam bey andern forderte. Da war es kein Wunder, daß man alle schlechten Pfaffen und Priester bey allen Nationen nach und nach herbey fürte, um die christlichen Priester eben so ganz verächtlich zu machen; 994obgleich Protestanten gar keine Priester haben, als in der alten Sprache, die vor der Zeit der Protestanten diesen Namen mit einem Meßopfer eingefürt hatte. So unausbleiblich also der Naturalismus eben unter diesen Kirchenchristen war, da so wenig Kraft und Würde in der gemeinen christlichen Religion sich zeigte; so gewis ist nun auch der Naturalismus in zu vie[282]les ganz unwürdiges Spotten geraten, ohne die alte Stelle moralischer Schranken, die nun mit der christlichen Sprache verlassen werden sollen, durch alles Lob der Vernunft bei den Unfähigen, die immer die größte Anzahl ausmachen, gewis zu ersezen. 995Wenn die ganze natürliche Religion zunächst im Genusse alles sinnlichen Vergnügens, in Frölichkeit und Lustigkeit der Menschen bestehet: so kann es dem Naturalismus freilich nicht felen an sehr großem Beifall. Die christliche Religion hielte durch eigne Erkentnis der Würde Gottes die Sinnen und Begierden, die Gedanken und Absichten sogar stets unter der Beurtheilung und Prüfung, nach einer freien, also auch steigenden hohen Moral; die Beispiele des armen Jesus, der armen Apostel, waren sehr eindrüklich; 996 Augenlust, Fleischeslust, hoffärtiges Leben, auch 997schandbare Worte und Narrentheidung, wurden in der neuen Moral als moralische Feler und wirkliche Sünden, die den Menschen entwürdigen, beschrieben, und von guten Christen immer mehr selbst ohne äussern Beifall, ja wider allen Reiz der bösen Beispiele aufrichtig vermieden. 998Man samlete sich aus der Bibel jene alten Psalmen, [283] als Beweise des Alters dieser innern eignen täglich heiligenden Religion; man vertauschte die Bilder, die Christum so fruchtbar beschreiben, Hirte, Lehrer, vollkommner Priester, Licht der Welt, Weinstock, Lamm Gottes, Opfer für die Sünden der Juden und Heiden (etc.)et cetera von Zeit zu Zeit frey und unabhängig miteinander, um die Einbildung und das Gedächtnis für rohen blos sinnlichen Reizungen und Bildern zu bewaren. Man dachte nach, wie man selbst konte, über so herrliche Reden und Lehren Christi und der Apostel. Wenn auch manche Christen von dem Blute Christi und seiner Kraft gern sinnlich dachten, daß sie sich selbst andächtig gerürt fanden: so war es doch gewis alles eine innere Religionsübung und Privat-Fertigkeit, die den Christen selbst täglich ruhig, und gegen andre Menschen sanft und nachgebend machte, allen andern Zeitgenossen aber keinen Schaden brachte. Diese christliche innere Religionsübung, diese moralische Praxis, ist gar nicht beim Naturalismus; ob nun die Menschen als Naturalisten sich noch glücklicher finden werden, ob sie unter ihrer lieben Obrigkeit ein ruhiges und stilles Leben noch mehr befördern werden, in al[284]ler Gottseligkeit und Ehrbarkeit: sol erst die Zeit lehren. Die Christen waren aber vom Anfange an berufen in ihrem Glauben, oder in ihrer Religion, 999 2 Petri [1, 5] (folg.)folgende immerfort darzureichen, kentlich darzustellen, die Tugend, die Erkentnis, die Enthaltung, die Gedult, die Gottseligkeit, die brüderliche Liebe, die Liebe auch gegen Unchristen. – Diese neue Beschäftigung aller einzelnen Christen ist die rechte Erkentnis unsers Herrn Jesu Christi (etc.)et cetera gar nicht jene Historien und 1000Erzälungen von Besessenen von Engeln, von alten todten Meinungen und Hofnungen der Juden. Ich brauche das übrige aus dieser gar ernstlichen Anzeige nicht abzuschreiben. Es enthält, wie alle Briefe der Apostel, wie alle Lehren Christi, den allergewissesten Charakter der ganz und gar praktischen, gemeinnüzigen moralischen Religion der Christen, wovon freilich die äusserliche Religionsordnung desto weiter entfernt ist, je mehr sie leider nur ein Geständnis ist, daß dieser neue Charakter bisher häufig selbst unter den jezigen Christen fele, da so gar viele Lehrer nur den Schein haben eines gottseligen Wesens, nur das Ihre suchen, nur den [528[!]] äusserlichen Anstand einer ehrbaren Gesellschaft, eine oder 2 Stunden lang unterhalten; im eignen Gebrauche aller dieser innern Religion weit zurück sind, um nicht Lob und Beifall ihrer Zuhörer zu verlieren; wenn sie selbst eifrige thätige Christen würden. Es ist also gar kein Wunder, daß der Naturalismus diese äusserliche blos locale Convenienz, die eine patriotische Behaglichkeit und Zufriedenheit mit sich füret, und gar nicht das Gefolge großer Tugenden in den Gesellschaften der Christen vor Augen leget, so leicht gering schäzen, so ernstlich kritisiren und angreifen kann! Kirchliche Redensarten und hergebrachte Sprache gegen Untergebene oder unwissende Zuhörer sind an die Stelle jenes eigenen lebendigen Glaubens, jener praktischen Religion eingerückt, und dis heilige glänzende Gefolge praktischer gewisserer Tugenden felet, das den Naturalisten gewis anhalten würde, sich viel genauer nach dieser Kraft eines so heiligen Lebens zu erkundigen. Der ganze Eifer für reine Lehre von Dreieinigkeit, von der Person und den Naturen Christi (etc.)et cetera ist für den Naturalisten ohne alles Interesse, weil er keine moralische Früchte findet, sondern gesellschaftliche Eifer[286]sucht. Er siehet gar keine täglichen Folgen von dieser reinen Lehre zum unfelbaren Segen der Menschen, die doch Gottes nähere Offenbarung besizen und kennen wollen. Die allermeisten Christen sind moralisch unrein in ihrem ganzen Thun und Lassen mehr als er sich selbst vorwirft. Viele Prediger findet er, ihre Kleidung zuweilen ausgenommen, in eben dem ganz gemeinen Zustande des menschlichen Lebens und Wandels, worin gar nichts vorzügliches ist, das ihn moralisch anziehen möge. Es ist also wol leicht zu sehen, daß jene wirkliche christliche eigene Religion, die in den Menschen so große Vorzüge und Fertigkeiten mit sich brachte, in der gemeinen Ordnung der öffentlichen Religion, gar nicht wirklich und merklich da ist. Der Naturalist kann also seine natürliche Religion, (worin keine alte Historie ist, über welcher die Menschen sich theilten,) gar leicht vorziehen: da so viel Lehrer und Zuhörer ihm in der moralischen Gesinnung und Fertigkeit nicht einmal ganz gewis, ganz ausgemacht gleich kommen. Wahr genug ist es also, daß der Naturalismus dazu hilft, den kleinen bisherigen Erfolg der gemeinen blos öffentlichen oder gesellschaftlichen [287] christlichen Religion genauer zu würdigen; aber die wirkliche Privatreligion der guten Christen, welche jene Mängel nicht fortsezt, hat der Naturalist dadurch nicht besieget, wenn er sie nun eine fanatische Verirrung nennt. Ihre Hofnung mus er den wahren Christen doch eben sowol frey lassen: als er seine sich nicht durch sie nemen läßt; durch alles Spotten vermehrt er seinen moralischen Vorzug nicht und hebt den der wahren Christen nicht auf.

36. So wird es ferner auf den Staat ankommen, auf die öffentliche Religion so zu sehen, daß die so gute, so wirksame Privatreligion der Naturalisten eben so wenig durch die christliche Ordnung unterdrückt werde, als die öffentliche christliche Religion die Privatreligion der so ungleichen Christen nicht hindern oder bezwingen darf; indem beide immer dazu helfen können, daß die Diener der öffentlichen Religion weniger Mängel haben, und ihre wirklichen Mängel des sogenannten Amtes nicht gar in lauter [288] Vorschriften Gottes, oder in Privilegien des (heil.)heiligen Standes nach und nach [verwandelt]?

Allerdings kann oder muß so gar der Staat hierauf sehen, wenn er den Misbrauch und Schaden abwenden will, den übereilte und selbstliebige Lehrer des Christenthums oder des Naturalismus, sonst wirklich den Unterthanen und endlich dem Staate selbst zuziehen können. Die ersten müssen es wissen, daß Gott weder durch Christum noch durch Apostel eine äusserliche Religionsordnung ein für allemal so angefangen habe, daß sie immerfort unveränderlich allen Christen blos vorzusagen und von den Christen blos anzunemen seie, und hiemit die beste Verehrung Gottes schon geleistet werde. Die Naturalisten müssen es beobachten, daß ihre Privatkentnis von der ihnen gehörigen Religion vom Staat eben so wenig erhoben werden könne, daß alle Unterthanen sich von ihnen diesen Naturalismus nun müsten einpredigen lassen, weil sie als Christen etwa nicht so glücklich leben und sterben könten als der Naturalist. Die Entscheidung, was dem ganzen Staat vortheilhaft seie, haben weder die Theo[289]logen der Christen noch die Vertheidiger des Naturalismus sich besonders anzumassen. Haben sich ehedem Bischöfe und Theologen mit dieser Beurtheilung übereilt und anmassend abgegeben, so war es damalen Bedürfnis oder Zustand des schlecht regierten Staats. Wenn Naturalisten sich den Beruf jezt geben, moralische Projekte als ausgemachte Vortheile der ganzen Menschheit in die Höhe zu bringen: so wird doch der Staat die Lage der Unterthanen und überhaupt die Lage der Menschen viel sicherer schon wissen und in gute Rechnung bringen, als diese neuen gar zu eifrigen Theoristen. Und wenn sie auch so gar mehr Eingang und Beifall fänden, 1001als ihnen selbst Friedrich der Zweyte verstatten oder zugeben wollte; so würde doch der Einflus der unsichtbaren Welt, auf den die Christen so gewis rechnen, eben den moralischen Widerstand ernstlich aufbieten, der von je her da war; man mag ihn mit Tag oder Nacht vergleichen, mit Aufklärung oder Finsternis. 1002Selbst das so liebe Losungswort, Freiheit, bringt eine Gegenkraft mit sich; es gehört nur Zeit dazwischen, und die felet ja nie, sie läßt sich auch von Menschen nicht [290] bezwingen. Da aber das eigene Christentum nicht in den Formeln bestehet, welche eine jede Religionsgesellschaft bürgerlich vereinigt, sondern in der heiligen Gesinnung, alle Tugenden sich immer mehr nach eignem Gewissen zur moralischen Verehrung Gottes zu schaffen: so dächte ich, daß alle guten Naturalisten, die ja auch die reine Tugend vornemlich zur Religion rechnen, mit dem Privat-Christentum um des gemeinen Bestens willen, gar keinen Streit haben könten. Und da dieses eigene Christentum von einem Naturalisten eine ihm noch nötige Belehrung eben so wenig zu erwarten hat, als ein besonderer Professionist von dem andern: so ist es eine unanständige Zudringlichkeit die gar nicht zu gesellschaftlichen wahren Pflichten gerechnet werden kann, wenn Naturalisten alle Christen unter der Gestalt grösserer moralischer Wohlfart, beunruhigen. Der Staat muß vielmehr den eben so guten Bürger, den treuen Christen wider solche tägliche Störung und Beunruhigung schützen, und den Naturalisten endlich in seine Schranken weisen, daß er die für sich ruhigen Christen nicht in dem so gewissen Eigentum und moralischen Haus[291]recht, durch Spöttereien täglich beleidige. Die Wahl der Privatreligion, wie aller Privatbeschäftigungen, muß jedem in der Gesellschaft ganz frey und unbeeinträchtiget bleiben; hierin hatte ja selbst der Naturalismus seinen Grund. Wenn der Bäcker sein Privaturtheil, wonach er so gern und zufrieden, ein Bäcker ist, so übertreiben wolte, daß er den Mäurer, den Schneider (etc.)et cetera lächerlich machen, und dahin bringen wil, ihre bisherige lächerliche Beschäftigung zu verachten, und ebenfals Bäcker zu werden: so entstünde durch diese immer neueren Umtauschungen des einmaligen bürgerlichen Lebens, eine öffentliche Zerrüttung der bisher so glücklichen gemeinschaftlichen Verbindung der grossen bürgerlichen Gesellschaft. Die Ungleichheit der Privatreligion macht eben so verschiedene moralische Stände und Innungen schon aus; keiner muß alle andern unterdrücken. Sonst hätte ja die alte grosse Kirche völlig Recht, daß sie alle andere Religionsparteien durchaus unterdrückt, und sich zur Monarchie über alle Religionsclassen erhoben hat. Es muß also der Regent dahin sehen, daß 1003die vielen Romane von platonischen schönen Republiken, [292] die im Monde sind, nicht die iezt schon blühenden bürgerlichen Verfassungen umwerfen, durch blosse Gemälde und Risse von noch grösserer bürgerlichen Glückseligkeit. Das heißt nun freilich nicht, daß 1004 Inquisition und äusserliche Macht irgend eine einzige öffentliche Religionsform behaupten oder über alle andre erheben sol; aber es muß doch jeder Bürger für solchen Behandlungen sicher seyn, die ihn beinahe zum vogelfreyen Märtyrer seiner eigenen Religion machen, und ihm die Gedult und Ertragung solcher ungerechten Beunruhigungen auflegen, und ihn in Gefahr bringen [über diese] Gesinnung noch mehr verspottet und verächtlich zu werden. Die moralische Welt hat eben so ungleichen Acker und Erdboden, 1005daß nicht alle Früchte gleich gut überal wachsen und fortkommen können, als unsre Erdkugel so verschieden ist; nicht lauter helle Vernunft ist das gleiche Antheil aller Menschen; es ist also ganz ungegründet wenn allen so ungleichen Menschen eine algemeine natürliche Religion angeboten werden wil. Dies wusten alle Staaten, die in der Menschenwelt eine historische sinnliche Religion für das Volk sancirt haben; 1006man schränkte daher so gar die Philosophie ein, [293] die ja freilich ihre vielerley Lehrmeister nicht zugleich zur Volksregierung erheben konte, so gewis jede gute Regirung allen denkenden Menschen die Freiheit eigener Urtheile gewäret, ohne die Handlungen wider die Subordination frey zu lassen. Jezt aber erheben sich Privatschriftsteller wider die im Staat eingefürte Volksreligion, um sie durchaus abzuschaffen, und ihre geliebten Romane dafür einzufüren. Ungezämt werden eben die Lehrer der gemeinschaftlichen Religion beschimpft und verächtlich gemacht: unter denen sich doch so viel moralisch 1007würdige, edle Männer befinden, die nie eine Bittschrift erst nötig hatten, welche um Abolition ihrer anstössigen Auffürung nachsuchte. Und eben diese Lehrer hatten doch auf das Wort, auf die Auctorität des Staats bisher gerechnet, da sie sich dazu verstunden, in einen öffentlichen Stand zu treten, den der Name des Regenten autorisirte. Immer mochte man die Buben und Dumköpfe schildern und entlarven, in noch so viel Schriften; aber es muste nicht der ganze Stand aller Religionslehrer gleichsam ganz rechtmäsig, geradehin so beschrieben werden, daß er nur aus Dumköpfen und Schurken bestünde, wonach es ebenfals lau[294]ter Dumköpfe heisen müssen, welche der christlichen Religion eine Realität beilegen, die doch gewis blos von ihrer täglichen Erfarung, und gar nicht von den so genannten Priestern oder Pfarrern abhängt. Ueberal stehet es frey, daß man in der Philosophie, Physik, Astronomie, Medicin sich die oder jene Hypothese oder Theorie selbst erwälet; nur die christliche Religion, die doch in allen noch so erhabenen Wissenschaften so grosse Männer in sich begreifft, sol als eine ausgemachte Pfafferey angesehen werden, dieweil einige Leute, aus eigner Schuld, sich auch von den bürgerlichen Folgen gerade durch die Regierung, durch die Geseze, ausgeschlossen fanden. Es ist doch aber sehr viel gefordert, daß der Staat um dieser vorsezlichen Dissidenten willen die bisherigen Grundsätze der Regierung, oder die politische Landesverfassung aufheben, und statt ihrer so bewärten Politik die gefärliche Probe einer ganz neuen Regierung auf gerade wohl machen sol! Gibt es wirklich geheime Verbindungen, eine mächtigere Hierarchie wieder einzufüren: so ist die protestantische Religionsordnung ein festerer Widerstand, als die Gewonheit über die ganze christliche Reli[295]gion zu spotten. Es gab gar viel Christen, welche Gut und Blut wider jene Pfaffenreligion wagten; aber wir haben doch keine Pfaffenreligion, wenn wir unsre christliche eigene Religion behalten.

37. Ich dächte aber nicht, daß so grosse Neuerungen zu nächst zu befürchten wären; jene naturalistische Schriftsteller haben wol zunächst nicht diese Absichten die christliche Religion aufzuheben; 1008sie lassen sich für jeden Bogen bezalen; sie genießen bey ihres gleichen eine Genemhaltung solcher besondern Projecte, und die Hofnung eines noch grössern Einflusses und Sieges könnte man ihnen frey lassen; wenigstens solten Prediger es sich auch nicht zur Pflicht machen, vornemlich wider den Naturalismus zu eifern, und die so genannte reine Lehre nicht blos also geltend machen, daß sie selbst hiemit schon das grosse Verdienst eines öffentlichen christlichen Lehrers zu haben meinten. Es gehört mehr zu dieser Ehre als der Stand allein; wider diesen alten Stolz ist der Naturalismus vornemlich gerichtet.

[296] Ich glaube es ganz zu verstehen, was dieses sagen sol; ich denke aber auch, daß ich in dieser Antwort auf die bisherigen Fragen ganz unparteiisch meine Meinung schon gesagt habe; ohne wider irgend einen rechtschaffenen Naturalisten, das alte Kirchenanathema, unnüzer Weise, in Andenken oder gar in Vorschlag zu bringen; noch auch den grossen Inhalt zu schmälern, der jezt, in unserer Zeit, zu jenen Formeln gehöret, ich als ein berufener Diener Christi (etc.)et cetera Die politischen Folgen des Naturalismus, wenn er geradehin die öffentliche christliche Religion und alle Lehrer derselben verspotten und umwerfen darf, gehen mich nichts an; der Staat allein hat sie, freilich sehr bedächtig, ohne einige volllautende Theilnehmung an der Frage, zu berechnen. Zunächst wäre aber wol doch dies zu erwarten, daß der ganze christliche Lehrstand wirklich eine solche viel würdigere Lage erhielt; die nicht so gleich blos von der Gottheit hergeleitet würde, sondern in dem kentlichen wichtigen Verhältnis eines solchen öffentlichen Lehrers, und in seinem untadelhaften Charakter ihren steten gewissen Grund hätte. Die Vorschriften dazu sind lange da; aber man hat schon lange [297] vorausgesezt, 1009es gebe keinen Timotheus und Titus in unsern Zeiten; die musten damalen unsträflich seyn. Um es anders zu sagen, man hat wol zu wenig auf die kentliche Stufe des moralischen Charakters gesehen (oder sehen wollen, oder sehen können,) ob der Candidat selbst durch die ausgemachten Wahrheiten der christlichen Religion eine solche Gemütsfassung und neue Fertigkeit erlangt habe, als ja bey den Zuhörern immer die nächste Folge seines ganzen Unterrichts seyn sol? Hiemit sol nicht eine besondre Sprache, ein Formular gleichsam eingefüret werden, woran man nun den Candidaten als hinlänglich moralisch bewäret erkennen solle; welches eine Zeitlang ein Feler der freilich zweideutigen Schule war, die man 1010 Pietisten nente, da nach und nach neue Redensarten vornemlich gäng und gäbe und gleichsam ein 1011 Schibboleth wurden; sondern, ob der Candidat den grossen Umfang der eigenen moralischen Veränderung selbst, in Absicht der neuen Folgen kent, wozu sonst alle einzele Redensarten gebraucht werden, welche eben von den christlichen Parteien so ganz unrecht für die Sachen selbst schon angesehen worden sind. Wie es hier eine [298] grosse Ausbreitung der historischen Kentnisse, von den verschiedenen Lehrbegriffen gibt, nebst den Gründen, die dazu gebraucht wurden, welches freilich viel mehr ist, als aus bloßen Büchern oder Heften auf immer eingeweihet wird: so ist diese Uebung in practischen gesunden Urtheil das einzige Gegenmittel wider die grosse Selbstgenügsamkeit und Nachlässigkeit, wider übereiltes Absprechen, wider stolze Anmassung, wider die falsche schleichende Politik, der künftigen Lehrer; in welchen Felern eben die Verachtung einer so unwirksamen Religion liegt, und die so grossen Mängel der so genanten Christen vornemlich ihren Grund noch immer haben und behalten. Die Lehrer sollen ja nicht von der christlichen Religion blos künstlich oder schön reden und ihren Inhalt einmal wie allemal erzälen, wenn es allen Christen geradehin oblieget, 1012 nicht blos Hörer sondern Thäter des Worts oder der Lehre oder Religion zu seyn! Neben jener Gelersamkeit, die in richtiger historischer Kentnis vornemlich bestehet, die ihm selbst als Candidaten nötig ist, und gar nicht zur praktischen Religion gehört, daher eben nicht ein jeder praktischer Christ zugleich ein öffentlicher Lehrer [299] seyn kann, muß er eine eigene jezige Erkentnis und Uebung dieser christlichen Verehrung Gottes in den Zuhörern befördern, die sich an die andre historische Kentnis, die vor der eigenen schon hergehet, um und um anschliesset. Historischen Glauben unterschieden die Protestanten schon lange von ihrem eigenen thätigen Glauben. Schon diese Lehrgeschiklichkeit sezt eine eigne practische Uebung voraus, und die eigene Anwendung der Wahrheiten muß er doch auch selbst aus seiner Erfarung als eine wirkliche freie Begebenheit kennen, wenn er sie andern leicht machen wil. Kurz, zu der wahren Würde eines Lehrers, der den Nutzen der christlichen Religion glüklich anempfelen wil, gehört freilich mehr als der so leichte Eifer wider Naturalisten, Socinianer, oder der Eifer für die buchstäbliche Kirchenlehre seiner Gesellschaft. Daran ist gar kein Zweifel. Indes kann es unter manchen Umständen doch nüzlich seyn, wenn eine bescheidne sanfte Vergleichung angestellet, und den Zuhörern es wirklich erleichtert wird, selbst darüber zu denken, daß es vielerley Christen gibt, daß man nicht durch Befelen ein innerlicher Christ wird; daß es auch keine Befele gibt, daß niemand selbst ein Na[300]turalist seyn solle. Aber zuerst müßte der Lehrer selbst innerlich Christ seyn; sonst wird er schon mit der äusserlichen Religionsordnung in Absicht vieler Menschen unzufrieden seyn, und das ist nicht viel vom Naturalismus unterschieden. Wenn der Prediger glaubt, durch Worte und Redensarten der Bibel, durch die Lehrartikel würde man zum 1013 Selbstchristen: so ist er selbst noch kein Christ, seinem innern Zustande nach, und wird jene falschen Urtheile ferner ausbreiten, als gäbe es eine unveränderliche Summe von Vorstellungen, worin die christliche Religion einmal wie allemal bestünde. Hiemit wird aber allemal nur eine Religionsgesellschaft äusserlich fortgesezt, und diese kann sich freilich dem moralischen Naturalismus nicht mit dem Erfolge vorziehen, daß nun diese äusserliche Religion für die allein gottgefällige oder seligmachende Verehrung Gottes, von Naturalisten angesehen werden könte. Da kann man freilich auf Abschaffung einer solchen Religion auftragen, weil es keine praktische Christen gibt, die den Unterschied ihrer innern Religion behielten.

38. Dieses ohngefähr wolte ich sagen, wenn viele Lehrer der Christen von ihrer allein se[301]ligmachenden reinen Lehre und Religion einseitig und übereilt reden, und daher alle andern Lehrsäze sowol anderer christlichen Parteien, als der Unchristen, Juden und Naturalisten so beurtheilen, daß sie ihren Anhängern alle moralische wahre Uebung und eigene Besserung, alle eigene rechtmäßige Zufriedenheit, allen Antheil an Gott, der doch von niemand in Beschlag genommen werden kann, absprechen. Dis ist doch ein Misbrauch des eigenen Gewissens, andere gar zu beherrschen; die Clerisey hat ehedem mit Zuthun des Staats Symbole, Glaubensbekentnisse, symbolische Bücher, eingefürt; gewiß in großer rechtmäßiger Absicht; aber auch nach und nach über die Gebür erhoben; und Regenten haben häufig der Clerisey zu viel nachgegeben. Hiedurch ist Menschenhaß gleichsam unter den Christen geheiliget worden; und dis widerspricht doch allen gesunden Begriffen von den verschiednen Stufen der Gottesverehrung in der so großen Menschenwelt. Christen müssen sich als Christen moralisch zeigen, nicht blos durch [302] politische Gerechtsame schüzen; hier waren sie nur Bürger.

Dis ist freilich eine ernstliche Rüge, eine sehr gegründete Klage, wider die Uebertreibung einer blos gesellschaftlichen, politischen Religionsordnung, sogar zur öffentlichen Verdammung aller andern Menschen; die doch, was ihr Verhältnis gegen Gott betrift, keinem Menschen unterworfen sind. Diese Anmaßung ist so gar wider den allerersten Inhalt der neuen bessern Religion, welche den wahren Begriff von der unendlichen Liebe und Gnade Gottes eben über jene jüdische Niedrigkeit alle Unjuden zu verdammen, so ganz deutlich erhebet, daß eben deswegen ein ganz neuer Grund geleget wird, durch den freien Begriff von einer geistlichen viel vollkommenern Religion, neben allen äusserlichen localen Feierlichkeiten; damit dieser so gemeine gleiche Antheil aller obgleich verschiednen Menschen an den unendlichen Gott nicht mehr an die so partikuläre Religion der Juden, und an ihre alten Begriffe oder Historien ihrer Nation gebunden werden möchte; sondern die freie Uebung des eignen [303] Gewissens nun immer durch solche Kenner der neuen Religion befördert würde. Freilich war nun der Schuz der römischen Obrigkeit nötig, da die Vorsteher und Obern der Juden diese Einsicht und Uebung der Freiheit von dem Gesez Mosis durchaus nicht zugeben sondern bürgerlich hindern wolten, damit nicht die vielen Geldbeyträge oder Abgaben wozu Juden verbunden waren, und die bisherige Gewalt des 1014 Synedriums endlich gar aufhören möchten. Aber es war doch keine Folge eines Befels, daß eine neue Religion in den Gemütern der Christen sich anfing; sondern die neue Erkentnis der Christen von einer innern viel vollkommnern Religion, darum sie nach und nach die alte geringere Religion verliessen, ging schon vorher, und machte die Rabbinen und Priester aufmerksam, und bewegte sie also zur bürgerlichen Verfolgung dieser Christen, die sie für Abtrünnige von ihrem Gesez ansahen; wenn sie gleich eine Offenbarung Gottes eben so zum Grunde legten, als die jüdische Religion that. Diese bürgerliche Bedrückung und Beeinträchtigung konten die Christen durch Anrufung der eigentlichen höchsten römischen Landesobrigkeit abzuwenden suchen; denn die [304] römische Hoheit ging über die alte Nationalobrigkeit. Die Unterthanen konten also diesen Schuz suchen. Ein gleiches geschahe nachher in Absicht der heidnischen Religionsdiener, welche eben so wenig eine neue Religionsgesellschaft, die schon aus einzelnen Christen entstehen konte, neben sich ins Große aufkommen lassen wolten. Auch hier war alles politische Aufgabe; und selbst die Historie, welche bei den ersten Christen kaum einem kleinen Theile nach übrig ist, zeiget deutlich genug, daß die neue christliche Religionsgesellschaft schon weit mehr auf ihre äusserliche Vergrösserung gerichtet gewesen, als in stiller Anwendung moralischer Kentnisse vorzüglich bestanden habe. 1015 Geheimnisse fingen auch unter den Christen an, die hauptsächliche Reizung und Empfelung für den Zutritt zur neuen Religion zu werden; statt der ganz freien innern Religion erwartete man geheime Vorzüge von den Obern; und diese erdichteten, was man hoffte. Seit der Mitte des 4ten Jahrhunderts 1016kam die große bischöfliche Gesellschaft blos historisch in die Höhe, die vornemlich wundervolle Historien Christi, der Maria, der Apostel, der Märtyrer und ihrer Reliquien und noch bevor [305] stehender Dinge, nun zum Gegenstande der öffentlichen Religion machten, und durch gemeinschaftliche Beihülfe, die sie aus allen Provinzen zusammenzogen, ihre Verbindung und Verbrüderung mit allen Vorstehern der katholischen Religionsgesellschaft, täglich erweiterten und befestigten. Von da an wurde den gemeinen Christen immer beigebracht, daß nur allein in der Gemeinschaft mit dieser katholischen Kirche, oder Hauptloge, 1017die auch Mutter aller Christen hies, die moralische beste Religion, die rechte Verehrung Gottes, und die künftige unbestimmte Seligkeit statt fände. Die Symbole, als unveränderliche Formeln, gehören allemal zu einer besondern gesellschaftlichen Religion, nicht aber zur allgemeinen eigenen Religion aller Christen; sie haben alle eine Beziehung auf die Ausschliessung anderer Gesellschaften, und auf die stete vorzügliche Fortsezung der katholischen Kirche. Es gab immerfort verständige Zeitgenossen, die es einsahen, daß diese Formeln zunächst eine äusserliche Absicht hätten, nicht aber den Grund und Inhalt der moralischen vollkommenen Religion, ausschließungsweise, in sich fasseten. Dieser Grund und Inhalt war allen [306] Christen ganz frey für ihr eigen Gewissen; es mochte in der öffentlichen Lehrformel immerfort die Einheit und Unveränderlichkeit herrschen. Diese andern Zeitgenossen fanden also keinen algemeinen Grund, der sie innerlich dazu verbunden hätte, jene als die Norm der einzig wahren Verehrung Gottes überhaupt anzunemen. Es gab also immer mehrere christliche Gesellschaften oder Familien, welche nicht zu der katholischen großen Kirche gehören wolten, wie immer mehr eine christliche Religion sich auch in entlegenen Ländern anfing, wo man von dieser katholischen Kirche nichts wuste, geschweige ihre Religionsform erst vergleichen konte. Da aber jede christliche Partei eben darum in einigen Lehrsäzen besonders immer vereinigt blieb, weil sie von andern Parteien schon nach Ort und Zeit abgesondert, entstanden war: so hatten alle besondern Religionsparteien ein locales christlich Glaubensbekentnis, wodurch sie immer gesellschaftlich, äusserlich vereinigt blieben; und so hatten auch alle einerley Zuversicht und Gewisheit, daß sie an der christlichen Religion wirklich den Antheil hätten, der ihnen zukäme. Denn die innere Religion konte nicht umschränkt oder umpfälet werden, so [307] wenig als das Gemüth oder die Seelenkraft der Menschen. Und diese eigene Ueberzeugung oder freie Beurtheilung und Zuversicht macht immer die wirkliche gegenwärtige Verbindlichkeit aus, in dieser Gesellschaft bürgerlich ferner zu bleiben. Sie war bey allen fähigern Christen immerfort da, neben der öffentlichen oder gemeinschaftlichen Religion, die freilich eine feste Ordnung bekommen muste, (in uno tertio musten die vielen übereinkommen;) indem nicht ein jeder verständiger Christ sein eigenes besonderes Glaubensbekentnis zum öffentlichen erheben und aufstellen konte. Er wuste, daß jeder seines eigenen Glaubens leben, oder seinem Gewissen selbst, privatim folgen müsse, so bald er eine grössere Erkentnis, zu seinem grössern moralischen Nuzen vorfindet; dieser tägliche Zuwachs oder freie Umtrieb ist in der geschriebenen oder gedrukten Formel freilich nicht möglich; er entstehet aber in allen denkenden Christen, ohne einigen Nachtheil für die übrige [Religionsordnung], die ihr blos äusserliches Verhältnis immer behält. Ich wil mich hier nicht darein einlassen, ob ein solcher Christ auch verbunden ist, seine bessere Erkentnis andern [308] Christen mitzutheilen? Es ist allemal gewis, daß dis nicht geradehin statt finden konte, wegen des 1018 Unterschieds der Schwachen und Unfähigern andrer Christen. Daß aber so gar Christen und Lehrer den falschen Satz aufgestellet haben, es müsse die Privat-Erkentniß aller Christen durchaus, auch in Absicht ihrer selbst, durch die öffentliche Lehrformel einmal wie allemal eingeschränkt bleiben: ist, wie ich eben gezeigt habe, ganz unchristlich und wider die Natur der eignen subjektivischen christlichen Religion; die ja auch eine Privat-Fertigkeit der so verschiedenen, immer verschiedenen Christen seyn sol. Nun wurde aber durch solche äusserliche Ordnung sehr unrecht die freie moralische innere Religion ganz und gar aufgehoben, und alle Christen geriethen unter eine äusserliche Herrschaft und Botmäßigkeit der Lehrer, die doch gar nicht statt findet über allen innern Gebrauch des eigenen Denkens und Gewissens. Es ist wol historisch entschieden, daß alle Concilia zunächst die Clericos oder Kirchendiener verbunden haben, in Absicht der öffentlichen Religionsordnung, welche nun diese und jene Kirchensprache über die gesellschaftlichen Lehrartikel [309] enthält; und freilich den Stand und das Amt der Kirchendiener über die Gebür erhoben hat: denn die Clerici allein hatten die öffentlichen Religionsgeschäfte; alle andern Christen durften nichts davon ausrichten; sie waren nicht heilig genug, Gott (in diesen Verrichtungen) zu verehren; 1019die sogenannten Geistlichen allein musten den Gottesdienst öffentlich verrichten. Aber auch hier blieben manche würdige Lehrer dem größern Berufe treu, eine innere freie Religion, annoch neben der äusserlichen, zu befördern bei allen, die dazu fähig waren; und noch mehr gab es wirklich verständigere Zeitgenossen, welche es immer wusten, daß diese äusserliche Ordnung keinen notwendigen ausschliessenden Zusammenhang habe, mit der eigenen besondern innern Verehrung Gottes; ob sie gleich zufällig, durch mystische oder algemeine Ideen ganz unschädlich, ja manchen Menschen so gar nüzlich werden kann; wie durch 1020 allegorische, mystische Deutung, es 1021einen geistlichen Simson, 1022geistlichen Ahasverus, geistliche Esther, 1023Braut Christi (etc.)et cetera in der Vorstellung des jezigen Lesers geben konte; so wenig der Verfasser jener hebräischen Aufsäze, an eine [310] geistliche Anwendung damalen gedacht hatte. In allen Jahrhunderten gab es diese bessere Einsichten, deren Liebhaber freilich Kezer hiessen, und, wenn man der Kirche glaubte, gerade darum gar nicht selig seyn und werden konten, weil sie mehr wusten und beurtheilten, als die gesellschafftliche Kirchensprache bisher in sich fassete oder genem hielte.

Alle symbolischen Bücher der Protestanten hatten vom Anfange her, eben diese äusserliche gesellschaftliche Relation, daß die öffentlichen Lehrer dieser neuen Parteien die freie innere Religion in ihrem Unterricht mehr befördern, und die vorige äusserliche historische Gewonheit nicht also fort sezen solten, daß die christliche Wohlfart ferner von Pabst und von der Kirche abhängig bliebe. Diese freie, unabhängige 1024 Absonderung von der despotischen Kirche, die allen Gebrauch des eigenen Gewissens bey den Christen aufgehoben hatte, war die Hauptsache, in der Augspurgschen Confession, in ihrer Apologie, in den schmalkaldischen Artikeln, und den Catechismis, 1025die Luther ohnehin nur für Pfarrhern oder für die gar einfältigen Lehrer aufgesezt hat. 1026Selbst [311] die formula concordiae hat eben diese äusserliche Absicht, eine Absonderung und Entfernung solcher Lehrsäze aus dem öffentlichen Vortrage zu Stande zu bringen, worüber die öffentliche Lehrer zeither einander nicht ohne tägliche Aergernisse und bürgerliche Zerrüttung, bestritten, weil manche gar den 1027 Cryptocalvinismus, wie es damalen hies, in die lutherische Kirche einfüren wollten. 1028Man muß aber hier die politische Lage nicht vergessen, wornach besonders die schweizerischen Lehrsäze durchaus im teutschen Reiche nicht gedultet werden, und die lutherischen Stände den Religionsfrieden nicht verletzen solten, der allein auf die augspurgische Confession zur Noth noch gegründet hies. 1029Unsere Fürsten sagen daher selbst am Ende: es ist am Tage und öffentlich, daß wir mit allem Fleisse verhütet haben, damit je keine neue und gottlose Lehre sich in unsern Kirchen einflechte. 1030Oder wie es Melanchthon ausdrückt, daß nicht neue unchristliche Lehre bey uns angenommen würde. 1031 Jesuiten suchten wenigstens alle abermalige oder fernere Freiheit, den Lutheranern, durch solche politische Schreckbilder, Abweichung von der Confession (etc.)et cetera zu nemen. Daß aber durch [312] diese symbolische Bücher, welche blos öffentliche Prediger in ihrem Amte angingen, die ganze Gelersamkeit, Philosophie, Historie, Sprachkentnis, also auch alle Privat-Kentnis geradehin freigelassen werden: beweisen die vielen academischen Vorlesungen und Bücher, worin ganz ausgemacht viel mehr Gelersamkeit und freie Prüfung enthalten ist, als je in allen symbolischen Büchern für die gemeinen Pfarrherrn vorkommen konte. Es wurde auch niemand gezwungen, ein Lutheraner zu bleiben; so ganz frey war alle Privat-Religion, daß man sogar die bisherige gesellschaftliche verlassen konnte.

Eben so gewis ist es, daß die symbolischen Bücher nur auctoritatem externam, politicam wirklich haben, durch die Landesherrliche Obrigkeit. Es gibt Millionen Lutheraner, die von einer formula concordiae nie etwas gehört haben, wie sie ja auch in vielen lutherischen Ländern nicht angenommen worden. Es stehet also gewis uns frey, die 1032gar elende Beschaffenheit dieser schlecht compilirten Samlung, formula concordiae, so zu beurtheilen, als wir sie jezt finden, wie wir das [313] ganze Vorhaben, (eine feststehende concordiam aller lutherischen Lehrer zu stiften), als ein Ueberbleibsel der päbstlichen Grundsäze, mit allem Recht ansehen, ohne unächte untreue Lutheraner hiedurch zu werden. Ich weis es, daß ehedem leider 1033 lutherische Theologen diese symbolischen Bücher dazu gemisbraucht haben, eine Art von päbstlichen Inquisitionsgericht damit wider einander in Gang zu bringen; aber die Zeiten sind auch vorüber. Das alte Gebiet der Theologie, die falsche Mischung der so successiven Theologie, mit der innern christlichen freien Religion, ist nun aufgehoben. Es war periodische academische Theorie, die auf Infallibilität und Unveränderlichkeit keinen gerechten Anspruch machen konte. Die alleinseligmachende christliche Religion kann ihrer Wirkung nach in keine Formeln eingeschlossen werden, 1034weil niemand Gott ausschließen kann, wenn Menschen ihn suchen; er ist aber überal von allen Christen, von allen Menschen ganz gewis zu finden. Freilich solten Christen eine desto vollkommnere kentlichere Verehrung Gottes darlegen, da sie selbst sagen, 1035 es seie ihnen mehr gegeben worden als andern; sie müssen aber ihren Vorzug nicht in [314] die christlichen Redensarten und historischen Beschreibungen sezen, welche ehedem den katholischen Inhalt der öffentlichen Religion ausmachten; sondern darein, daß sie immer mehr innere Tugend und moralische Reinheit in ihrem Leben zeigen, als andre, die so viel Erkentnis nicht hatten. Was die mancherley Vorstellungen betrift, welche daher entstehen, ob die und jene Redensarten 1036buchstäblich und proprie, oder aber logice, improprie in Absicht der Sachen, verstanden werden sollen: so mus kein christlicher Lehrer ferner so entscheiden, daß er andre Christen nun verurtheilet, als Verächter der so klaren Bibel, und nun sie in böse Nachrede, ja gar in Haß und Verachtung bringe; da weder Christus noch die Apostel ein allereinziges Register gegeben haben, was zu dem allein erbaulichen Sinne gehöre; die Erbauung oder moralische Vollkommenheit der so verschiedenen Menschen, kann nicht ein einziges Maas für alle haben. In vielen Stellen ist es wol bedächtig unterlassen worden, eine einzige Summe der Vorstellung anzugeben; wie wir daher auch kein wörtlich Formular finden, das allen Christen gleich notwendig seie, um wahre Christen zu seyn. [315] Ein jeder muß das Maaß zu erreichen suchen, das möglich ist; aber nicht alle können einerley Maas erreichen; und nie ist einer schon vollkommen fertig; alle aber sollen ihren Glauben, ihre Religion in immer grösserer Liebe gegen Gott und Menschen thätig beweisen; sonst heissen sie alle eine 1037 klingende Schelle; wenn sie blos von Ehre Gottes oder Christi reden, und sogar die Unendlichkeit dieser Ehre nicht einsehen.

39. Könte es nun nicht gar wohl statt finden, daß die verständigern Christen die Mittelstraße suchten, zwischen der so häufig übertriebenen öffentlichen Religion, die doch mit der eigenen innern Religion nicht geradehin einerley ist; und zwischen den leichtsinnigen Spöttereien vieler Naturalisten, die freilich oft mehr über die sogenannten Priester herfallen, und über die zufälligen Mängel und Misbräuche der christlichen öffentlichen Religionsverfassung, als die innere Uebung guter Christen in der praktischen Religion angreifen; die sie entweder gar nicht kennen, oder sie wirklich gelten lassen müssen?

[316] Ich denke, diese Frage ist ohne uns lange entschieden; weil sie das eigene freie Privat-Verhalten der Zeitgenossen betrift; soll aber auch die öffentliche und immer fortgesezte Aeusserung dieser Privat-Urtheile darunter begriffen seyn: so erstrekt sich unsere moralische Jurisdiktion ohnehin viel weniger darauf, als bisher so gar obrigkeitliche Verordnungen sich darauf, mit Wirksamkeit nicht eben erstrekt haben. Ich will gar nicht an die so mannichfaltigen Charaktere erinnern, wonach alle Individua schon gleichsam von vorne her, wenigstens ohne eigenen Vorsaz, so verschieden gestimmt sind und bleiben, daß alle Mühe anderer vergeblich ist, sie in Einer geraden Linie gleichsam alle zu bewegen. Wenn auch viele sich den Schein geben, daß sie entweder ernstliche Theilnemer an der öffentlichen Religion sind, oder daß sie zu den angesehenen Naturalisten gehören: so sind doch auch viele andre für sich mit Recht aufmerksam auf die Zeitumstände selbst, unter denen sie ihre eigenen Urtheile an andre mittheilen müssen; daß also eine neue Vorschrift, wozu diese Frage leiten möchte, immer ohne den dauerhaften Erfolg ist, den sich die Eine Partey wider die andre vor[317]sezen mag. Es wird nie an eben der Uebertreibung, oder doch an der Betriebsamkeit felen, welche ein so genannter Parteygeist in allen Jahrhunderten zu Hülfe nam, um wenigstens einigermassen seinen besondern neuen Endzweck zu erreichen. Man erhebe den grössern und gewissern Nuzen, den die ganze Gesellschaft haben werde, wenn die Eine Partey grösser wird: so wird es an Widerlegung und Verunglimpfung, auch wol gar an Unruhen nicht felen. Es ist aber daneben noch eine dritte Partey übrig, die weder zu den Eiferern um die äusserliche feststehende Religion, noch zu den jezigen Naturalisten gehöret, und sehr gros ist, wenn sie gleich nicht öffentlich so bekannt werden wil, als jene Parteien, weil sie von beiden eben keinen Beifall zu erwarten nötig hat, äusserliche Absichten aber gar nicht in Rechnung nimmt. Die freien Liebhaber der eigenen ganz unabhängigen Verehrung Gottes, die in allen Jahrhunderten da waren, und besonders im Occident den Weg zur Abwendung des eisernen Jochs jener päbstlichen Kirchenreligion immer mehr offen erhalten, wo sie nicht gebauet haben! Sie haben sehr vielerley Schimpfnamen bekommen, um sie desto eher bey [318] den gemeinen Kirchgliedern verächtlich und verhaßt zu machen; sie sind kentlich genug, wenn ich sie 1038 Mystiker nenne, die nachher 1039 Theosophen, und überhaupt wol noch jezt Fanatiker in Europa heissen. Ich sagte vorhin, jezige Naturalisten, weil alle diese Zeitgenossen damalen Naturalisten hiessen, oder Kezer, im Verhältnis auf die kirchliche Religion; dagegen sie von Gottes täglicher Wirkung und jezigen Eingebung so viel bejaheten, daß sie von den jüngern Naturalisten eben so sehr zu unterscheiden sind, als sie sich damalen von der einheimischen Kirchenreligion privatim abgesondert haben. Diese Partey hat noch dazu einen großen Theil der sonstigen Anhänger an der periodischen Kirchenreligion auf ihrer Seite, und ist, was den Naturalismus betrift, ganz unzugänglich; wie sie der öffentlichen Religion stets eine solche Privat-Erkentnis unterlegte, daß sie von der kalten äusserlichen Ordnung immer mehr Vortheil für ihre Theilnemer schaffen konte. So lächerlich und verächtlich diese sehr eifrigen stillen Christen bei ihren Gegenparteien waren: so ganz unwirksam war und ist noch diese Verachtung; weil die Liebhaber so genau auf ihre eigene ganz freie Uebung und tägliche [319] Erfarung halten: daß ihnen aller Widerstand und Widerspruch lauter tägliche Bestätigung ihrer bessern Grundsäze gibt: daß diese lauter fromme arbeitsame Unterthanen sind, wenn sie auch viel mehr zu ihrer christlichen Religion rechnen, als die öffentliche Lehrform begreift: das weis ihre Obrigkeit. 1040König Friedrich lies auch dem Apitsch alle Privatreligion ungekränkt, so sehr sie von der gemeinen Kirchengewohnheit und von der Aufklärung, die andre liebten, abstand. Daß alle Unterthanen die ausgemachte Freiheit haben, ihre Privatreligion so oder so hoch nach der Bibel, oder im Gebrauch derselben zu stimmen, wie Naturalisten eben diese Freiheit haben, sehr wenig dazu zu rechnen, ist wohl ausser allen Zweifel. Gleichwol redet man so viel vom Besten der Menschheit, von algemeinen grössern Wohlergehen, das entstehen werde, wenn die christliche so wol öffentliche als Privatreligion erst ganz aufgehoben würde. Ist dies aber wol eine andre Sache, als wenn ehedem die Pfaffen sagten: das algemeine Beste, die Ehre Gottes erfordert die Ausrottung der Kezer? 1041Haben wirklich die Naturalisten den Auftrag, Repräsentanten der ganzen Menschheit zu seyn? [320] Welchen Schaden haben doch andre Menschen davon, wenn es fernerhin mehr Parteien der Christen gibt, unter denen doch immer die fähigern Mitglieder ihre Privat-Erkentnis frey behalten? Moralischen Schaden und Nachtheil, denn davon ist die Rede, berechnet hier jeder Mensch selbst für sich; oder läßt sich von andern belehren, zu denen er ein freies Zutrauen hat; Naturalisten aber wollen geradehin das Monopolium der Religion oder Moral an sich bringen, welches alle Pfaffen ehedem auch trieben. Gerade der freie eigene Gebrauch des Verstandes und des moralischen Bewußtseyns that den Pfaffen immerfort Widerstand; warum sollen denn jezige Zeitgenossen schon im voraus den Naturalisten es nachsagen, es gebe gar keine geistlichen oder übernatürlichen Wirkungen Gottes – kurz, warum sollen Christen sich die besondere Sprache und Uebung der Naturalisten gefallen lassen, und ihre moralische Privatsprache aufheben? Damit sie nicht Dummköpfe, Fantasten, Schwärmer heissen? Aber können Christen, die ihre eigene Freiheit bisher hatten, und über Sinnen und Begierden siegten, wol durch ein Schimpfwort dahin gebracht werden, den ganzen Zusammenhang [321] ihrer eignen moralischen Uebung zu verlassen? Wird man sogleich selbst, in eigenem Bewußtseyn aufgeklärt, wenn man nun von andern kein Dumkopf genent wird? Noch nie war es ein ehrlicher Grund seines eigenen Verhaltens, daß man sich blos nach andern Urtheilen richtete; noch nie war dis schon an sich ein Lob, wenn man blos vielen Vorgängern folgte; 1042 sequi antecedentem gregem, ire non qua eundum est, sed qua itur, war schon ein alter Tadel. Von jenen Christen, die nur der Gewohnheit nach Christen sind, ist die Rede gar nicht; denn diese stehen den Naturalisten nicht im Wege. Es kann aber auch kein noch so 1043 warmer Christ, oder Schwärmer, wie es nun heißt, es dahin bringen, daß es lauter würdige Christen gebe; und Naturalisten solten es sich also auch nicht vorsezen, daß sie über die freie moralische Welt durch ihre Theorie allein herrschen wolten. Sie haben und behalten ihren Erdstrich, ihr Land, das ihnen auch noch so eifrige Christen, noch so eigennüzige Pfaffen nicht nemen können; denn alles moralische Land ist und bleibt frey und unsichtbar, und ist der leiblichen Gewalt gar nicht unterworfen. Es können und sollen nicht alle Menschen [322] Christen werden; viele kann man endlich bezwingen und zu Unterthanen eines christlichen Königs machen; aber das sind nun noch nicht moralische Christen. Es können aber auch eben so wenig alle Menschen gleiche Naturalisten werden, am wenigsten, wenn diese ferner so ungesittet über gute Menschen spotten.

Wenn hingegen christliche Lehrer immer nur von ewiger Seligkeit so reden, als seie es ein und derselbe Zustand für alle Menschen, die doch so unendlich verschiedene Menschen seyn müssen; wenn sie einen christlichen Dialekt, 1044daß Christus der Grund der Seligkeit ist, (welches für die Christen wahr und gewis ist, aber einen unendlichen Umfang hat;) zu einer algemeinen christlichen Sprache erheben, und alle andere Christen um ihren eignen Sprachgebrauch bringen wollen: so ist dis auch nur ihre Anmaßung, die nur so lange einen Grund zu haben scheint, als lange die christliche Belehrung die alte Mangelhaftigkeit behält. Wenn Naturalisten die einmal daseiende historische Religion der Christen gar ausrotten, und eine einzige natürliche dafür einfüren wollen: so vergessen sie die innere [323] und äussere Ungleichheit eben der Menschen, von denen sie als Naturalisten sich doch jezt selbst unterscheiden. In der moralischen Welt hat die Zeit und der Raum, wie sie allen einzelnen Menschen zukommen, ohne von Menschen abzuhängen, durchaus eben soviel unwiderstehlichen unsichtbaren Einfluß als in der physischen Welt, mit welcher oder hinter welcher die so ungleiche Moralität der Menschen erst entstehet. Wer wil wol unter die 1045 Feuerländer, Kamschadalen – – die niederländische oder florentinische Schule der Malerey, die Algebra, die neuere Astronomie (etc.)et cetera einfüren? Es möchte gleichwol ihnen sehr nüzlich heißen. Man müste also erst den äusserlichen Zustand in einem sehr gleichen Maße verändern, (und welche Menschenmacht kann dieses?) ehe jene Erhebung der beinahe ganz felenden innern Bewegung in Einem Maaße angefangen werden kann. Und können denn wirklich viele Menschen Astronomie, Mahlerkunst, Mechanik (etc.)et cetera zu ihren und anderer grössern Wohlseyn rechnen, und ihre bisherige Beschäftigung damit vertauschen? Naturalismus und Christentum, haben noch dazu so viele Stufen, deren jede zur moralischen Wohlfart des Inhabers hin[324]reicht; wenigstens kann das Urtheil anderer darin nichts ändern, ohne Einwilligung des bisher zufriedenen Inhabers. Wenn man alle Menschen zu Christen, zu einerley Christen machen wil: ist es eine ausgemachte Anmaßung, die nur die besondern Absichten der Projektmacher befördern sol; denn zur einzeln moralischen Wohlfart der Menschen gehört durchaus ihre eigene Einwilligung; mit der Anmassung des Naturalismus hat es eben diese Bewandnis. Man redet von innerer moralischer Wohlfart aller Menschen; gerade wie ehedem der Pabst von der Seligkeit aller Christen. Die eigene freie Untersuchung der besondern Absichten des Naturalismus kann sehr vielen Menschen überflüßig heissen, so rechtmäßig oder notwendig sie wäre, wenn man nicht etwa in moralischer Entdeckung viel geschwinder fortgehen kann, als in Prüfungen neuer physischen Aufgaben; die doch auch nicht für jederman sind.

40. Ob viele oder mehrere Naturalisten eine besondere Absicht und dazu gleichsam eine geheime oder doch unbekannte Verbindung unter sich haben, weis ich wenigstens nicht; es [325] ist aber historisch wahr genug, daß unter den Christen unaufhörliche neue geheime oder öffentliche Verbindungen statt gefunden haben, bis in diese unsere Zeit, die nicht zur eignen Religion gehören. Wenn gleich immer die edelsten gemeinnüzigsten Absichten, zumal die Verfassung des innern Zustands der andern Menschen vorgegeben wurden: so ist doch gar nicht unbekannt, daß die besondern Absichten, den äusserlichen Stand und Wohlstand der Mitglieder vorzüglich gut und sicher einzurichten, viel eher und gewisser erreicht worden sind. Man kann es also den Naturalisten nicht besonders übel nemen, daß sie manche christliche Masken abzureissen suchen, damit mehr eigne Freiheit und Thätigkeit übrig bleibe. 1046Es mag in Europa gar viel geheime Verbindungen geben, theils zur Erhaltung der sogenannten christlichen Religion, theils zur Ausbreitung des Naturalismus, die wol eben nicht zur Beförderung der freien moralischen Religion, also zur gewissern Veredlung der Menschen abzielen.

[326] Das mag seyn oder nicht seyn; ich habe es mit der Unbilligkeit solcher Naturalisten zu thun, welche allen Christen es aufdringen, daß sie alle christliche Religion verwerfen sollen, so bald sie mehr in sich begreift, als die so genante natürliche Religion, die sie als gültigere Lehrer und Wolthäter aller Menschen empfelen. Dis ist eine eben so unbillige gewaltthätige Auffürung zur einseitigen Beherrschung der Menschen, als je eine Pfaffenreligion seyn mochte. Freilich haben viel christliche Lehrer unter dem Namen einer schriftlichen Offenbarung gar über allen natürlichen Verstand aller Menschen herrschen wollen, oder wirklich geraume Zeit geherrschet. Dieser Vorwurf aber, dächte ich, fände in unserer Zeit nicht sonderlich mehr statt, wie er niemalen unter den Protestanten unbeantwortet geblieben ist, wenn die eine Partey jene Stellen der Bibel, die den schon bisher verdorbenen oder verkehrten Verstand, also den Misbrauch des Verstandes angingen, auf allen Gebrauch des natürlichen Verstandes ziehen wolte; da es doch nicht wahr ist, daß alle Menschen von Natur in einerley gleich grosser moralischer Unordnung sich befinden, wie sie auch nicht einerley Anlagen und Talente von Na[327]tur haben. Es muste aber auch solchen Christen frey bleiben, welche mit dem Worte Natur, Verstand, Vernunft, allemal schon einen ausgemachten Widerspruch gegen die Offenbarung, gegen die Bibel vorauszusezen pflegten. Wer kann die unzäligen Stufen des menschlichen Vermögens, also auch alle Fehler aller Christen, ganz und gar wegschaffen, und allen Menschen eine und dieselbe richtigere Bewegung ihrer Seelenkraft zur gemeinsten Ordnung machen? 1047Haben dort Schüler des Augustinus und Flacius ihres Theils sich zu viel herausgenommen, und selbst in dieser (gewis auch menschlichen, natürlichen) Vorstellung so gar ihren christlichen Vorzug gefunden: so ist es ihre moralische Geschichte, die in der moralischen Welt durchaus nicht ausbleiben konte. Diese Uebertreibung einer Gewonheit zu denken, konnten aber andre Zeitgenossen vermeiden, wie es auch immer geschehen ist; indes folgt nun nicht hieraus, daß geradehin lauter Naturalisten die glücklichere Anbauung der moralischen Welt zum ausgemachten Vorrecht bekommen haben müßten. Das System der Bibel, oder ihre Grundlage, betrift in der That eine unaufhörliche Wirkung Gottes un [328] ter den Menschen, in und durch ihr Bewußtseyn; es gibt gar keine Natur ohne Gott, es gibt keine Wirkung dieser Gottheit, ohne in der so genanten Natur. Diese Wirkung Gottes in die sonst geringere Natur der Menschen nanten diese Menschen eine übernatürliche Wirkung; weil sie freilich Gott als das höchste Wesen über die Natur aller ihnen bekannten Dinge sezten, also auch über die Menschennatur. Manche Menschen haben ihre Natur in manchen Stufen immerfort selbst verdorben, so lange sie blos sinnlich lebten; über diese verdorbene Natur lehren die Christen eine Wirkung Gottes, der über die menschliche Natur eben so gewis erhaben blieb, als er über die ganze Natur aller von ihm abhangenden Dinge erhaben ist. Ob sich diese und jene Menschen darin geirret haben, daß sie nun hie und da eine Wirkung Gottes angenommen haben, die über die Natur gehet: ist und bleibt nun eine Aufgabe, welche von verschiedenen Theilen nur freilich sehr verschieden beantwortet wird. Aber diese noch so ungleiche Entscheidung macht nicht, daß jene Menschen geradehin unrecht und thörigt daran gehandelt hätten, wenn sie Gottes übernatürliche oder [329] göttliche Wirkung zu ihrem moralischen Besten so gern geglaubt und angenommen haben. Es kann durchaus keine algemeine Entscheidung hierüber geben, ob dieses eine wahre oder nicht wahre Wirkung Gottes in diesen Menschen gewesen seie! Es hinge weder von den Theologen ab, diese Wirkung jezt gerade durchaus so und so zu bestimmen, und nun ihre Bestimmung, in die dortige Geschichte und Erfarung iener Christen zu verwandeln; noch auch hängt es von Naturalisten ab, durch ihr Leugnen und Bestreiten es zu schaffen, daß jene Menschen darin nicht gewis waren, daß sie übernatürliche Wirkung zu ihren innern bessern Charakter erfaren hätten. Warum soll man nicht es zu dem besondern Vorzuge und gleichsam moralischen Talent solcher Menschen rechnen? Man kann es doch eben so wenig erklären, daß jemand gleichsam ein geborner Mahler, Mathematiker, Mechaniker, Dichter (etc.)et cetera ist, und hiemit über die gemeinste Natur und Uebung so vieler anderer Menschen ganz gewis weit erhoben ist. Ich dächte, daß auch diese Anlage oder dieser Vorzug mancher Menschen in der moralischen Welt, desto eher einer Wirkung Gottes zugeschrieben werden konte, da [330] seine so guten mächtigen Folgen wenigstens durch keine Naturkraft anderer Menschen bis hieher unterdrückt oder aufgehalten werden konten. Oder durften jene Menschen und mehrere jezt, nicht selbst eine moralische Sprache unter sich einfüren, die ihrer Vorstellung gemäs war, bis eine andre Classe Menschen diese Vorstellung und Sprache ihnen erlauben würde? Alle Protestanten lehrten geradehin göttliche Wirkungen zu einer christlichen Besserung der Menschen, die über ihre verdorbene Natur sich erhub; es ist auch gewis die Sprache der Bibel, und sie traf zu mit der gegenwärtigen eigenen Geschichte und Erfarung dieser Menschen, welche sich den Geist Gottes oder eine übernatürliche moralische Kraft, und nicht mehr ihre sinnlichen Begierden leiten liessen. Ist diese biblische Sprache nun eine kentliche moralische Unvollkommenheit gewesen, dieweil die Sache, wovon geredet wird, nicht nur allen Naturalisten unbekant, oder verächtlich ist, sondern auch den allermeisten sogenannten Christen leider ganz unbekannt bleibet? Ich weis es, daß man sagen kann, es seie eben die moralische Sprache von Gott noch kindisch und mangelhaft gewesen; es ist auch wahr, wenn [331] auf so viele blos sinnliche bildliche Redensarten mancher alten Zeiten gesehen wird, die wir nun freilich mit bessern Vorstellungen und Beschreibungen vertauschen können. Aber ist und war auch die Sache selbst ein kindischer Irrtum, den Gott nicht mit in die moralische Welt eingerechnet hatte? hört sie nun gänzlich auf, etwas wirklich gewesen zu seyn, wenn es kindische und mangelhafte Beschreibung gewesen war? Ist es nun baarer dummer Fanaticismus der Christen, wenn sie Gottes Wirkung eben so gern zu ihrem innern Vortheil denken, als Wirkung, die sie natürlich nennen, wenn sie gleich auch diese natürliche Wirkung nicht erklären können? Sol Natur nun so gleich Gott aufheben? Dis ist die Hauptsache, worauf es ankommt selbst in der Verschiedenheit der Privatchristen und ihrer christlichen eigenen Religion, von den kleinern Grundsäzen des Naturalismus. Hier waren sehr oft so gar Lehrer und Mitglieder der öffentlichen christlichen Religion eben so wol Gegner dieser Privatreligion, wenn sie eine freie Uebung seyn solte, als es Naturalisten nun sind. Wenn die eingefürte öffentliche Religion in Bejahung älterer historischer Beschreibungen bestehet, wodurch [332] eine christliche Religionspartey ihre Verbindung fortsezt: so ist dieses doch noch nicht die eigene Religion, die einem jeden Christen insbesondere ganz frey gehört, um die moralischen Folgen derselben immer mehr zu seinem innern Wohlseyn zu erfaren. Diese Privatreligion ist in allen christlichen Parteien möglich, wie bisher mehrmalen hier ist behauptet worden. Es ist ein sehr grober Irtum, daß die besondern Parteien der Christen diesen eigentlichen, wesentlichen, vornemsten Charakter der christlichen neuen Religion, den grossen Umfang der moralischen eignen Uebungen, so sehr gleichsam verkennet haben: daß sie die ganz unumgängliche äusserliche Ungleichheit des christlichen Lehrbegrifs gar für eine Abweichung von der wahren christlichen Religion ausgegeben, und einander um der verschiedenen Religionssprache willen so übel, so ganz unchristlich beurtheilt haben! Die Algemeinheit Gottes und seiner moralischen Wirkungen zur innern Volkommenheit der unzäligen Menschen, zur immer grössern moralischen Aenlichkeit mit Gott: ist der neue Grund der bessern Religion; hiezu ist der 1048 Erstgeborne und Eingeborne Sohn Gottes, als ein neuer ganz un [333] bestimmter Begriff aufgestellet in den neuen Schriften der Christen; nicht, daß die Christen nun über 1049seine Erzeugung aus dem Wesen, oder Hervorbringung durch den Willen des Vaters, vor allen Geschöpfen oder in noch kleinerer socinianischer Bedeutung, miteinander Jahrhunderte lang streiten und disputiren solten; indem dieser Sohn Gottes eben so unbegreiflich und unendlich ist, als sein Vater, es mögen katholische oder arianische, socinianische Beschreibungen gemacht werden; sondern, daß das jüdische System, von einem bisherigen Reiche des Teufels und böser Engel unter den Unjuden durch diesen neuen Begrif, mit allen jüdischen Meinungen von der äusserlichen Religion, wozu jüdische Ceremonien gehören, umgeworfen, und eine freie innere Religion, die zu dem unendlichen Reiche Gottes allein gehört, eingesehen und vorgezogen werden solte. Durch diesen neuen innern Glauben können alle Menschen, die sonst Juden waren, ohne jüdische Ceremonien, mit diesem unendlichen Sohn Gottes in einer freien Vereinigung stehen, und haben von ihm den unendlichen Geist Gottes zum fernern Lehrer; dis ist die Hauptsache, die nun erkannt werden sol. [334] Wegen ihres äusserlichen Lebens aber befinden sie sich in einer localen äusserlichen Geselschaft, die sie entweder wälen, oder von der Geburt an darinn sich befinden; und alle äusserliche Geselschaft hat einen Schuz der Obrigkeit nötig, daher steht die Geselschaft verbunden, ohne sich erst so vielen Ceremonien zu unterwerfen. Dis ist die Toleranz im Staat gleich hinter dem Judentum. Ohne jenen eignen Glauben, ohne innere Religion bringt keine äusserliche Religionsgeselschaft moralischen Nuzen, und eben so kann eine noch so unvolkommene Religionsordnung an dieser innern geistlichen Religion nicht geradehin ändern. Selbst gesezt, man lebte unter einer so genannten Naturreligion im äusserlichen Zustand; man würde doch aus der Bibel, ja auch durch andere Christen oder aus eigener Erfarung diese grössere geistliche Religion finden und fortsezen können, weil man die geistlichen unendlichen Wohlthaten Gottes überal ferner eben so finden und geniessen würde, wie man Gott im Reich der Natur, das auch sehr ungleich vertheilt ist, überal mit Lob und Dank finden, und nicht blos in sinnlichen Empfindungen, wie viele andre [335] [Menschen], dahin leben würde. Daß nun diese eigene freie Religionsübung und innere Gemüthsfassung der Christen, wodurch sie über Judentum und Heidentum sich erheben, gar fanatisch und 1050 schwärmerisch heißt: war theils eine Politik der Pfaffen und Mönche, welche die äusserliche einförmige Religionsordnung zur Seligkeit gerechnet haben, damit niemand ohne ihre Beihülfe, allein, noch in diesen innern Glauben an Gott durch Christum, (in vielerlei Sinne,) selig zu sein und zu werden, wissen solle; theils war es ein 1051Feler mancher Protestanten, davon selbst Luther und Calvin nicht frei waren, die ihre neue locale Religionsordnung zu sehr erhuben, mit Vergessenheit der moralischen Stuffen und Classen, die, nach der neuen Erkenntnis der Christen, immer da sind, wenn sie auch das äussere, leibliche Wort der christlichen Lehre nicht gleichförmig haben, oder nicht in Einer allereinzigen Lehrform fassen. Dieser Begrif einer innern Wirkung Gottes, ausser, neben und über der Natur der Menschen, liegt nun immer zum Grunde der christlichen Religion von ihrem Anfange an; viele Christen haben nach und nach eine 1052 sacramentliche Wirkung auf die Seele [336] daneben gesezt; manche haben auch gar 1053Wirkungen in der körperlichen Welt von Reliquien, Bildern und geweiheten Sachen erwartet. So lange aber es den Christen selbst frei bleibet, (und als Menschen haben sie immer ungleiche Fähigkeiten und Gelegenheiten,) ihren eigenen Verstand und ihr eigen Urtheil in Absicht Gottes zu üben: würden auch diese zwei leztern Meinungen die höheren Stuffen der christlichen Religion bei andern Christen nicht aufheben, wie wir es in täglicher Erfarung gewis genug wissen. Sol aber nur dieses eine vernünftige Verehrung Gottes heissen, die in Wirkung der Natur des Menschen ganz allein bestehet, und alle Wirkung Gottes auf den Menschen ausschließet: so ist dieses doch ebenfals nur eine moralische Privatübung, wodurch niemand alle andre Menschen beherrschen und ihren auch häufigen Beifal geradehin einen Beweis der volkommensten Verehrung Gottes einseitig nennen kann. Wenn die Reihe, Verfolger zu werden, nicht nun an die Naturalisten kommt: so wird es immerfort Christen von sehr ungleichen Stufen und Classen geben, neben eben so verschiedenen Classen der Naturalisten; und wenn diese jenes al[337]les für Aberglauben halten, so wird es doch eben, zum Glük der freien Menschenwelt, dahin nicht kommen, daß aller so genannte Aberglaube dieser einseitigen Behauptung ganz aufhöre. Die noch so grosse menschliche Erkenntnis behielt zeither doch ihre gar kentlichen Schranken und gewisse Perioden; es wird also auch diese moralische Stufe, welche Naturalismus heißt, weder der Zeit und Dauer nach, noch der Ausbreitung und Herrschaft nach, ohne eben diese Schranken sein, welche aus unsichtbarer Macht sich über alle Wünsche und Absichten der Menschen zu immer grössern Erfolgen, erstreken, an welche Folgen freilich die Menschen, Christen und Naturalisten nicht dachten.

41. Wir kommen also wol darin überein, daß die christliche sowol öffentliche als Privatreligion, nicht eine feststehende Summe von Erkentnissen, so wol intensiue als extensiue, vom Anfange an gehabt hat; daß sie auch nicht für alle Menschen von Gott bestimmt ist, als eine Bedingung zu irgend einer Stufe moralischer Wolfart; daß aber alle Menschen, die eine Kentnis von dieser christlichen Religion bekommen können, aber als Men[338]schen verbunden sind, sie zu prüfen, weil sie durch Mängel oder Absichten der Lehrer sehr oft zur Ungebür verändert und verfälschet worden, wie die christlichen Parteien einander dis selbst vorwerfen; daß auch viele Christen, welche gegen andre Parteien wegen der Vorstellung und Beschreibung der Lehrartikel gar heftig eifern, gleichwol nur äußerliche geselschaftliche Christen sind, und in Tugenden und Pflichten, oder in eigner Anwendung ihrer Lehrartikel zur täglichen Verehrung Gottes, fast wissentlich, oder ohne Scham, sehr weit zurüke bleiben, ohnerachtet sie mehr Wirkung und Beistand Gottes behaupten zum ehemaligen und jezigen Entstehen der christlichen Religion, als die Naturalisten annemen. Nun sezen die Naturalisten ihre ganze Religion in eine ernstliche moralische Thätigkeit, in uneigennüziges Wohlthun oder doch Wolwollen gegen andre Menschen, ohne Unterschied einer geselschaftlichen oder bürgerlichen öffentlichen Religion. Ein Staat wäre also sehr glüklich, wenn er wirklich tugenhafte Mitbürger hat, sie mögen einander Juden, Christen, Lutheraner (etc.)et cetera [339] oder Naturalisten nennen! Denn auch bei jenen Sektennamen der Christen, Catholiken, Reformirten, Lutheraner, Mennoniten, Socinianer, muß doch die Probe der rechten Kenntnis und Verehrung Gottes in der thätigen Liebe gegen andre zur Nachamung Gottes; und 1054 in reiner Tugend gegen sich selbst bestehen?

Es ist allerdings zu hoffen, daß immer mehr eigenes Nachdenken und gewissenhafte Beurteilung dieser Hauptsache in aller Religion (um Gottes Willen moralisch gut handeln, und immer moralisch besser zu werden), die einzelnen Menschen viel mehr dahin bringen wird, die thätige reine Liebe Gottes und aller 1055Nebenmenschen, über die Gott einerlei Sonne scheinen läßt, immer mehr als das Wesen der würklichen würdigern Religion anzusehen; es mag nun der besondre äusserliche Unterscheidungsname christliche, natürliche, jüdische (etc.)et cetera heissen; und also auch vornemlich sich dieser eigenen reinsten Liebe Gottes und des Nächsten zu befleissigen, weil diese Nachamung Gottes der kentlichste Charakter eines Gottesverehrers ist. 1056 Jesus hat selbst dieses als das vornem[340]ste und gröste Gebot anempfolen, woran alles Gesez und alle Propheten bei den Juden gleichsam hängen. Es wird also wol bei den Christen eben so sein. Darin hängen Evangelien [und] Episteln mit ihrem ganzen Inhalt. Nun möchten die periodischen und localen übrigen Lehrartikel noch so viel Verschiedenheit der besondern Vorstellungen über den unendlichen Gott mit sich bringen: so kommen doch alle wirkliche ernstliche Gottesverehrer in diesem algemeinen Grundsaz schon überein, 1057daß niemand Gott zu erkennen, zu lieben mit Grunde vorgeben kann, der seinen Bruder und Nebenmenschen nicht um des gemeinschaftlichen Gottes willen, liebet. Niemand könte also ferner es der Bosheit und dem Vorsaze der Menschen zuschreiben, daß es so viele Ungleichheit und Verschiedenheit gibt in Absicht der Gedanken und Urtheile über so vielerlei andere Gegenstände, die nun neben jenem stets gemeinschaftlichen Grunde und Inhalt aller eignen Religion, von den immer, schon ungleichen Menschen, um ihrer selbst willen, oder um ihres besondern Gewissens willen, oder um unmoralischer Umstände willen, noch dazu angehängt und verknüpft werden. Jener allgemein eingewilligte [341] Grund aller wahren Gottesverehrung, der allgemeine Charakter moralisch aufstrebender Menschen, blieb immer das moralische göttliche Band aller der Menschen, welche selbst wahre Gottesverehrer sind; hiedurch fänden sie sich alle immer so heilig vereiniget zur ganz ausgemachtesten Ehre des unendlichen Gottes: daß sie die übrige noch so große Verschiedenheit in den besondern Vorstellungen über historische und locale Aufgaben, einander ganz frei ließen; weil sie es alle immer bedächten, daß es gar nicht an diesen Menschen selbst, oder an ihrem bloßen Vorsatze liege, wenn sie von manchen Gegenständen, die nun durchaus eine äußere unumgängliche Unterscheidung der Menschen mit sich bringen, mehr oder weniger oder anders nach eigenem Gewissen, denken und urtheilen, als jeder andere ebenfalls nach eigenem Gewissen schon denkt. Alle diese nach Zeit und Ort, oder äußerlich verschieden entstehende Vorstellungen von Gott, haben einen historischen, localen, einzelnen Grund; diese Historie aber konte nicht zu gleicher Zeit in allen Ländern und Orten eben dieselbe Historie sein, da sie es nur in einem Lande war. So hoften ehedem viele Juden auf einen König Messias, der ihre Nation über alle andre [342] erheben würde. Ein solcher König kam aber nicht; daher schon ehedem manche Rabbinen diesen Begrif und Artikel ausstreichen, 1058aus den Ikkanien, oder allgemeinen jüdischen Religionsartikeln der jüdischen Nation; er gehört nicht für alle Juden in allen Ländern; sondern nur für die 1059Einwoner von Palästina, die ihr Land für ein heilig Land ansahen, dem alle andre unterworfen werden müsten. 1060Viele fanatische Juden warteten dennoch, und rechneten die Zeit aus, da der Christus kommen, und den heidnischen Antichrist überwinden würde; sie waren daher von Zeit zu Zeit geneigt zur Rebellion wider die Römer; sie kanten also die bessere Verehrung Gottes, (die an kein Volk gebunden ist, weil Gott gleich gut aller Völker Gott ist,) gar nicht. Aber viele andre Leser des alten Testaments entdekten dieses moralische Reich Gottes, wozu alle Menschen, alle Völker gehörten; sie namen die neue Historie gern an, wodurch die alte Unwissenheit ausgebessert wurde, daß der Messias gekommen seie, aber in moralischer Lage; 1061daß sein Tod das größte Opfer für die Sünden aller Menschen seie, in jedem Sinne proprie oder improprie; daß also es nun gewis und entschieden ist, 1062daß die Gnade und Liebe Gottes sich auch [343] auf die Heiden erstrecke ohne jüdischen Tempel und Hohenpriester dieser Nation. Der Tod, die Auferstehung und Himmelfahrt Christi bestätigten es, 1063daß er kein neues Reich in Palästina anfangen wolle; 1064daß eine Beschneidung – – nicht mehr nöthig seie, weil man nun eine ganz andre Beschneidung hatte kennen lernen. Durch diesen einzigen rechten Sohn Gottes, durch den Geist Gottes, war alle bisher den wankenden Engeln zugetheilte Macht und Gewalt, in der Einsicht dieser Liebhaber der moralischen Würde Gottes, ganz aufgehoben. Wie die vielerlei Bücher des neuen Testaments zusammen gebracht und als gleiche Urkunden der neuen christlichen öffentlichen Religion gebraucht wurden, welches abermal eine neue Historie der Christen ist: so entstehen mehr neue Artikel, die nun durch die Bischöffe der verschiedenen christlichen Parteien ihre verschiedene einzelne äußerliche Bestimmung erhielten, und also die Christen in mehr große Gesellschaften äußerlich abtheilten; aber dieses alles hob 1065den allerersten Artikel der wahren Gottesverehrung nicht auf, (Gott, Christum, Geist Gottes, in der oder jenen Vorstellung, über alles zu lieben, und den Nächsten als sich selbst;) wenn nicht die Bischöffe nun aus[344]drücklich die eigene Gottesverehrung, (1066von ganzem Herzen, aus allen Kräften der Seele,) und nun den Nächsten, (um Gottes willen, der auch sein Gott ist, als sich selbst;) ganz aufgehoben, den Christen das eigene Antheil darüber ganz entzogen, und gerade ihre jezigen Lehrartikel zu dem Wesen und Grunde aller wahren Gottesverehrungen, aus falscher kirchlicher Macht, erhaben hätten. Denn keine äußerliche Macht kan entscheiden, was zum Wesen der christlichen Religion für alle Menschen gehört, sie kan aber erzälen, was in ihrer Gesellschaft als dazu gehörig, angenommen worden ist. 1067So ist der pluralis im symbolo nicaeno πιστευομεν eine Erzählung der Bischöffe. Von nun an aber verurtheilen Christen alle andre Christen und alle Menschen, wenn sie nicht diese ihre einseitige Kirchensprache die blos historische Anzeige ist, zur einzigen wahren Religion, die doch im Thun, nicht in Sprache besteht, rechnen. Alle Streitigkeiten über die Person Christi, über das 1068Ausgehen des heiligen Geistes – werden nun so wichtig gemacht, daß aller Widerspruch, alle Abweichung von dieser localen Kirchensprache zugleich eine Aufhebung aller wahren Gottesverehrung ist; [345] obgleich sogar alle christliche Parteien, die in der Kirchensprache von einander abgehen, diese allgemeine Vorschrift aller Gottesverehrung, liebe Gott von ganzem Herzen (etc.)et cetera wirklich behielten, und sich ganz recht der neuen Tirannei und Anmaßung der katholischen Partei widersezten. Von ganzem Herzen, von allen Kräften der Seele, Gott lieben, an seinen Sohn und den heiligen Geist glauben, und nun nach der Lehre des Sohnes Gottes, den Nächsten lieben als sich selbst: war die einzige wahre thätige Religion bei den Christen. Statt dieser eigenen thätigen Gottesverehrung, die alle Christen selbst behalten, um wahre innere Christen zu sein: entstehet die ganz falsche Religion; die nicht aus und mit Gewissen der einzelnen Christen frei geübet, thätigst geübet wird, sondern in einigen Redensarten ganz und gar von nun an bestehet, [und] blos den Befel, die Verordnung der Bischöffe zum Grunde hat. Alle Christen sollen nun ihre Gottesverehrung nach diesen Vorschriften der Kirche, in feststehenden Redensarten und Gedanken, ohne neue bessere Privaterkentnis, in eifriger Anhänglichkeit daran, und im täglichen Haß und Verfolgungen aller andern Menschen be[346]stehen lassen, die nicht eben also von Gott Vater, vom Sohne, vom heiligen Geiste reden; und eben gar keine Religion hätten, weil sie nicht diese bischöfliche falsche Religion haben, und sie seien also auch von Gott ewig verdamt. Diesen Widerspruch, den die Kirche begieng, wider die allein wahre eigene Gottesverehrung, sahen viele Christen ein, und behielten die wahre innere Religion, unter der periodischen Kirchenreligion; als eine nicht von [ihnen] abhängende blos äußerliche Verfassung oder Polizei der Bischöffe, wodurch lauter äußerliche Folgen entstehen. So gehet es mit 1069den sogenanten Pelagianern, vorher mit den Griechen, mit den 1070 Albigensern, Waldensern, Hussiten, Lutheranern, Reformirten. Wenn hier die Naturalisten laut reden, laut schreien, und sich einer so falschen Religion widersezen, die freilich keine Offenbarung Gottes, sondern die tirannische Gewalt der Kirche zum Grunde hatte: so wird sie auch der ware Christ nicht widerlegen! Selbst alle Protestanten müssen hier einerlei Klage füren, weil der Misbrauch des Namens, christliche wahre seligmachende Religion, über alle Maßen groß und schreiend ist. Wer will hier den Namen [347] wahre christliche Religion zum Deckmantel brauchen lassen, wo gar keine wahre Gottesverehrung gemeint ist? Alle natürliche ehrliche Religion, worin noch kein Gebrauch der Bibel statt fand, ist hier viel würdigere Gottesverehrung, als diese bischöfliche kirchliche Carricatur. Aber die wahre christliche Religion, abgesehen von den Pfaffen und politischen Gestalten, ist nicht diese niedrige Carricatur; ist eine freie ganz unabhängige Anwendung der eignen Seelenkraft auf den unsichtbaren Oberherrn aller Menschen, in so fern Menschen mehr als Körper und sinliche Phänomene sind; und sich als Christen hinter der Bibel, mit freier Benuzung ihres Inhalts, einer eigenen jezigen Gottesverehrung selbst befleisigen, welche Verehrung Gott Vater, Sohn Gottes, und heiligen Geist begreift, ohne eine ausschließende Bestimmung dieser Begriffe; blos in einer Gesellschaft entstehet eine Bestimmung, wir reden aber nicht von einer Gesellschaft; sondern von wahrer Privatreligion in allen christlichen Gesellschaften. Hier kan kein Concilium, kein politischer Zusammenhang befelen; 1071der Christ darf Gott durch Christum selbst erkennen, als ganz 1072unterminirlich, ganz offen, und als unbe[348]schränkten moralischen Vater der bedürftigen unerzogenen immer ungleichen Menschen. So frei hier die geübten Christen ihre eigene Vorstellungen hinter und neben jenen historischen localen Versuchen, selbst zusammen sezen, von Gott und seinem Verhältnis und täglich ihre Neigungen an Gott, ihre Zuversicht, ihren Dank dadurch bestimmen: so nachgebend sind sie als Brüder gegen einander, um durch ihr freies Gewissen aller andern auch freie Gewissen nicht zu beherrschen, welches ja keinesweges zur Ehre Gottes und Christi statt fände. Gern und gewis willigen sie aber ein in eine äußerliche Verbindung mit andern Christen, die ihnen bürgerlich schon die nächsten sind, um eine gemeinschaftliche öffentliche Religionsübung mit andern fortzusezen. Diese Geselschaft hatte aber auch schon ihre besondere Historie, die vor ihrer Religionsform vorausgehet, 1073in Sachsen, in der Schweiz (etc.)et cetera Nun ist es auch wahr, daß diese gesellschaftliche Religionsübung, wenn die innere Beschäftigung der Seelenkräfte nicht dabei ist, den Namen einer vorzüglichen oder besseren Gottesverehrung um besonderer Redensarten willen, die hier gebraucht werden, gar nicht verdienet; sie bestehet alsdenn [349] nur in einer Gewohnheit oder Verabredung, wornach mehrere Miteinwoner sich zu einer festgesezten Zeit, an einem und demselben Orte versamlen, und alle bürgerliche sonstige Geschäfte unterlassen wollen, weil jezt eine gemeinschaftliche Theilnemung an solchen sinnlichen, kenntlichen Handlungen alle Anwesenden beschäftiget, dadurch sie allesamt die Fortsezung ihrer äußerlichen Religionsordnung einander zu erkennen geben, und sie öffenlich gerne halten. Allein, auch diese freilich geringere Gewonheit hat nicht nur den gewissen Erfolg einer nähern Verbindung mit einander, daher Naturalisten wenigstens keine bürgerliche Zerrüttung zum Zweck haben dürfen; sondern sie erleichtert auch immer einigen psychologischen und moralischen Nuzen, weil gute nüzliche Begriffe erweckt werden können; wenn auch die eigene innere Beschäftigung eine Zeitlang gleichsam ausartet, und viele solche Mitglieder sich einen falschen Maaßstab ihrer Gottesverehrung angenommen. Auch diese Mängel, so gewis sie von andern als Mängel eingesehen werden, können nicht ganz weggeschaft werden, weil die Menschen nicht einerlei moralisches Maas bekommen können; weil sie durchaus äußerlich und innerlich ungleich [350] sind und bleiben sollen. Es giebt unzählige Falten und Beugungen der Seelenkräfte bei den einzelnen Menschen, worin sie sich sehr bald so gefallen, daß sie es gleichsam zu ihrem rechtmäsigen Stande rechnen, daß sie mehr darauf bestehen als andere; und es würde kaum ohne Herrschsucht und Ohrenbeichte, oder ohne einer Art moralischer Inquisition abgehen, wenn Prediger hier bei jedem Mitglied der Gemeine, außer dem allgemeinen Unterricht, wozu sie auch eigentlich nur bestimt werden, sich insbesondere einlassen, und gleichsam die Prüfung des Gewissens und Herzens aus eigner Macht vorschreiben wolten. 1074Sie müssen umgekehrt allen alles werden, um immer einigen zu moralischer Besserung zu helfen; sie können aber durchaus nicht fordern, daß alle Mitglieder ihrer Religionsgeselschaft einerlei Maas der Privaterkentnis, der Uebung und Anwendung erreichen und halten, oder sonst gar keine Christen sein solten. Es giebt auch geringere Privatchristen. Aus diesem immer ungerechten Vorhaben sind alle jene immer neuen Anstalten entstanden, wodurch man die innere Religion mehr befördern, und den meisten Mitgliedern einerlei kentlichen Charakter aufdrücken [351] wolte. Dies war die Quelle von immer neuen Cerimonien, Legenden, Mirakeln, Bildern, 1075 Brüderschaften, besondern größern Andachtsübungen (etc.)et cetera Durch alle diese Anstalten ist eine moralische Beherrschung, und ein Stillestand der freien Erkentnis vielmehr eingeführt worden, als daß die ächte freie Verehrung Gottes der Christen immer mehr bekant und erleichtert worden wäre. Gleichwol solte die Würde und Herrlichkeit Gottes vornemlich nur von den Christen immer mehr erkant und über alles geliebt werden! So wol Heuchelei als wilkürliche Lasterhaftigkeit ist hiedurch gar natürlich mehr ausgebreitet worden; anstatt, daß Christen es immer mehr lernen solten, was es heißt, 1076Gott, Christus, der Geist Gottes wonet moralisch in den Christen, nicht im Tempel zu Jerusalem, auch nicht 1077im todten alten Buchstaben, in Formeln; die allemal eine öffentliche Religion haben.

42. Nach dieser Erklärung müsten freilich die Christen selbst diese ihre gemeinschaftliche öffentliche Religionsübung gar nicht so hoch ansezen, daß dabei die innere und thätige Ausübung felen dürfte, ohne ernstliche Rüge ihrer Leh[352]rer; noch weniger sich über ihre Ungleichheit und Verschiedenheit so sehr entzweien, oder sich (um Gotteswillen, um Gott besser zu verehren!) gar hassen und verfolgen. Sie hätten auch eben so wenig ein Recht, den Naturalismus durch ihre christliche Religionsordnung bedächtig und absichtlich zu unterdrücken, da sie die innere Gottesverehrung durch alle äußere Religionsform zunächst, zu einem allereinzigen Maas zu erheben, sich gar nicht vorsezen können, ohne ganz falsche Begriffe anzunemen, und selbst ihre Bibel ganz unrecht zu brauchen.

Alles zugestanden! es ist kein Zweifel hieran, bei allen verständigen Christen. Aber haben denn nun umgekehrt die Naturalisten ein Recht, alle christliche, so wol äußere Religionsordnung, als die freie innere besondere Verehrung Gottes, welche mehr Gegenstände aus der Bibel einschließet, durch ihren Naturalismus aufzuheben, als würde nun die gewissere und wirksamere Moralität vielmehr unter allen Menschen befördert werden, ohne Bibel, ohne historische Begriffe? Ich denke [353] nicht; wenn sie nicht zugleich das Recht haben, daseiende geselschaftliche bürgerliche Verbindungen eigenmächtig aufzuheben. Sie können alle jene gar kentlichen 1078Betrügereien einer sogenanten Priester- und Pfaffenreligion rügen und ganz ernstlich verwerfen; alle verständigere Christen thun ein gleiches, ohne leeres Geräusche. Sie können diese und jene unedle Gewonheit vieler Namen-Christen und alle jene Lasterhaftigkeit tadeln und beurtheilen; dieses thun auch die treuen Lehrer der Christen; die treuen Lehrer, sage ich, andre thun es freilich nicht. Sie können die Unwissenheit und den Aberglauben des großen Haufens ferner dafür halten, wofür sie ihn erkennen; auch geübtere Christen urtheilen eben so, ob sie gleich alle Schonung und Nachsicht bedächtig anwenden, um nicht zu geschwind und anstößig zu handeln, und bürgerliche Unruhen zu erregen, unter moralischer Maske. 1079 Unkraut und Waizen wächset mit einander. Da aber die historische Kentnis eher ist als die allgemeine, und nicht alle Menschen zur eigenen Anname des Algemeinen so leicht zu bringen sind: so behält die christliche Religion, eben in so fern sie viel historischen Inhalt [354] hat, den leichtern Eingang bei der größern Menge, ohne die fähigern Menschen eben so daran zu binden. Die neue christliche Religion entstund durch eine neue Historie, die alle Christen von Juden und Heiden nun unterscheiden muste; so entstund die Reformation; durch neue Historie in Sachsen, in der Schweiz, in England, in Dänemark, Schweden. Ob nicht manche Naturalisten, Illuminaten eine neue Historie im Sinne haben: ist eine Aufgabe und Frage worden. Man mus es zugeben, daß ehedem viele Christen sogar einer fernern neuen Historie entgegen sahen, und ein bürgerliches glücklicheres Leben hoften, wozu freilich auch manche Fabeln und Erdichtungen geraume Zeit angewendet wurden. Dieser ganze sinliche Hang, der sehr lange geherrschet hat, ist von der wahren bessern Gottesverehrung gar weit entfernt; und diese dortige Religion jener Christen, (die in bürgerlicher Geselschaft nicht mehr zufrieden leben wolten,) ist nicht die christliche Religion, die wir Protestanten als die uns gehörige Religion selbst annemen und fortsezen. Es gab zu eben der Zeit auch geübtere und verständigere Christen, wie schon verständige Juden, die [355] 1080 σωμα und πνευμα, oder alte äußerliche Historie, und gegenwärtige innere moralische Historie in ihrer Religion unterschieden haben. Wir kennen jenen Feler, als moralischen Feler der großen Kirche, die durchaus nur alte feste Historie zum steten Grunde und Mittel aller christlichen Religion auswälte, um ja keine freie Erkentnis des Allgemeinen, gar keine innere moralische neue Historie der Christen aufkommen zu lassen. Wir kennen die ganz unverschämten Lügen und Legenden, welche, leider! so viel Jahrhunderte lang gar den alleinigen öffentlichen Inhalt der christlichen Religionslehre ausmachten; indem die Pfaffen sich die Beherrschung der Christen durchaus nicht entziehen lassen wolten. Aber bei dem allen können doch Naturalisten den Zeitgenossen das freie eigne Urtheil über das Verhältnis der Bibel nicht dadurch geradehin nemen wollen, daß blos eine sogenante Naturreligion empfolen, und alle bisherige eigene moralische Historie der Christen ganz aufgehoben, und für Fanaticismus erklärt würde. Warum soll in der moralischen Welt so gar weniger Freiheit und Unabhängigkeit übrig bleiben, als überall in der bürgerlichen Geselschaft [356] zum Privatleben statt finden muß? Haben zuweilen die christlichen Lehrer ihres Theils diese Freiheit aufgehoben, und es den Christen blos buchstäblich vorgesagt, die Bibel seie durchaus eine solche Offenbarung Gottes, wie es diese Lehrer zu denken und zu lehren pflegten: so haben sie doch den eigenen freien Gebrauch des Gewissens nicht hindern können, wenn sie auch wolten. Warum aber wollen nun Naturalisten die Stufe ihrer Erkentnis und Einsicht allen Christen zur Regel machen, da dieses doch durchaus nicht möglich ist, wenn sie auch alle bisherige bürgerliche Verfassung, worin die Christen ganz zufrieden leben, ganz umwürfen, und 1081aus dem bürgerlichen Stande einen Stand der Natur schaffen wolten? Aller christlicher Unterricht ist noch nicht an und für sich selbst diejenige Stufe der Erkentnis, welche für jeden einzelnen fähigern Menschen möglich ist; denn der Lehrer konte nicht für alle so verschiedene Fähigkeiten der Christen schon das Maas festsezen; wenn er dies thun wolte, so war es sein Fehler, und nur ganz unfähige Christen konte er also einschränken. Und aller öffentliche Unterricht, worin eine daseiende Religionsgeselschaft fortgesezt [357] wird, hat hiemit noch nicht ausschließender Weise ein göttliches Ansehen; dies mus erst im Gewissen der Christen von selbst dazu kommen. Nun ist aber die Uebung des Verstandes, also auch des Gewissens, immerfort sehr ungleich, ohne daß die Wahrheit und Göttlichkeit nur in der Einen Partei sich befinden müsse. Alle Christen müssen vornemlich von der moralischen Gegenwart und Wirkung Gottes durch Erkentnis ganz gewis sein; also müssen sie auch die innere Verehrung Gottes bei allen andern Menschen nicht an ihr besondres und lokales Lehrgebäude binden, obgleich die öffentliche Geselschaft eine einzige gemeinschaftliche öffentliche Religionsform haben mus, wenn sie als eine zusammengehörige Geselschaft sich fortsezen und von andern ferner unterscheiden will. Soll sich nun eine besondre öffentliche Religionsgeselschaft, als Naturalisten, von den Christen unterscheiden: so kan sie keine besondere Vorschrift über die beste innere Gottesverehrung zum Vorwande nemen; denn diese ist bei allen öffentlichen Religionsgeselschaften ohnehin ganz frei, und privatim ganz unabhängig. Die Naturalisten müssen also eine neue öffentliche Geselschaft als viel besser und dem [358] Staate nüzlicher voraussezen; und dazu müssen sie, wie alle öffentliche Geselschaften, erst die Einwilligung des Staats haben. Sie können aber nun nicht einen Grund zu dieser öffentlichen Neurung und Forderung aus ihrer eigenen Privatreligion entlenen; denn diese haben sie schon ganz frei, sie mögen sich befinden in welcher bürgerlichen öffentlichen Geselschaft sie wollen. Und wenn es auch wirklich eine öffentliche Religionspartei der Naturalisten geben solte: so würde doch die innere Privatreligion aller fähigen Naturalisten abermals frei und unabhängig sein und bleiben. Der eigentliche wahre Grund also, warum Naturalisten alle christliche Religion, selbst den Namen davon, aufheben wollen, ist keinesweges eine größere sichere moralische Volkommenheit aller Menschen, die durch alle geselschaftliche Religionsordnung nicht geradehin erhalten werden kan; indem hiezu stets die eigene moralische Uebung der einzelnen Menschen gehört, die nie zu einerlei Moralität allesamt erhoben werden können. Was für einen andern Grund nun Naturalisten hiezu haben mögen, daß sie, eben sie, die Naturalisten, die öffentliche Religionsordnung aller christlichen Par[359]teien, aufgehoben wünschen: dürfen die Zeitgenossen freilich selbst überdenken und beurtheilen, die bisher weder in Absicht des bürgerlichen geselschaftlichen Verhältnisses, noch der eignen freien moralischen Volkommenheit schon selbst unzufrieden zu sein, ernstlich geäußert haben; die vielmehr vornemlich daran denken, daß sie es keinesweges zur ersten Pflicht haben, 1082an moralischen kosmopolitischen Projekten Theil zu nemen; da sie ohnehin schon mehr täglich moralisch und bürgerlich für sich und andre zu thun vorfinden, als sie leisten und ausrichten können. Wenn die moralische Uebung und Bestrebung da ist, so ist die Gottesverehrung wirklich da; die Vorstellungen aber über ehemalige Historien können von gar [verschiedenem] Inhalte sein, ohne die Gottesverehrung jezt aufzuheben. Der Inhalt war und ist allemal außerhalb des Menschen, ist nicht in seiner eigenen Gewalt, kan aber allemal von Menschen moralisch gut zur Verehrung Gottes angewendet werden, wenn er gleich durchaus nicht einerlei sein kan für alle Menschen, wie sie nicht alle eine und dieselbe Narung und Ordnung ihres menschlichen Lebens haben und annemen können, und doch gesunde glückliche Menschen sind.

[360] 43. Aber kan man wol den Naturalisten andere Absichten beimessen, als geradehin patriotische, gemeinnüzige? Die sogenante Kirche mus doch endlich unter dem wahren Begriffe gedacht werden, den uns die bald siebenzehn hundertjährige Historie immer mehr darleget. Es mag also ehedem göttliche Belehrungen eines Petri und Pauli gegeben haben, wider jüdische Vorurtheile, und heidnische moralische Kälte – so gehören sie doch gar nicht zu dem ganzen nachherigen Kirchenregiment, oder neuen 1083 politischen Kirchenstaat, der noch immer einen kirchlichen Monarchen oder Papst einschließet, welcher sogar die kaiserlichen und königlichen, oder wahren landesherrlichen Rechte durchaus nicht gelten läßt, und die Namen, Christus, Petrus, Kirche immer in einem solchen Verhältnis fortsezet, das von göttlicher Belehrung durchaus nichts in sich fasset, wenn man nicht wissentlich politische Heuchler oder blos sogenante Kirchenchristen, das ist, gehorsame Unterthanen in einem Nebenstaate haben will. Moralische Veredelung sucht jene Kirche gar nicht.

[361] Diese ganze glänzende Gestalt und prächtige Einrichtung der sogenanten Kirche, mit dem ganzen Jure Canonico, hat wenigstens kein protestantischer Lehrer als eine Folge göttlicher Offenbarung, oder als Pauli, Petri, Johannis, Jacobi so gemeinnüzige Lehre angesehen, 1084wie sie auch ihr eigen Kirchenrecht nur als eine menschliche Ordnung gelten lassen. 1085Alle Protestanten haben aber schon lange den wahren Begrif Kirche, wozu freilich kein Pabst, keine solche gebieterische Clerisei, gehört, unterschieden; 1086wie immer fort alle verständigen Regenten und Zeitgenossen curiam und ecclesiam romanam unterschieden haben; folglich hätten wol Naturalisten hier eben kein besonderes Feld zu neuen Verdiensten erst zu entdecken; sie konten als ächte Christen eben dies thun. Die ganze äußerliche Religionsverfassung, in so fern sie zu einem jeden Staat gehört, beruhet schon auf neuen daseienden Verträgen der schon vorher bürgerlichen Geselschaft; und die Regenten in Europa lassen sich in Absicht eines Pabstes und der öffentlichen Religionsverfassung ganz recht blos durch politische Gründe und Umstände bestimmen, ohne bei den so verschiedenen Naturalisten, und [362] bei den Obern der Religionsparteien, sich Rats zu erholen. Wenn auch alle Naturalisten in eigener moralischen Volkommenheit einander vielmehr gleich, und über alle wahren Christen, deren es doch viele geben kan, mehr erhaben wären, als sie doch keinesweges alle schon sind: so würden doch ihre noch so guten patriotischen Absichten noch immer nicht ein solcher Grund werden, daß ein Regent den Naturalismus in seinen bürgerlichen Staaten wirklich an die Stelle der öffentlichen christlichen Religion in der bisherigen bürgerlichen Geselschaft, zu erheben Ursache hätte. Es ist gar nicht widersprechend, daß Jesuiten und alle politische Religionsobern für sich selbst schon Naturalisten sind, und dennoch eine allereinzige öffentliche christliche Religion durchaus immer fortsezen und behaupten, weil sie nun zur gewissen Regierung viel besser angewendet werden kan, als wenn dies daseiende so alte und feste Gewebe des Staats und der Kirche mit allen sogenanten Ständen ganz aufgelöset, und eine moralische ganz neue Theorie, die bisher privatim frei war, in eine algemeine feststehende Religionsordnung verwandelt werden solte, wo eine ganz andre politische Regie[363]rung erst erschaffen werden müste. Ob nicht ganze Geselschaften schon lange mit dieser neuen Regierung umgehen: ist eine Aufgabe, die nicht geradehin lächerlich ist. Diese ganze patriotische Absicht übrigens, welche man auf diese Art freilich nicht unwirksam aufstellen würde, ist, wie gesagt, von allen wahren Christen immerfort schon in die Augen genommen worden, eben wenn sie besondere Offenbarung Gottes als historisch wahr voraus sezten, und alle Menschensazungen, der Rabbinen oder der Bischöfe, dafür ansahen: daß sie mit der stets wirksamen, nie schon vollendeten Absicht des unendlichen Gottes, eben deswegen gar nicht zusammenhiengen, weil die Menschen ihrer eignen freien Privatreligion alsdenn wieder beraubet würden. Nie haben verständige Christen sich es beibringen lassen, daß kirchliche locale Verordnungen der Päbste und Bischöfe mit der christlichen praktischen Religion eben denselben göttlichen Ursprung, also auch eine algemeine Verbindlichkeit für sich hätten, aus einem ewigen Zusammenhange mit der moralischen Wohlfart des menschlichen Geschlechts; eben diese Wohlfart hat und behält unendliche Stufen, oder vielerlei Mittel auch ohne die christliche Religion. Viele Jahr[364]hunderte lang können wir die Lügen und wissentlichen Unwahrheiten nachweisen, welche die sogenante Kirche zu Hülfe genommen hat, um ihren kirchlichen, häufig unchristlichen und blos menschlichen Verordnungen gleichwol eben das algemeine göttliche Ansehen zu geben, welches jene algemein wohlthätigen Lehren Christi und seiner Apostel ganz allein und vorzüglich noch immer haben, in und nach dem eigenen Gewissen der freien Christen. Jemehr also die wahre praktische Religion, die freie Verehrung Gottes nach den Grundsäzen des neuen bessern Bundes, sich ohne eiserne Form privatim ausbreitet: 1087desto gewisser mus jene falsche Kirchengewalt immer mehr einfallen; desto mehr giebt man ferner dem Kaiser was seine ist; weil das Reich Gottes, 1088das Reich Christi doch nicht von dieser Welt, oder politischer Natur ist. Da nun dieser große Erfolg ganz gewis in der wahren christlichen Religion immer da ist, so kan der Naturalismus, wenn ihm eben diese gute große Absicht beigelegt wird, wenigstens dieser wahren christlichen Religion nicht als ein nötiges wohlthätigeres Mittel entgegen gestellet werden. Es käme überhaupt noch auf eine genauere Unter[365]suchung an, ob die Naturalisten sich nicht übereilt haben; da sie sich durch einen Namen von allen Christen, (die in gar vielen moralischen Stufen stehn,) durchaus unterscheiden wolten, den wirklich die Jesuiten gerade in den Streitigkeiten mit dem frommen 1089 Michael Molinos, über die freie Seelenruhe der wahren Christen, bei noch so vielen unzähligen Cerimonien und kirchlichen Anstalten, zuerst aufgebracht haben, um ja unter Naturalisten das gewisse Gegentheil aller noch so ungleichen christlichen Religionen, auszudrücken, und also schon ein ausgemachtes Präjudiz zu dem gewissen Vortheil der Kirchenmonarchie auszubreiten. Es gehört also sehr viel Einsicht und Unparteilichkeit dazu, daß dieser Name, Naturalist, nicht schon eine gleichsam gerechte Abneigung, und zur Religion selbst gehörige Widrigkeit sogleich mit sich füren sol; und zur patriotischen gemeinnüzigen Gesinnung gehörte es doch wol, sich nicht selbst allen Eingang bei den Zeitgenossen zu erschweren. Es kan doch übrigens noch immer eine billige oder gerechte Forderung heißen, daß Naturalisten unter dem Namen, Christen, christliche Religion, nicht einerlei verächtlichen unwürdigen Gegenstand eigenmächtig begreifen, und überhaupt nicht an [366] Veränderung der Namen und Worte schon ein ausgemachtes Verdienst hängen solten. Kein billiger verständiger Christ wird leugnen, daß es tugendhafte, große, gemeinnüzige Charaktere giebt, unter den sogenanten Naturalisten und unter allen Unchristen; warum wollen nun nicht Naturalisten nicht umgekehrt eben so patriotisch und billig in Absicht der Christen handeln, wenn diese gleich sich nicht durch den angeblichen Ehrennamen Naturalisten unterscheiden wollen, weil er durchaus den bisherigen Grund ihrer so bewärten Religion in ihnen selbst aufheben, und sie zu Lügnern und zu niedrigen Menschenknechten machen würde? Keinem Naturalisten hat ein wahrer Christ eine Vorsorge oder Vormundschaft für seinen besten moralischen Zustand aufgetragen; ein wahrer Christ kan gar nicht in diese Lage geraten, und die Geselschaft hat auch an Lehrern keinen Mangel; Naturalisten wil sie aber nicht zu Lehrern haben. Wenn nun gleichwol Naturalisten sich eine solche Vorsorge eigenmächtig auflegen: kan ihre Absicht wirklich nur diese sein, da sie es wissen, der Christ erwartet und verlangt diese Mitsorge gar nicht? Oder mus ich es für Verdienst um mich erkennen, wenn jemand sich auf meinem Wege, den ich ganz gewis [367] und sicher gehe, mir entgegen stellet, und mir durchaus einen andern Weg anweisen wil? Noch dazu ist der wahre Christ zugleich schon ruhiger Bürger und rechtmäßiges Mitglied einer Geselschaft; er ist zufrieden und vergnügt in seinem bürgerlichen und christlichen Verhältnis; was für ein Recht haben also Naturalisten, diese zufriedenen Christen und schon verpflichteten Bürger unaufhörlich gleichsam vor ihren selbst erbaueten moralischen Richterstul zu fordern, sogar mit Spötterei zu fordern? Das Recht der Vernunft soll dies sein! Der Christ hat nicht nur als Bürger, sondern auch als Christ sein ihm zugehöriges moralisches Eigentum; heiße es durch Verträge, oder durch Geseze, oder durch eigene Erfarung. Kein Bürger darf den andern richten und verurtheilen, in Absicht seines bürgerlichen Lebens. Die Gesetze geben algemeinen Schuz wider einzelne Eingriffe und Anfälle. Die Anname und Uebung der christlichen Religion, in dem und jenem Umfange, ist das rechtmäßige moralische Eigentum des Christen, der in seiner bürgerlichen Verfassung auch eine öffentliche durch Geseze gesicherte Religionsübung, zum ausgemachten Rechte hat. So wenig es einem Juden, Muhamedaner, Brami[368]nen (etc.)et cetera frei stehet, die geselschaftliche Religionsübung der Christen zu stören, durch Aeußerung und Darstellung seiner ganz andern Religionsübungen; indem der Staat diese verschiedenen Religionsparteien, durch abgetheilte Geseze wider einander beschüzt, um tägliche Unruhen abzuwenden, also jeder Religionspartei in Absicht öffentlicher Uebungen, ihre Schranken anweiset: eben so wenig solten Naturalisten sich so grobe tägliche Spöttereien über die christliche Religion erlaubt haben, und dies gar zu Meriten um die Menschheit rechnen, wenn sie Geselschaften zerrütten. 1090Weder ein Recht der Menschheit noch der Natur, konte diese Ungerechtigkeit, (denn Wohlthat war es nicht,) beschönigen; denn die christliche Religion entstund nicht im sogenanten Stande der Natur oder der Menschheit so wenig als alle Künste und Wissenschaften, Früchte des Standes der Natur waren. Und wir Christen haben doch wol nichts wider die Menschheit und wider unsre Natur begangen oder gesündiget, wenn wir jenen ersten kleinen Stand – der dem Menschen möglichen Veränderung so erweitert und erhöhet haben, daß wir immer mehr neue wirkliche moralische Fertigkeiten uns schaffen, und noch mehrern immer entgegen [369] sehen konten! Diese einzige Lage der Menschheit und der menschlichen so weit cultivirten Natur, solten wir vertauschen mit einem Naturstande, den wir doch zu unserm großen Vorzuge zurück gelegt haben? Und wir solten hier glauben, daß alsdenn eine größere menschliche Glückseligkeit entstehen wird? Das könte immer in Absicht mancher oder vieler Zeitgenossen statt finden, welche mit der einzigen politischen Verfassung, bei der eine christliche öffentliche Religionsordnung zum Grunde liegt, unzufrieden sind, weil sie dadurch eingeschränkt werden. Warum soll aber umgekehrt die Unlust und Unzufriedenheit nun die christliche ganze Geselschaft treffen? Die gleichwol bürgerliche Verträge und den landesherrlichen Schuz bisher für sich hat, und gar nicht willens ist, ihre ausgemachten Rechte, was öffentliche Religionsverfassung in dem bürgerlichen Staate betrift, durch allerlei Privatgedanken und moralische Anstalten aufheben zu lassen? Jeder Zeitgenosse kan ja für sich selbst ein sogenanter Naturalist sein, wenn er mehr moralische Wohlfart sich hiermit zu schaffen meinet; aber ein ehrlicher Mann in jeder Geselschaft dringt seinen moralischen Vorzug seinen Nebenmenschen eben so [370] wenig auf, oder sezt sich vor, sie stolzer Weise zu beherrschen; als wenig der stärkere Mann die Schwächern oder Kranken zu eben solchen Arbeiten und Geschäften auffordern darf, die ihm so leicht und gewönlich sind. 1091Darum leben wir eben in einer geselschaftlichen Verbindung, um nicht durch einzelne Menschen täglich überwältiget und beunruhiget zu werden.

44. Ich gebe es zu, daß manche naturalistische Schriftsteller hier eben nicht viel gerechten Ruhm erwarten konten, wenn sie so übereilt, so anhaltend über alle christliche Religion, über alle ihre öffentlichen Diener, über alle biblischen Redensarten, und über alle Cerimonien (etc.)et cetera spotteten und lachten; dies konte keine Wohlthat für den Staat als Staat heißen, und mußte freilich manche ungesunde Früchte erzeugen. Aber, wenn diese unbillige Spötterei und Andringlichkeit bei Seite gesezt wird, so könten doch denkende Zeitgenossen auch über die öffentliche Religionsverfassung der Christen ihre Meinungen und Urtheile bekant machen, und wirklich eine [371] gute Absicht haben, oder zur Aufklärung und Verbesserung ihrer Zeitgenossen eben dadurch beitragen, daß sie als Naturalisten sich neben solche Christen hinstelleten, welche eine moralische eigene Religion fast gar nicht kanten. Die öffentliche Religionsverfassung, war doch wol nicht blos politische Vorschrift, sie solte doch wenigstens unter den Christen die eigene praktische Religion nicht für unnötig und überflüßig erklären, welches höchstens im Pabsttum der Fall sein konte. Und da es immer mancherlei Mängel und Fehler selbst bei der öffentlichen Religionsverfassung geben konte, oder von Zeit zu Zeit wirklich gab: so war es ja nicht schon Beleidigung und Beeinträchtigung der Christen, wenn Naturalisten ihre anderweitigen Einsichten und Urtheile öffentlich daneben stelleten.

Diese bescheidene Beschreibung möchte wol nur für einige wenige naturalistische Schriftsteller gelten. Freilich gründen sich viele auf eine sogenante Aufklärung, die zumal allen Christen so unumgänglich nötig sein sol, wenn sie nicht Fanatiker [372] oder Dumköpfe heißen wolten. Aber es war doch auch eine zu große Anmaßung, wenn diese neue Schule so wol das Recht als das Maas der Aufklärung sich ganz allein beilegte. Noch niemals ist eine gesittete Untersuchung über irgend eine Frage oder Aufgabe unter den Protestanten für überhaupt verboten oder religionswidrig erklärt worden; wenn auch manche einzelne Theologen über den wirklichen Gebrauch der Vernunft sogar in Absicht ihrer blos theologischen Behauptungen, nicht selten sehr einseitige Entscheidungen gegeben haben[.] Sobald ist 1092das fruchtbare lehrreiche Buch, das Martini in Helmstädt zu Anfange des vorigen Jahrhunderts unter dem Titel: Vernunftspiegel textgrid:3rns8, drucken lassen, fast ganz und gar vergessen worden! Wurde wirklich hie und da die sogenante Censur auch unter Protestanten zu weit erstrecket: so geschahe dieses doch immer nach den wirklichen alten Gesezen der Bücherpolizei, oder nach einer Observanz, die der Staat so lange stehen lies. Man kan freilich nicht sagen, daß der Geist der christlichen Religion diese Observanz aufgebracht oder beschüzt habe, weil sie ihm unentberlich seie; aber die öffentliche Religion kan [373] auch nicht den Geist der christlichen Religion so zum Grunde haben, als die bürgerliche Verbindung und Wohlfart. Es ist übrigens ein noch gar schlechter Christ, der um des Namens Gottes und Christi willen sich nicht den Spott gefallen läßt, der sogleich vom Anfange dieser neuen Religion her noch mehr statt fand, als thätige Verfolgung durch Obrigkeiten. Aber desto sonderbarer ist auch die Anmaßung, daß ein jeder Christ aller der Aufklärung in Absicht der eigenen Religion, unterworfen oder ausgesezt sein müsse, welche irgend ein Naturalist ihm als ganz notwendig zuerkennen will. Es hatten sich daher die Christen in besondre öffentliche Religionsgeselschaften begeben: damit sie nicht täglich neuen Lehrmeistern unterworfen sein wolten. Und nun wird es allerdings eine Aufgabe, ob in eine jede Religionsgeselschaft allen Critikern oder Zweiflern täglich der freie Eingang darin offen stehe, 1093weil Critiker, Spötter, Zweifler ihre Menschenrechte hiemit auszuüben vermeinen? Oeffentliche Religionsverfassungen, in so fern sie in Verträgen und gemeinschaftlichen Einrichtungen bestehet, die der Landesherr sanciret hat: müsten durchaus nicht beliebi[374]gem Spotte öffentlich Preis gegeben werden. Die Mitglieder solcher christlichen Religionsgeselschaft verlieren sonst geradehin ihre öffentliche Religionsfreiheit, sogar durch die Herolde der Rechte der Menschheit und der Vernunft, wenn sie ihre öffentliche Religionsübung so öffentlich verspotten lassen müssen; und der Staat selbst müste es wissen, daß die bürgerlichen Folgen hievon viel nachtheiliger und gefärlicher sind, als der neue Ertrag je für baaren moralischen Profit gerechnet werden kan, wenn nun manche Bürger und Landleute einige lustige Einfälle und leichtsinnige Grundsäze für die alte christliche Gesinnung einwechseln. Eben so solte niemand die öffentliche Religionsordnung, die sich auf eine große Menge beziehet, darum für überflüßig und unnötig erklären, weil er selbst zu seiner Privatreligion jene öffentliche Anstalten nicht nötig hat. Dies lezte ist ohnehin nur wahr, wenn die öffentlichen Religionsdiener ihr öffentliches Amt sehr schlecht verrichten, und sich des Unterschieds ihrer Zuhörer zu wenig bewust sind. Es ist aber auch das erste nicht wahr, daß ein jeder guter Bürger darum die öffentliche Religionsordnung überhaupt verächtlich machen helfen [375] möge, weil sie ihm keinen besondern Nuzen für seine Privatreligion mehr gewäre. Jede Geselschaft ist nicht vornemlich da, um des Privatvortheils einzelner Glieder willen; sonst würde sie bald wieder zerrissen werden: sie müssen alle etwas sich entziehen oder beitragen, um die ganze ungleiche Geselschaft zu erhalten. Und alle öffentliche Geselschaften, die unter dem Schuz des Staates da stehen, weil sie zum größern Besten des Staats noch immer gehören können: müssen noch viel mehr öffentliche und gemeinschaftliche Hochachtung durchaus behalten, bei allen patriotischen guten Bürgern des Staats. Nun können freilich aufmerksame Zeitgenossen und Mitbürger ihre besondern Gedanken und Einsichten auch an andre mittheilen: aber ohne schon so abzusprechen, daß eine wirkliche Trennung oder Zerrüttung der Religionsgeselschaft die nächste Folge sein kan; weil hiedurch dem Staat selbst ein größeres Nachtheil zuwachsen mag, als je der Vortheil für den Staat gros und gewis wird, wenn einige Bürger und [376] Landleute anfangen, sich auf 1094 Vielwissen etwas einzubilden und andere neben sich, auch wol die politischen Ordnungen zu verachten; wenigstens mus der Staat hierüber zunächst urtheilen, und nun Zeit suchen für die neue Wisbegierde, die doch der Verbesserung seiner Profession oder seiner Wirtschaft immer zugewendet werden solte. Es ist eine sehr unfreundliche Anmaßung, wenn man schon voraussezt, daß durch die öffentlichen Lehrer der christlichen Gottesverehrung gar nichts zur Aufklärung und Besserung der Christen, also auch zur Festigkeit des Staats, geschehe, oder gethan werden könne; daß daher der ganze Grund und Boden aller christlichen Religion umgerissen werden müsse. Alle verständige Christen gestehen es ein, daß von Zeit zu Zeit viel Mängel sich in die christliche so wol öffentliche als Privatreligion eingeschlichen haben; das ist aber das gemeine unvermeidliche Schicksal aller Beschäftigungen der Menschen, und die Mängel entstunden und entstehen allemal durch die Menschen selbst, [377] welches durch noch so viel Neuerungen nicht geändert werden kann. Der allererste Anfang der christlichen Religion bestund in relativer Aufklärung, wider die Vorurtheile und Mängel des Judentums. 1095 Erleuchtung, ein neues Licht, ein heller Schein, in dem eigenen Gemüt der Christen, neue Erkentnis war ihr eigener Vorzug; 1096sie solten selbst prüfen, δοκιμαζειν, 1097 nachdenken, λογιζεσθαι, über die neuen Begriffe von besserer würdigerer Verehrung Gottes, die sie selbst nur nach eignen Vermögen leisten sollen; sie solten 1098 immer selbst wachsen in der Gnade und Erkentnis Christi; der solte durch ihren eigenen Glauben, durch ihre freie Ueberzeugung, in ihrem Herzen wonen; sie solten selbst Christum moralisch anziehen –– kurz, die fähigern Christen solten alle ihre Seelenkräfte dazu anwenden, 1099aus dem Stande der Kindheit fortzurücken, und ein vollkommener Mann zu werden, und durch den Geist Gottes immer mehr moralische Belehrung und Offenbarung in sich zu sammlen. Aufklärung eines jeden Christen, [378] zu immer willigerer, reinerer Verehrung Gottes, war die allernächste und immer erste, fortgehende Absicht der neuen Religion. Diese freie moralische Bewegung des Verstandes und Willens der Christen, war aber nicht gleich gros in allen Christen, sondern behielte das Maas, das jedem Subjekt gehörte; 1100nicht aller Acker gab denselben Saamen dreißig, sechszig, hundertfältig wieder. Kein Lehrer konte dem Subjekto ein so großes Maas geben, als andere schon hatten; und zu welchem Endzwek hätte denn dieses geschehen mögen, da der stete Unterschied aller Menschen von allen andern durchaus stehen bleiben mus? Unter den Christen soll also die angefangene Aufklärung ihrer selbst immer fort gehen; aber zunächst zu ihrem moralischen Privatvortheil. Alle Verbindungen oder Verträge, die zu einer öffentlichen Geselschaft gehören, sezen diese ungleiche Privatreligion schon voraus. In der öffentlichen Religionsform wird nur eine äußerliche Einheit und Gleichheit eingefüret; wir müsten schon eine päbstliche Dumm[379]heit und Sklaverei unter uns begünstigen, wenn wir behaupten, diese äußerliche Gleichförmigkeit, worin eine große Menge eine nur kurze Zeit da und da vereiniget wird, seie das Wesen der christlichen Verehrung Gottes. Wenn nun der stete innere und äußere Unterschied der Menschen, also auch der Christen, immer da ist; und mancherlei Mängel sich in der öffentlichen Religionsform von Zeit zu Zeit finden können: so ist eine immer wachsende christliche Erkentnis ganz gewis immer zugleich da, in einigen Christen; in allen aber kan sie nie als eben so stark wachsend und fortgehend angenommen werden. Nun haben aber fähigere Christen ihren innern Vorzug nicht dazu anzuwenden, daß sie immer die öffentliche Religionsform verändern wolten, als welche gerade die vielen ungleichen Christen auf eine gewisse Zeit als äusserlich vereiniget darstellen soll. Diese äusserliche Vereinigung der immer ungleichen Christen soll den übrigen steten Unterschied und die ganz unmoralische Ungleichheit der Christen nicht [380] aufheben; also wird der fähigere Christ hiedurch nicht gehindert in seiner innern eigenen Religion; (denn wir haben kein Pabsttum behalten;) und die vielen unfähigern Geselschafter behalten zunächst die äußerliche Religionsform als das Mittel, die ihnen selbst fehlende Erkenntnis nach und nach auszubessern, durch den öffentlichen Unterricht, und durch gute Beispiele. Wenn nun die öffentlichen Lehrer in der jezigen Anwendung der Bibel, oder in unfruchtbarem Gebrauche einer Kirchensprache so fehlen, daß sie nicht auf den immer daseienden Unterschied der Theilnemer an der öffentlichen Religionsform aufmerksam bleiben: so sind sie Schuld an den jezigen daseienden Mängeln, welche der gemeinschaftlichen äusserlichen Religionsordnung von Zeit zu Zeit zu wachsen, daß die innere eigene Verehrung Gottes bei dem großen Haufen gar verkant und vergessen wird. Aber eben diese eigene innere christliche Verehrung Gottes wolten die Protestanten durch eine neue äusserliche Religionsform aufs allergewisseste wider jene [381] todte schlechte Kirchenordnung beschüzen, und dazu haben die christlichen Lehrer eine Lehrvorschrift bekommen, damit ja nicht jüdische, päbstliche, pfaffische Grundsäze von Hinlänglichkeit oder Unentberlichkeit einer einzigen Kirchenordnung zur christlichen Seligkeit aller Christen, sich wieder unter ihnen einschleichen könten, die selbst eine Beherrschung der Regenten nach und nach wieder erleichterten. 1101 Protestanten sezen das jus circa sacra publica oder multis communia, ausdrüklich über den ganzen Lehrstand, und hiemit ist die Freiheit des Gewissens entschieden, bei aller Vorschrift über geselschaftliche, öffentliche, gemeinschaftliche Religionshandlungen. Diese Geselschaft mag von jeder Vorschrift so oder so eingerichtet werden; sie betrift, als Vorschrift, nie die Privatreligion, weder der Lehrer, noch der fähigern Christen. Wenn nun Naturalisten wirklich gar keine Absichten haben, öffentliche Neuerungen und Reformationen der Christen, ohne und wider die [christlichen] Religionsformen, zu befördern: so ist nicht [382] abzusehen, warum sie unter den Christen eine Aufklärung betreiben wolten, da sie selbst keine Christen sein wollen, und wir weder als Christen noch als Bürger irgend eine Ursache haben, Naturalisten zu werden. Wir Christen wollen den patriotischen Schlußreim ernstlicher wiederholen, den Luther zu Ende des Katechismus gesezt hat: 1102

Ein jeder lern und thu sein Lection,
So wird es wohl in jedem Hause stohn!

Drukfehler.

[383]

Seite 272 Zeile 5 von unten 1103statt ἐνσαρκος lies:
ἐνσπαρτος.

7.

[Zusatz:]
1

Obgleich (Hr.)Herr (D.)Doctor S. Gründe mag gehabt haben, sich wider das Bahrdtische Glaubensbekenntniß zu manifestiren, und allen Verdacht, als ob er und die theologische Fakultät in Halle, die Heterodoxien desselben begünstige, durch ein öffentliches Zeugniß abzulehnen; so wird es doch wenige Kenner und [46] Verehrer seiner Talente und Verdienste geben, die nicht aus Freundschaft und Achtung für ihn wünschen sollten, daß, wenn ja auf das, was eigentlich keine Frage war, sollte geantwortet werden, die Antwort anders ausgefallen seyn möchte. Der bittere unmuthsvolle Ton womit (Hr.)Herr S. antwortet, ist äußerst befremdlich; und wer wünschte nicht mit uns eine kaltblütige ruhige Untersuchung, statt der verdrießlichen mürrischen Laune zu finden, die dem (Hrn.)Herrn (D.)Doctor S. nicht erlaubt, nur irgend eine Zeile, kaum ein Wort, noch weniger ganze Sätze in dem beantworteten Glaubensbekenntniß erträglich zu finden, sollte er auch darüber seinen bisher behaupteten Grundsätzen ungetreu widersprechen, in dem wahren Geiste seiner vormaligen Gegner eines Goetze und Piederits, alle weitere Berichtigungen und Aufklärungen des kirchlichen Lehrsystems für unnöthig, und alle dahin zielende Versuche, so viel an ihm ist, lächerlich und verhaßt machen. Wir müssen diese sonderbare Schrift näher anzeigen.

Befremdend und auffallend muß zuförderst die hier von (Hrn.)Herrn (D.)Doctor S. vorgetragene Aeußerung über Toleranz und Gewissensfreyheit, einem jeden seyn, der dieses gelehrten Mannes Schriften zur Beförderung einer freyern (liberalioris) theologischen Lehrart gelesen, dieses kühnen Theologen, der sich durch seine freye Untersuchung des Canons sogar an die in allen christlichen Partheyen heilig gehaltenen Urkunden der Religionslehre gewaget, und einige dazu gerechnete Bücher, hauptsächlich, weil sie seinem Urtheile nach, nichts zur christlichen Vollkommenheit beytragen, bestritten, wenigstens zweifelhaft gemacht hat. Ein aufmerksamer Leser der Semlerischen Schriften mag etwa die biblische Vorstellung von der Menschwerdung und dem Tode Christi, die (Hr.)Herr (D.)Doctor S. in seinen Ascetischen Vorlesungentextgrid:3rnp8 über Gal. 4, 3. 5. und über 1. Cor. 1, 31. vorträgt, für richtig erkannt, und sich daran erbauet haben, wie wird ihm aber, falls er ein Lehrer der Kirche ist, zu Muthe werden, wenn ihm (Hr.)Herr (D.)Doctor Semler nun bedeutet: ja, hierüber kannst du nach deiner Gewissensfreyheit denken, wie du es nach deiner Ueberzeugung in der Bibel findest; aber bist du einmal ein bestellter Lehrer, so kannst du dies zwar für dich denken, aber öffentlich mußt du lehren, wie die feyerlichen Lehrbücher deiner Kirche es haben wollen, sonst handelst du wider deinen Eyd und Gewissen. – Ich zweifle sehr daran, daß die in Semlerischen Schriften angemerkte und empfohlene Lehrart hiebey eines jeden Gewissen befriedigen wird. Wer kann sich auch, wenn er einmal über das andre lieset, daß ein jeder für sich denken [47] und glauben kann, was er für wahr erkennet, und daß dennoch das Ansehen der symbolischen Bücher in öffentlichen Vorträgen, so ganz ungekränkt erhalten werden müsse, daß es keinem Lehrer einmal erlaubt sey, nur Vorschläge zur weitern Berichtigung des öffentlich festgesetzten Lehrbegriffs zu thun, (denn wenn (Hr.)Herr (D.)Doctor S. dies einem Lehrer erlaubt hielte, so würde er den (Hrn.)Herrn (D.)Doctor B. nicht so hart deswegen angesehen haben) wer kann sich denn enthalten zu fragen: wozu soll in aller Welt die unverbrüchliche Beybehaltung, und der ewige Vortrag eines Religionssystems dienen, das weder der Lehrer noch irgend einer der Zuhörer verbunden oder interessirt ist, für wahr zu halten? Mögen doch diejenigen, die außerhalb der durch symbolische Bücher umzäunten Kirche kein Heil und Seeligkeit zugestehen, sich berechtigt und verpflichtet achten, für die unverletzliche Reinigkeit der festgesetzten Lehrform zu eifern; es ist wenigstens nach ihrer Einsicht, Eifer für die Wahrheit und für das Wohl der Menschen; aber wenn ein Semler, der sich selbst reichlich die Freyheit nimmt, und sie jedem andern gern gestattet von allen Kirchenlehren anzunehmen und wegzuwerfen, und überhaupt damit zu machen, was ihm das Beste dünkt, ohne daß er dabey hier oder künftig das geringste zu wagen befürchten darf, für den ewigen Werth der symbolischen Bücher und eines nach ihnen abgezirkelten Lehrvortrages eifert: so kann ihm nicht das Interesse der Wahrheit, nicht die Sorge für die Glückseligkeit seiner Nebenmenschen, sondern blos gewisse politische Betrachtungen [können] diesen Eifer eingegeben haben. Dies ist noch glimpflich geurtheilt; sonst möchte man eine nähere Ursache finden in dem Bestreben, sich so viel möglich von dem verhaßten (D.)Doctor Bahrdt zu entfernen, nachdem man nicht so glücklich gewesen, ihn durch alle Bewegungen, worinn man sich und andre gesetzt hat, von sich zu entfernen.

Daher möchte sich auch vielleicht die Heftigkeit erklären lassen, womit (Hr.)Herr (D.)Doctor S. den gewöhnlichen Lehrvortrag wider (Hrn.)Herrn (D.)Doctor B. Vorwürfe, als ob er zum Unglauben führe, und der Tugend und Gottseligkeit schade, weitläuftig, aber doch, wie mich deucht, nicht hinlänglich vertheidigt: denn er nimmt bey seiner Vertheidigung diese Lehrsätze fast immer in einem andern und gemildertern Sinn, als worinn sie vom (Hrn.)Herrn (D.)Doctor B. bestritten werden. Es ist wahr, (Hr.)Herr (D.)Doctor B. hätte seinen Tadel in gemässigtern und behutsamern Ausdrücken vorbringen sollen; indessen hat er doch offenbar immer nur auf die härteste und unschicklichste Vorstellungsart der angeschuldigten Lehrgründe Rücksicht [48] gehabt, und (Hr.)Herr (D.)Doctor S. hätte ihm dergleichen Aeußerungen so strenge nicht rügen sollen, da man in seinen Schriften auch dergleichen findet. So heißt es unter andern in der Vorrede des ersten Bandes seiner ascetischen Vorlesungen: „den meisten Streitigkeiten in der Formula Concordiae gehet es so, daß man über die Art und Weise einer Vorstellung so eifersüchtig wurde, als wenn alle Kraft und Wirkung der Sachen selbst (z. E.)zum Exempel im Abendmahle, an solche einzige Vorstellungsart und Redensart von Gott gebunden worden wäre. Diese [Mangelhaftigkeit] der Einsicht und eigenmächtige Bestimmung einer einzigen Art der Vorstellung von einer Sache, hat von jeher die leichte und unanstößige Ausbreitung und Erfahrung der christlichen Religion gehindert, und noch jetzt ist dieses die vornehmste Ursache von sehr vielem Anstoß, der endlich zur Verwerfung der ganzen Sache gereichet, weil es den Schein hat, eine Gesellschaft von Menschen wolle sich das Recht geben, die innern Vorstellungen andrer Menschen unter Vorschriften und gleichförmige Gesetze zu fassen; da doch Gott selbst dergleichen Verschiedenheit der Vorstellungen nicht nur zuläßt und duldet, sondern auch befördert und erhält.“ Noch ein Beyspiel, daß (Hr.)Herr (D.)Doctor S. sich eben solche Beschuldigungen vormals erlaubt hat, als er jetzt an seinen Gegner so sehr tadelt. So finde ich in dem Versuch einer freyern theologischen Lehrart textgrid:3rnpb (S.)Seite 454 folgenden hart genug ausgedruckten Vorwurf: „Es ist ein schändlicher Begriff, wenn man in Gott dem Vater gar nichts findet, das zur wirklichen Erlösung gehört, als die Strenge eines Richters der Rache fodert,“ (sollte dieser dem (Hrn.)Herrn (D.)Doctor S. vormals wenigstens so anstößige Begriff wohl nicht mit der Vorstellung: daß Gottes Zorn nicht anders als durch das blutige Opfer Christi gestillet werden könne, unzertrennlich zusammen hängen, und sollte nicht (Hr.)Herr (D.)Doctor B. bey seinen Einwendungen gegen die Genugthuungslehre nicht auch hauptsächlich die so gewöhnliche Entgegensetzung des Vaters und des Sohnes beym Werk der Erlösung im Sinne gehabt haben?) „und die sich kaum dazu bringen läßt, durch Christi Fürbitte in die Seligkeit der Menschen einzuwilligen; und also dem Sohn die ganze Ehre der Barmherzigkeit und Erlösung zuzuschreiben; als könnte man gar wohl sagen, er habe mehr Liebe, als der Vater.“

Es ist oben erinnert worden, daß die Vertheidigung der vom (Hrn.)Herrn (D.)Doctor B. angeschuldigten Kirchenlehren darum nicht hinlänglich und genugthuend sey, weil (Hr.)Herr (D.)Doctor S. sie nicht in [49] dem Sinn vertheidigt, worinn das Glaubensbekenntniß sie verwirft. Wir wollen einige Beyspiele davon anführen. Was (Hr.)Herr (D.)Doctor B. wider die gewöhnliche Vorstellung von [Erlösung] und Genugthuung eingewandt hatte, wird offenbar dadurch nicht abgewiesen, wenn (Hr.)Herr (D.)Doctor S. ihm entgegen setzt: ( (S.)Seite 44.) „‘Wir danken Gott, daß er einen solchen Christum bestimmt und geordnet hat, für uns eben, wozu wir ihn nöthig haben, zur Offenbahrung der rechten göttlichen Weisheit, der größten Gerechtigkeit, der innersten Heiligkeit, der allergrößten vollkommensten Erlösung, und daraus, aus dieser unsrer eignen Erfahrung und täglichen Proben entsteht in uns das wärmste Lob, der innigste Ruhm Gottes, den preisen wir nach Leib und Geist; weit gefehlet, daß diese christlichen für uns so großen Ideen uns zur Untugend und auch nur entferntesten Ungottseligkeit verleiten sollten. Wir rufen jedem zu: komme und siehe es, thue erst und vollziehe selbst in dir, für dein Bestes diesen Willen Gottes, den Christus lehret, da wirst du es aus deiner Erfahrung wissen, was du jetzt ohne Geist und inneres Leben, so kaltsinnig, so fremd, so unbekannt mit unsern Wahrheiten daher speculierest.’ Wie gesagt, diese Aeußerung trifft den (Hrn.)Herrn (D.)Doctor B. gar nicht und hebt seine Einwendungen nicht. Nicht nur er, sondern jeder Socinianer, ja jeder von irgend einer christlichen Kirchenparthey, kann dieses unterschreiben, und die Erklärungsart, die er für die schicklichste hält, dabey in Gedanken haben. Hier ist kein Wort von der Art und Weise der Genugthuung und Erlösung, wie sie in den symbolischen Lehrvorschriften vorgetragen wird, nichts vom thätigen und leidenden Gehorsam, nichts von einem stellvertretenden Verdienste und poena vicaria. – Ja es stimmt sogar diese Aeußerung mit dem beantworteten Glaubensbekenntniß überein, wenn darinn der Glaube an Christum durch Annehmung und Befolgung der Lehre Jesu beschrieben wird. Annehmung: wir danken Gott, daß er uns Christum, zur Weisheit – Gerechtigkeit – bestimmt und geordnet hat. Befolgung der Lehre Jesu: thue erst und vollziehe selbst in dir für dein Bestes, diesen Willen Gottes den Christus lehrte. – (Hr.)Herr (D.)Doctor S. sagt: „‘bringt die Ueberzeugung, die ein Mensch angenommen hat, Gott ist es, der in mir alles Gute wirket, in dem Menschen Sünde und Hinderniß der Tugend hervor? ich denke nicht.’“ Darinn hat er gewiß recht; aber diese ewige Wahrheit war es auch nicht, die (Hr.)Herr (D.)Doctor B. [bestritt], oder als nachtheilig und unschriftmäßig angab; sondern vielmehr diese [50] Ueberredung: ich kann nichts, gar nichts zu meiner Besserung thun, ich muß Gott nur stille halten, und ihn allein wirken lassen. Wird ein Mensch, der sich hiervon überredet hat, nicht natürlicherweise auch so denken: nun, ich will auch nichts thun, sondern will es erwarten, daß Gott die Besserung in mir wirke, denn ich kann ja nichts thun?

Es ließen sich selbst in dieser Widerlegung eines heterodoxen Glaubensbekenntnisses, bey allem Ansehen der Rechtgläubigkeit, das sich (Hr.)Herr (D.)Doctor S. hier als ein ehrlicher lutherischer Professor und Doctor (August.)Augustanae (Confess.)Confessionis giebt, manche Abweichungen angeben; allein der (Recens.)Recensent überläßt dergleichen gehäßige Entdeckungen den scharfsichtigen Bemerkern der Ketzereyen, um so viel lieber, da gerade die hin und wieder auch hier, so wie in allen Semlerischen Schriften vorkommende freymüthige und gelehrte Aeußerungen für ihn, und vermuthlich auch für andere das lesenswürdigste in dieser sonderbaren Schutzschrift für das kirchliche System sind. Nur über einen vom (Hrn.)Herrn (D.)Doctor S. angegebenen Endzweck derselben, müssen noch ein Paar Worte gesagt werden. (Hr.)Herr (D.)Doctor S. scheint es sich als ein Verdienst anzurechnen, daß er das Vorhaben gewisser, wie er sie nennt, viel umfassender Männer, eine Universalreligion, oder ein allgemeines Christenthum, auf Kosten der verschiedenen öffentlich festgesetzten Religionssysteme, und auf den Trümmern der verschiedenen Localkirchen aufzuführen, hier entdeckt, und nach Möglichkeit zu hintertreiben gesucht habe. Zugleich setzt er diesem allgemeinen Christenthume nichts so sehr entgegen, als daß es eine bloße Träumerey oder ein Hirngespinst, und die Einführung desselben in unserer sublunarischen Welt nicht möglich sey. Dies wollten wir ihm allenfalls gern glauben; aber alsdenn läßt sich nicht einsehen, was es so ernsthafter Anstalten gegen eine Träumerey, und gegen einen ganz unthunlichen Entwurf bedürfe. – Sollte aber das Vorhaben der viel umfassenden Männer möglich seyn, und wirklich der größte Theil derer, die über die Religion nachdenken, und es ernstlich mit derselben meinen, sich jemals über einen, das Wesentliche des Christenthums enthaltenden Religionsentwurf vereinigen können: so möchte die Voraussetzung, daß er von dem größten Theile nachdenkender und rechtschaffener Christen angenommen werde, keine so ganz schlechte Empfehlung für denselben seyn, und es ließe sich nicht wohl begreifen, wie ein so aufgeklärter Verehrer der Religionswahrheit und der Gewissensfreyheit, wie (Hr.)Herr (D.)Doctor S. unstreitig ist, sich überreden könne, daß er sich durch öffentliche [51] heftige Bestreitung eines solchen Entwurfs um Religion, Tugend und Glückseligkeit seiner Nebenmenschen werde verdient machen, da doch alle diese Bemühung nur darauf abzwecken kann, die Verschiedenheit der Kirchenverfassung, und die Mannichfaltigkeit jener Lokalsysteme, die zwar bis ans Ende der Tage öffentlich gelehrt werden sollen, aber eben nicht dürfen geglaubt werden, in der christlichen Welt aufrecht zu erhalten.

Appendix A Erläuterungen

Verweise auf Stellen im Textkorpus werden durch die Originalseitenzahl (z.B. „a10“) angezeigt, Querverweise auf andere Erläuterungen hingegen durch die Nennung der Druckseite dieser Ausgabe, ergänzt um die Sigle „E“ (z.B. „E330“).

Abkürzungen antiker Werke folgen dem Neue[n] Pauly (Bd. 1; 1996). Folgende weitere bibliographische Abkürzungen werden verwendet:

  • AA = Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff. [Akademie-Ausgabe].
  • AdB = Allgemeine deutsche Bibliothek, hg. von Friedrich Nicolai, 1765–1794.
  • BdN = Bibliothek der Neologie, hg. von Albrecht Beutel, Tübingen 2019ff.
  • BSLK = Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel, Göttingen 2014 [Seitenzahlen folgen der Erstausgabe von 1930].
  • CCL = Corpus Christianorum Series Latina, Turnhout 1953ff.
  • CR = Corpus Reformatorum, Halle 1834ff.
  • DH = Heinrich Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, hg. von Peter Hünermann, 45. Auflage, Freiburg i.Br. 2017 [Denzinger/Hünermann].
  • DK = Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz, 6. Auflage, Hildesheim 1951/1952 [Diels/Kranz].
  • PL = Patrologia Latina, hg. von Jacques-Paul Migne, 1844–1864.
  • SpKA = Johann Joachim Spalding: Kritische Ausgabe, hg. von Albrecht Beutel, Tübingen 2001–2013.
  • WA = D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883–2009 [Weimarer Ausgabe].

Appendix B Register

Das Register der Bibelstellen dokumentiert nur die von den Autoren als solche nachgewiesenen Bibelstellen. Das Personenregister folgt bei der Wiedergabe der Namen heutigen Konventionen, auch wenn die Autoren sich abweichender Schreibweise bedienen. Das Register der antiken Autoren orientiert sich ebenfalls am heute gängigen Sprachgebrauch und folgt dabei im Zweifelsfall der lateinischen Namensform.

Das Sachregister folgt nicht dem orthographischen Bestand des Textkorpus, sondern normalisiert die orthographische Varianz gemäß heute gültiger Rechtschreibung. So werden beispielsweise unter dem Registereintrag „Erkenntnis“ auch die historischen Schreibungen „Erkentnis“, „Erkentniß“ oder „Erkenntniß“ erfasst, der Eintrag „Privatreligion“ berücksichtigt auch die historischen Schreibungen „Privat-Religion“ und „privat Religion“ usw. Ausnahmen von dieser Regel werden nur bei Begriffen gemacht, die aus dem heutigen Sprachgebrauch so gut wie verschwunden sind (z.B. „Clerisey“; „Fanaticismus“; „Narrentheidung“).

Appendix B.1 Bibelstellen

Appendix B.2 Personen

Appendix B.3 Antike Autoren

Appendix B.4 Sachen

Notes
1.
Vgl. einleitend Albrecht Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium (UTB 3180), 2009.
2.
Vgl. Günter Mühlpfordt, 1740, nicht 1741. Zu Bahrdts Geburtsjahr. Irrtum oder Manipulation? (in: Gerhard Sauder / Christoph Weiß [Hg.], Carl Friedrich Bahrdt [1740–1792], 1992, 306–317).
3.
Noch 1790 sprach Bahrdt bewundernd von Crusius als dem „unleugbar [...] größte[n] Philosoph[en] seiner Zeit“ (Carl Friedrich Bahrdt, Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale, 4 Bde., 1790/91; Bd. 1, 118).
4.
AaO Bd. 1, 258–263. Bahrdt überschreibt das Kapitel mit „Meine Bekehrung, oder, Durchbruch des Lichts“ (aaO 256).
5.
Mit „Zwey Predigten von dem Zustande einer Seele, welche den Frieden Jesu genießt“ (1765), rückt Bahrdt vorübergehend gar in die Nähe des Pietismus.
6.
Bahrdts Schrift „Der Christ in der Einsamkeit“ (1763) besteht zum größten Teil aus einem kommentierten und mit Einschüben versehenen Wiederabdruck von Martin Crugots (1725–1790) gleichnamiger Erbauungsschrift aus dem Jahre 1757.
7.
Zwey Briefe an Herrn Magister Carl Friedrich Bahrdt, betreffend seinen verbesserten Christen in der Einsamkeit, 1764.
8.
Vgl. Bahrdt, Geschichte seines Lebens (s. Anm. 3), Bd. 1, 326.
9.
Vgl. [Thomas Abbt], Erfreuliche Nachricht von einem hoffentlich bald zu errichtenden protestantischen Inquisitionsgerichte und dem inzwischen in Effigie zu haltenden erwünschten Evangelisch-Lutherischen Auto da Fe, 1766, 17 u.ö..
10.
Bahrdt, Geschichte seines Lebens (s. Anm. 3), Bd. 1, 370–381.
11.
Carl Friedrich Bahrdt, Versuch eines biblischen Systems der Dogmatik, 2 Bde., 1769/70; Bd. 1, 43.
12.
AaO Bd. 1, 47.
13.
Responsum Hrn. D. Carl Friedrich Bahrdts Versuch eines biblischen Systems der Dogmatik betreffend, 1770, 27.
14.
Vgl. z.B. Degenhard Pott (Hg.), Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner, und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt, 5 Bde., 1798; Bd. 1, 50–52.
15.
Vgl. Degenhard Pott, Leben, Meynungen und Schicksale D. Carl Friedr. Bahrdts, 1790, 134f.
16.
Das Empfehlungsschreiben ist abgedruckt in: Paul Drews, Das Eindringen der Aufklärung in der Universität Gießen (Preußische Jahrbücher 130, 1907, 35–59), 42f.
17.
Vgl. etwa Johann Salomo Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen, 1760, 15f., und weitere Zitate bei Gottfried Hornig, Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 2), 1996, 3f.
18.
Semler selbst (Lebensbeschreibung, 2 Bde., 1781; Bd. 1, 125) spricht von seiner Arbeit bei der „Koburgischen Staats- und Gelerten Zeitung“; seitdem führt der fiktive Name in Semler-Biographien ein Geisterdasein.
19.
In seiner „Lebensbeschreibung“ (s. Anm. 18) führt Semler eine sinnverwirrende Anzahl an Schriften auf, die er gelesen und studiert habe. Die Menge der (häufig impliziten) Verweise auf antike, mittelalterliche, reformatorische und zeitgenössische Autoren in Semlers voluminösem Gesamtwerk ist in der Tat ehrfurchtgebietend.
20.
Zur Hermeneutik Semlers vgl. Marianne Schröter, Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 44), 2012.
21.
Semler, Lebensbeschreibung (s. Anm. 18), Bd. 1, 215f.
22.
Carl Friedrich Bahrdt, Die neusten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen, 4 Bde., 1773/74 (21777; 31783); Bd. 1, 327 (Hervorhebung durch die Herausgeber).
23.
Johann Salomo Semler, Vorrede (in: Samuel Clarke, Die Schrift-Lehre von der Dreyeinigkeit, 1774, o.S.).
24.
Johann Salomo Semler, Institutio ad doctrinam Christianum liberaliter discendam, auditorium usui destinata, 1774; Ders., Versuch einer freiern theologischen Lehrart, zur Bestätigung und Erläuterung seines lateinischen Buchs, 1777. – In diesen Dogmatiken werden u.a. die traditionelle Trinitäts- und Erbsündenlehre sowie die Dämonologie einer historischen Kritik unterzogen und die zentralen (und für den späteren Bruch mit Bahrdt wichtigen) Unterscheidungen von Theologie und Religion sowie von öffentlicher und privater Religion getroffen: Die Diskussion christologischer Theologumena ist laut Semler Sache der akademischen Theologie, für die (moralische) Religion der einzelnen Christen hingegen irrelevant. Vgl. z.B. auch Schröter, Aufklärung (s. Anm. 20), 267–329.
25.
In dem „bahnbrechenden Ursprungsdokument der historisch-kritischen Bibelwissenschaft“ (Beutel, Kirchengeschichte [s. Anm. 1], 130) rekonstruiert Semler u.a. die seines Erachtens kontingente Entstehungsgeschichte des neutestamentlichen Kanons, weist die Lehre der Verbalinspiration zurück, unterscheidet folgerichtig zwischen Textgestalt der Schrift und Offenbarung Gottes und erklärt die Bücher des Alten Testaments (mit Ausnahme der Psalmen und mancher Propheten) für heilsirrelevant. Der Kasseler Philosoph Johann Rudolph Anton Piderit (1720–1791) verklagte Semler 1776 angesichts dieser Schrift erfolglos vor dem Corpus Evangelicorum.
26.
Johann Melchior Goeze, Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers, 1775, 16.
27.
Zur Gießener Zeit vgl. Wilhelm Diehl, Beiträge zur Geschichte von Karl Friedrich Bahrdts Gießer Zeit (Archiv für Hessische Geschichte, NS 8, 1912, 199–254); Hans-Helmut Lößl, Karl Friedrich Bahrdt an den Philanthropinischen Anstalten zu Marschlins und Heidesheim (1775–1779), 1998, 74–83.
28.
Vgl. zu den Details der Zeit in Marschlins und Heidesheim die exzellente Studie von Lößl (s. Anm. 27).
29.
Vgl. Albrecht Beutel, Gotthold Ephraim Lessing und die Theologie der Aufklärung (in: Ders., Spurensicherung. Studien zur Identitätsgeschichte des Protestantismus, 2013, 147–164).
30.
Johann Salomo Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten, 1779, hg. von Dirk Fleischer (WiKri 25), 2003; darin besonders Fleischers Einführung (aaO 1–106).
31.
Einen ersten Überblick über die Fülle an Schriften und Entgegnungen vermittelt Karl Goedecke, Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, Bd. IV.1, 31916 (= ND 2011), 811–832, bes. 822f.
32.
Bahrdt, Die neusten Offenbarungen Gottes (s. Anm. 22).
33.
Vgl. Gerhard Sauder, Goethes „Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes (in: Ders. / Weiß (Hg.), Carl Friedrich Bahrdt [s. Anm. 2], 367–382). Goethe hat Bahrdt auch in seinem Faust I, 522–529, verewigt: „[...] Ich hab es öfters rühmen hören // Ein Komödiant könnt einen Pfarrer lehren. [...]“ – eine Anspielung auf Bahrdts Vorschlag, Kandidaten der Theologie von Schauspielern unterrichten zu lassen (Carl Friedrich Bahrdt, Homiletik, 1773, § 142).
34.
Vgl. Hannes Kerber, Aufklärung vor Gericht. Zum historischen Hintergrund von G.E. Lessings Anmerkungen zu einem Gutachten über die itzigen Religionsbewegungen (Germanisch-romanische Monatsschrift 68, 2018, 27–72).
35.
Erst kurz zuvor hatte der Reichshofrat Bahrdt bereits verurteilt, weil er ohne Absprache mit dem Herausgeber Friedrich Nicolai Raubdrucke aus dessen Allgemeine[r] deutsche[n] Bibliothek publiziert hatte.
36.
Vgl. Albrecht Beutel, Zensur im protestantischen Deutschland der Frühen Neuzeit (in: Hubert Wolf [Hg.], Inquisition und Buchzensur im Zeitalter der Aufklärung, 2011, 195–206).
37.
Die Rezension ist Teil einer umfangreichen Sammelrezension, die neben Bahrdts eigenen Schriften auch viele Erwiderungen besprach. Neben der AdB seien exemplarisch die in Gießen erscheinenden [N]euesten Religionsbegebenheiten genannt, die ebenso ausführlich wie tendenziös über die „Bahrdtische Sache“ berichteten: Bd. 2, 1779, 128–135. 821–876. 877–921; Bd. 3, 1780, 28–60. 127–160. 163–203. 431–474. 553–600. 819–840.
38.
Der mit Kryptonym zeichnende Verfasser der Rezension dürfte als Hermann Andreas Pistorius (1730–1795) zu identifizieren sein (vgl. Gustav Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen, 1842, 20f.).
39.
Schütz erwähnt Bahrdt in seiner Vorrede explizit, s. fVII; vgl. auch die Rezension des Werks in AdB 4.2, 1793, 523–525.
40.
Vgl. Dirk Fleischer, Was ist Religion? Johann Salomo Semlers letzte Antwort auf diese Frage (in: Johann Salomo Semler, Letztes Glaubensbekenntniß über natürliche und christliche Religion (1792), hg. von Fleischer [Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit 12], 2012, I–XXXIV).
41.
Vgl. Semler, Lebensbeschreibung (s. Anm. 18), Vorrede.
42.
Selbst sein Schüler Schütz kam nicht umhin, den oft schwerfälligen, redundanten und unpräzisen Stil Semlers zu beklagen; vgl. fIVf. Bahrdt zum selben Thema: „Ich wünsche, dass nach ihm ein Mann sich finden möge, der seine Schriften durch Umkleidung in eine verständliche Sprache der Welt genießbar macht“ ([Carl Friedrich Bahrdt], Kirchen- und Ketzer-Almanach. Zweytes Quinquennium, 1787, 175).
43.
Bahrdt, Geschichte seines Lebens (s. Anm. 3), Bd. 4, 208. Der Bahrdt durchaus kritisch gesonnene Verfasser der „Geschichte der Universität zu Halle bis zum Jahre 1805“ (1805), Johann Anton Hoffbauer, hatte die Vorlesungen selbst besucht und bezeugt nicht nur die Angaben Bahrdts, sondern berichtet auch von gebannter Stille während des Vortrags. Schade sei nur gewesen, „dass B. oft declamirte, wo ein gründliches Raisonnement an seinem rechten Orte gewesen wäre“ (aaO 363, vgl. aaO 355–364).
44.
[Carl Friedrich Bahrdt], Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781, [1780], 165.
45.
Vgl. z.B. die Rezension von Semlers Antwort auf das Bahrdtische Glaubensbekenntniß (AdB 43, 1780, 47).
46.
Vgl. Johann Gottfried Eichhorn, [Nachruf auf Semler] (Allgemeine Bibliothek der Biblischen Litteratur 5, 1793, 1–183), 177.
47.
Vgl. Karl Aner, Die Theologie der Lessingzeit, 1929, v.a. 102f. 111.
48.
Semler zeigte hier laut Hornig, Johann Salomo Semler (s. Anm. 17), 27 (unter Berufung auf Martin Ohst), eine „konservativ-pietätvolle Haltung gegenüber dem Lehrbegriff der Lutherischen Kirche“.
49.
Umso unangenehmer musste Semler freilich die Behauptung des Rezensenten der AdB sein, dass sich auch in der Erbauungsschrift „Ascetische Vorlesungen“ (1772) heterodoxes Gedankengut finden lasse.
50.
Vgl. etwa Johann Joachim Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (1772; 31791), hg. von Tobias Jersak (SpKA I/3), 2002, 104–106. 144–160.
51.
f11f. (Hervorhebungen von Semler).
52.
Vgl. hierzu vor allem f109–114 und f368–375.
53.
Semler, Vertheidigung des Königl. Edikts vom 9ten Jul. 1788 wider die freimüthigen Betrachtungen eines Ungenannten, 1788. Kritisch dazu Aner, Lessingzeit (s. Anm. 47), 107–111; Semler in Schutz nehmend: Hornig, Johann Salomo Semler (s. Anm. 17), 78–80. Zur Geschichte des Religionsedikts: Uta Wiggermann, Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts (Beiträge zur Historischen Theologie 150), 2010.
54.
[Carl Friedrich Bahrdt], Ueber Preßfreyheit und deren Gränzen. Zur Beherzigung für Regenten[,] Censoren und Schriftsteller, [1787], 78.
55.
Vgl. Ernst Christian Trapp, Sendschreiben an den Herrn Doctor Semler, 1780; ein teilweiser Abdruck des Entlassungsschreibens findet sich aaO 53. In einem Schreiben (25.10.1782) an Bahrdt hält Semler beide Entlassungsgründe für gleich wahrscheinlich (Pott, Briefe [s. Anm. 14], Bd. 3, 49–52; 51).
56.
Das hatte auch handfeste finanzielle Gründe. Bahrdt ist zeit seines Lebens beinahe ununterbrochen in Geldschwierigkeiten gewesen und auch Semler konnte seine als Direktor des Theologischen Seminars eingegangenen Verbindlichkeiten nach dem Verlust des Postens offenbar nur unter Rückgriff auf das Vermögen seiner Kinder bedienen (vgl. Pott, Briefe [s. Anm. 14], Bd. 3, 51).
57.
Vgl. z.B. Bernd Kollmann, Von der Rehabilitierung mythischen Denkens und der Wiederentdeckung Jesu als Wundertäter (in: Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen, hg. von Bernd Kollmann / Ruben Zimmermann, 2014, 3–26; 6f.). Bahrdt nahm an, dass Jesus Wunder vorgetäuscht habe, um seiner ethischen Botschaft Geltung zu verschaffen. So sei etwa der Seewandel durch im Wasser schwimmende Holzbalken, auf denen Jesus lief, zu erklären, während bei den Speisungswundern heimlich Nachschub aus einer Höhle herausgereicht worden sei.
58.
Bernard Bolzano, Lehrbuch der Religionswissenschaft, 1834, z.B. Bd. 1, 328f.; Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 1906 (91984), 79–84.
59.
Vgl. Pott, Briefe (s. Anm. 14), Bd. 2, 226f. 230f.
60.
Bahrdt, dem das Gefühl der Verlegenheit völlig fremd gewesen zu sein scheint, hatte sich in der Sache an Semler um Unterstützung gewandt, vgl. Pott, Briefe (s. Anm. 14), Bd. 3, 49–52. Semlers von Größe zeugende Antwort: „Suchen Sie nicht Professor zu werden; aber Director des Instituts wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen.“ (aaO 52); vgl. zu dem Brief auch unten.
61.
Der Brief Bahrdts ist abgedruckt in: The Germanic Review 29, 1954, 231f. Der Minister von Zedlitz schrieb ihm entnervt: „Denn fast darf vom Stallmeister bis zum Prof. ord. Mathesos oder Professor der Anatomie kein Platz offen werden, den Sie nicht forderten, und zu dem Sie sich nicht [...] durch alle meine Bekannten empfehlen lassen“ (Pott, Briefe [s. Anm. 14], Bd. 3, 54).
62.
Vgl. zu diesen Ereignissen: Carl Friedrich Bahrdt, Geschichte und Tagebuch meines Gefängnisses nebst geheimen Aufschlüssen über Deutsche Union, 1790, und Pott, Briefe (s. Anm. 14), Bd. 5.
63.
Vgl. hierzu Schröter, Aufklärung (s. Anm. 20), 26–30.
64.
Vor allem: Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären, 1788.
65.
Eine (fast) vollständige und chronologisch geordnete Liste der Veröffentlichungen Semlers bietet Hornig, Johann Salomo Semler (s. Anm. 17).
66.
Vgl. z.B. Johann Salomo Semler, Versuch eines Diariums über die Oeconomie mancher Insecten im Winter, 1782. Dass Semlers Ausflüge in die Entomologie an Qualität mit den naturphilosophischen Schriften anderer Theologen der Zeit (Lesser, Reimarus, Süßmilch, Paley u.a.) mithalten würden, lässt sich nicht behaupten.
67.
Johann Salomo Semler, Unparteiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer, 4 Bde., 1786–1788.
68.
Vgl. [Bahrdt], Kirchen- und Ketzer-Almanach, 1787 (s. Anm. 42), 175.
69.
Siehe zuerst Johann Salomo Semler, Von ächter hermetischer Arzenei, 1786. Vgl. Thomas Langebner, Über das Luftsalzwasser des Baron von Hirschen. Rekonstruktion der Karriere eines Geheimmittels (Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 30, 2014, 57–76).
70.
Zitate aus: Kirchen- und Ketzer-Almanach, [1780] (s. Anm. 44), 160. 162. 180; Kirchen- und Ketzer-Almanach, 1787 (s. Anm. 42), 175; Geschichte seines Lebens (s. Anm. 3), Bd. 4, 61.
71.
Vgl. Bahrdt, Geschichte seines Lebens (s. Anm. 3), Bd. 4, 23.
72.
AaO 120.
73.
Pott, Briefe (s. Anm. 14), Bd. 3, 52.
74.
Vgl. Bahrdt, Geschichte meines Gefängnisses (s. Anm. 62), 119–133.
75.
[Carl Friedrich Bahrdt], Ala Lama oder der König unter den Schäfern, auch ein goldner Spiegel, 1790, vgl. f258.
76.
Vgl. August Hermann Niemeyer, Johann Salomo Semler’s letzte Worte (in: Ders., Akademische Predigten und Reden, 1819, 443–448; 445). Vgl. schon Johann Salomo Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, 4 Bde., 1771–1775, wo er sich die Bezeichnung „christlicher Naturalist“ gefallen lässt (vgl. fXIX). Vgl. ferner Ders., Einige Berrachtungen [sic!] über die bisherige Streitigkeit zwischen Christen und Naturalisten (Berlinische Monatsschrift 17, 1791, 295–312), und die aaO 302f. getroffene Unterscheidung zwischen „Selbst- und Kirchenchristen“.
77.
Bahrdt erfuhr vom Tode seiner Tochter während einer Kartenpartie. Obwohl es nach übereinstimmender Meinung in seinem Leben niemanden gab, den er inniger liebte, unterbrach er das Spiel lediglich für eine Viertelstunde (vgl. Karl Gotthold Lenz, Kritische Lebensbeschreibung des D. Carl Friedrich Bahrdt, 1793, 84–86; zu Quecksilberkur und Tod Bahrdts vgl. aaO 89–94).
78.
Carl Friedrich Bahrdt, System der moralischen Religion zur endlichen Beruhigung für Zweifler und Denker, 3. Teil, 1792, 289.
79.
Vgl. Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, 2012.
80.
Vgl. Christine Haug (Hg.), Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert, 2011.
81.
Vgl. Norbert Bachleitner, Die literarische Zensur in Österreich 1751-1848, 2017, 84.
82.
Vgl. Hermann Goldhagen, Religions-Journal 3, 1778, 287–292.
83.
Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen (s. Anm. 37) 13, 1790, 580f.
1.
Das Portal ist abrufbar unter www.bdn-edition.de.
2.
Während der Erstdruck klandestin erschien und auf dem Titelblatt lediglich das Veröffentlichungsjahr „1779“ nannte, benutzt das Titelblatt des offensichtlichen Nachdrucks die gleiche Schmuckvignette und nennt im Kolophon auch Druckort und Drucker „Berlin, bey August Mylius“ (VD18 15582744).
3.
Hier gibt es einen Nachdruck aus dem Folgejahr, der wahrscheinlich aus Halle stammt (VD18 11895977).
4.
Anscheinend parallel erschien ebenfalls bei Mylius in Berlin eine weitere Ausgabe in Großoktav (22 S.), die lediglich leichte orthographische Varianzen kennt (VD18 14390752). Daneben gibt es einen Nachdruck (16 S.), der mutmaßlich in Halle erschien (VD18 90132831).
5.
Die Auflösung orientiert sich an Johann Christoph Adelung, Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie, nebst einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung, 21790.
6.
Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien, hg. von den katholischen Bischöfen Deutschlands, dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bibelgesellschaft – Evangelisches Bibelwerk, 21981, 9–11.
7.
Für die benutzte Fachliteratur sei auf die in der inhaltlichen Einleitung genannten Titel verwiesen.
1

*) Ich wil dieses einigermassen erläutern, weil manche Leser es sonst unrecht verstehen und misdeuten könten. Statt vieler andern klaren Beispiele, wil ich nur aus der volständigen 170Samlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des hochpreislichen 171Corporis Euangelicorum ( Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth) 1sten tomustextgrid:3rnnb, (S.)Seiten 706 (f.)folgende 172 Gläsnerische Processache (etc.)et cetera so viel mittheilen. 1. Schreiben an Ihro römisch-kaiserliche Majestät vom Corpore Euangelicorum sub dato den 4ten April 1750. dictatum Regenspurg den 13ten May. (Ew.)EuerEure Kaiserliche Majestät geruhen allergnädigst aus der Anfüge zu ersehen – „Nachdem nun die in ermeldetem ( (königl.)königlich preußischen und (königl.)königlich grosbritannischen) 174 pro memoria angegebene, auf die Religionsfriedensschlüsse selbst, auch Reichsverfassung sich gründende argumenta und principia, die nemlichen sind, welche das gesamte Corpus Euangelicorum von seinem ersten Anfange bis hieher unverändert fort, gegen alle anmasliche Iurisdiction derer höchsten Reichsgerichte in Evangelischen Kirchen- und geistlichen Sachen, behauptet und geheget hat; wie solches die bey diesem Corpore so vielfältig ausgefallene conclusa, und allerehrerbietigste Vorstellungsschreiben an (Ew.)EuerEure (Kaiserl.)Kaiserliche Majestät glorreicheste Vorfaren am kaiserlichen Thron, hinlänglich bewäret; solchemnach aber sämtliche höchste und hohe Evangelische Churfürsten, Fürsten und Stände, die von dem kaiserlichen Reichshofrath in sothaner Gläsenerischen unstreitigen Kirchen- und Consistorialangelegenheit sich angemassete Gerichtsbarkeit um so minder gleichgültig ansehen mögen, da hiedurch einem der edelsten Rechte evangelischer statuum in Ansehung der Iurisdictionis ecclesiasticae, welche dieselben, nach den obhandenen pactis publicis, priuatiue exerciren, offenbar zu nahe getreten worden – als ergehet an (Ew.)EureEuer (Kaiserl.)Kaiserliche Majestät, im Namen und auf Befel unserer höchsten und hohen Principalen, auch Obern und Committenten, das geziemende und respective allerunterthänigste Ersuchen, und devoteste Bitten, bey mehrermeldeten Dero Reichshofrath unter ernstlicher Verweisung des in gegenwärtiger Angelegenheit angemaßten Erkentnisses, die allergerechteste Verfügung dahin ergehen zu lassen, daß derselbe fernerhin aller cognition in disseitiger geistlichen und Kirchensachen, ohne Ausnahme und schlechterdings sich zu enthalten habe. Da übrigens zu sorgfältigster Verwahrung derer hierunter unsern höchsten und hohen Herren Principalen, Obern und Committenten zustehenden Befugnisse, wir noch diese Declaration hier allerehrerbietigst beifügen sollen, wie man evangelischer Seits, des kaiserlichen Reichshofraths Iurisdiction in ecclesiasticis nimmermehr erkennen, weniger die Execution derer in solcherley Fällen incompetenter ergangenen Iudicatorum, geschehen lassen könne noch werde; vielmehr alle von daher erfolgende derley Erkentnisse, als mit der Reichsverfassung incompatible, mithin von keinen Kräften zu seyn und für nicht ertheilet zu halten, anzusehen sich gemüßiget finde.[“]

Da nun in diesem Falle, worin sich der (Hr.)Herr Verfasser dieses Bekäntnisses befindet, noch dazu nicht einmal Appellationen von ihm an den kaiserlichen Reichshofrath gebracht worden, wie doch damalen (D.)Doctor Gläsener gethan: so hatte er noch weniger Ursache einem solchen Befel zu Folge dergleichen Bekentnis von sich zu geben, und konte seiner Obrigkeit, und den protestantischen höchsten und hohen Reichsständen es ruhig überlassen; wenn er nicht selbst etwa diese Gelegenheit, zu einer lang gehegten Absicht, sogleich gebrauchen wollen.

1
In: D. Joh. Sal. Semlers theologische Briefe. Erste Samlung. Leipzig, in der Weygandschen Buchhandlung. 1781, S. 109–182.
1
*) In der Schrift: 699 Ueber das Recht protestantischer Fürsten unabänderliche Lehrvorschriften festzusetzen und über solchen zu halten. Jena 1788.textgrid:3rnrn
1
In: Allgemeine deutsche Bibliothek 43 (1780), S. 45–51.
Notes
1
1779

Bezeichnenderweise nennt der Druck nur das Erscheinungsjahr, aber weder Druckort noch Drucker. Dennoch war es unter den Zeitgenossen ein offenes Geheimnis, dass dieser Druck aus Berlin stammte. Ein weiterer Druck, der seiten- und umbruchidentisch ist und sich lediglich in einigen Graphemen unterscheidet, erschien mit der eindeutigeren Angabe „Berlin bey August Mylius, 1779“. Zu Mylius vgl. 456.

2
Se. Römisch-Kaiserliche auch in Germanien und zu Jerusalem Königl. Majestät

Joseph II. (1741–1790) aus dem Haus Habsburg-Lothringen war von 1765 an Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Wie alle seine Vorgänger seit dem Hochmittelalter führte er auch den Titel „König von Jerusalem“. Joseph II. gilt als Vertreter eines aufgeklärten Absolutismus. Weitreichende Reformen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche (Josephinismus) sowie eine größere Toleranz gegenüber anderen Religionen und Konfessionen (Toleranzpatent, 1781) setzte er vor allem nach dem Tod seiner Mutter Maria Theresia von Österreich (1717–1780) durch.

3
höchstvenerirlichen Reichshofrathsconclusi vom 27. Merz 1779

Der Reichshofrat war neben dem Reichskammergericht höchstes Gericht im Alten Reich, wobei der Reichshofrat im besonderen Maße für die Aufsicht über das Schrift- und Druckwesen zuständig war. Das Reichshofratsconclusum vom 27. März 1779 war der zweite der beiden Beschlüsse zum Fall Bahrdt. Er lag zeitgenössisch im Wortlaut im Druck vor (etwa in Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1779, 821–828) und wurde vielfach kommentiert, z.B. in der ausführlichen Sammelrezension der Allgemeine[n] deutsche[n] Bibliothek 43 (1780), 41–44.

1
Herr Herr!

Zu der Gepflogenheit, bei Schreiben an höhergestellte Minister oder Regenten die Anrede „Herr“ zu verdoppeln, vgl. etwa die dringende Empfehlung in Johann Alphons de Lugos Sistematische[m] Handbuch für Jedermann, der Geschäftsaufsätze zu entwerfen hat, Erster Theil für Privatpersonen (³1784), 260.

2
Reichsbüchercommisarius von Scheben

Der Wormser Weihbischof Franz Xaver Anton Freiherr von Scheben (1711–1779) wurde 1765 Kaiserlicher Bücherkommissar in Frankfurt. Er stand der kaiserlichen Bücherkommission vor, die seit dem 16. Jh. die Aufsicht und weltliche Zensur über den Buchmarkt, besonders im Umfeld der Frankfurter Buchmesse, umsetzen sollte. Scheben war ab 1767 zudem Apostolischer Bücherkommissar und somit auch mit der römischen Buchzensur betraut. Das Reichshofratsconclusum vom 27. März 1779 rügte explizit das fehlende Einschreiten der Frankfurter Bücherkommission und setzte sie gleichzeitig als Adressat der von Bahrdt geforderten Erklärung ein.

3
meiner Übersetzung [...] unter dem Titel: die neusten Offenbahrungen Gottes

Bahrdt veröffentlichte zwischen 1773 und 1774 in vier Teilen eine Übersetzung des Neuen Testaments unter dem Titel Die neusten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen, Riga bey Johann Friedrich Hartknoch. Eine zweite Ausgabe (Die neusten Offenbarungen Gottes) in zwei Bänden erschien 1777 in Frankenthal bey Ludwig Bernhard Friedrich Gegel (1731–1788), später sogar noch eine dritte Ausgabe (Das Neue Testament oder die neuesten Belehrungen Gottes durch Jesum und seine Apostel) 1783 in Berlin bei August Mylius, außerdem ein von Johann Friedrich Kleuker (1749–1827) anonym herausgegebener, berichtigter und ausführlich kommentierter Nachdruck der zweiten Auflage (Die lezten Offenbarungen Gottes das ist die Schriften des Neuen Testaments) 1780/81 in Frankfurt und Leipzig.

4
Anklage [...] vom 4ten Februar 1778

Am 4. Februar 1778 war ein erstes Reichshofratsconclusum erschienen, welches das Verfahren und erste Maßnahmen gegen Bahrdt einleitete. Ein Abdruck findet sich etwa im Frankfurter Staats-Ristretto, Nr. 33 (27.2.1778), 133f., sowie in den [N]euesten Religionsbegebenheiten 2 (1779), 128–131.

5
Sr. Churfürstl. Durchlaucht zu Pfalz

Gemeint ist Karl Theodor von Pfalz-Sulzbach (1724–1799), seit 1742 Pfalzgraf und Kurfürst von der Pfalz und seit 1777 auch Kurfürst von Bayern. Er ist hier als Kurfürst von der Pfalz angesprochen, weil Bahrdts inkriminiertes Buch Die neusten Offenbarungen Gottes in der zweiten Auflage von 1777 im pfälzischen Frankenthal gedruckt worden war. Entgegen der reichsrechtlich immer wieder geforderten Pflicht hatte der Drucker Gegel kein kaiserliches Druckprivileg erworben, das im Gegenzug eine weltliche Präventivzensur zur Folge gehabt hätte. Die Erteilung des Druckprivilegs und die Ahndung von diesbezüglichen Verstößen oblag dem Reichshofrat. Die Bestrafung des Druckers überließ der Reichshofrat dem Kurfürsten, mahnte aber eine Benachrichtigung darüber an.

6
Einziehung der noch vorfindlichen Exemplarien

Im Reichshofratsconclusum vom 4. Februar 1778 werden explizit der pfälzische Kurfürst sowie Bahrdts Landesherr, der Reichsgraf zu Leiningen-Heidesheim, aufgefordert, „alle in seinem Gebieth antreffende Exemplaria dieses Buchs einsweilen auf die Seite zu schaffen, und in Verwahrung zu halten“ (Frankfurter Staats-Ristretto, 33. St., 27.2.1778, 133). Bahrdt selbst gab daraufhin noch in Heidesheim in dem von ihm herausgegebenen Litterarische[n] Correspondenz- und Intelligenzblatt süffisant die Verbote seines Buches in Worms, Speyer und Frankfurt bekannt.

7
Einholung theologischer Gutachten von Göttingen und Würzburg

Der Reichshofrat hatte in seinem Conclusum vom 4. Februar 1778 zwei theologische Fakultäten zur Beurteilung von Bahrdts Bibelübertragung (Die neusten Offenbarungen Gottes) aufgerufen. Die zwei Gutachten aus dem lutherischen Göttingen und dem katholischen Würzburg lagen 1779 im Druck vor (Berlin und Leipzig bey George Jacob Decker) und wurden in den zeitgenössischen Rezensionen lebhaft diskutiert.

8
einstweilige Amtssuspension [...] zu verordnen

Der Reichshofrat wies Bahrdts Landesherrn, den Reichsgrafen zu Leiningen-Heidesheim, bereits im ersten Beschluss vom 4. Februar 1778 an, ihm vorsorglich „das Bücherschreiben, Lehren und Predigen“ (Frankfurter Staats-Ristretto, 33. St., 27.2.1778, 133) zu untersagen. Das Finalconclusum vom 27. März 1779 bekräftigte diesen Befehl ausdrücklich „ein für allemal bey Vermeidung schärferer Strafe“.

9
der mit den Episcopal gerechtsamen versehene protestantische Reichsgraf von Leiningen Dagsburg

Carl Friedrich Wilhelm von Leiningen-Dagsburg-Falkenburg (1724–1807), ab 1779 erster Fürst zu Leiningen, fungierte in seinem Territorium als „Notbischof“ der lutherischen Kirche. Ihm unterstand somit die Aufsicht über Kirchenangelegenheiten und er war direkter Dienstherr von Bahrdt, der seit 1776 Superintendent in der leiningischen Residenz Dürkheim an der Haardt war.

10
meine Gemeine [...] flehentlich gebeten hatte

Die Gemeinde im pfälzischen Dürkheim, deren Superintendent Bahrdt seit Juli 1776 war, hatte eine Supplik (lat. supplicium; „flehentliche Bitte“) an den Kaiser gerichtet. Der genaue Wortlaut ist nicht bekannt, vgl. aber Bahrdt, Geschichte seines Lebens III (1791), 385.

11
sub poena einer gänzlichen Verweisung aus den Gränzen des H. R. Reichs

Das Reichshofratsconclusum vom 27. März 1779 drohte bei Ungehorsam (lat. contumacia) die Reichsacht an. Dieses „Contumax-Acht“ genannte Zwangsmittel benutzte der Reichshofrat weiterhin, obwohl die Reichsacht bereits im Jüngsten Reichsabschied (1654) offiziell abgeschafft worden war.

12
eine über meine wahren [...] in termino duorum mensium

Hier paraphrasiert Bahrdt das Reichshofratsconclusum vom 27. März 1779 fast wörtlich, unterschlägt allerdings den dort explizit genannten Befehl, seine Druckschrift vorab der kaiserlichen Bücherkommission zur Einsicht, d.h. zur Präventivzensur, vorzulegen. Der Reichshofrat setzte für die Einreichung der Druckschrift die gängige Frist von zwei Monaten.

13
meiner Gattinn und vier kleinen unerzognen Kindern

Bahrdt war seit 1769 mit Johanna Elisabetha Kühn (1746/47–1793) verheiratet, der Witwe des sächsischen Regierungssekretärs Christian Wilhelm Kühn und Tochter des Konsistorialrats und Superintendenten Christian Wilhelm Volland (1682–1757) aus Mühlhausen (Thüringen). Aus der Ehe gingen acht Kinder hervor, von denen vier (drei Jungen und ein Mädchen) binnen weniger Tage oder Wochen nach der Geburt starben. Zur Abfassungszeit des Glaubensbekenntniß lebten vier Töchter. Namentlich bekannt sind die älteste Tochter Johanna Christiana („Hanchen“; 1773–1791), Christel, sowie die jüngste Tochter „Dorchen“ (gest. 1779, nachdem die Eltern das todkranke Kind in Heidesheim zurückgelassen hatten). Daneben hatte Bahrdt mindestens fünf (vermutlich aber mehr) uneheliche Kinder: davon drei – Johanne Caroline (1789–1835), Erdmann Hannibal (1791–1792) und ein weiteres namentlich nicht bekanntes – mit der Magd Christina Klarius (Christine Klar) in Nietleben, Zwillingsmädchen (geboren 1778) mit einer Magd aus Heidesheim sowie wahrscheinlich ein Kind (geboren 1768) mit einer Prostituierten in Leipzig. – Bahrdt erwähnt seine (ehelichen) Kinder recht selten. Wenn er es tut, spricht er aber mit Wärme von ihnen. Insbesondere seine älteste Tochter scheint er innig geliebt zu haben. Als Bahrdt seine Ehe im zweiten und dritten Teil seiner Autobiographie (1790/91) in schwarzen Farben malte und als von Beginn an unglücklich beschrieb, replizierte Bahrdts Schwager – Georg Gottfried Volland, Beiträge und Erläuterungen zu Herrn Doctor Carl Friedrich Bahrdts Lebensbeschreibung die er selbst verfertiget (1791) – mit einer Ehrenrettung seiner Schwester: Bahrdt habe aus Liebe geheiratet (16) und mit seiner Frau vor der Nietlebener Zeit „sehr vergnügt gelebet“ (6), bis er sie schließlich einer „nichtswürdigen Hure [Christina Klarius]“ (5) aufopferte und verstieß.

14
Schlosse Heidesheim

Das Schloss Heidesheim, auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde Obrigheim (Pfalz), beheimatete das von Bahrdt während seiner Dürkheimer Superintendentur (s. 103) ins Leben gerufene und geleitete reformpädagogische Philanthropinum, das im Mai 1777 den Lehrbetrieb aufgenommen hatte. Die erste und berühmteste Schule dieser Art war 1774 von Johann Bernhard Basedow (1724–1790) in Dessau gegründet worden. Bahrdt selbst hatte bereits von Juni 1775 bis Juni 1776 dem Philanthropinum in Marschlins (Graubünden) als Direktor vorgestanden. Dort verfasste er auch einen neuartigen Philanthropinische[n] Erziehungsplan oder vollständige Nachricht von dem ersten wirklichen Philanthropin zu Marschlins (1776; ²1777). – Die Neugründung in Heidesheim entpuppte sich spätestens mit dem finanziellen Rückzug des Reichsgrafen von Leiningen-Dagsburg (vgl. 102) als wirtschaftliches Desaster. Nach Bahrdts „Weggang“ (vgl. 108) wurde die Schule geschlossen, sein zurückgelassener Besitz versteigert, ein Großteil der Schulden jedoch nie beglichen, vgl. 447. Das Schloss wurde 1794 schließlich von französischen Revolutionstruppen niedergebrannt.

15
in ein ander Land gezogen

Das Glaubensbekenntniß wurde zwar in Heidesheim geschrieben, allerdings war Bahrdts Weggang zur Abfassungszeit bereits beschlossene Sache. Nach einer abenteuerlichen Flucht vor seinen Gläubigern erreichte er am 27. Mai 1779 Preußen und ließ sich mit seiner Familie in Halle (Saale) nieder. Während Bahrdt seine Ankunft auf den Folgetag datiert (Geschichte seines Lebens IV, 1791, 17), notieren die Hallenser Universitätsakten den 27. Mai (Archiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Rep. 3, Nr. 272, fol. 1). Am 27. Mai 1779 endete die vom Reichshofrat verhängte Frist für Bahrdts Stellungnahme und drohte eine direkte Verhaftung.

16
in meinen zeitherigen Schriften

Bahrdt war ein Vielschreiber, für den Einnahmen aus Publikationen eine wichtige Rolle bei der Bestreitung des Lebensunterhalts spielten. Sein Werk umfasst über 100 selbstständige Schriften (knapp die Hälfte lag zum Abfassungszeitraum vor). Thematisch betreffen sie sämtliche theologische Disziplinen, darüber hinaus vor allem politische Philosophie und Pädagogik. Die Genres reichen von klassischen Abhandlungen und Streitschriften über Predigten, Jahrbücher, Texteditionen, Übersetzungen, autobiographische Werke etc. bis hin zu Lustspielen und Romanen. Zu Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn orientierte sich Bahrdt noch an der lutherischen Orthodoxie. Erst mit Beginn der 1770er Jahre löste er sich von ihr. In diese Periode fallen die inkriminierten Schriften (vgl. 96 und 115).

17
um der Schwachen zu schonen

Gängiger Topos, gemäß dem man in Dingen, die nicht das Wesen der Religion angehen (Adiaphora), den intellektuell oder motivational „Schwachen“ ihre (abergläubischen) Meinungen und Praktiken lassen soll. Biblische Bestätigung hierfür fand man vor allem in den paulinischen Bemerkungen zum Streit um Speisegebote; vgl. Röm 14,1–23; 1Kor 8,13. Bahrdt benutzt obige Formulierung explizit in seinen [N]eusten Offenbarungen (s. 96) für Apg 20,35.

18
übereilte Bekanntmachung

Während Bahrdt sich hier gerade gegen Übereilung ausspricht, wird Semler ihm genau eine solche vorwerfen (vgl. b25. 30. 62. 81) und Bahrdt sich wiederum (vgl. e5. 6. 10) von diesem Vorwurf distanzieren. Vgl. aber auch Bahrdt, Geschichte seines Lebens IV, 1791, 70.

19
Unter diese Lehrsätze

Während das Reichshofratsconclusum vom 27. März 1779 ein Bekenntnis von Bahrdt zur Christologie (Art. 5 des Glaubensbekenntniß[es]) und Trinitätslehre (Pneumatologie Art. 4 und Christologie Art. 5) eingefordert hatte, behandeln die nur wenig systematisch geordneten zehn Artikel seines Glaubensbekenntniß[es] auch weitere Punkte: Sünden- und Gnadenlehre (Art. 1–3), Erlösungslehre (Art. 6–7), Lehre von Engeln und vom Teufel (Art. 8), Lehre von der Heiligen Schrift (Art. 9) und Ekklesiologie (Art. 10).

20
im Athanasianischen Sinn

Anspielung auf die großen theologischen Kontroversen des 4. Jh.s, aus denen Athanasius von Alexandrien (299?–373) als Sieger hervorging. Auf dem ersten Konzil von Nicäa (325) hatte sich die Konzeption der Trinitätslehre durchsetzen können, die man im bis heute für alle großen Kirchen verbindlichen nicäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis wiederfindet. Diese Konzeption wird mit dem Namen des Athanasius assoziiert, der sie im Nachgang des Konzils wirkmächtig interpretierte und verteidigte.

21
Augustanae confessionis

Gemeint ist das Augsburger Bekenntnis, eine ursprünglich von Kurfürst Johann von Sachsen (1468–1532) in Auftrag gegebene Erwiderung an Kaiser Karl V. (1500–1558) auf dem Augsburger Reichstag 1530. Weitere evangelisch gesinnte Reichsfürsten schlossen sich an, sodass das Augsburger Bekenntnis schnell die wichtigste Bekenntnisschrift des lutherischen Protestantismus werden konnte. Seit dem Augsburger Religionsfrieden (1555) und dem Westfälischen Frieden (1648) bildete es die Grundlage für die Anerkennung der Evangelischen im Reich.

22
Predigten über die Person und das Amt Jesu

Gemeint ist Die Lehre von der Person und dem Amte unsers Erlösers in Predigten rein biblisch vorgetragen (1775). Bahrdt legt in seinem an den Gießener Professorenkollegen und Intimfeind Johann Hermann Benner (1699–1782) adressierten unpaginierten Vorwort [11]–[20] Wert darauf, dass das Buch „in der Hauptsache mit den wesentlichen Lehrsätzen unserer Kirche [...] übereinstimmend“ [15] sei. Diese Einschätzung hinderte den Bücherkommissar von Scheben (vgl. 95) freilich nicht, die Vorwürfe gegen Bahrdt auf besagte Schrift auszudehnen, vermutlich weil er sie mit der weit anstößigeren Predigtsammlung von 1772 (Predigten) verwechselte. Vgl. dazu Bahrdts Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781 [1780], 204–206.

23
Volksunterricht

Dass man metaphysische Streitigkeiten, etwa über Details der Trinitäts-, Zweinaturen- oder Satisfaktionslehre, der akademischen Auseinandersetzung vorbehalten und in Predigten oder Erbauungsschriften nach Möglichkeit zugunsten des moralischen und soteriologischen Kerns des Christentums aussparen sollte, war unter Neologen Allgemeingut. Vgl. etwa Johann Joachim Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (1772; ³1791), SpKA I/3, 104–106; 144–160.

24
Systemsreligion [...] der reinen Christusreligion

Die terminologische Gegenüberstellung von (mit spekulativen Annahmen befrachteter) offizieller „Systemsreligion“ und (auf Bibel und gesundem Menschenverstand gegründeter) „reiner Christusreligion“ scheint Bahrdts Erfindung zu sein (vgl. b34), der Sache nach war die Unterscheidung aber unter Aufklärungstheologen gängig (vgl. 123).

25
die Welt

Semler verbessert in seinem Zitat dieser Stelle stillschweigend zu „der Welt“, s. b38.

26
überall einreissenden Unglaubens

Die Klage über angeblich „einreissenden Unglauben“ war ein Topos (nicht nur) der Aufklärungszeit. Tatsächlich wurden explizit atheistische Positionen im 17. und 18. Jh. jedoch nur selten vertreten (u.a. von Knutzen, Łyszczyński, de La Mettrie, d’Holbach). Häufiger anzutreffen war eine deistisch, spinozistisch, später auch kantisch begründete Kritik am Christentum.

27
Schaden

Semler verbessert in seinem Zitat dieser Stelle stillschweigend zu „schaden“, s. b48.

28
Vergebung der Sünden [...] ihm schenke, nicht, wegen seiner Besserung und Tugend, sondern wegen eines [...] Menschenopfers [...]; so ists unmöglich, daß ächte Reue über die Sünde und Abneigung gegen Laster entstehen kann

Vgl. hierzu ausführlicher Bahrdts anonym erschienene Apologie der Vernunft durch Gründe der Schrift unterstüzt, in Bezug auf die christliche Versöhnungslehre (1781), Kap. XI („Die Versöhnungslehre des Systems bewirkt weder Besserung noch Beruhigung der Menschen, sie schadet vielmehr“), 194–207.

29
sehr weit hinter einen auch nur gemeinen Heiden stehen

Vgl. 132 und 163.

30
unübersehligen Wust der Systemsreligion

Vgl. die augenfällige Parallele zu einer Formulierung aus der nur ein Jahr zuvor erschienenen Schrift Gotthilf Samuel Steinbarts (1738–1809), System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums (1778; 41794, BdN VIII), 4: „Wir haben daher noch in dem herrschenden Kirchensysteme den ganzen Wust menschlicher Hypothesen, welche [...] aus mißverstandenen Theorien [...] mit dem Christenthum vermischt worden sind.“ In e16 bezieht sich Bahrdt explizit auf Steinbarts Buch, vgl. auch 156.

31
Kefisch oder Paulisch oder Papisch oder Calvinisch oder Luthrisch

Anspielung auf 1Kor 1,12 sowie 3,5. Die paulinische Mahnung zur Einheit wird hier auf die drei reichsrechtlich geduldeten christlichen Konfessionen übertragen. Vgl. auch Bahrdts eigene Übersetzung der Bibelverse in Die neusten Offenbarungen Gottes III (1773), 105 u. 113.

32
andre Erziehungsmethode

Wichtigstes Prinzip der originellen Pädagogik, die Bahrdt in seinem Philanthropinische[n] Erziehungsplan (vgl. 107) umreißt, ist die Erziehung zur Fröhlichkeit. Fröhlichkeit ist ihm nicht weniger als „das Ebenbild Gottes, zu welchem wir erneuert werden sollen“ (25), „Erzeugerin“ der Tugend (31), „eigentliche Bestimmung des Menschen“ (26). Fröhlich wird, wer „die seltene Kunst versteh[t], die Welt zu genießen“ (30). „Lasset uns [...] fröliche Menschen machen, damit wir auch arbeitsame, willige, folgsame, gesellige, Gott ergebne – tugendhafte Menschen aus ihnen machen mögen.“ (36) Vgl. Bahrdt, Ueber den Zwek der Erziehung, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens I (1785), 3–124, wo er von „Vergnügen aus Thätigkeit“ (17), „Heiterkeit“ (37), „Bildung zur Liebe“ (50), mit der der Mensch „in der Vorstellung der von ihm bewirkten Freude und Zufriedenheit Andrer seine eigene und höchste Freude finden lerne“ (48), als Zweck der Erziehung spricht.

33
Wort Gnade, welches die meisten Lehrer der Kirche bisher gemisdeutet haben

Die Gnadenlehre stellt eine der großen Herausforderungen christlicher Theologie dar. Die unterschiedliche Beurteilung des Miteinanders von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit durchzieht die gesamte Theologiegeschichte und spaltete selbst konfessionelle Lager, so etwa in den unterschiedlichen Ausprägungen des Protestantismus sowie im katholischen Gnadenstreit (vgl. 346).

34
aus blosser Gnade [...] Vergebung der Sünde und ewige Seeligkeit um Christi willen

Seine im Glaubensbekenntniß skizzierte (pelagianische) Gnaden- und Versöhnungslehre hat Bahrdt ausführlicher in der Apologie der Vernunft (vgl. 121) vorgetragen, vgl. v.a. 116–167: Göttliche Begnadigung setze moralische Besserung auf Seiten des Menschen voraus. Eine solche moralische Besserung wurde durch Jesu Unterricht, Beispiel, Beglaubigung in Leiden und Tod etc. angestoßen oder „begründet“. Insofern, und nur insofern, könne man sagen, dass uns um Christi willen vergeben wird.

35
πνευμα αγιων

Der Heilige Geist. Semler hat in seiner Antwort (s. b80) das Griechisch stillschweigend von αγιων zu ἁγιον verbessert.

36
nach Athanasius Vorstellungsart [...] oder nach Arius oder Sabellius

Athanasius (gest. 373), Arius und Sabellius (3. Jahrhundert) gelten als Hauptvertreter und Pole unterschiedlicher theologischer Konzeptionen der Trinitätslehre. Während Athanasius in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des 1. Konzils von Nicäa (325) die Wesensgleichheit Christi mit Gottvater, bei gleichzeitiger personaler Verschiedenheit, betonte, sahen Arius und Sabellius durch die Annahme von drei Hypostasen (Gottvater, Sohn, Hl. Geist) den christlichen Monotheismus bedroht. Arius lehnte die Wesensgleichheit ab und lehrte eine Subordination des Sohnes, der von Gottvater aus dem Nichts gezeugt worden sei. Die Anhänger des Sabellius schlugen den entgegengesetzten Weg ein und hoben die Verschiedenheit auf, indem sie annahmen, die Redeweise von drei Personen spiegle lediglich unterschiedliche Erscheinungsformen oder Seinweisen der einen Gottheit.

37
Joh. 10 [...] προς ους ο λογος θεου εγενετο

Joh 10, 35: „an die das Wort Gottes erging“.

38
(ον ο πατηρ ηγιασε) da mich der Vater so ganz besonders ausgezeichnet hat

Joh 10, 36.

39
Nichtchristen

Ob Menschen (und evtl. auch Bewohner fremder Planeten), die nie von Christus gehört, geschweige denn seiner Kirche angehört haben, zu vollkommener Besserung (Heiligung; s. a14) und Seligkeit fähig sind, war ein viel diskutiertes Thema der Zeit. Calvin etwa (Institutio, IV, 1, 4) hatte eine solche Möglichkeit genauso verneint wie die vorreformatorische Kirche (z.B. während des Konzils von Ferrara/Florenz, 1438–45). Für Bahrdt (Apologie der Vernunft [vgl. 121], 161–163) ist hingegen klar, dass Menschen immer und überall einen „bessernden Messias“ haben, „obgleich nicht in Person“. Denn sie haben „den λογος θεου, der zu allen Zeiten alle Menschen erleuchtete – die Vernunft.“ Erlösung und Seligkeit sind für die gesamte Menschheit bestimmt, auch wenn die Bibel nichts über die besondere Art der Erlösung von Personen lehrt, die vor Christus lebten oder nie von ihm erfuhren. Vgl. 163 und 391.

40
daß dieser Glaube in einer Ergreifung und Zueignung des Verdienstes Christi bestehe

Eine unter lutherischen Autoren der Zeit verbreitete, formelhafte Charakterisierung des christlichen Glaubens, welche in Artikel 20 der Confessio Augustana (1530) wurzelt. Vgl. z.B. Peter Ahlwardt: Gründliche Betrachtungen über die Augspurgische Confession, 5. Teil (20. Betrachtung; 1746), 396: „Das Wesen des seeligmachenden Glaubens besteht in der Ergreiffung und Zueignung des Verdienstes JEsu und der göttlichen Gnaden-Verheißungen“. Oder Christian Thomasius: Ernsthaffte, aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand auserlesene Juristische Händel IV (1725), 44f.: „Dieses ist leicht zu erkennen, wenn man erweget, daß der rechte Glaube [...] JEsum Christum ergreiffet und ihn dem Menschen, in welchen er ist, appliciret oder zueignet [...]. Wo die Ergreiffung und Zueignung JEsu Christi ist, da ist auch die thätige Ubung durch Liebe und andere Tugenden gegen GOtt und den Nechsten [...]“. Zu diesem Modell des Glaubens und zur neologischen Abkehr von ihm vgl. ausführlich zu Propst Teller 671.

41
ich bin ein eifriger Gott [...] tausende Glied

Anspielung auf Ex 20, 5–6.

42
Gott alle in diesen Schriften enthaltene Worte eingegeben habe

Die Lehre der Verbalinspiration, nach der die Bibel im Wortlaut von Gott den menschlichen Schreibern eingegeben (vgl. 2Tim 3,16) oder „diktiert“ worden sei, wurde von Vertretern der lutherischen Orthodoxie (u.a. Gerhard, Buxtorf d. J., Quenstedt, Hollaz) verfochten. Vorbilder lassen sich bereits bei den Kirchenvätern finden (Hieronymus, Augustinus u.a.). Die meisten Aufklärungstheologen lehnten die Lehre ab, so auch Semler in seiner Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 115–117; s. außerdem e18.

43
den großen Haufen der Geistlichkeit {plurima vota}

Bahrdt will hier darauf hinaus, dass in den Kirchen die Mehrheitsmeinung der Theologen zähle („plurima vota valent“), nicht bessere Einsicht. Vgl. Johann Konrad Dippel (s. 188), Eröffneter Weg zum Frieden III (1747), 139f.: „man kan hiebey sehen, daß der heutige Separatismus (oder Trennung von dem gewöhnlichen GOttes-Dienst) eben so alte Vorgänger hat, als der Kirchismus und Sacramentismus der heutigen Orthodoxen, (wir müssen auch anfangen neue Ismos zu machen) nur hat er damals noch nicht die plurima Vota (meiste Stimmen) gehabt, um den Titul der Orthodoxie zu erlangen; [...] so lange der Abfall von dem lebendigen GOtt noch währet, und der Bösen, Narren und Blinden Anzahl grösser ist, als der Guten und Sehenden, auch allezeit die plurima Vota für den Irrthum schließen, und folglich der Irrthum selbst Orthodoxia heissen werde. Also muß man die wahre Kirche und die Wahrheit selbst nie unter dem Hauffen, der das Dominium (die Herrschaft) hat, oder orthodox ist, suchen, sondern unter einem suspecten (verdächtigen) und verworffenen Namen eines Ketzers“.

44
Protestantismus, welcher im deutschen Reich mit dem Catholicismus gleiche Herrschaft und Rechte behauptet

Durch den Augsburger Religionsfrieden (1555) erhielten die weltlichen Reichsstände in ihrem jeweiligen Territorium das Recht, die Reformation sowie ein eigenes Kirchenwesen einzuführen (ius reformandi und ius circa sacra). Die Untertanen erhielten zudem ein Emigrationsrecht aus Glaubensgründen (ius emigrandi). Diese pragmatische Lösung befriedete den schwelenden Religionskonflikt und schuf den Anhängern des Augsburger Bekenntnisses (1530) reichsrechtliche Anerkennung.

45
alles zu prüfen, und nur das zu behalten

Anspielung auf 1Thess 5,21. Die in dieser Wendung zum Ausdruck kommende (und eng mit dem Prinzip des Selbstdenkens verbundene) Eklektik wurde häufig als Kennzeichen der Aufklärung angesehen. Spalding, Nutzbarkeit des Predigtamtes (vgl. erl_a_1_23), spricht von einer „heilige[n] unverletzliche[n] Vorschrift“ (219).

46
allgemeine Verbrüderung aller Religionspartheyen

Gemeint ist eine friedliche Wiedervereinigung der getrennten christlichen Konfessionen, wie sie seit der Reformation von unterschiedlichen Irenikern gefordert worden war.

47
Rechte der Menschheit

Es ist nicht ganz klar, ob und ggf. durch wen (Locke, G. F. Meier, Rousseau, Wieland) die Redeweise von „Rechten der Menschheit“ hier beeinflusst ist. Bahrdt sollte in den folgenden Jahren der Presse- und Religionsfreiheit eigene radikale Schriften widmen, die weit über die Forderungen der meisten Aufklärer hinausgingen, an erster Stelle: Ueber Preßfreyheit und deren Gränzen. Zur Beherzigung für Regenten[,] Censoren und Schriftsteller (anonym; 1787). Zwei Kostproben: „Freyheit zu denken und zu urtheilen, unabhängig von Autorität, [...] ist das heiligste, wichtigste unverletzlichste Recht der Menschheit“ (38f.); „Ich behaupte: das Recht, über Religion seine Gedanken mitzutheilen, darf gar nicht eingeschränkt werden, weil es keinen Fall gibt, wo der Gebrauch desselben dem Staate oder den Rechten einzeler Menschen einen wirklichen Schaden thun könnte“ (78).

48
Zuziehung der Stände des Reichs

Gemeint ist die Herrschaftsteilhabe derjenigen Personen und Korporationen des Alten Reichs, die Sitz und Stimme am Reichstag besaßen.

1
Hemmerdeschen Buchhandlung

Carl Hermann Hemmerde (1708–1782) übernahm 1737 die Verlagsbuchhandlung seines Schwiegervaters Johann Georg Klemm (1666–1737). Hemmerde verlegte neben Semler auch andere wichtige Theologen der Halleschen Fakultät. Ab 1788 wurde Carl August Schwetschke (1756–1839) Mitbesitzer der Verlagsbuchhandlung, die bis ins frühe 19. Jh. unter dem Namen „Hemmerde & Schwetschke“ existierte.

2
bahrdische Glaubensbekentnis

Gemeint ist Text a.

3
angeblichen Tausenden

Anspielung auf a23.

4
an eben dem Orte

Gemeint ist Halle (Saale), vgl. 108. Bahrdt war nach seiner Flucht am 27. Mai 1779 in Halle eingetroffen, wo Semler seit 1753 lehrte.

5
unserer Universität

Die Friedrichs-Universität zu Halle war nach einigen früheren Anläufen offiziell 1694 vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. (1657–1713) gegründet worden. Während des 18. Jh.s entwickelte sie sich schnell zu einer der führenden und fortschrittlichen Universitäten des Reichs, die sowohl durch Vertreter des Pietismus (Hermann August Francke) als auch der Aufklärung (Christian Wolff) geprägt war. Neben Semler lehrten auch andere wichtige Neologen wie etwa Johann August Nösselt (1734–1807) in Halle.

6
Toleranz

Religiöse Toleranz und ihre etwaigen Grenzen waren ein wichtiges Thema der Zeit. Einen Meilenstein bildete John Lockes A Letter Concerning Toleration (1689, dt. 1710), dessen zentrales Argument sich auch bei Semler wiederfindet (vgl. 732). Im Unterschied zu Pierre Bayle (Pensées diverses sur la Comète, 1682; 1741 von Gottsched übersetzt) nahm Locke Atheisten und Katholiken von Toleranz aus. Auch Semler deutet hier durch Hinzusetzung der Adjektive „rechtmäßig“ und „wünschenswerth“ eine deutliche Reserve an (vgl. b54). Einen Vorbehalt ganz anderer Art äußert Kant in „Was ist Aufklärung?“ (1784): Ein Fürst sei gerade dann „aufgeklärt“, wenn er „den hochmüthigen Namen der Toleranz von sich ablehnt“ und es stattdessen „für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen“ (AA 8, 40); vgl. auch 140.

7
socinianischen Partey

Benannt nach dem italienischen Reformator Lelio (1525–1562) und seinem Neffen Fausto (1539–1604) Sozzini, der vor allem Einfluss auf die unitarischen „Polnischen Brüder“ hatte. Im 18. Jh. bezeichnete „Sozinianismus“ häufig pauschal eine Infragestellung der Trinitätslehre, besonders der altkirchlichen Wesensgleichheit von Gottvater und Sohn sowie der Personhaftigkeit des Heiligen Geistes. Das Reichshofratsconclusum vom 27. März 1779 hatte Bahrdt ein „deutliches Bekenntniß von der wahren Gottheit Christi sowohl, als von der Heiligen Dreyeinigkeit, auch dass er solche in Zweifel zu ziehen, niemals gemeynet gewesen“ aufgetragen.

8
kein Beweis einer Verfolgung

Anspielung auf a15.

9
die augspurgische Confeßion

Vgl. 114.

10
drey Religionsparteien im römischen Reiche

Gemeint sind Katholiken, Lutheraner und Reformierte. Im Augsburger Religionsfrieden (1555) waren erstmals Protestanten im Reich geduldet worden. Im Westfälischen Frieden (1648) wurden dann offiziell nicht nur Lutheraner als Anhänger des Augsburger Bekenntnisses (1530), sondern auch die durch die oberdeutsche Reformation (Zwingli, Calvin) geprägten Reformierten reichsrechtlich gleichgestellt. Alle übrigen christlichen Gruppen, wie etwa Täufer, besaßen keinerlei Rechte und mussten auch noch gegen Ende des 18. Jh.s häufig mit Verfolgung rechnen.

11
vierte Religionsform

Semler unterstellt hier, Bahrdt wolle eine neue, vierte Konfession gründen, was reichsrechtlich verboten war. Vgl. dazu auch das kaiserliche Kommissionsdekret vom 6. Dezember 1779 gegen Bahrdts „eigenmächtig verbreiten wollende neue Religions-Secte“. Bahrdt nimmt zu diesem Vorwurf wiederholt Stellung, vgl. c5 und e5.

12
Unionsarbeiten

Seit der Reformation gab es immer wieder Versuche, die konfessionellen Differenzen zugunsten einer irenischen Wiedervereinigung zu entschärfen. Gegen Ende des 17. Jh.s führte etwa der spanische Adlige und katholische Priester Christoph de Royas y Spinola (1626–1695) im Auftrag des Kaisers Unionsgespräche mit protestantischen Fürsten und Theologen im Reich, u.a. am Hannoverschen Hof mit dem lutherischen Loccumer Abt Gerhard Wolter Molanus (1633–1722) und dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Um 1700 versuchte der Berliner Hofprediger Daniel Ernst Jablonski (1660–1741) eine Union zwischen Lutheranern und Reformierten herzustellen und korrespondierte darüber ebenfalls mit Leibniz. All diese Versuche der um konfessionellen Frieden bemühten Ireniker führten jedoch zu keinen langfristigen theologischen oder politischen Lösungen.

13
symbolischen Büchern seit dem 16ten Jahrhundert

Gemeint sind die konfessionellen Bekenntnisschriften (lat. symbola), wie etwa das lutherische Augsburger Bekenntnis (1530) und das Konkordienbuch (1580), die im Zuge der nachreformatorischen Konfessionsbildung entstanden und dann im Augsburger Religionsfrieden (1555) und vor allem im Westfälischen Frieden (1648) die Grundlage der reichsrechtlichen Lösung einer gegenseitigen Duldung der drei großen Konfessionskirchen bildeten.

14
auch Socinianer, Arianer, Sabellianer [...] als Juden und Muhammedaner

Anspielung auf unterschiedliche christliche Gruppen sowohl der frühen Kirche (Arius, Sabellius, s. 129) als auch der Reformationszeit (Sozzini, s. 148), die wie Juden und Muslime die christliche Trinitätslehre infrage stellen.

15
Hr. Lavater [...] auf der letzten Zürchischen Synode in eine Klasse mit Hrn. Steinbart

Johann Caspar Lavater (1741–1801), reformierter Theologe und Dichter, Diakon (später Pfarrer) in Zürich, war eine wichtige Figur des damaligen Geisteslebens. Er stand mit vielen Größen der Zeit in Kontakt (Goethe, Mendelssohn, Hamann, Spalding u.v.w.m.) und trat auch als Wiederbegründer der Physiognomik in Erscheinung, was ihm u.a. den Spott Lichtenbergs eintrug. Auf der Zürcher Frühlingssynode 1779 wetterte Lavater gegen den Einfluss tatsächlich oder vermeintlich deistischer Lehren aus Deutschland. Hauptangriffsziele waren der Verfasser (Hermann Samuel Reimarus) der von Lessing herausgegebenen Fragmente eines Ungenannten (1774–1778), Steinbart und seine Glückseligkeitslehre (s. 123), ferner Wilhelm Abraham Tellers Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre (1772; 61805, BdN IX) sowie Semler. Etwa zeitgleich veröffentlichte Lavater eine wütende Rezension von Steinbarts Buch im Christliche[n] Magazin 1 (1779), 2. St., 63–80. Semler dürfte von der Synodalrede, die erst nach Lavaters Tod in Auszügen publiziert wurde, über seinen in Zürich beheimateten Schüler Hans Heinrich Corrodi (1752–1793) erfahren haben. Corrodi verfasste auch eine anonyme Verteidigungsschrift Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenanten Urtheile über Hrn. C.R. Steinbarts System des reinen Christentums (1780), zu der Semler „Zusätze“ beisteuerte. Steinbart selbst bemerkte in der zweiten Auflage seiner Schrift trocken, Lavater habe ihn, „nach seiner Art, mit mehr Inbrunst eines gutherzigen Enthusiasmus, als mit kaltblütiger Scharfsinnigkeit“ angegriffen, das Buch sei jedoch für Leute geschrieben worden, „die nicht nach Gefühlen, sondern nach Weisheit fragen“ (21780, XLIVf.).

16
Naturalisten

Im Sprachgebrauch des späten 18. Jh.s bezeichnet der Ausdruck die Verfechter natürlicher Religion, d.h. einer Religion, deren Praxis und vernünftige Rechtfertigung unabhängig ist von göttlicher Offenbarung, der Autorität heiliger Schriften oder den kontingenten Traditionen positiver Religionen wie dem Christentum. Der Ausdruck „Naturalist“ wurde oft synonym mit „Deist“ (s. 702) verwendet.

17
Eid

In der Regel leisteten protestantische kirchliche Amtsträger zur Absicherung ihrer konfessionellen Loyalität (ähnlich wie katholische Geistliche die Professio fidei tridentinae abzulegen hatten) einen Eid gegenüber dem Landesherrn. Auch bei der Promotion war der Doktoreid zu leisten, meist auf die Confessio Augustana. Bahrdt leistete mehrfach einen solchen Eid und äußerte sich vielfach kritisch zum Juramentum religionis. In Preußen, wohin Bahrdt geflohen war, gab es hingegen ab 1713 keine eidliche Symbolverpflichtung mehr.

18
unsre und alle Studiosos Theologiä

An dieser Stelle lässt Semler besonders deutlich erkennen, dass die Halleschen Theologiestudenten sein anvisiertes Publikum sind. Bahrdt hielt dort zu diesem Zeitpunkt bereits erste Vorlesungen an der philosophischen Fakultät.

19
Epictetus [...] Sonne

Epiktet (ca. 55–135) war ein der Stoa (vgl. 975) zuzurechnender Philosoph. Erhalten sind von seinem Schüler Arrian (vgl. 277) zusammengestellte Lehrgespräche (Diatribai), auch als Unterredungen bekannt, sowie ein ebenfalls von Arrian besorgter Auszug, das Handbüchlein (Encheiridion). Insbesondere das letztere Werk erwies sich nach seiner Wiederentdeckung in der Renaissance als äußerst wirkmächtig (Lipsius, Pascal, Goethe u.v.w.m.). Rezipiert wurde vor allem die Ethik Epiktets. Der Schlüssel zu einem guten Leben besteht für ihn in der Unterscheidung von Sachverhalten, die in unserer Macht stehen (v.a. Tugend), und solchen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen (z.B. Reichtum, Gesundheit). Wahres Glück lässt sich erlangen, indem man aufhört, sein Herz an Dinge zu hängen, die sich nicht beeinflussen lassen. Die Zitate, die Semler hier in bearbeiteter Form anführt, entstammen dem 22. Kapitel des dritten Buchs der Lehrgespräche.

20
Mag Epictet, wie manche glauben dis aus der christlichen Forderung und Belehrung entlehnet oder gelernet und selbst aufrichtig gebilliget haben

Die augenscheinlichen Parallelen zwischen der Ethik Epiktets und christlichen Vorstellungen sowie die prominente Rolle, die Gott in seinem Denken spielt, haben manche Autoren des 16. und 17. Jh.s bewogen, in Epiktet einen heimlichen Christen zu sehen, oder sie wenigstens annehmen lassen, er habe unter starkem christlichen Einfluss gestanden. Heute wird eine solche Abhängigkeitsthese einhellig abgelehnt.

21
wie Paulus forderte

Anspielung auf 1Tim 3,2.

22
Socrates

Athenischer Philosoph (469–399 v. Chr.), der selbst zwar kein Werk hinterlassen hat, dessen Denken jedoch in den Schriften seiner Schüler Xenophon und vor allem Platon überliefert ist. Sokrates war eine der wichtigsten Identifikationsfiguren der Aufklärung. Man sah in ihm ein Muster intellektueller Bescheidenheit, einen Bloßsteller sophistischer Wortklaubereien, vorbildlichen Bürger und aufrechten Märtyrer des Geistes, der lieber den Tod wählte als gegenüber der korrupten Priesterschaft seiner Heimatstadt klein beizugeben. In noch stärkerem Maße als Epiktet oder Spinoza galt Sokrates der Zeit als das Sinnbild eines tugendhaften Nicht-Christen; vgl. z.B. das Werk des von Bahrdt hoch geschätzten Semler-Schülers Johann August Eberhard, Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden (I, 1772, 21776; II, 1778).

23
himmelfest

Im heutigen Sprachgebrauch von der synonymen Bezeichnung „felsenfest“ verdrängter Ausdruck, in dem sich noch die überkommene Vorstellung spiegelt, der Himmel bestehe aus einem massiven Material, an das die Himmelskörper befestigt seien (vgl. „Himmelsgewölbe“, „Himmelsfeste“, „Firmament“).

24
Heuchler sind, [...] erschleichen suchen

Leicht bearbeitetes Zitat a9.

25
οὐκ ἐσμεν ὑποστολης

Hebr 10,39: „Wir sind nicht von denen, die da weichen“.

26
Heidesheim

Vgl. 107.

27
Ich habe sogleich wieder geantwortet

Der Brief hat sich nicht erhalten. Bahrdt erwähnt ihn in der Geschichte seines Lebens III (1791), 397.

28
Samlung aller Conclusorum [...] von Schauroth

Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth, Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des hochpreißlichen Corporis Evangelicorum, 3 Bde., 1751–1752.

29
Corporis Euangelicorum

Das Corpus Evangelicorum war der Zusammenschluss aller protestantischen Reichsstände im Alten Reich, um ihre Interessen gegenüber dem Kaiser und der katholischen Reichstagsmehrheit besser durchsetzen zu können. Wie im Westfälischen Frieden (1648) festgelegt, sollten auf dem Reichstag fortan Religionsfragen konfessionell getrennt beraten und abgestimmt werden („de corpore ad corpus“; „itio in partes“).

30
Gläsnerische Processache

Semler spielt hier auf einen viel diskutierten Fall an: Der lutherische Pastor Justus Martin Gläsener (1696–1750) war nach Auseinandersetzungen mit dem Magistrat der Stadt Hildesheim 1746 vom Pfarramt suspendiert und 1749 endgültig entlassen worden. Gläsener hatte sich in dieser Angelegenheit an den Reichshofrat gewandt. Im Nachgang entspann sich eine grundsätzliche Diskussion darüber, ob es dem Reichshofrat erlaubt sei, in geistlichen Angelegenheiten gegen Protestanten zu entscheiden, oder ob dies ausschließlich Sache des Corpus Evangelicorum (vgl. 171) sein solle.

31
Halle

Bahrdt war nach seiner Flucht am 27. Mai 1779 in Halle (Saale) eingetroffen; vgl. 108.

32
pro memoria

Pro memoria (dt. „zur Erinnerung“) sind formale Stellungnahmen einer Streitpartei, wie sie vor dem Corpus Evangelicorum oder den Reichsgerichten vorgebracht wurden.

33
eine eigene gute Lebensbeschreibung

Bahrdt veröffentlichte seine vierbändige Autobiographie zwar erst über ein Jahrzehnt später (Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale, 4 Bde., 1790/1791), doch sei er, so teilt er der Leserschaft zu Beginn mit, bereits seit geraumer Zeit zu ihrer Abfassung „aufgemuntert, und zum Theil auch recht dringend darum gebeten worden. [...] Schon seit zehn Jahren bin ich damit umgegangen, meine eigne Geschichte zu beschreiben“ (Geschichte seines Lebens I, 1790, 1f.).

34
Uebersetzung aus dem Philo

Philo(n) von Alexandrien (zwischen 20 und 10 v. Chr.–nach 41 n. Chr.) war ein jüdischer Theologe und Philosoph. Er ist der wichtigste Vertreter des antiken griechischsprachigen Diasporajudentums. Sein umfangreiches Werk ist gekennzeichnet durch eine Vermählung von jüdischen und hellenistischen Traditionen und Ideen, die auch für das frühe Christentum charakteristisch werden sollte. Die ersten Lehrer der Kirche (u.a. Clemens von Alexandrien, Origenes, Gregor von Nyssa) rezipierten Philo in erheblichem Maße, u.a. die von ihm mustergültig praktizierte allegorische Schriftauslegung. Eine deutsche Übersetzung von Philos Werken lag Ende des 18. Jh.s nicht vor.

35
Eusebii Vorbereitung

Eusebius von Caeserea (zwischen 260 und 264–339/40) war ein spätantiker Historiker, Theologe und Bischof, der oft als „Vater der Kirchengeschichte“ bezeichnet wird. Er verfasste auch geographische, exegetische sowie polemisch-apologetische Schriften. Die Verlässlichkeit des in die (kirchen-)politischen Kämpfe seiner Zeit verstrickten Historikers Eusebius wird heute als eher gering eingeschätzt. Die Hauptwerke – Kirchengeschichte (10 Bücher) und Leben Konstantins – waren 1777 von Friedrich Andre(a)s Stroth (1750–1785) in neuer deutscher Übersetzung herausgegeben worden. Mit der „Vorbereitung“ meint Semler hier die apologetische Schrift Praeparatio evangelica (gr. Εὐαγγελικὴ προπαρασκευή), deren Abfassung Eusebius vermutlich im Jahre 313 begann. – Bahrdt scheint Semlers Rat, an der Übersetzung eines Klassikers zu arbeiten, übrigens beherzigt zu haben, entschied sich aber gegen Philo und Eusebius für die Herausgabe einer zweibändigen deutschen Ausgabe des Tacitus (1781).

36
erste Anfang des 1sten Kapitel Johannis ächt

Bahrdts Unbehagen am Prolog des Johannesevangeliums und seinen trinitätstheologischen Implikationen wird auch in beiden Auflagen der [N]eusten Offenbarungen (s. 96) deutlich. In der ersten (1773) übersetzt er Joh 1,1: „Der Logus war schon bey dem Entstehen dieser Welt. Er war bey Gott: [...] denn es war nur Gott und der Logus.“ Bahrdt erläutert den letzten Satz mit: „Ich lese für ο λογος, και λογος“. In der zweiten Auflage (1777) ändert er den Schluss des Verses zu dem üblicheren „und Gott war der Logus“, fügt aber den Kommentar hinzu: „Ich bin fest überzeugt: daß die Leseart falsch ist: und daß es heissen müsse: ‚Denn es war nur Gott und der Logus‘ – Logus aber ist so viel als Gesandter, Sprecher Gottes, der im Namen Gottes mit den Menschen redet.“

37
die sogenannten Aloger

Christliche Gruppierung um das Jahr 200, insbesondere in Kleinasien vertreten, von der wir nur durch ihre Gegner, vor allem Epiphanius von Salamis (zwischen 310 und 320–403), wissen. Laut Epiphanius verwarfen die Aloger das Johannesevangelium und die Offenbarung des Johannes, die sie beide dem Gnostiker Cerinthus (um 100) zuschrieben. Sie lehnten die sog. „Gaben des Heiligen Geistes“ ab und betrachteten Jesus Christus als einen zwar sittlich vollkommenen, jedoch natürlich gezeugten Menschen. Der Name „Aloger“ geht auf ein Wortspiel des Epiphanius zurück, das sowohl die Opposition gegen die johanneische Logos-Vorstellung als auch die angeblich unvernünftige Denkweise der Vertreter dieser Richtung ausdrücken sollte. Es ist allerdings zweifelhaft, ob die Aloger von ihren Zeitgenossen überhaupt als einheitliche heterodoxe Gruppe angesehen wurden, d.h., ob sie überhaupt als „Partey“ gelten sollten (Semler).

38
nötige Erlaubnis

Auswärtige Zeitungen berichteten bereits über Vorlesungen oder gar eine Professur an der Universität Halle; vgl. die harsche Antwort darauf in den Hallische[n] Neue[n] Gelehrte[n] Zeitungen, 60. St. (29.7.1779), 480. Der zuständige preußische Minister v. Zedlitz (vgl. 489) hatte jedoch deutlich darauf gedrungen, dass Bahrdt keine theologischen Vorlesungen halten dürfe. Er erteilte nur eine Weisung, dass er an der philosophischen Fakultät lesen dürfe (s. 488).

39
Decanus

Die turnusmäßig vergebene Stellung des Dekans ist nicht zu verwechseln mit der Position des Direktors des Theologischen Seminars, die Semler seit 1757 ununterbrochen innehatte. Infolge seiner Querelen mit Bahrdt und Ernst Christian Trapp wurde Semler im Dezember 1779 des Direktorpostens enthoben; s. 480. Der Dekan der theologischen Fakultät war auch mit der Zensur theologischer Werke betraut.

40
von einem hiesigen Buchdrucker [...] Pränumeration

„Pränumeration“ meint ein im späten 18. Jh. gängiges Finanzierungskonzept von Druckwerken, die schon vor Drucklegung bezahlt wurden (vergleichbar mit der noch heute üblichen verbindlichen Vorbestellung bei einer Subskription). Teils wurden Pränumeranten dann namentlich im Titelbogen des Werks aufgeführt. Semler äußert sich zum gleichen Sachverhalt nochmals in seinen Theologische[n] Briefe[n] I (1781), 37: „Herr Bahrdt wolte ein Avertissement bey dem Buchdrucker H. hier drukken lassen, worinn eine weitläufftige Bestätigung seines Glaubensbekentnisses versprochen wurde; 5000 mal sollte es gedruckt werden. Es ist doch wohl natürlich, daß eine lutherische theologische Facultät die Censur zu einer solchen abermaligen bedächtig fortgesetzten Beschimpfung der 3 öffentlichen Religionspartheyen nicht geben konnte; ich gab es also zurück, mit der schriftlichen Anzeige, daß hier in Halle dergleichen nicht gedruckt werden könnte.“ Eine ähnliche Absage an Texte, die Bahrdt unterstützen, findet sich in den Hallische[n] Neue[n] Gelehrte[n] Zeitungen, 60. St. (29.7.1779), 480. Das Avertissement selbst konnte nicht ermittelt werden, doch belegen verschiedene Briefe aus der Zeit, dass Bahrdt die Veröffentlichung eines ausführlichen Kommentars zum Glaubensbekenntniß plante. Basedow erwähnt in einem Schreiben an Bahrdt vom 15. Juli 1779 die von der Hallischen Universität verwehrte „Ankündigung des Commentars“ (Pott, Briefe II, 62).

41
„Tausend und aber Tausend [...] es laut zu sagen.“

Zitat a23.

42
daß kaiserl. Majestät mit Zuziehung der Stände des Reichs […] erhalten werden könnten

Zitat a24.

43
Jansenist seyn und ein strenger Schüler Augustini

„Jansenist“ meint einen Anhänger des katholischen Theologen Cornelius Jansen (1585–1638), der seit 1636 Bischof von Ypern war. Jansen legte eine strenge Interpretation des spätantiken Kirchenvaters Augustinus vor: Augustinus, sive doctrina Sti. Augustini de humanae naturae sanitate, aegritudine, medicina adversus pelagianos et massilienses, 3 Bde., Löwen 1640. Hauptgegner waren die Jesuiten (vgl. 438), die wiederholt eine römische Verurteilung von Jansens Thesen und seinen Anhängern erzielen konnten. Im Gegenzug konnten Jansenisten 1773 die zeitweilige Aufhebung des Jesuitenordens erwirken. Der Jansenismus gilt als wichtigste innerkatholische Oppositions- und Frömmigkeitsbewegung nach dem Tridentinum, die den älteren innerkirchlichen Gnadenstreit fortsetzte und weit über das 18. Jh. fortwirkte. Der Jansenismus hatte großen Einfluss auf die katholische Aufklärung und ist strukturell betrachtet gleichsam das Pendant zur Neologie auf katholischer Seite.

44
Speners

Der lutherische Theologe Philipp Jakob Spener (1635–1705) war ab 1666 in Frankfurt und später ab 1686 in Dresden tätig. Spener förderte seit 1670 die Stärkung häuslicher Frömmigkeit in den sog. collegia pietatis. 1675 erschien sein Hauptwerk Pia desideria oder Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche, in dem er ein weitreichendes Reformprogramm seiner Kirche entwirft. Spener gilt daher als wichtigster deutscher Vertreter, wenn nicht gar als Gründer der religiösen Erneuerungsbewegung des Pietismus.

45
Böhmen

Gemeint ist der Görlitzer Schuster und mystische Autor Jacob Böhme (1575–1624). Zwar erschien zu seinen Lebzeiten nur eine einzige Schrift im Druck. Gleichwohl verbreiteten sich Abschriften seiner Werke und erregten Widerstand in Person des Görlitzer Hauptpastors Gregor Richter (1560–1624), der gegen Böhme vorging. Einflussreiche Patrone sammelten jedoch seine Schriften und publizierten sie postum. Seine Leserschaft wuchs seitdem an und Böhme avancierte weit über Deutschland hinaus zur Symbolfigur und zum Referenzpunkt einer christlichen Theosophie, die ältere Traditionen des mystischen Spiritualismus und der Naturphilosophie eines Paracelsus (1493/94–1541) vereint.

46
Dippel

Johann Konrad Dippel (1673–1734) radikalisierte sich während seines Theologiestudiums in Gießen und Straßburg unter dem pietistischen Einfluss von Spener (s. 186) und Gottfried Arnold (1666–1714). Dippel publizierte fortan gegen die lutherische Orthodoxie und interessierte sich zunehmend für Medizin und Alchemie. 1704 flüchtete er aus Berlin in die Niederlande, wo er 1711 in Leiden in Medizin promoviert wurde. Nach einigen Jahren im toleranten dänischen Altona, wo er gleichwohl politisch aneckte und inhaftiert wurde, lebte er später zeitweise in Schweden. Seine letzten Lebensjahre brachte er ab 1729 im Wittgensteinischen Berleburg zu, das ein Zufluchtsort vieler Radikaler war. Dippel publizierte viele seiner Schriften unter dem Pseudonym „Christianus Democritus“ .

47
Herrnhut

Der Ortsname „Herrnhut“ (Oberlausitz) steht stellvertretend für die sich seit 1722 formierende Brüdergemeine auf dem Gut von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760), der Impulse des Halleschen Pietismus weiter radikalisierte. Die Herrnhuter Brüdergemeine stand zudem in der Tradition der Mährischen/Böhmischen Brüder, die Anhänger des Jan Hus (1370–1415) waren.

48
Tausend und aber tausend [...] und des Gewissens –

Zitat a24.

1
Polemik

Entgegen der heutigen pejorativen Bedeutung meint „Polemik“ (gr. πόλεμος; „Krieg“) hier die vor allem in der Theologie der Frühen Neuzeit etablierte wissenschaftliche Methode zur Widerlegung eines Gegners, indem (wie auch in diesem Fall) der gegnerische Text Punkt für Punkt besprochen und widerlegt wird, ohne zwangsläufig den Gegner dabei auch persönlich anzugreifen oder herabzusetzen. Vgl. hingegen auch schon im 18. Jh. stark wertend: „pasquillantisch“ (vgl. 645).

2
Pflicht des Hrn. Verfassers, alle Ueberzeugung frey und ohne Zurückhaltung zu entdecken –

Leicht bearbeitetes Zitat a9.

3
ein Heuchler seye, [...] zu erschleichen suche

Leicht bearbeitetes Zitat a9.

4
um des Schwachen zu schonen [...] durch Uebereilung – zu schwächen

Teils Zitat, teils Paraphrase a9.

5
„Ich gestehe also, [...] bey Tausenden sind.“

Teils fehlerhaftes Zitat a9f; im Original steht: „durch ihr der Vernunft Anstößiges“.

6
Fal Babels

Anspielung auf die von Dippel (s. 186) und anderen Orthodoxiekritikern erhobene Gleichsetzung der depravierten zeitgenössischen Kirche mit dem biblischen sündigen Babel (Offb 18 u. 19), das dem Untergang geweiht ist, vgl. Christianus Democritus [Dippel], Christen-statt auf Erden (1699). Vgl. dazu auch Semlers Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 61, wo er neben Dippel explizit den lutherischen Dissidenten Friedrich Breckling (1629–1711) nennt.

7
Fanatiker des 16ten Jahrhunderts

Zu den Fanatikern wurden alle radikalreformatorischen Gruppen gerechnet, die nicht eine politisch organisierte Konfessionskirche anstrebten, da sie sich als direkt von Gott inspiriert (lat. fanaticus) ansahen. Inspirierte folgten entsprechend ihrem Gewissen und lehnten eine von Gott gegebene politische Macht und eingesetzte Kirchendiener ab.

8
Bauchdiener

Schon Luther benutzte den Ausdruck „Bauchdiener“ zur Kritik des vorreformatorischen Klerus. Im 17. Jh. verwendete ihn etwa Dippel (s. 188), um die tatsächlichen oder vermeintlichen Auswüchse seiner eigenen lutherischen Konfession zu kritisieren.

9
Recht und die Freiheit, die bisherige Religionspartey ganz und gar zu verlassen

Anspielung auf das reichsrechtliche ius emigrandi, das im Augsburger Religionsfrieden (1555) dem einzelnen Untertan ein Emigrationsrecht aus Glaubensgründen zusicherte.

10
Obrigkeit, welche den äusserlichen Religionsstand ihrer Unterthanen freilich allein zu beurtheilen

Anspielung auf den seit 1555 geltenden reichsrechtlichen Grundsatz des cuius regio eius religio, wonach die Obrigkeit über die Konfession ihrer Untertanen bestimmt. Bemerkenswert ist die Betonung des bloß „äusserlichen“ Religionsstands, der Raum für eine innere Haltung eröffnet, die vom äußeren Religionsstand abweicht. Vgl. dazu z.B. f13f.

11
Fanaticismus oder Unruhe

Seit dem Bauernkrieg (1525) und dem Täuferreich von Münster (1534/35) war es ein gängiger Topos, radikale religiöse Positionen mit politischer Unruhe zu assoziieren.

12
durch Religionsfrieden festgesetzten Religionssysteme

Anspielung auf den Augsburger Religionsfrieden (1555).

13
„O möchten doch Ew. kaiserliche Majestät [...] wieder heraus zu finden.“

Zitat a15.

14
Wesen des Christentums ist Geist und Wahrheit

Anspielung auf Joh 4,24, was häufig von den von Semler so gescholtenen „Fanatikern“ oder Spiritualisten zitiert wird. Semler nutzt den Bibelvers, um ein Christentum „im Geist und in der Wahrheit“ von der politisch eingehegten äußerlichen Konfessionszugehörigkeit abgrenzen zu können.

15
Braminen

Heute im Deutschen kaum noch verwendete Wortvariante von „Brahmanen“. Im weiteren Sinne bezeichnet der Ausdruck Mitglieder der höchsten Kaste im Hinduismus, im engeren Sinne hinduistische Priester, die sich (jedenfalls im 18. Jh.) ausschließlich aus besagter Kaste rekrutierten.

16
Localität

Dass die äußeren Religionsformen der Christen von regionalen und historischen Besonderheiten abhängen, welche sich nicht einfach im Zuge universalreligiöser Bestrebungen aufheben lassen, ist eine zentrale, häufig wiederholte Überzeugung Semlers, vgl. z.B. b[VII]; f6–9.175 etc.

17
Flattergeister [...] Schwärmer

Weitere Ausdrücke für spiritualistische Gruppierungen, die in religiösen Dingen ihrem Gewissen folgten und teils zur Weltflucht neigten.

18
Concretenwelt

Das Substantiv scheint eine Neuschöpfung Semlers zu sein, die den Gegenbegriff zur tatsächlichen oder vermeintlichen „Mondwelt“ (vgl. 218) Bahrdts liefern soll.

19
die weder in der Schrift, [...] , und die Quelle sind von –

Zitat a10 (mit Auslassung).

20
es seien Lehrsätze darin, welche theils der Gottseligkeit schaden, [...] für tausende

Leicht verändertes Zitat a10 (mit Auslassung).

21
Talapoinen

Seit dem 16. Jh. nachweisbare Bezeichnung für buddhistische Mönche; in der Sprache der Mon, die im heutigen Myanmar und Thailand leb(t)en, bedeutet der Ausdruck „tīla puin “ so viel wie „werter Herr“ und diente der respektvollen Anrede der Mönche. Vermutlich über portugiesische Seefahrer fand der Ausdruck Eingang in europäische Sprachen.

22
ein christlich Utopien

Der Begriff der Utopie, wörtlich „Nirgend-Ort“, bezeichnet die literarisch oder philosophisch entfaltete Vorstellung einer (in der Zukunft, in fernen Erdgegenden oder auf fremden Planeten angesiedelten) nach rationalen und/oder religiösen Grundsätzen konzipierten idealen Gemeinschaft. Der Ausdruck ist eine Schöpfung Thomas Morus’ (1478–1535), der Sache nach finden sich utopische Entwürfe aber schon in der Antike, etwa in Platons Staat. Zu den bedeutenden christlichen Utopien gehören Tommaso Campanellas (1568–1639) Sonnenstaat (1602) und Johann Valentin Andreaes (1586–1654) Christianopolis (1619). Auch das Zusammenleben christlicher Gemeinschaften wie der Hutterer oder der Quäker kann als Versuch der Umsetzung utopischer Konzepte gedeutet werden; vgl. auch 1003.

23
Cajus und Titius

Die lateinischen Namen „Cajus” und „Titius” wurden vor allem in der Logik und in der Jurisprudenz zur Bezeichnung von Personen innerhalb fiktiver Beispiele verwendet. Ihr Gebrauch lässt sich u.a. bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Jacob Bernoulli, Georg Friedrich Meier, Immanuel Kant und Johann Gottfried Kiesewetter belegen. Erstmals in besagter Funktion benutzt wurden die Namen vermutlich von dem berühmten Glossator und Rechtsgelehrten Irnerius von Bologna (um 1050–um 1130). Im Italienischen bedeutet der Ausdruck „Tizio, Caio e Sempronio“ noch heute so viel wie „Hinz und Kunz“.

24
vom öffentlichen Religionsfrieden

Wiederum Anspielung auf den Augsburger Religionsfrieden (1555), der den reformatorischen religiösen Streit zwischen den unterschiedlichen christlichen Konfessionen politisch einhegte.

25
Thomas

Thomas von Aquin (um 1225–1274), dominikanischer Theologe und Philosoph. Er gilt als Hauptvertreter der mittelalterlichen Scholastik, trägt den Beinamen Doctor angelicus und wird in der römisch-katholischen Kirche als einflussreichster Kirchenlehrer verehrt. Thomas steht hier bei Semler pars pro toto für die gesamte katholische Position.

26
Luther

Martin Luther (1483–1546), der wichtigste deutsche Reformator, steht hier stellvertretend für die protestantische Position.

27
Socinus

Der italienische Reformator Fausto Sozzini (vgl. 148) steht hier für die übrigen christlichen Positionen jenseits von Katholizismus und Protestantismus.

28
Mondwelt

Dass Semler gerade dieses Bild wählt, ist kein Zufall. Die Spekulation über die Existenz von außerirdischen Gesellschaften und ihrer etwaigen Lebensweise war im 17. und 18. Jh. weit verbreitet. Viele Autoren hielten es für wahrscheinlich, dass es in unserem Sonnensystem andere intelligente Wesen gibt. Sowohl literarische Anverwandlungen des Themas – Francis Godwin, The Man in the Moone (1638); Cyrano de Bergerac, L’Autre Monde (1657), Jonathan Swift, Gulliver’s Travels (1726) [Dritte Reise nach Laputa], Voltaire, Micromégas (1752) – als auch (populär-)wissenschaftliche Darstellungen – Bernard le Bovier de Fontenelle, Entretiens sur la pluralité des mondes (1686; 21724); Christiaan Huygens, Κοσμοθεωρός (1698); Eberhard Christian Kindermann, Reise in Gedancken durch die eröffneten allgemeinen Himmels-Kugeln (1739); Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755; 3. Teil) – hatten Konjunktur. Wie zur Bestätigung Semlers publizierte Bahrdt 1787 eine anonyme Schrift mit dem Titel Zamor oder der Mann aus dem Monde[,] kein bloßer Roman, in der er einen Mondbewohner auftreten lässt und ihm einige der eigenen Überzeugungen in den Mund legt.

29
„Darunter rechne ich die [...] und einige andre.“

Zitat a10.

30
diese Lehren, [...] bey Tausenden

Umgestelltes Zitat a10, vgl. oben b12.

31
Nahrungsstandes

Das sind die Mittel, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

32
Rechte der Menschheit und Gewissensfreiheit

Anspielung auf a24; vgl. oben b8.

33
unabsehlichen Wust der Systemsreligion

Zitat a15, vgl. b15.

34
solitarischen

Der Ausdruck (von lat. solitarius; „alleinstehend“) war auch zu Semlers Zeiten wenig gebräuchlich. Gemeint sein dürfte hier wohl so viel wie „eigensinnig“, „keinerlei Spielraum zur Interpretation lassend“.

35
Lügner und Heuchler wären, die um des Brots willen

Anspielung auf a19, vgl. oben b12.

36
unmittelbare oder mittelbare Zurechnung

Das Problem, wie die Sünde eines einzigen (oder zweier) Menschen – der Fall Adams (und Evas) – der gesamten, nicht direkt beteiligten Menschheit gerechterweise zugerechnet werden könne, beschäftigte die christliche Theologie seit der Spätantike. Verschiedene Lösungen wurden vorgeschlagen: Adam stehe und agiere für die gesamte Menschheit, wie der Repräsentant eines Staats für all seine Bürger; sämtliche Menschen existierten bereits als Samen im Stammvater Adam; Gott habe aufgrund seines „mittleren Wissens“ (Luis de Molina; vgl. 346) erkannt, dass alle Menschen (außer Jesus) in die Sünde Adams eingewilligt hätten, falls sie vor die Wahl gestellt worden wären. – Manche Theologen lehnten eine unmittelbare Zurechnung der Schuld Adams zugunsten einer bloß mittelbaren ab: Adams Fall sei kausal verantwortlich für die (biologische und/oder soziale) Zerrüttung seiner Nachkommenschaft. Aus dieser immer weiter „vererbten“ Zerrüttung erwuchs die allgemeine moralische Verderbtheit der Menschen. Die Schuld Adams kann seinen Nachfolgern daher zwar nicht unmittelbar zugerechnet werden, ist aber (mit)ursächlich für ihre Sünden. Qua Wirkung, d.h. qua der sündhaften moralischen Verderbtheit, kann Adams Fall der gesamten Menschheit mittelbar zugerechnet werden. – Die Schwierigkeiten dieser Theorien sind augenfällig und veranlassten die meisten (wenn auch nicht alle) Neologen zu einer Ablehnung von sowohl unmittelbarer als auch mittelbarer Zurechnung.

37
Notwendigkeit einer Genugthuung

Vgl. 360 und 633.

38
Bekehrung, pur leidlich oder mitwirkend

Anspielung auf eine zentrale Frage der Gnadenlehre, ob Gott dem Menschen den Glauben ohne dessen Zutun „pur leidlich“ schenkt oder aber eine Form von menschlicher Mitwirkung angenommen werden kann.

39
Synergistischen, Helmstädtischen, der Gewissener

Anspielung auf drei unterschiedliche Positionen der lutherischen Gnadenlehre. Die Synergisten (gr. συνεργετικός; „mitwirkend“) diskutierten schon im 16. Jh. eine Mitwirkung des Willens bei der Annahme der Gnade, was allerdings in der Konkordienformel (1577) deutlich abgelehnt wurde. Dieser von Melanchthon beeinflusste Streitpunkt flammte erneut in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s um den Helmstedter Theologen Georg Calixt (1586–1656) auf, der die Konkordienformel ablehnte und eine irenische Unionstheologie verfocht. Der Jenaer Theologe Johannes Musaeus (1613–1681) diskutierte die radikale Gruppierung der „Gewissener“ (lat. Conscientarii), die sich nur ihrem Gewissen verantwortlich fühlen. Ob diese Gruppe jemals existiert hat oder es sich bei ihr um eine Erfindung des Dissidenten Matthias Knutzen (1646–1674?) handelt, der sie erstmals erwähnte und sich auf ihre Unterstützung berief, ist ungeklärt.

40
selbstdenkenden und prüfenden Theile der Menschen

Zitat a12.

41
Reforme vorzuschreiben [...] Rechte der Menschheit und des Gewissens

Anspielung auf a23f.

42
„Ich habe zwar [...] ein Beyspiel sind.)“

Zitat a10f.

43
Lehre von Erbsünde [...] von Ewigkeit der Höllenstrafen

Bearbeitetes Zitat a10, vgl. b20.

44
Pauli Ausspruch, Röm. 5. alle Menschen sündigen, ἡμαρτον

Zitat aus Röm 5,12 (gr. ἥμαρτον; „sie sündigen“), das seit dem Kirchenvater Augustinus die biblische Grundlage der christlichen Erbsündenlehre darstellt.

45
in athanasianischen Sinn

Vgl. 113.

46
subiecta, Personen etc. (alle neue Worte der Gelerten für ihres gleichen)

Nach der klassischen christlichen Trinitätslehre – wie man sie etwa im athanasischen Glaubensbekenntnis findet – handelt es sich bei Vater, Sohn und Heiligem Geist zwar um drei Personen (oder Subjekte), jedoch nur um ein Wesen mit einer einzigen göttlichen Natur oder Substanz. Semler spielt hier darauf an, dass dem Ausdruck „persona“ vor den trinitätstheologischen Debatten der Spätantike im Alltag keinerlei wichtige Funktion zukam – er bezeichnete ursprünglich Masken, die Schauspieler auf der Bühne trugen. Auch bei „subjectum“ handelt es sich um einen spätlateinischen terminus technicus ohne Entsprechung in der damaligen Umgangssprache.

47
Hunnii epitomen credendorum

Nikolaus Hunnius (1585–1643), lutherischer Theologe, u.a. Professor in Wittenberg, ab 1623 Pastor, ein Jahr später auch Superintendent in Lübeck. Sein dickleibiges Werk Epitome credendorum, oder kurtzer Inhalt christlicher Lehre: so viel einem Christen darvon zu seiner Seelen Seligkeit zu wissen und zu gläuben hochnötig und nützlich ist (1625) gilt als erste populäre Dogmatik deutscher Sprache. Semler bezieht sich auf folgende Passage (zitiert nach 31633, 72f. [§ 88]): „Dieweil aber diese art zu reden (von der H. Dreyfaltigceit/ oder von den dreyen Personen in Gott/) in der H. Schrifft nicht zu finden ist/ sondern man hat sie in der alten/ Kirchen zu widerlegung Arii und anderer Ketzer gebrauchen müssen/ ist niemand darangebunden/ d[a]z er eben dieselbe gebrauche/ und sich selber peinige/ wie er das Wort/ Person/ eigentlich verstehen sol/ oder/ wie das zugehe/ daß ein Göttlichs Wesen sey/ unnd doch drey Personen in demselben zu gleuben“.

48
Lehrsätze schaden der Gottseligkeit [...] sind Quelle des Unglaubens

Bearbeitetes Zitat a10, vgl. b12. 21.

49
medius terminus

Bezeichnung aus der Syllogistik. Der Mittelbegriff (terminus medius) ist der Begriff, aus dem „die Verbindung des Subjectes und Prädicates mit dem Schlußsatze erweislich ist, und welchen die beyden Vordersätze mit einander gemein haben“ (Adelung 3, 1798, 244). In dem Schluss – 1. Alle Lebewesen sterben. 2. Alle Menschen sind Lebewesen. 3. Also: Alle Menschen sterben. – fungiert „Lebewesen“ als Mittelbegriff. Worauf Semler mit der Verwendung des Ausdrucks im Text hinauswill, ist unklar.

50
mit solcher Klugheit abgesondert habe, daß es das Volk nicht gemerket

Polemische Anspielung auf a11, vgl. das nächste von Semler als solches gekennzeichnete Zitat im Text.

51
Homousios

Das für fast alle heutigen großen Kirchen verbindliche Konzil von Nicäa (325) bekannte sich zu der Auffassung, dass Vater und Sohn wesensgleich (homousios; ὁμοούσιος) seien, und verurteilte den Arianismus (vgl. 129).

52
Erasmus

Desiderius Erasmus von Rotterdam (1467–1536) gilt als Hauptvertreter des Renaissance-Humanismus. Seine Schriften, darunter auch eine kritische Edition des Neuen Testaments (Novum Testamentum omne, 1516), später oft als „textus receptus“ bezeichnet, fanden bei den frühen Vertretern der Reformation zahlreiche Bewunderer (Bucer, Melanchthon, Zwingli u.a.). Erasmus, der sich durch umfassende klassische Bildung, geistreiche Rhetorik und irenisch-moderate Haltung auszeichnete, blieb jedoch der römischen Kirche treu, in der Schrift De libero arbitrio (1524) distanzierte er sich von Luther. Während der Aufklärung (Spinoza, Bayle, Voltaire u.a.) erneuerte sich das Interesse an seinem Werk. – In seiner Thomas Morus gewidmeten berühmtesten Schrift Moriae Encomium (1511; Lob der Torheit) kritisierte Erasmus im Gewande der Parodie die Anmaßungen der Theologen: „Keine Taufe, kein Evangelium, kein Paulus oder Petrus, kein Hieronymus oder Augustin, ja selbst nicht der Oberaristotelicus Thomas vermag noch einen Menschen zum Christen zu machen, wenn nicht der hohe Rat der Bakkalaren dazu Amen sagt“ (Übers. Alfred Hartmann).

53
die Walenburche

Die Brüder Adrian (1609–1669) und Peter (1610–1675) van Walenburch waren katholische Kontroverstheologen und zeitweilig Kölner Weihbischöfe. Zusammen mit Leibniz bemühten sie sich um eine irenische Annäherung der Konfessionen. Sie standen unter großem Einfluss des französischen Jesuiten François Véron (1575–1649) und dessen 1645 verfassten Traktats Secretio eorum quae sunt de fide catholica ab iis quae non sunt de fide, vgl. b32.

54
„Folglich bin ich auch noch nie [...] in den Volksunterricht gehören etc.“

Zitat a11.

55
„Welches [...] angenommen etc.“

Zitat aus Schauroth (s. 170), 708.

56
„sie hat schädliche, irrige, in der Schrift nicht gegründete Lehrsätze, von Erbsünde etc.[“]

Es handelt sich um kein Zitat, sondern um eine kompilierte Paraphrase von Passagen aus a10.

57
in der so großen Feierlichkeit 1530

Das Augsburger Bekenntnis wurde 1530 dem Kaiser auf dem Reichstag überreicht.

58
rechne ich

Zitat a10.

59
Bossuet

Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704), Bischof von Condom (1669) und ab 1682 von Meaux, Prinzenerzieher am französischen Hof, seit 1671 Mitglied der Académie Française. 1690 war Bossuet Briefpartner von Leibniz und Molanus während der irenischen Gespräche zur Annäherung der Konfessionen. In diesem Zusammenhang verfasste er u.a. Explicatio ulterior methodi reunionis Ecclesiasticae, postum veröffentlicht in Oeuvres XIV (1767), 309–325.

60
Abt Molanus

Gerhard Wolter Molanus (1633–1722), evangelischer Theologe, Schüler Georg Calixts (vgl. 411), war zunächst Professor für Mathematik und Theologie in Rinteln, ab 1677 Abt des Klosters Loccum. Zu seinen Bemühungen um eine Wiedervereinigung der Kirchen vgl. 153.

61
jene nanten es secretionem, dieser Bischof explicationem

Vgl. 243 (Walenburche) und 249 (Bossuet).

62
Erbsünde [...] Gottheit Christi und des heiligen Geistes

Vgl. Bahrdts Aufzählung a10.

63
„fest überzeugt [...] vorzutragen wissen.“

Zitat a11.

64
mit besondrer Klugheit und Vorsicht [...] zu vereinigen gesucht

Leicht verändertes Zitat a11, vgl. b29.

65
„daß folglich [...] werden kan“

Zitat a11.

66
der reinen Christusreligion (ein neuer Ausdruck)

Vgl. 117. In Semlers Bemerkung kommt ein nicht nur im 18. Jh. weit verbreitetes Misstrauen gegenüber neuen Begriffen und Neuerungen zum Ausdruck, dem auch die Neologie selbst ihre zunächst abschätzig gemeinte Fremdbezeichnung verdankt. Vgl. Zedler, Universal-Lexicon 24 (1740), 128, unter dem Stichwort „Neuerung“: „Es giebt Leute, die sehr dazu geneigt sind, und entweder aus einer wollüstigen Unbeständigkeit, oder aus Ehrgeitz immer was neues oder besonderes haben wollen.“

67
„Ich muß es [...] ansehe.“

Zitat a12.

68
den alten öcumenischen oder gemeinen Symbolis der 4 ersten Jahrhunderte

Gemeint sind die für Christen bis heute allgemein gültigen Glaubensbekenntnisse (lat. symbola), die vor allem auf den Konzilien von Nicäa (325) und Konstantinopel (381) formuliert wurden.

69
universelle Religionsform

Anspielung auf a24 („allgemeine Verbrüderung aller Religionspartheyen“).

70
Lügner oder Heuchler

Anspielung auf a9, vgl. b12 und b23.

71
Kirchen des Orients

Gemeint sind die orientalisch-orthodoxen Kirchen, die sich nach dem Konzil von Chalcedon (451) von der byzantinischen Kirche abspalteten – darunter die armenische, die koptische und die syrisch-orthodoxe Kirche –, sowie die (nestorianische) assyrische Kirche. Diese Glaubensgemeinschaften nehmen, ähnlich den orthodoxen Kirchen Osteuropas, zwar an, dass die Menschheit unter den Folgen der Sünde Adams leidet (v.a. dem natürlichen Tod), bestreiten aber eine damit verbundene „ererbte“ oder „zurechenbare“ Schuld (vgl. 226).

72
Begrif von Erbsünde, [...] von traduce, wie Augustinus sie am ersten so bestimt hat, für seine Mitglieder im africanischen Lehramte

Im Jahre 418 trafen sich über 200 Bischöfe der nordafrikanischen römischen Provinzen Africa und Numidia zu einer Synode in Karthago, unter ihnen auch Augustinus (354–430), der Bischof von Hippo (im heutigen Algerien) war. Dem Wortführer Augustinus folgend, verurteilte die Versammlung den Pelagianismus (vgl. 350). Kurz darauf verfasste Augustinus die Schrift De gratia Christi et de peccato originali, in der sich u.a. auch die Phrasen „de traduce peccati“ und „peccatum ex traduce“ (Sünde durch Übertragung) finden. Die augustinische Verwendung dieser Ausdrücke ist allerdings älter und erstmals bereits für das Jahr 397 nachzuweisen: De diversis quaestionibus ad Simplicianum I, 2.20. Vgl. zur Erbsünde auch 226.

73
nicht als allein seligmachende Wahrheit

Anspielung auf a12.

74
die auf ihren Posseß trotzende Geistlichkeit, [...] aufdringen wolle

Zitat a12. Semler verbessert von „die“ zu „der Welt“.

75
kan sich zur römischen Kirche begeben, und umgekehrt

Erneute Anspielung auf das reichsrechtliche ius emigrandi, das dem einzelnen Untertan das Recht zusicherte, aus Glaubensgründen in ein anderes Territorium des Reichs auszuwandern.

76
Logus, Monogenes, Erstgeborner aller nachher geschaffenen Dinge

Zu der in der Theologiegeschichte vielfältig interpretierten Auffassung, dass das mit Gott (wesensmäßig) identische „Wort“ (gr. λόγος; Joh 1,1) in der Person Jesu Fleisch geworden sei (Joh 1,14), vgl. z.B. auch b5.27–29. Der griechische Ausdruck „Monogenes“ (μονογενὴς) bezeichnet etwas, das einzig in seiner jeweiligen Art ist. Im Johannesevangelium und im 1. Johannesbrief wird das Wort in Verbindung mit „Gottes Sohn“ auf Jesus angewandt (Joh 1,14; 3,16.18; 1Joh 4,19). Luther übersetzt „eingeboren“. Die Bezeichnung „Erstgeborner aller Schöpfung“ (πρωτότοκος πάσης κτίσεως) entstammt Kol 1,15; vgl. aber ähnliche Formulierungen in Röm 8,29; Kol 1,18; Hebr 1,6 und Offb 1,5. Gemeint ist mit dem Ausdruck, anders als Semlers Formulierung suggeriert (vgl. f228), wohl nicht eine zeitliche (vgl. 372), sondern eine rangmäßige Ausnahmestellung Christi.

77
als die Quelle eines doppelten Uebels

Zitat a12, Hervorhebung von Semler.

78
„Einmal empören [...] ganze Religion verwarf.“

Zitat a12, wie oben verbessert Semler von „die“ zu „der Welt“.

79
peccato originali

Peccatum originale; Erbsünde.

80
ad secundarios articulos

Gemeint ist die in der protestantischen Theologie gängige Hierarchisierung der Glaubenssätze in Fundamentalartikel und Nebenartikel (Adiaphora). Unter sekundäre Fundamentalartikel (articuli fundamentales secundarii) fallen alle Glaubenssätze, die zwar vom Gläubigen nicht notwendig gekannt werden müssen, jedoch auf keinen Fall bewusst geleugnet werden dürfen. Vgl. dazu Semlers Erläuterungen in Baumgarten, Glaubenslehre II (1760), 477.

81
Scholastikern

Der Begriff steht hier für alle mittelalterlichen und somit vorreformatorischen Gelehrten.

82
zu Worms

Gemeint ist das Religionsgespräch zwischen katholischen und evangelischen Reichsständen, das 1541 in Worms stattfand.

83
augspurgischen Confession und ihrer Apologie

Auf die Übergabe des Augsburger Bekenntnisses auf dem Reichstag (1530) reagierte die katholische Seite umgehend mit der Abfassung einer Widerlegung (Confutatio), die auf dem Reichstag verlesen wurde. Die evangelischen Reichsstände ließen daraufhin eine Apologie des Augsburger Bekenntnisses (AC) erstellen, die in unterschiedlichen Fassungen vorliegt und hauptsächlich von Melanchthon verfasst wurde. Sie fand 1580 Einzug ins Konkordienbuch und gehört zum Kernbestand lutherischer Konfessionsschriften.

84
„daher man jene Lehrsätze [...] Mittel gesteuret wird.“

Zitat a12f.

85
Gewissensfreiheit [...] Religionsreforme

Anspielung auf a23f.

86
Lehrsätze, von Erbsünde, [...] und des heiligen Geistes

Vgl. erneut Bahrdts Aufzählung a10.

87
Pythagoras, Cicero, Seneca, Antonin, Epictet, Arrian

Pythagoras von Samos (6. Jh. v. Chr.), antiker Philosoph und Schulgründer, von dem nur wenige Fragmente überliefert sind. Semler dürfte vor allem an die „Goldenen Verse“ (1775 von Johann Wilhelm Ludwig Gleim übersetzt und als Goldene Sprüche herausgegeben) denken, in Hexameterform gebrachte pythagoreische Lebensweisheiten aus dem 5. vorchristlichen Jh. – Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), römischer Politiker, Redner und Philosoph, der nicht nur als stilistisches Vorbild, sondern auch als Ethiker und natürlicher Theologe sowie Verteidiger der römischen Republik geschätzt wurde. – Lucius Annaeus Seneca (vor 1 v. Chr.–65 n. Chr.), stoischer Philosoph, Dramatiker und politischer Berater Kaiser Neros. In erster Linie diskutiert wurden die ethischen Schriften, bemerkenswert ist Senecas Analyse von Emotionen (v.a. der des Zorns) und seine kritische Haltung gegenüber der Sklaverei. – Mit „Antonin“ ist der römische Kaiser und letzte bedeutende stoische Philosoph der Antike, Marcus Aurelius Antoninus (121–180; Mark Aurel), gemeint. Seine Selbstbetrachtungen fanden u.a. die Bewunderung Friedrichs des Großen. – Zu Epiktet vgl. 160. – Arrian (um 89–nach 146) trat vor allem als Herausgeber von Vorlesungen seines Lehrers Epiktet sowie als Historiker des Alexanderfeldzugs hervor.

88
2 Petri 1,5

Semler paraphrasiert in der Textpassage unmittelbar zuvor auch die beiden folgenden Verse, so dass es heißen sollte: „2Petr 1,5–7“.

89
Früchte des Geistes

Anspielung auf Gal 5,16–26.

90
Seinen Geist [...] Verstand regier

Auszüge aus im Luthertum beliebten Kirchenliedern: vier Zeilen aus der vierten Strophe von „Solt ich meinem Gott nicht singen?“ (Paul Gerhardt, 1653) sowie zwei Zeilen aus der 2. Strophe von „Dir, dir Jehovah will ich singen“ (Bartholomäus Crasselius, 1695).

91
eine Quelle des Unglaubens –

Zitat a10.

92
neue Nationalreligionsformen

Semler hält weder eine konfessionelle Wiedervereinigung aller deutschen Christen noch – allein angesichts der Sprachbarriere – eine übernationale Vereinigung für möglich. Neu wären die von ihm insinuierten Nationalreligionsformen im Vergleich etwa zu der „alten“ anglikanischen oder gallikanischen „Nationalkirche“.

93
Ich behaupte also [...] es giebt kein Urchristentum

Reaktion auf das von Johann Bernhard Basedow (s. 107) 1780 anonym publizierte Werk Vorschlag an die Selbstdenker des 19ten Jahrhunderts zum Frieden zwischen dem wohlverstandnen Urchristenthume und der wohlgesinnten Vernunft. Semler war die Schrift, ihrem Titel und Inhalt nach, bereits im März 1779 bekannt, vgl. seine Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger (1779), Vorrede [8]. Der normativ aufgeladene Ausdruck „Urchristentum“ wurde von Basedow in die zeitgenössische Debatte eingeführt, findet sich aber schon bei Johann Gottfried Herder, Briefe zweener Brüder Jesu in unserm Kanon (1775), 54.

94
„Und eben so gewis [...] Gottseligkeit schaden.“

Zitat a13.

95
Haben wir [...] ein kurzes blödes Gesicht [...]?

D.i. „Sind wir kurzsichtig [...]?“.

96
„Denn so bald man die Menschen überredet, [...] Feind GOttes ist.“

Fortsetzung des Zitats einige Zeilen zuvor, a13.

97
Hebraismi

Bildliche Sprachwendungen, die aus dem biblischen Hebräisch in die deutsche Sprache übernommen wurden. Für den von Bahrdt gebrauchten und von Semler als solchen ausgewiesenen Hebraismus „von Mutterleibe an“ (a13), vgl. etwa Ps 71,6 oder Jes 49,1.

98
Morbus, vitium originis ist es recht gut lateinisch beschrieben; in der Confession

Zitat aus dem zweiten Artikel über die Erbsünde aus der lateinischen Fassung der Confessio Augustana (BSLK 53).

99
„Daß er zur Befreiung von diesem Elende [...] dazu erflehen müsse.“

Zitat a13.

100
In eben dem 2ten Artikel [...] coram Deo iustificari posse

Zitat aus dem zweiten Artikel über die Erbsünde aus der lateinischen Fassung der Confessio Augustana (BSLK 53).

101
s. die Apologie

Die Formulierung findet sich im zweiten Artikel der Apologie (BSLK 150, vgl. auch 174).

102
extenuationem gloriae meriti et beneficiorum Christi

Zitat aus dem zweiten Artikel der lateinischen Confessio Augustana (BSLK 53).

103
und nun Artic. 5. folget

Teils Zitat, teils Paraphrase aus der deutschen Fassung des fünften Artikels des Augsburger Bekenntnisses (BSLK 58).

104
„Daß GOtt auch auf alle gute Werke des Menschen [...] Tugend des Geopferten.“

Zitat a14.

105
ποιον ἐπος σεον ἐφυγεν ἑρκος ὀδοντων

ποῖόν σε ἔπος φύγεν ἕρκος ὀδόντων (Welch Wort entfloh deinem Munde? [wörtlich: „dem Gehege Deiner Zähne“]), bei Homer anzutreffende Redewendung; z.B. Hom. Od. I 64.

106
Lehrart der Mystiker

Gemeint ist die von einigen mystischen Autoren geforderte „Gelassenheit“ und Auslöschung des eigenen Willens des Gläubigen auf dem Weg der erstrebten Vereinigung mit Gott.

107
ρημα φορτικον

Dt. in etwa „plumpes/aufdringliches/aggressives Wort“.

108
nexum physicum zwischen dem physischen Tode JEsu, und den moralischen Gütern

Semler will hier betonen, dass zwischen dem Tod Jesu und der Besserung der Menschen kein physischer Kausalzusammenhang besteht – wie bei den Bahnen sich anstoßender Billardbälle o.Ä. Vgl. dazu ausführlicher 397.

109
Quellen des Unglaubens

Anspielung auf a10.

110
Reforme

Anspielung auf a23.

111
Aus des Hrn. Verfassers Historie und Betragen

Semler spielt auf Bahrdts Gewohnheit an, beim Auftreten von Schwierigkeiten fluchtartig den Ort seiner jeweiligen Tätigkeit zu verlassen. Vgl. 332.

112
„so ists unmöglich [...] stehen.“

Zitat a14.

113
tridentinischen Catechismus

Der im Anschluss an das Trienter Konzil (1545–1563) formulierte Römische Katechismus wird hier als katholisches Pendant zum evangelischen Augsburger Bekenntnis genannt.

114
„Das Herz wird unvermeidlich [...] kalt.“

Paraphrase a14.

115
„Das heutige Christentum hat [...] verloren.“

Leicht verändertes Zitat a14.

116
video meliora, proboque, deteriora sequor

Redewendung aus Ovids Metamorphosen (met. VII 20f.), deutsch in etwa: „Ich sehe das Bessere, erkenne es an und folge [doch] dem Schlechteren.“ Ovid und Semler wenden sich gegen die u.a. von Platon (vgl. Prot. 358b–c; auch 345d–e, 355a–b, 357d) vertretene Auffassung, ein Akt der Willensschwäche (gr. ἀκρασία) sei begrifflich ausgeschlossen. Es komme – gegen Platon – durchaus vor, dass jemand eine bestimmte Tat für die bestmögliche Handlung halte, aber gleichwohl wider besseres Wissen und aus freien Stücken die schlechtere Alternative wähle.

117
„Ach allergnädigster Kaiser [...] was für Siege“ –

Zitat a14f .

118
Grönland, St. Thomas

Der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) nutzte seine verwandtschaftlichen Beziehungen zum Kopenhagener Königshaus, um Missionare in die dänischen Kolonien zu schicken. Im Dezember 1732 landeten die ersten Herrnhuter auf der Karibikinsel St. Thomas (heute Teil der Amerikanischen Jungferninseln). 1733 errichtete die Brüdergemeine im westgrönländischen Godthåb (heute: Nuuk) eine Missionsstation, die bis ins Jahr 1900 bestand.

119
den schmalen Weg

Anspielung auf Mt 7,14.

120
„Das Evangelium [...] gefüret würde.“

Zitat mit Auslassungen a14f.

121
Wie lange ist schon Theologie [...] von Religion unterschieden worden

Die emphatische Unterscheidung zwischen der für alle Zeiten und Menschen stets gleichen – wenn auch in ihren äußeren „localen“ Formen (vgl. 206) durchaus variablen – christlichen Religion (oder „Heilsordnung“) und der steten Wandlungen unterworfenen Theologie der Gelehrten durchzieht viele Schriften Semlers. Sie ist eine der wichtigsten Konstanten seines Denkens. Mit großem Furor und einprägsamen Formulierungen macht Semler den Unterschied deutlich in seiner „Antwort auf die Recension von meiner Institutio ad theol. dogmaticam [d.i. Institutio ad doctrinam Christianam liberaliter discendam], in der noua bibliotheca Ecclesiastica Friburgensi“, in: [A]usfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen (1777), 137–264, z.B. 245–253.

122
Lehre vom Abendmal

Semler nennt mit der Abendmahlslehre einen Hauptstreitpunkt zwischen den unterschiedlichen christlichen Konfessionen.

123
Ich sehe hier auf die wahre ehrliche Kirchenhistorie

Semler konnte als Schüler des Hallenser Theologen Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) für sich eine solide Kompetenz in Sachen Kirchengeschichte beanspruchen, die er durch eigene Publikationen und Herausgeberschaften seines Lehrers Baumgarten unter Beweis gestellt hatte; vgl. etwa D. Siegmund Jacob Baumgartens Geschichte der Religionspartheyen (1766) oder Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchen-Geschichte, 3 Bde. (1773–1778).

124
ich weis kein reines Gold

Anspielung auf a15, vgl. das nächste von Semler als solches gekennzeichnete Zitat im Text.

125
„O möchten doch [...] herauszufinden.“

Zitat a15.

126
„Möchte unter allerhöchstdero Regierung [...] schwören.“

Zitat a15f.

127
Christen solten in den Rechten des Staats und der Menschheit geschützt werden

Anspielung auf a16.

128
geheimen Staatsräthen

Ein für die Frühe Neuzeit typisches Amt, um den regierenden Fürsten vertraulich („geheim“) in politischen Angelegenheiten zu beraten. Im Verlauf des 18. Jh.s setzte es sich immer mehr durch, bevorzugt Juristen zu Räten zu ernennen.

129
Christusreligion [...] unabsehlicher Systemwust

Anspielung auf a15, vgl. b61.

130
römische Catechismus

Andere Bezeichnung für den Tridentinischen Katechismus, s. 303.

131
ohne gezwungen zu seyn, sich Kefisch oder Paulisch, „oder Papisch [...] zu nennen.“

Zitat a16.

132
Zwinglische

Anhänger des oberdeutschen Reformators Huldrych Zwingli (1484–1531), der hauptsächlich in Zürich gewirkt hatte.

133
Altkatholische

Gemeint sind Altgläubige, die während und nach der Reformation bei der römischen Kirche verblieben sind. Zeitgenössisch konnten mit „Altkatholischen“ auch niederländische Altkatholiken bezeichnet werden.

134
Abt Molanus

Vgl. 250 und 153.

135
μετα πολλης φαντασιας

Zitat Apg 25,23: „mit großem Gepränge“.

136
„und auf Menschenwort zu schwören.“

Zitat a16.

137
kaiserliche Wahlcapitulation

Wichtiges Dokument im Vorfeld einer römisch-deutschen Kaiserwahl. In seiner Wahlkapitulation verpflichtete sich der Kandidat im Falle seiner Wahl zur Umsetzung bestimmter vorher ausgehandelter Vereinbarungen. Wahlkapitulationen wurden schriftlich niedergelegt und beeidet.

138
Mikrologie

D.i. Kleingeistigkeit.

139
„möchten doch Allerhöchdieselben [...] blicken.“

Zitat a16.

140
manche Zeitgenossen zu hart [...] von der Absicht dieser Uebersetzung urtheileten

Prominente Kritik kam von zwei ganz verschiedenen Seiten: Der streitbare Hamburger Hauptpastor und Verteidiger der Orthodoxie Johann Melchior Goeze (1717–1786) veröffentlichte 1773 die unmissverständlich betitelte Schrift: Beweis, daß die Bahrdtische Verdeutschung des Neuen Testaments keine Uebersetzung, sondern eine vorsetzliche Verfälschung und frevelhafte Schändung der Worte des lebendigen Gottes sey; vgl. § 14 der dortigen Einleitung für eine Übersicht der Vorwürfe. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) verspottete die in seinen Augen stutzerhafte und neumodisch-glättende Übersetzung in der satirischen Szene Prolog zu den neusten Offenbarungen Gottes[,] verdeutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt (1774). Ähnliche Kritik kam von Herder (Sämmtliche Werke 5, 1891, 268). Bahrdts Übertragung hatte allerdings auch bekannte Fürsprecher, etwa in Lavater, Lessing und Wieland.

141
so war es doch noch keine Verfolgung

Anspielung auf a15, vgl. b[V].

142
Leipzig, Erfurt, Giessen, (wohin ich ihn selbst durch Empfelung auf eine Anfrage aus Darmstadt, hatte bringen helfen,) in Marschlins

Semler zählt hier die verschiedenen beruflichen Stationen seines Gegners auf, um zu unterstreichen, dass für die häufigen Ortswechsel weniger die Theologie als vielmehr die Persönlichkeit Bahrdts verantwortlich gewesen sei: Leipzig musste er 1768 wegen des Skandals um eine schwangere Prostituierte verlassen (vgl. 487). 1768–1771 war Bahrdt Professor in Erfurt, 1771–1775 in Gießen, an beiden Orten verstrickte er sich in Fehden mit seinen Kollegen. Anders als Semler suggeriert, waren hierfür allerdings Lehrstreitigkeiten hauptursächlich (vgl. auch 115). Ab Juni 1775 stand Bahrdt dem Philanthropinum in Marschlins (Graubünden) als Direktor vor, gab die Stelle aber nach nur einem Jahr wegen Querelen mit dem „Fürsorger“ und Mäzen der Schule, Ulysses von Salis-Marschlins (1728–1800), wieder auf. – Ein Schreiben Semlers an die Regierung der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, in dem er Bahrdt für eine Anstellung in Gießen „ohnerachtet mancher aus Leipzig entlenter Erzälungen“ wärmstens empfiehlt, ist abgedruckt in Paul Drews: Das Eindringen der Aufklärung in der Universität Gießen, Preußische Jahrbücher 130 (1907), 35–59; 42f.

143
Ich glaube [...] wiederzugeben

Zitat a16f.

144
die Lehre von Erbsünde etc. [...] Quelle des Unglaubens – bey Tausenden sind

Kompiliertes Zitat a10.

145
Philosophen, welche [...] auf zwey gleiche Grundwesen kamen, um das Gute und Böse in der menschlichen Natur zu erklären

Semler dürfte hier vor allem der Dualismus des frühchristlichen Häretikers Markion (ca. 85–160) vor Augen stehen. Vgl. Christian Wilhelm Franz Walch (1726–1784) Entwurf einer vollständigen Historie der Kezereien, Spaltungen und Religionsstreitigkeiten, bis auf die Zeiten der Reformation, Bd. 1 (1762), 506: „Marcion [kam] mit andern Partheien, welche der morgenländischen Philosophie beypflichteten, überein, daß er zwey gleiche Grundwesen annahm, von denen er das eine den Guten nannte; das andere den Bösen.“

146
Grotius sagte daher, die Sache selbst, [...] Erbsünde [...] haben auch die Heiden erkant

Hugo Grotius (1588–1646) war nicht nur ein gefeierter Rechtsgelehrter seiner Zeit, der einflussreiche juristische Werke schrieb und wichtige Impulse für die Aushandlung des Westfälischen Friedens (1648) gab. Grotius verfasste auch theologische Werke, darunter den über die Niederlande hinaus wichtigsten Bibelkommentar des 17. Jh.s. Semler spielt hier wohl auf die Schrift Defensio fidei Catholicae de satisfactione Christi adversus Faustum Socinum (1617) an, in der Grotius eine Reihe heidnischer Zeugen (u.a. Cicero, Plutarch, Valerius Maximus, Ulpian) für die als gerecht empfundene Praxis aufbietet, Unschuldige für die Sünden anderer zu bestrafen (vgl. 62–70): Kinder für ihre Eltern, Bürgen für säumige Schuldner, Geiseln für vertragsbrüchige Regierungen etc.

147
daß die Lehre von Erbsünde [...] eine Quelle der Untugend und Gottlosigkeit

Erneute Anspielung auf a10.

148
Ich glaube [...] gemisdeutet haben

Zitat a17.

149
keinesweges eine Quelle des Unglaubens

Abermals Anspielung auf a10.

150
gratiam actualem, victricem etc.

Der Ausdruck „gratia actualis“ bezeichnet das Gnadenhandeln Gottes, das den Menschen zum Guten führt. Von einer „gratia victrix“, wörtlich „siegreiche Gnade“, spricht man, wenn man ausdrücken möchte, dass das Gnadenhandeln Gottes nicht nur wirksam, sondern – trotz des freien Willen des Menschen – auch notwendigerweise wirksam ist. Eine solche Auffassung wurde sowohl von den Dominikanern im sog. Gnadenstreit als auch von den Jansenisten in Auseinandersetzung mit den Jesuiten vertreten: Wenn Gott will, dass wir seine Gnadenhilfe aus freien Stücken annehmen, dann nehmen wir sie auch, und zwar unfehlbar, aus freien Stücken an. Vgl. auch zur gratia efficax 346.

151
Prädestination

Gemeint ist die Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung des menschlichen Schicksals.

152
Lambert, von Avignon

Franz Lambert von Avignon (1487–1530), zunächst Franziskaner, der sich um 1522 der Reformation anschloss, den Orden verließ und heiratete. Er hielt Vorlesungen an der Universität Wittenberg und ab 1527 an der neu gegründeten evangelischen Universität Marburg. Semler bezieht sich auf das aus einer Wittenberger Vorlesung hervorgegangene Werk In Divi Lucae Evangelium Commentarii (1524); die Erstausgabe ist unpaginiert, vgl. daher die Straßburger Ausgabe von 1525, 25: „Ergo inutiles & mendosae sunt, partitiones illae plenitudinis eiusdem gratiae, insufficientem, abundantem, superabundantem, indeficientem, & aliae similes, quod nullus sanae mentis non animaduertit.“ Vgl. auch Semler, Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 505.

153
Thomisten

Gemeint sind katholische Gelehrte, die im Sinne von Thomas von Aquin (vgl. 215) argumentieren. In der scholastischen Tradition von Thomas wurden verschiedene Gnadenformen (lat. species gratiae) unterschieden, vgl. seine Summa Theologiae I-II, q. 111.

154
Dominicaner

Nach dem Gründer Dominikus (gest. 1221) benannter Predigerorden (Ordo Praedicatorum), der sich schon früh vom Kanonikerorden zu einem Bettelorden entwickelte. Dominikaner besetzten rasch wichtige Universitätsposten und waren maßgeblich am Ausbau der Inquisition beteiligt, weshalb sie auch spöttisch als domini canes („Hunde des Herrn“) bezeichnet wurden. Auch stellen sie seit ihrem Gründer in Rom den obersten päpstlichen Hoftheologen und prägten entscheidend die katholische Theologie.

155
Augustinianer

Gemeint sind katholische Gelehrte, die im Sinne von Augustinus (vgl. 262) argumentieren. Der Einfluss des Augustinianismus zeigte sich besonders in der Gnadenlehre.

156
gratia efficax per se

Semler spielt hier auf den in der römischen Kirche schwelenden, sog. Gnadenstreit an, der mehrere Konfliktepisoden erlebte. Nach langen Kontroversen im Mittelalter hatten im 16. Jh. vor allem Jesuiten wie der Spanier Luis de Molina SJ (1535–1600) die thomistische Vorstellung einer göttlichen gratia efficax ab intrinseco sive per se („eine innerlich bedingte und notwendig wirksame Gnade“), wie sie etwa der spanische Dominikaner Domingo Báñez OP (1528–1604) lehrte, verworfen und zugunsten einer libertarischen Mitwirkung des Menschen an seinem Heil zu einer gratia efficax ab extrinseco sive per accidens („eine äußerlich bedingte und nicht notwendig wirksame Gnade“) abgeschwächt.

157
de auxiliis gratiae

1597 hatte Papst Pius V. eine Congregatio de auxiliis gratiae („Kommission über die Gnadenhilfen“) eingesetzt, um den innerkatholischen Gnadenstreit zu klären. Nach zehn vergeblichen Jahren beendete der Papst dieses hoffnungslose Unterfangen. Papst Paul V. versuchte 1607/11 den Konflikt nunmehr dadurch einzugrenzen, dass er den streitenden Parteien untersagte, sich gegenseitig die Rechtgläubigkeit abzusprechen. Die Auseinandersetzung um den Jansenismus (s. 185) führte zu einer Wiederauflage des Gnadenstreits.

158
der Mensch thut zu seiner innerlichen Besserung nichts selbst, er verhält sich passiue

Vgl. zur Diskussion um die Einwilligung des Menschen ausführlich 352.

159
Ich will nur anmerken, 1)

Da auf diese erneute „1)“ keine weitere Ziffer folgt, dürfte es sich wohl um ein Versehen handeln und hier eine „4)“ gemeint sein.

160
Pelagianismus

Gemeint ist die Lehre, die auf Pelagius (frühes 5. Jh.) zurückgeführt wird. Sie besagt, dass der Mensch auch nach dem Fall von sich aus im Stande ist, Gott zu gehorchen und sein Heil zu erwirken.

161
Ich glaube [...] Schrift gefunden

Zitat a17f.

162
Ob man die Einwilligung [...] sol eine Bedingung nennen [...] ist eine alte Streitigkeit

Für die Diskussion innerhalb der protestantischen Theologie war Luthers Auffassung die entscheidende Referenzstelle. Der Reformator behauptete erstens, dass die moralische Besserung nicht Bedingung, sondern Folge der Erlösung sei, und zweitens, dass die Rolle des Menschen bei seiner Erlösung (und Besserung) „rein passiv“ (mere passive) ausfalle. Vgl. De servo arbitrio (1525), WA 18, 697: „Johannes [1,12–13] spricht nicht von irgendeinem Werk des Menschen [...], sondern von der Erneuerung selbst und der Umwandlung des alten Menschen, der ein Kind des Teufels ist, in einen neuen Menschen, der ein Kind Gottes ist. Hier verhält sich der Mensch rein passiv [...] und tut auf keine Weise etwas, sondern ‚wird‘ völlig, d.h. läßt ganz an sich geschehen“ (Übers. Kurt Aland). Im Synergistischen Streit (1556–1560) argumentierten Anhänger Philipp Melanchthons gegen die sog. Gnesiolutheraner für die Feststellung einer Mitwirkung (gr. συνεργεία) des Menschen.

163
Ob um Christi willen heißen sol, [...] wird der Hr. Verfasser sich nicht anmaßen für uns zu entscheiden

Vgl. a18, s. auch 127.

164
Wir katholischen Christen aller drey Parteien

Alle drei Konfessionen des lateinischen Westens bekennen sich zum Glauben an die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ (Nicäno-Konstantinopolitanum, 381), vgl. f205. Das Adjektiv „katholisch“, das im Ritus der protestantischen Kirchen, um Missverständnisse zu vermeiden, heute meist durch „christlich“ ersetzt wird, hat hier, seinem griechischen Ursprung entsprechend, einen weiten Sinn. Es bedeutet so viel wie „allumfassend“, d.h. sich an alle Personen und Völker wendend.

165
hier ist alles unendlich, ewig unaufhörlich; weil es nichts Zeitliches ist

Vgl. 2Kor 4,17–18. Eine klassische Verteidigung und Analyse nicht-zeitlicher Ewigkeit findet sich bei Boethius (477/480–524), Consolatio Philosophiae, 5. Buch, VI.

166
eine Quelle des Unglaubens werden

Anspielung auf a10.

167
δια πνευματος αἰωνιου

Zitat Hebr 9,14: „Durch den ewigen Geist“.

168
Gnostiker ließen [...] aus der Person des himmlischen, ewigen Aeon, Christus, herkommen

Der Ausdruck „Gnosis“ ist eine Sammelbezeichnung für eine heterogene Gruppe von religiösen Ideen aus den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten. Gnostiker eint die dualistische Vorstellung von einem metaphysischen Gegensatz – oder Kampf – zwischen Gut und Böse, zwischen vollkommenem Gott und die materielle Welt hervorbringendem Demiurgen, Licht und Finsternis, Wissen und Unwissen, Geist und Fleisch usw. Unter einem „Äon“ verstand man eine Emanation der Gottheit. Viele Gnostiker nahmen an, dass Christus der vollkommenste Äon sei, dessen Aufgabe darin bestehe, die Menschheit zur Erkenntnis (gr. γνῶσις) der dualistischen Struktur der Wirklichkeit und Überwindung der bösen materiellen Welt zu führen.

169
diese Person aus zwey Naturen zusammensetzte

Die Zweinaturenlehre ist ein Kernstück traditioneller Christologie. Nach der für alle großen Kirchen verbindlichen Formulierung des Konzils von Chalcedon (451) ist Christus „vollkommen derselbe in der Gottheit, vollkommen derselbe in der Menschheit, wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch, [...] wesensgleich dem Vater der Gottheit nach, wesensgleich uns derselbe der Menschheit nach, in allem uns gleich außer der Sünde, [...] in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt [...], nicht [...] in zwei Personen, sondern ein und derselbe einziggeborene Sohn, Gott, Logos, Herr.“

170
Anselmus, cur Deus homo

Anselm von Canterbury (1033/34–1109), wichtigster Vertreter der Frühscholastik, u.a. bekannt durch die erste, immer noch viel diskutierte Formulierung des ontologischen Gottesbeweises (Proslogion 2–4). In dem Dialog Cur Deus Homo (entstanden um 1095) entwickelte Anselm eine äußerst einflussreiche Satisfaktionstheorie: Ihr zufolge setzt die Erlösung des Menschen eine Genugtuung (Satisfaktion) voraus, die die begangene Sündenschuld ausgleicht. Da besagte Schuld eine Beleidigung Gottes darstellt, mithin „unendlich“ groß ist, kann sie nur durch den Tod eines Mensch gewordenen unendlichen Gottes beglichen werden. Inkarnation und Tod Christi bewirkten also nicht nur de facto die Erlösung der Menschheit, sie waren ihre notwendige Bedingung (vgl. auch b24 und 633).

171
Die Tugend Christi, ist auch nicht eine fremde Tugend

Vgl. 637 (obedientia activa).

172
veteres migrate coloni

Eine Vergil (ecl. 9, 4) entnommene Redewendung, die eine verächtliche und unduldsame Haltung gegenüber dem Althergebrachten ausdrückt; wörtlich in etwa: „Zieht weg, ihr alten Pächter!“

173
Ich glaube [...] Gaben mittheilt

Zitat a18.

174
dort schrieb er, [...] seien

Anspielung und verkürztes Zitat von a10.

175
Clarke

Gemeint ist der Philosoph und anglikanische Geistliche Samuel Clarke (1675–1729), ein enger Vertrauter Isaac Newtons (1643–1727). Bekannt ist Clarke heute vor allem durch seinen Briefwechsel (1715/16) mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), in dem die beiden u.a. über die Absolutheit des Raums und die Freiheit des menschlichen Willens stritten. Semler spielt hier jedoch auf die Schrift The Scripture-Doctrine of the Trinity (1712; 31732) an, in der Clarke eine Trinitätslehre auf biblischer Grundlage entwirft. Zwar wurde das Buch von Zeitgenossen – nicht ganz zu Unrecht – für „arianisch“ oder „subordinatianisch“ gehalten, doch verteidigte Clarke in ihm, im Gegensatz zu Bahrdt, die Lehre von drei göttlichen Personen als schriftgemäß. Vgl. z.B. 1. Auflage, 2. Teil, 292 (§ 22): „The Holy Spirit of God does not in Scripture generally signify a mere Power or Operation of the Father, but a real Person.” Eine deutsche Übersetzung (Die Schrift-Lehre von der Dreyeinigkeit) war 1774 mit einer Vorrede Semlers erschienen.

176
Metonymie, die Wirkung und Gaben des heiligen Geistes selbst mit diesem Namen belegt

Eine Metonymie ist ein rhetorisches Stilmittel, bei dem auf eine Sache oder Eigenschaft mittels der Bezeichnung von etwas Bezug genommen wird, das man eng mit dem betreffenden Ding oder der betreffenden Eigenschaft assoziiert. Z.B. kann ein Ort für das dort Befindliche („Washington dementiert“), ein Teil fürs Ganze („Pro-Kopf-Einkommen“) oder die Ursache oder der Urheber für die Wirkung („Rembrandt hängt im Museum“) stehen. – Als ein Beispiel für einen solchen metonymischen Gebrauch des Ausdrucks „Heiliger Geist“ gibt Clarke in The Scripture-Doctrine of the Trinity (s.o.), 1. Teil, 213f., die Stelle Mt 12,31f. an.

177
πνευμα [...] heißt unleugbar in recht vielen Stellen

Clarke (s. erl_b_4_3), 292, gibt u.a. folgende Beispiele: Apg 13,2; Röm 8,26f.; 1Kor 12,8–11; Eph 4,30.

178
Wie wil hier eine Quelle des Unglaubens und der Religionsverachtung entstehen?

Anspielung auf a10.

179
moralische Geographie

Darunter ist die Beschäftigung mit je nach Weltgegend verschiedenen Charakteren, Sitten und moralischen sowie weltanschaulichen Vorstellungen zu verstehen; siehe auch b[VII]. Als Verfasser der ersten moralischen Geographie gilt der italienische Jesuit Daniello Bartoli (1608–1685), La Geografia Trasportata al Morale (1664). Eine Unterscheidung von mathematischer, physischer, politischer und moralischer (daneben auch theologischer [vgl. b65] und merkantilistischer/ökonomischer) Geographie war im 18. Jh. üblich, vgl. z.B. Immanuel Kant, Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765–1766 (1765), AA 2, 303–313; 312 (vgl. auch AA 9, 164).

180
Pnevmatomachi

Die Pneumatomachen waren eine Gruppierung der frühen Kirche, die die Gottheit des Heiligen Geistes ablehnte. Sie „gerieten [gleichwohl] in keine Verachtung der christlichen Religion“, d.h., sie betrachteten sich weiterhin als Christen.

181
Ich glaube [...] ausgezeichnet hat

Zitat a19f.

182
daß Christus schon vorher zu GOtt gehöre

Semler spricht hier (vgl. auch b94f.) die Lehre von der Präexistenz Christi an, gemäß der Jesus Christus bereits „vor“ seinem irdischen Leben oder gar „vor“ der Welt existierte, vgl. z.B. Joh 17,5. In der Regel wurde das „vor“ dabei im Sinne einer zeitlos-ewigen (vgl. 355) Existenz Christi interpretiert. Eine solche Deutung ist vollauf verträglich mit der Auffassung, das zeitliche Menschsein Jesu Christi beginne mit Marias Empfängnis, vgl. z.B. Thomas von Aquin, Summa Theologiae III, q. 16, a. 6.9.10. Sozinianer (vgl. 148) und Unitarier (vgl. 463) lehnten die Präexistenz-Lehre ab.

183
die Lehren [...] Quelle des Unglaubens und der Religionsverachtung sind

Zitat a10.

184
diese Lehre gehört zum unabsehligen Systemwust, sie ist eine Quelle des immer mehr einreissenden Unglaubens?

Vgl. a15 („unübersehligen Wust der Systemsreligion“), a10 („Quelle des Unglaubens“), a13 („überall einreissenden Unglaubens“).

185
dis solte [...] wie er sichs denken will

Zitat a19.

186
„Indessen scheint mir [...] GOtt Jehovah heißt.“

Zitat a19.

187
Wenn [...] die [...] Bestimmung des τροπος ὑπαρξεως, oder ἰδια ὑποστασεως περιγραφη, und notio personalis mit dem Worte Jehovah verbunden wird

In der traditionellen christlichen Theologie werden die drei Personen (Vater, Sohn, Heiliger Geist) der Gottheit auch als „Hypostasen“ (gr. ὑπόστασις; eigentlich: „Grundlage“) bezeichnet. Da nach athanasianischem Verständnis (vgl. 129) besagte Personen nicht identisch miteinander sind, wurde die Angabe einer jeweils charakteristischen Seinsart (gr. τρόπος), identifizierenden Beschreibung (gr. περιγραφή), eines begrifflichen Unterscheidungsmerkmals (lat. notio) etc. für nötig erachtet. Vgl. ausführlich die von Semler herausgegebene und kommentierte Evangelische Glaubenslehre I (1759) Siegmund Jacob Baumgartens, § 16; zu Christus v.a. die Thesen VI–VIIII, 479–493.

188
Kaiser Julian

Julian (331/32–363), von seinen christlichen Gegnern „Apostata“ genannt, römischer Kaiser (361–363), Philosoph und Literat. Julian war der letzte Nicht-Christ auf dem römischen Thron. Er versuchte den Einfluss des Christentums in der Verwaltung des Reichs zurückzudrängen und heidnische Kulte und das Judentum zu stärken. Obwohl es unter seiner Regentschaft keine staatlich organisierte Christenverfolgung gab, wurde Julian von späteren kirchlichen Autoren häufig dämonisiert. In seiner Schrift Gegen die Galiläer (Κατὰ Γαλιλαίων) unterzog er das Christentum einer umfassenden Kritik. Das Werk ist verloren, aber zumindest das erste der drei Bücher in Teilen rekonstruierbar, da antike christliche Apologeten (insbesondere Kyrill von Alexandrien) aus ihm zitierten. In den erhaltenen Fragmenten diskutiert Julian u.a. den Prolog des Johannesevangeliums, ohne an seiner Echtheit zu zweifeln.

189
ἠλιθιος Johannes

Julian (s. erl_b_5_8) hatte eine geringe Meinung vom Evangelisten Johannes, den er für die in seinen Augen ebenso absurde wie verderbliche Meinung, Jesus sei Gott, verantwortlich machte (vgl. Gegen die Galiläer, Fragmente 79.80 [Zählung Masaracchia]). Nicht belegt ist hingegen, dass er Johannes „dumm“ (gr. ἠλίθιος) nannte. Semler mag hier ein gelehrtes Wortspiel beabsichtigt haben: „ἠλίθιος Johannes – dummer Johann – Dummerjan“.

190
Engel des Angesichtes GOttes

Vgl. Ex 33,14f.; Jes 63,9. Semler lehnte die keineswegs nur unter „katholischen“ (s. Text) Theologen verbreitete, auf Christus vorausdeutende typologische oder allegorische Auslegung des Alten Testaments im Allgemeinen und die Identifizierung des hier genannten Engels mit Christus im Besonderen ab. Vgl. schon seine „Fortsetzung der historischen Einleitung in die dogmatische Gottesgelersamkeit“, die er dem 3. Band der von ihm herausgegebenen Evangelische[n] Gotteslehre (1760) Siegmund Jacob Baumgartens voranstellte (30–148): „Sehr vieles gehört zu den Altertümern und der gottesdienstlichen Geschichte der Juden, nicht aber in unsre Theologie; [...] gleichwie der bestimte Vortrag der Lehre von GOtt, den götlichen Personen und Eigenschaften in der Vorstellung der oeconomia V.T. [d.i. der Ordnung des Alten Testaments] nicht eigentlich vorkommen kann, ohne den Vorzug des neuen Bundes [...] zu schmälern“ (117f.).

191
ὁ Θεος των ὁλων

Wörtlich „der Gott von allen [d.i. der ganzen Welt]“; der Ausdruck ist nicht biblisch, kommt aber bei einigen Kirchenlehrern (z.B. Origenes, Theodoret) vor.

192
τροπον ὑπαρξεως

Vgl. 377.

193
Daß sich Christus Johan. 10. deutlich und ehrlich [...] genug erklärt habe

Anspielung auf a19 (mit polemischem Einschub Semlers).

194
Obersatz [...] Untersatz

Begriffe aus der aristotelischen Logik. Ober- und Untersatz sind die Prämissen eines Syllogismus, aus denen sich die Schlussfolgerung (Konklusion) mit logischer Notwendigkeit ergibt. Semler denkt hier in etwa an folgenden Schluss: 1. (Obersatz) Der Sohn Gottes ist über alle endlichen Dinge gesetzt und kommt in die Welt, um das wahre Verhältnis des Messias auszurichten. 2. (Untersatz) Jesus ist der Sohn Gottes. 3. (Konklusion) Jesus ist über alle endlichen Dinge gesetzt und kommt in die Welt, um das wahre Verhältnis des Messias auszurichten. – Da die Juden (3) bestreiten, müssen sie, wenn sie sich nicht in Widersprüche verwickeln wollen, (mindestens) eine der Prämissen zurückweisen. Sie lehnen (2), den Untersatz, ab.

195
Es ist ja vielmehr klar, daß Jesus [...] nicht anbringen konte

Hier und im Folgenden wendet Semler die häufig mit seinem Namen verbundene, jedoch schon bei Autoren wie Baruch Spinoza (1632–1677) oder Jean-Alphonse Turretini (1671–1737) zu findende, sog. Akkommodationstheorie an, gemäß der die Propheten bzw. Jesus und die Apostel aus pädagogischen Gründen ihre Lehre den religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen der jeweiligen Zuhörerschaft angepasst haben. Vgl. z.B. Semler über Origenes 402; zur doppelten Lehrart 464; d151; f194f.

196
Jesus wolle deutlich und ehrlich [...] keinen Vorwurf machen

Kompiliertes Zitat a19f.

197
der Eingeborne, der gleichsam im ewigen Schooße des Vaters ist

Vgl. Joh 1,18.

198
es mag ihm dis oder jenes scheinen

Anspielung auf a19 („Indessen scheint mir [...]“), vgl. b89.

199
Daß für Christen [...] der Tugendhaften

Zitat a20.

200
ἀνομως

Anspielung auf Röm 2,12, wo Paulus über diejenigen spricht, die ohne das Gesetz (gr. ἀνόμως) lebten.

201
seit dem alten Urheber der Bücher de vocatione gentium

Die Urheberschaft der Schrift De vocatione omnium gentium (Über die Berufung aller Völker) war bis Anfang des 20. Jh.s umstritten, sie wurde u.a. dem Kirchenvater Ambrosius (um 340–397) und Papst Leo I., dem Großen (um 400–461), zugeschrieben. Heute gilt Prosper von Aquitanien (gest. nach 455), Laientheologe, Dichter und Mitarbeiter Leos, als wahrscheinlicher Autor. Prosper war ein glühender Anhänger Augustinus’, versuchte mit seiner Schrift jedoch die Radikalität der augustinischen Gnadenlehre abzumildern und sie mit der Aussage, Gott wolle das Heil aller Menschen (1Tim 2,4), in Einklang zu bringen. Zu diesem Zweck nahm er eine allgemeine Gnade an (De voc. II, 25), die es allen Menschen ermögliche, anhand der Werke der Schöpfung und Vorsehung Gott zu erkennen und zu verehren (I, 5). Auch Christi Kreuzestod ist Ausdruck einer solchen Gnade, er starb für alle Menschen und sein Opfer wird selbst den Völkern, die bislang noch nicht von ihm gehört haben, bekannt gemacht werden (II, 16.17). Zudem lässt Prosper ausdrücklich Raum für die Errettung von Heiden (II, 5.14). Dass gleichwohl nicht alle in den Genuss spezieller Gnade, d.h. individueller Erlösung, kommen, liegt nicht an Gott, sondern am verstockten Willen der Menschen (II, 25.28). Da Prosper allerdings zugleich mit Augustinus darauf besteht, dass die göttliche Erwählung in absoluter Souveränität allem menschlichen Handeln (explanatorisch) vorausgeht (z.B. I, 22), erscheint seine Position inkonsistent. Warum trotz des allgemeinen Heilswillens Gottes manche erlöst und andere verdammt werden, bleibt ein Mysterium (z.B. I, 21).

202
Christus meruit nobis, und Christus peperit, procurauit, consecutus est suis studiis hominum bono

Semler benutzt hier biblisch fundierte christologische Aussagen, die nicht nur zum Kernbestand der Scholastik, sondern auch der evangelischen Theologie gehörten. Dt. in etwa: „Christus hat uns ein Verdienst erworben, Christus brachte hervor, sorgte sich, trachtete mit all seinen Mühen nach dem für die Menschen Guten.“

203
„der Glaube an Christum [...] Seligkeit der Tugendhaften.“

Zitat a20.

204
ich bin der Weg, die Volkommenheit, das Leben etc.

Vgl. Joh 14,6.

205
Früchte des Glaubens

Anspielung auf Gal 5,16–26 sowie auf Mt 7,17–20.

206
daß sie eine Quelle des Unglaubens seien etc.

Erneute Anspielung auf a10.

207
caussa physica [...] caussa moralis

In der damaligen Schulmetaphysik gängige Unterscheidung zweier Arten von Wirkursache (causa efficiens). Einer der meistgelesenen Lehrbuchautoren der Zeit, Christian August Crusius (1715–1775), dessen Werk sowohl den jungen Bahrdt als auch Kant stark beeinflusste, erklärt den Unterschied wie folgt: „Causa physice efficiens ist [die Ursache], welche den Effect selbst ins Werk setzet, es geschehe nun mittelbar oder unmittelbar. Causa moralis ist, welche zu dem betrachteten Effecte in so ferne die Ursache ist, daß sie einen Geist dazu bewogen hat. Sie ist also zwar von der Antreibung des Geistes eine Causa physice efficiens, aber nicht von der betrachteten That selbst“ (Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß, 1747; 21762, 280). – Der Tod Christi ist laut Semler also nur insofern ursächlich für die Besserung von Menschen, als er von ihnen „bemerkt“ (s. Text) wird und einen Eindruck auf ihren Geist hinterlässt; vgl. auch 298.

208
der muß auch dabey seyn, wie Luther sagte

Dieser Gedanke durchzieht das gesamte Werk Luthers, vgl. z.B. Die sechste Predigt am Freitage nach dem Sontag Invocavit (1522), WA 10.3, 48f.

209
Daß GOtt [...] zu belohnen

Zitat a20f.

210
duplici praedestinatione, ad vitam, ad mortem

Gemeint ist die doppelte göttliche Vorherbestimmung (Prädestination) des Menschen zum ewigen Leben oder zur Verdammnis.

211
wie Calvinus schon also geschlossen hat. (Institut. lib. 2. c. 8)

Verweis auf das Hauptwerk des Genfer Reformators Jean (Johannes) Calvin (1509–1564). Calvin studierte die Artes liberales am Pariser Collège de Montaigu und Rechtswissenschaften an den Universitäten Orléans und Bourges. Seine humanistisch geprägten Reformideen wurden anfänglich von anderen französischen Humanisten und der Schwester des Königs, Margarete von Navarra, unterstützt. Nach der Flucht aus Paris (1533) und kürzeren Aufenthalten in Straßburg dann ab 1537 und erneut ab 1541 großer Einfluss auf die reformatorische Neuordnung der Genfer Kirche und darüber hinaus auf die nach ihm benannte Richtung der reformierten Konfession (Calvinismus). An den unterschiedlichen Ausgaben seines Hauptwerks Institutio religionis christianae (11536; 21536; letzter Hand 1556) lässt sich Calvins Entwicklung eindrucksvoll nachvollziehen. Ab der 2. Aufl. besitzt Calvins Institutio die Aufteilung in vier Bücher, die auch Semler für seinen Verweis benutzt. Im achten Kapitel des 2. Buches geht es um die Auslegung des Dekalogs und konkret um Gottes Anrechnung der Sünde der Väter, vgl. Inst. II, 8, 18–21.

212
wie schon Origenes wider den Celsus

Das apologetische Werk Gegen Celsus (Κατὰ Κέλσου) entstand zwischen 244 und 249. In ihm beschäftigt sich der neben Augustinus wohl bedeutendste antike Theologe Origenes (um 185–um 253) mit Einwänden gegen das Christentum, die in der (verlorenen) Streitschrift Wahre Lehre (Ἀληθὴς λόγος; um 175) des griechischen Philosophen Celsus erhoben wurden. Semler gab 1780/81 in seinem kurzlebigen Magazin für die Religion eine geraffte und mit Anmerkungen versehene Fassung von Gegen Celsus heraus (2. Teil; 171–398; 3. Teil, 279–380). Hier bezieht er sich auf 1, 9: „Wenn es möglich wäre, dass alle Menschen sich von den Geschäften des Lebens freimachen und ihre ganze Zeit auf das Studium der Philosophie verwendeten, so dürften sie keinen anderen Weg einschlagen als diesen allein. Denn im Christentum wird sich [...] keine geringere Prüfung der Glaubenslehren [...] finden lassen als anderswo. Wenn aber dies nicht möglich ist, wenn wegen der Sorgen und Mühen, die das Leben mit sich bringt, und wegen mangelnder geistiger Begabung sich nur wenige der Wissenschaft widmen, welcher andere Weg, um der großen Menge zu helfen, dürfte wohl gefunden werden, der besser wäre, als der Weg, den Jesus den Völkern überliefert hat?“ (Übers. Paul Koetschau).

213
Daß es Engel [...] zu glauben

Zitat a21.

214
wer lehret dieses wol als eine Glaubenslehre der Christen

Semler hatte sich einige Jahre zuvor noch ganz anders geäußert. Vgl. seine (unpaginierte) Vorrede zur anonym erschienenen Schrift Versuch einer biblischen Dämonologie, oder Untersuchung der Lehre der heil. Schrift vom Teufel und seiner Macht (1776). Dort spricht Semler u.a. vom „alte[n] Begrif vom Teufel, Satan etc. [...], den so viele Ausleger und Theologen, so lange Jahrhunderte nicht nur beybehalten, sondern durch ihre so grosse Uebereinstimmung, zu einem ganz kentlichen Lehrsatz, reiner lutherischen Theologie gemacht haben“ ([4]; vgl. [5]–[7]).

215
Gaßnerischen Auftritte

Johann Joseph Gaßner (1727–1779) war ein österreichischer römisch-katholischer Priester, Exorzist und Wunderheiler. Er wirkte zunächst in Vorarlberg und am Bodensee, zwischen den Jahren 1774 und 1776 in Ellwangen und Regensburg. Unter enormem, weit über die jeweilige Region hinausgehendem Zulauf vollzog er dabei an Kranken und „Besessenen“ den Exorzismus. Kaiser Joseph II. (vgl. 92) befahl 1776, dem Treiben ein Ende zu setzen. Gaßner wurde daraufhin als Dechant in das verschlafene Pondorf (heute Teil der niederbayrischen Gemeinde Kirchroth) versetzt, wo er wenige Jahre später starb. Seine tatsächlichen oder vermeintlichen Heilungen provozierten eine beachtliche Anzahl an Schriften und Gegenschriften. Auch Semler beteiligte sich an der Debatte mit den von ihm herausgegebenen zweibändigen Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen (1776), in denen er u.a. kritisch auf Gaßner in Schutz nehmende Briefe Lavaters (vgl. 156) antwortete.

216
Ausschreiben der würdigsten Erzbischöfe von Salzburg und Prag

Nicht nur Kaiser Joseph II., sondern auch die Erzbischöfe von Salzburg und Prag verurteilten 1776 Gaßners „Heilkuren“ und veröffentlichten vielbeachtete Hirtenbriefe gegen sein Auftreten.

217
Urtheile vieler Gelerten in Baiern

Besonders in Kurbayern, wo Gaßner Zuflucht gefunden hatte, erschienen viele Schriften gegen ihn und allgemein gegen Zauberei; vgl. AdB 24 (1775), 608–631.

218
Cartesius

René Descartes (1596–1650), französischer Philosoph, Mathematiker und Naturforscher. Sein Denken – u.a. die Ablehnung aristotelischer Finalursachen zur Erklärung von Naturphänomenen, die Methode des Zweifels und das Cogito-Argument, die Behauptung eines Dualismus von körperlichen und geistigen Substanzen – markierte in den Augen vieler späterer Autoren eine Zeitenwende. Berühmt ist Descartes’ Gedankenexperiment, in dem ein böser Geist (genius malignus) ihm die Existenz einer Außenwelt nur vorgaukelt (Meditationes de prima philosophia, 1641). Semler spielt hier aber vermutlich auf die Schrift Les Passions de l’âme (1649; dt. 1723) an, in der Descartes eine wissenschaftliche Analyse der Seelenvorgänge und menschlichen Leidenschaften vornimmt, die ohne die Annahme böser und guter, auf die Seele wirkender Geister auskommt.

219
Daß die göttlichen Schriften [...] Beweiß gelesen

Zitat a21.

220
Streitigkeit [...], so die jesuitischen Lehrer zu Löwen, Douai – mit den Dominicanern [...] gefüret haben

Hier formuliert Semler recht verkürzend. In seiner Abhandlung von freier Untersuchung des Canon IV (1775), 342, heißt es korrekter: „Streitschriften der Jesuiten und ihrer Widersacher zu Löwen und Douai“. Der flämische Jesuit Leonhard Lessius (1554–1623) lehrte eine Realinspiration, wonach der Heilige Geist die Inhalte (lat. res) der Bibel garantiere. Es kam deshalb zu Auseinandersetzungen mit Theologen in Löwen und Douai. Lessius’ einflussreichster Gegenspieler war der spanische Dominikaner Domingo Báñez OP (1528–1604), der weiterhin die Ansicht einer Verbalinspiration vertrat, wonach der Heilige Geist sogar die konkreten Worte (lat. verba) der Bibel eingegeben habe.

221
seit Calixti Zeit

Gemeint ist Georg Calixt (1586–1656), evangelischer Theologe und Ireniker (vgl. 139). Laut Calixt sind nur auf übernatürliche heilsnotwendige Wahrheiten bezogene Stellen der Schrift direkt offenbart oder inspiriert. In allen anderen Fällen sei lediglich eine göttliche adsistentia anzunehmen, die die biblischen Autoren daran hindere, Falsches aufzuzeichnen. Siehe Responsum Maledicis Theologorum Moguntinorum (1644), §§ 72–74. Calixt konnte sich innerprotestantisch mit dieser Ansicht jedoch nicht durchsetzen, vgl. 135.

222
diejenigen Zeitgenossen, welche Num. 8. und 9. mit unter die Beweise setzen wollen

Der Text von Numeri 8 und 9 enthält eine Reihe ritueller jüdischer Reinheitsgebote, deren kontingenter, „lokaler“ Charakter eine Verbalinspiration ganz besonders unplausibel erscheinen lässt, vgl. auch 135.

223
Daß alle Christen [...] gewürdiget werde

Zitat a21–23.

224
ohnerachtet sie lauter Wust enthalten sollen

Anspielung auf a15.

225
seit Gerhards Zeiten

Johann Gerhard (1582–1637), wirkte ab 1606 in Jena und gilt als bedeutendster Theologe der lutherischen Orthodoxie. Zu Gerhards Verständnis der „Elementaria“ vgl. seinen Tractatus de legitima Scripturae sacrae interpretatione (1610), Art. 190. Semler wird wenig später in der Auseinandersetzung um den Deismus eine ganz ähnliche Argumentation verwenden, vgl. Semler, Zusäze zu Lord Barringtons Versuch (1783), 83.

226
Summarien [...] wie besonders Veit Dietrich

Veit Dietrich (1506–1549), deutscher Theologe und Vertrauter Luthers, erst Student, dann Dozent in Wittenberg, ab 1535 Pfarrer in seiner Heimatstadt Nürnberg. Dietrich gab neben Schriften Luthers und eigenen Predigten auch Summarien – auf Erbauung abzielende, leicht verständliche Kapitelzusammenfassungen – des Alten (1541) und des Neuen Testaments (1544) heraus, die vielfach aufgelegt wurden und noch lange nach seinem Tode in Gebrauch blieben.

227
Eclogas, Synopses

Eine Ekloge (gr. ἐκλογή; wörtlich: „Auswahl“) ist ein Auszug aus einem längeren Text. Verwendet wurde der Begriff zunächst vor allem für „ausgewählte“ Gedichte, später wurde er auch mit Bezug auf andere Gattungen benutzt. Hiervon zu unterscheiden ist die Bezeichnung bukolischer Gedichte als „Ekloge“ (z.B. bei Vergil oder Gottsched). – Unter einer „Synopse“ versteht Semler hier nicht die Gegenüberstellung gleichartiger Texte (wie der Evangelien), sondern die bündige Zusammenfassung (gr. σύνοψις; „Zusammenschau“) bestimmter Inhalte.

228
Capitula, (des Prätextatus, über Pauli Briefe,)

Die Angabe wirft Rätsel auf. Der einzige weitere Hinweis auf ein solches Werk, der sich aufspüren lässt, stammt ebenfalls von Semler und findet sich in Richard Simons (1638–1712) Kritische[n] Schriften über das neue Testament II (1777; orig. 1690), übersetzt vom Semler-Schüler Heinrich Matthias August Cramer (1745–1801). Semler selbst steuerte Vorreden und Anmerkungen bei. Auf S. 267 schreibt er: „In der bibliotheca pistoriensis, welche der gelehrte P. [= Pater] Zacharias herausgegeben, befindet sich eines gewissen Praetextatus Sammlung der capitulorum [Summarien] der Briefe Pauli, lateinisch.“ Tatsächlich fehlt jedoch in der zweibändigen Bibliotheca Pistoriensis (1752) des jesuitischen Kirchenhistorikers Francisco Antonio Zaccaria (1714–1795) jeder Hinweis auf einen Autor namens Prätextatus. Vermutlich meint Semler die dort abgedruckten „Nonaginta Peregrini Episcopi Canones ex Paulli epistolis sumti contra Haereticos sui temporis“ (I, 66–77). Bei den Canones handelt es sich um 90 aus den Briefen des Apostels Paulus (und dem Hebräerbrief) gezogene Lehrsätze, die wahrscheinlich auf den antiken Theologen und Bischof von Avila, Priscillian (ca. 340–385), zurückgehen. Ein „Bischof Peregrinus“, dessen genaue Identität unsicher ist, hat die Canones eingeleitet und nach eigener Aussage im Sinne der katholischen Lehre „korrigiert“ – Priscillian war wegen Zauberei von weltlichen Autoritäten hingerichtet worden, seine Anhänger in den Ruf der Häresie geraten. – Die Verwechslung der Namen ist für den enzyklopädisch gebildeten Semler äußerst ungewöhnlich und wohl am ehesten durch ein unleserlich angefertigtes Exzerpt zu erklären.

229
speculum in Augustini Werken

Bei Augustinus’ Spätwerk Speculum („Spiegel“), entstanden 427, handelt es sich um eine umfangreiche Zusammenstellung biblischer Gebote. Vertreten sind die Mehrzahl der Bücher des Alten und alle Bücher des Neuen Testaments.

230
Uebereilungen des Gretser und Tanner auf dem colloquio zu Regenspurg [...] das Hündlein wedelte mit dem Schwanze

Der jesuitische Theologe Adam Tanner (1572–1632) hatte während des Regensburger Religionsgesprächs (1601), das sich um die Frage der alleinigen Autorität der Heiligen Schrift drehte, die Auffassung verteidigt, sämtliche Aussagen der Bibel seien als Glaubensartikel anzusehen. Auf die Nachfrage des Lutheraners Ägidius Hunnius (1550–1603), ob dies auch für die Behauptung gelte, Tobias habe auf seinen Reisen einen Hund bei sich gehabt (vgl. Tob 5,17; 11,4), bejahte Tanner mit Bestimmtheit: 1) Eine Person sei ein Ketzer dann und nur dann, wenn sie einen Glaubensartikel leugne. 2) Wer die Wahrheit der biblischen Aussage, Tobias habe einen Hund gehabt, leugne, sei, wie auch die Lutheraner zugäben, ein Ketzer. 3) Also sei die Aussage, Tobias habe einen Hund gehabt, ein Glaubensartikel. – Der jesuitische Gegenreformator Jakob Gretser (1562–1625) war Teilnehmer des Religionsgesprächs, meldete sich jedoch während der betreffenden 11. Session nicht zu Wort. Das Schwanzwedeln ist biblisch im Übrigen nicht explizit bezeugt, sondern geht auf Hunnius’ polemische Fassung des Problems zurück.

231
Calixti Lehrart

Vgl. 411.

232
daß aber der Kirche, (darunter ich mir doch eigentlich etc.)

Zitat a22, vgl. b104.

233
wenn man die Kirche [...] das Vorurtheil der Einsicht etc.

Paraphrase a22, vgl. b104.

234
schmalkaldischen Artikeln

Martin Luther verfasste 1536 die Schmalkaldische[n] Artikel nach dem Vorbild seines „Großen Bekenntis“ (1528). Auf dem Bundestag des Schmalkaldischen Bundes, des Zusammenschlusses der protestantischen Reichsstände, im Frühjahr 1537 konnten sie sich zunächst nicht allgemein durchsetzen. 1580 wurden die Artikel dann ins Konkordienbuch aufgenommen und sind seither gültige Bekenntnisschrift der lutherischen Kirchen.

235
ius circa sacra publica

Gemeint sind die obrigkeitlichen Aufsichtsrechte über Religionsgemeinschaften.

236
Costnitz und Basel

Gemeint sind die Reformkonzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), auf denen über die Machtfülle des Papstes gestritten wurde und die Meinung vorherrschte, das Konzil stehe über dem Papst (Konziliarismus).

237
Investituren

Gemeint sind die Einsetzungen (wörtlich „Einkleidungen“) kirchlicher Würdenträger. Semler spielt auf die zahlreichen Konflikte zwischen Papst und weltlichen Herrschern über die Rechte zur Einsetzung im Kirchenwesen an, etwa auf den langjährigen Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser (ca. 1075–1122).

238
die Kirche hat kein Recht, mir – Lehren und Begriffe aufzudringen

Zitat a22, vgl. b104f.

239
Vocationen

Gemeint sind Bestallungen von Theologen.

240
So viel gründliche Abhandlungen de iure principis circa sacra

Vgl. etwa Johann Jacob Mosers voluminöses Werk Von der Landeshoheit im Geistlichen (1773) und die darin enthaltenen umfangreichen Literaturlisten.

241
Bauren im 16ten Jahrhundert ihre 12 Artikel ausgehen ließen

Im März 1525 stellten oberschwäbische Bauern in Memmingen ihre Forderungen, die die schikanöse Behandlung durch die Obrigkeiten beenden und ihnen größere Rechte und Freiheiten zusichern sollten, programmatisch in zwölf Artikeln zusammen. Die mediale Verbreitung der Zwölf Artikel verhalf dem meist recht regionalen Aufbegehren des sog. Bauernkrieges (1524/25) zu einem einheitlichen Gesicht.

242
Luthers, Melanchthons und andrer Lehrer Antworten

Die Reformatoren antworteten abwägend bis feindlich auf die Forderungen der Bauern, was die Fürsten als Rechtfertigung für ihr militärisches Vorgehen gegen die aufständischen Bauern benutzten.

243
Thomas Münzer

Thomas Müntzer (1489–1525) war ein radikalisierter Reformator und Anführer der aufständischen Bauern in Thüringen. Unter seiner Führung errichteten die Aufständischen im Frühjahr 1525 in Mühlhausen eine Art theokratische Verfassung, die kurze Zeit darauf niedergeschlagen wurde. Der hingerichtete Müntzer wurde zum Prototyp des religiös motivierten Aufrührers stilisiert.

244
Nachbar Andres, Carlstadt

„Nachbar [ursprünglich: Neber] Andres“ war die Selbstbezeichnung von Andreas Rudolf Bodenstein, genannt nach seinem Geburtsort Karlstadt (1486–1541), Priester und Theologieprofessor in Wittenberg, beeinflusst von Neuplatonismus, Kabbala und Humanismus. Karlstadt schloss sich Luthers Reformation an und wurde ein vielgelesener Autor reformatorischer Schriften. Er radikalisierte sich jedoch zunehmend. Entgegen Luthers versöhnlichen „Invocavitpredigten“ rief er 1523 in Wittenberg zum Bildersturm auf und wurde nach weiteren Eskalationen 1524 endgültig vom Kurfürsten von Sachsen des Landes verwiesen. Karlstadt lebte nach einigen unsteten Stationen in Kiel und Ostfriesland ab 1534 in Basel.

245
Kirchenvisitationen

Gemeint sind Besuche vor Ort und Befragungen der Gläubigen und ihrer Gemeindevorsteher, die meist von einer zeitlich einberufenen Kommission durchgeführt wurden. Konkret spielt hier Semler auf die sächsischen Kirchenvisitationen im 16. Jh. an, s. 441, vgl. auch 589.

246
„wenigstens wäre dis [...] überzeugt fühle.“

Zitat a22, vgl. b105.

247
Wiedertäufer

Gemeint sind radikale Strömungen der Reformation, die anstelle der Kindertaufe eine Erwachsenentaufe des Gläubigen fordern, weshalb sie von ihren Gegnern als „Wiedertäufer“ diffamiert wurden. Semler spielt hier deutlich auf die soziale Sprengkraft an, die täuferische Überzeugungen entwickeln konnten. Paradebeispiel dafür war die Situation in Münster, wo 1534 Täufer die Ratsmehrheit erlangten, den Bischof als Landesherrn entmachteten und kurzzeitig ein Täuferreich errichteten. 1535 wurde Münster blutig zurückerobert und die Anführer hingerichtet.

248
reseruationem mentalem, welche selbst alle Jansenisten an jenen politischen Jesuiten verabscheueten

Eine (strikte) Mentalreservation liegt vor, wenn der Sprecher seinen Worten im Geiste eine bestimmte Einschränkung oder einen bestimmten Vorbehalt hinzufügt, sodass die Worte zusammen mit dem nicht öffentlich geäußerten Zusatz – und nur mit diesem – eine wahre Aussage oder ein aufrichtiges Versprechen ergeben: z.B. (öffentlich) „Ich gelobe, mich an die Lehrvorschriften zu halten“, (mentale Ergänzung) „solange sie nicht meinem Gewissen widersprechen“. Die kasuistische Lehre der Mentalreservation besagte ferner, dass es zwar eine unaufhebbare Pflicht gebe, gegenüber Gott innerlich die Wahrheit zu bekunden, dies jedoch moralisch damit verträglich sei, zugleich eine Halb- oder gar Unwahrheit auszusprechen, falls Letzteres einem höheren Zweck dient. Die Lehre wurde erstmals von dem spanischen Theologen, Kirchenrechtler und Ökonomen Martín de Azpilcueta (1492–1586) entwickelt und dann vor allem von jesuitischen Autoren – Robert Southwell (1561–1595), Henry Garnet (1555–1605), Tomás Sánchez (1550–1610), Vincenzo Filliucci (1566–1622) – übernommen und verfeinert. Der jansenistische (vgl. 185) Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) verspottete die Auffassung in seinen Lettres provinciales (1656/1657) als heuchlerisch, vgl. 9. Brief.

249
Biederman

Bereits im Mittelhochdeutschen nachweisbare Bezeichnung für einen anständigen, rechtschaffenen Mann. Die heutige Konnotation des „Spießerhaften“ wurde im 18. Jh. noch nicht mit dem Ausdruck verbunden. Johann Christoph Gottsched (1700–1766) nannte ein von ihm herausgegebenes Journal (1727–1729) völlig unironisch Der Biedermann.

250
„dieses Recht erstreckt sich [...] als bey gemeinen Protestanten.“

Zitat a22, vgl. b105.

251
Churfürst von Sachsen, der Stadtrath zu –

Semler führt nochmals die reichsrechtlich eingesetzten Instanzen der Reichsfürsten und Reichsstädte auf, die durch ihre konfessionellen Grenzziehungen den sozialen Frieden garantieren sollen. Der Kurfürst von Sachsen sowie der nicht weiter genannte Stadtrat stehen hier pars pro toto für die aus Semlers Sicht ausgleichende Religionspolitik gegen radikale Kräfte wie Karlstadt, Müntzer oder die Bauern; s. b109.

252
„Ja, sagt der Hr. Verfasser [...] gethan habe etc.“

Bearbeitetes Zitat a22f. (Einschub in Klammern von Semler hinzugefügt); vgl. b105.

253
Superintendens in Giessen

Das Beispiel beruht auf einem Irrtum Semlers, Bahrdt wirkte nie als Superintendent in Gießen. Er war dort von 1771 bis 1775 als vierter Theologieprofessor und Prediger an der Pankratiuskirche angestellt.

254
Dis mag in terris infidelium seyn

Gemeint ist, dass allenfalls in nichtchristlichen Gebieten – in terris (oder: partibus) infidelium – einzelne Funktionsträger oder Mitglieder der lutherischen Kirche auch ohne besondere Vollmacht als Repräsentanten besagter Kirche gelten können.

255
daß sie die Quelle des Unglaubens enthielten [...] daß sie heucheln und lügen

Anspielung auf a10 („Quelle des Unglaubens“) und a9 („Heuchler, der [...] leugt“).

256
„Wie ich nun [...] also eile ich etc.“

Zitat a7f.

257
Nachrichten und Briefe [...], worin des Hrn. Verfassers [...] Abreise aus Heidesheim, und die geschwinde Nachreise des Hrn. –bers aus Heidesheim, und noch zweier ansehnlichen creditorum, [...] erzälet wird

Um das aufgrund des finanziellen Rückzugs des Grafen von Leiningen-Dagsburg in Schieflage geratene Philanthropinum in Heidesheim (vgl. 107) zu retten, hatte Bahrdt im August 1778 einen Gesellschaftervertrag mit drei Investoren abgeschlossen, die sich für Haushaltung des Instituts, Versorgung der Kinder und Besoldung der Lehrer verbürgten und dafür das Recht auf Bahrdts Vermögen sowie sämtliche Einnahmen der Schule erhielten. Bei den drei Investoren – Mitglieder der sog. „ökonomischen Gesellschaft“ (vgl. b117f.) – handelte es sich um den Dürkheimer Gastwirt und Postmeister Johann Adam Specht, den Dürkheimer Stadtschreiber Johann Heinrich Koch sowie den Frankfurter Kaufmann und Kammerrat Philipp Christian Schellenberg (1734–1797), auf den Semler hier namentlich anspielen dürfte („–ber[g]s“). Dass die Hauptgläubiger Bahrdt selbst nachgereist sind, ist unwahrscheinlich, sie beauftragten vermutlich den Heidesheimer Hausmeister Tresch mit der Verfolgung. Tresch gelang es zwar tatsächlich, Bahrdt vorübergehend festzusetzen, doch entkam dieser schließlich unter abenteuerlichen Umständen nach Preußen. Vgl. u.a. Degenhard Pott, Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner, und anderer an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt III (1798), 4–6; Bahrdt, Geschichte seines Lebens III (1791), 404–406; IV (1791), 3–14. – Noch im Jahre 1787 schickten die Mitglieder der ökonomischen Gesellschaft zwei Briefe an Bahrdt, in denen sie ihre persönlichen Schicksale (Pfändung, Zwangsverkauf, Hausarrest) schildern und die ausstehenden Verbindlichkeiten des früheren Freundes auf über 12.000 Gulden beziffern (Pott, Briefe III, 283–286). Bahrdt scheint auf die erste Nachricht mit einem die eigenen Verhältnisse in schwarzen Farben malenden Brief reagiert und die Angelegenheit dann einfach ignoriert zu haben (vgl. aber Geschichte seines Lebens IV, 221f.).

258
da durch die Dienstentlassung [...] Dürkheim etc.

Zitat Frankfurter Staats-Ristretto, 81. St. (22.5.1779), 329–330.

259
Nachdem die ökonomische Geselschaft [...] Dürkheim an der Haard etc.

Zitat Frankfurter Staats-Ristretto, 83. St. (28.5.1779), 334[!] statt 338. Hervorhebungen von Semler.

260
Demnach der bisherige [...] halten wird

Zitat Frankfurter Staats-Ristretto, 83. St. (28.5.1779), 334[!] statt 338. Hervorhebungen von Semler. Zur „öconomischen Gesellschaft“ vgl. 447.

261
ex alio quocunque capite

„Aus irgendeinem anderen Grund“.

262
Nachdem sich [...] Räthe

Zitat Frankfurter Kaiserliche Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung, Nr. 105 (2.7.1779), o.S.

263
nach Verflus von 6 Wochen, welcher terminus sub praeiudicio praeclusionis anberaumet wird

Gemeint ist eine Frist, nach deren Ablauf Ansprüche erlöschen (Verfalls- oder Präklusionsfrist).

264
für die rechte Christusreligion, und für grösseste Rechte der Menschheit

Anspielung auf a15f., vgl. auch a11 und a24.

265
Μανθανετωσαν, οἱ ἡμετεροι, καλων ἐργων προϊστασθαι, εἰς τας ἀναγκαιας χρειας, ἱνα μη ὠσι ἀκαρποι

Tit 3,14: „Lass aber auch die Unseren lernen, sich hervorzutun mit guten Werken, wo sie nötig sind, damit sie kein fruchtloses Leben führen.“

1
August Mylius

August Mylius (1731–1784) führte seit 1763 eine Verlagsbuchhandlung in Berlin. Bei Mylius kam etwa Goethes Stella (1776) heraus. Neben einigen Schriften von Bahrdt erschienen bei ihm auch andere Neologen, so etwa Tellers Wörterbuch (11772; 61805, BdN IX).

2
jemehr er bisher selbst einer viel weitern Duldung zu bedürfen geschienen hat

Vgl. den ganz ähnlichen Vorwurf in e18 und z46. Zu Semlers Verstößen gegen die Orthodoxie vgl. seine Sicht auf die Inspiriertheit der Bibel 135, auf Engel 380, auf die Macht des Teufels 404 etc.

3
Herr Doktor Semler entschuldigt [...] Tausende sind meiner Meinung etc.

Bahrdt bezieht sich auf b[III]; dort spielt Semler seinerseits auf a23 an.

4
In der Einleitung sagt er selbst [...] gegen dasselbe zu schreiben

Vgl. b2.

5
H. D. S. beschuldigt mich [...] abändern wollen

Zum Vorwurf, eine Universalreligion einführen zu wollen, vgl. z.B. 152, b19f. 29. 38. 57. 63–66; zum Vorwurf der Abänderung von Gesetzen vgl. z.B. b7. 12. 20. 63.

6
In England sind häufige Bittschriften über die Abschaffung der Subscription [...] ergangen

Bahrdt denkt vor allem an die sog. Feathers Tavern Petition (1772), benannt nach dem Ort ihrer Abfassung: einem Gasthaus im Zentrum Londons. Angestoßen durch das Confessional (1766) Francis Blackburnes (s. 462) forderten die rund 250 Unterzeichner, darunter viele Geistliche, die Abschaffung der verpflichtenden Unterschrift (Subscription) unter die Thirty-nine Articles of Religion (1563/1571) der anglikanischen Kirche. Eine solche Unterschrift war Voraussetzung für die Übernahme kirchlicher Ämter sowie für Studienabschlüsse in Oxford und Cambridge. Die Bittschrift wurde im Unterhaus debattiert, jedoch u.a. nach einer ablehnenden Rede des Philosophen Edmund Burke (1729–1797) mit großer Mehrheit zurückgewiesen. Immerhin sprach Burke sich bei gleicher Gelegenheit für größtmögliche Toleranz gegenüber sog. Dissenters aus. Eine Wiedervorlage der Petition scheiterte 1774.

7
Blackburne, Archidiakonus von York nennt in seinem Confessional, einige Sätze der 39 Artikel unmoralisch und absurd

Francis Blackburne (1705–1787) war ein anglikanischer Theologe und Archidiakon von Cleveland (1750–1787) in der Diözese York. In seinem Hauptwerk The Confessional, or a Full and Free Inquiry into the Right, Utility, Edification, and Success of Establishing Systematical Confessions of Faith and Doctrine in Protestant Churches (1766; 31770) verfocht Blackburne die Ansicht, dass Protestanten allein auf die Bibel und nicht auf Bekenntnisschriften verpflichtet werden sollten. Bei den „39 Artikeln“ handelt es sich um die unter der Regentschaft Elisabeths I. (1533/58–1603) im Jahre 1563 zusammengestellten und 1571 in finaler Überarbeitung verbindlich gemachten Glaubensartikel der Church of England. Blackburne bezeichnet in seinem Confessional zwar einige der Argumente, die für ein verbindliches Bekenntnis vorgetragen wurden, als „absurd“ und „unmoralisch“, nicht jedoch „Sätze der 39 Artikel“ selbst. Der Abgeordnete Sir William Meredith (1725–1790), der die Feathers Tavern Petition (s. 461) im britischen Unterhaus einbrachte, war weniger zimperlich: „Several of the Articles are absolutely unintelligible, and indeed contradictory and absurd.“ (The Parliamentary History of England from the Earliest Period to the Year 1803 XVII, 1813, 247).

8
Lindsey [...] in Ansehung seiner Rektorschip in Carterick

Theophilus Lindsey (1723–1808) gründete im April 1774 die erste, sich offen als solche bekennende unitarische Gemeinde Englands (Essex Street Chapel, London). Beim Eröffnungsgottesdienst waren u.a. Benjamin Franklin (1706–1790) und Joseph Priestley (1733–1804) anwesend. Lindsey war mit der Stieftochter Francis Blackburnes (s. 462) verheiratet, verließ aber anders als sein Schwiegervater nach dem Scheitern der Feathers Tavern Petition (s. 461) die anglikanische Kirche. Die Stelle als Vikar und Leiter einer Sonntagsschule in Catterick (nicht „Carterick“) in North Yorkshire hatte er Ende 1773 aufgeben müssen. Bahrdt hatte Priestley während seines Londonaufenthalts 1777/78 besucht und sich mit ihm „manche Stunden [...] über deutsche Theologie und englische sechs [sic!] und dreissig Artikel-Religion spöttisch ergossen“ (Geschichte seines Lebens III, 1791, 327).

9
der von H. D. S. empfolnen doppelten Lehrart

Siehe z.B. b102. Zu Semlers Hypothese von der „doppelten Lehrart“ Jesu und der Apostel – einer für „Anfänger“ und einer anderen für „fähigere Zuhörer“ – vgl. Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger (1779), 18–22; der Begriff „doppelte Lehrart“ fällt wohl erstmals in: Abhandlung von freier Untersuchung des Canon III (1773), 198f. Zwar betrifft Semlers These zunächst einmal nur die Schriftauslegung, aber er macht verschiedentlich klar, dass gute Lehrer zu jeder Zeit eine doppelte (oder gar multiple) Lehrart angewandt haben und auch gegenwärtig anwenden sollten; vgl. etwa [A]ufrichtige Antwort, auf Herrn Basedows Urkunde (1780), 55f.

10
H. D. S. versichert [...] ablegen wollten

Vgl. z.B. b[XVI]. 10–12. 35. 62. 115.

11
Ich habe blos behauptet: ich – würde ein Heuchler seyn

Bahrdt bezieht sich auf a9.

12
von denen Saurin einmal sagt: „Lasset uns einen Vorhang vorziehen!“

Jacques (Jacob) Saurin (1677–1730) war ein französischstämmiger protestantischer Theologe, dessen Familie nach Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) ins Genfer Exil geflohen war. Er wirkte an wallonisch-reformierten Kirchen in London und Den Haag. Die rhetorisch ausgefeilten Predigten Saurins machten auf Zeitgenossen großen Eindruck und waren durch Klarheit des Vortrags und liberale Geisteshaltung gekennzeichnet. Im genauen Wortlaut heißt es an der von Bahrdt zitierten Stelle: „Doch lasset uns einen Vorhang über diese blutigen Auftritte ziehen“ (Predigten über die Leidensgeschichte Jesu und andre damit verwandte Materien, übersetzt von Gottlieb Lebrecht Heyer, 2. Teil, 31764, 199f.).

1
Recension in der Berlinischen Bibliothek

Das Erscheinen der Berlinische[n] Bibliothek war bereits 1750 eingestellt worden. Gemeint ist vielmehr das von dem Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai (1733–1811) herausgegebene Rezensionsorgan Allgemeine deutsche Bibliothek. Die AdB erschien zwischen 1765 und 1806 in 256 Bdn. und besprach mehr als 80.000 Werke; darunter in einer Sammelrezension über Bahrdt auch Semlers Antwort auf dessen Glaubensbekenntniß (1779) in AdB 43 (1780), 45–51. Im Anhang dieser Edition wird diese Rezension im Wortlaut geboten (Text z).

2
manche meiner Schriften oft in dieser Bibliothek ausgezeichnet worden sind

Semler wurde von Anbeginn der AdB häufig und meist wohlwollend besprochen, darunter mehrfach von dem Neologen Wilhelm Abraham Teller (s. 545) und von Hermann Andreas Pistorius (s. 471), der auch die aktuelle Rezension von Semlers Antwort verfasst hatte.

3
den Recensenten, sey er wer er wolle

Die Allgemeine deutsche Bibliothek versuchte die Unabhängigkeit und Objektivität ihrer Besprechungen durch die Anonymität ihrer Rezensenten zu wahren. Der Autor der Sammelrezension gibt sich am Ende, AdB 43 (1780), 74, lediglich durch das Kürzel „St.“ zu erkennen, womit der lutherische Theologe Hermann Andreas Pistorius (1730–1798) angedeutet ist. Pistorius, ein Schwager von Johann Joachim Spalding (1714–1804), war seit 1764 ein häufiger Rezensent in der AdB.

4
in den Frankfurter gelehrten Anzeigen, N. XIII. XIV.

Zu Beginn der Doppelnummer der Frankfurter gelehrte[n] Anzeigen, Nr. XIII u. XIV (13.–16.2.1781), 97–105, steht eine anonyme Rezension von Samuel Endemanns (1727–1789) Institutiones Theologiae Moralis (1780). Trotz aller Kritik an Endemanns Werk lamentiert der Rezensent über den grassierenden „Recensentenunfug“ (103) allzu harscher Kritik, der durch die Anonymität der Rezensenten begünstigt werde. Die Herausgeber der FgA ergänzen darunter, 105: „Aber Herr Recensent! warum selbst Anonymus! und muß sich die Toleranz nicht auch über die Intoleranten erstrecken?“

5
untreuen politischen Theologus

Anspielung auf z46 („seinen bisher behaupteten Grundsätzen ungetreu“) und z47 („blos gewisse politische Betrachtungen“ etc.).

6
freyburgische Bibliothek

Der Freiburger katholische Dogmatikprofessor Engelbert Klüpfel (1733–1811) setzte sich in der von ihm redigierten Nova bibliotheca ecclesiastica Friburgensis (1775–1783/90) mehrfach kritisch mit Semlers Schriften auseinander.

7
gar als einen Politicker aufstellen wollte

Anspielung auf z47.

8
in eben dieser Bibliothek [...] ein anderer viel billigerer Recensent dis Urtheil niederschreibet, „ein Namenloser Recensent [...] seine Feinde“

Von Semler geringfügig verändertes Zitat aus einer Rezension zu Melchior Adam Weikards (1742–1803) Vermischte[n] medicinische[n] Schriften, 2. St. (1779), in AdB 43 (1780), 17–31; 17. Der Rezensent gibt sich mit dem Kürzel „Nf.“ zu erkennen. Es handelt sich um den Oldenburger Hofmedicus Heinrich Matthias Marcard (1747–1817).

9
Hätte Herr Basedow die elende Schrift nicht drucken lassen, Urkunde

Der vollständige Titel der Schrift Basedows (s. 107) lautet: Eine Urkunde des Jahrs 1780 von der Neuen Gefahr des Christenthums durch die scheinbare Semlerische Vertheidigung desselben wider den ungenannten Fragmentisten (1780). Die Identität des Verfassers wird im „Anhang“ der Schrift (145) offenbart.

10
angeblichen Mitleiden [...] daß er gar mich und die Meinigen ernähren wollte

Basedow hatte Semler im Januar 1780 das Manuskript der Urkunde (s. 477) zugesandt. Im Begleitschreiben, das im „Anhang“ der veröffentlichten Version der Urkunde dokumentiert ist, bot er sein „ganzes Vermögen zu Diensten“ an, falls Semler sich offen zu „Naturalismus oder Deismus“ bekennen und „darüber in Verlegenheit“ geraten sollte (Urkunde, 147; vgl. auch 149). Semler wies in einer eingerückten „Nachricht“ in den Hallische[n] Neue[n] Gelehrte[n] Zeitungen, 14. St. (17.2.1780), 110, Basedows „seltsame Anerbietung“ umgehend zurück (vgl. Urkunde, Anhang 148). Vgl. auch Semlers „Vorrede“ zu seiner [A]ufrichtige[n] Antwort, auf Herrn Basedows Urkunde (1780), 28–45.

11
Urheber des Almanachs

Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781 (anonym, [1780]); vgl. auch 646. Semler dürfte die Verfasserschaft Bahrdts erschlossen haben (vgl. unmissverständlich d129), da der Almanach zahlreiche auf Bahrdt verweisende Indizien enthält (aufgelistet in [Christian Karl Am Ende], Freymüthige Anmerkungen über Herrn D. Bahrdts Kirchen- und Ketzer-Almanach auf das Jahr 1781, 1782, 11–16). Auch der Semler-Schüler Christian Gottfried Schütz (1747–1832) spricht im Mai 1781 in den Jenaische[n] Gelehrte[n] Anzeigen, 39. St. (14.5.1781), 309, bereits ganz selbstverständlich von Bahrdt als Verfasser.

12
mich nicht [...] als den Verfolger, als den Heuchler beschrieben, aus jenem Sendschreiben

Bahrdt hatte in seinem Kirchen- und Ketzer-Almanach [1780], 180f., eine lange Passage aus Ernst Christian Trapps (1745–1818) Sendscheiben an den Herrn Doktor Semler (1780), 2–4, zitiert, in der Semler als intriganter Heuchler geschildert wird, „der alles scheinen will und nichts ist“. Trapp war 1778 als Professor für Pädagogik nach Halle berufen worden und übernahm dort zugleich die Leitung eines neu gegründeten Erziehungsinstituts. Da das Institut an der theologischen Fakultät angesiedelt war, kam es zu Kompetenzstreitigkeiten mit Semler. Im Dezember 1779 entschied Minister Zedlitz (vgl. 489) schließlich auf ganzer Linie gegen Semler: Trapp solle fürderhin das Institut in alleiniger Verantwortung führen („solitarie, bloß von Berlin abhängig“), darüber hinaus Nösselt (vgl. 146) den Direktorposten des Theologischen Seminars von Semler übernehmen, der „ sein Ansehen mehr verloren hat, als er glaubt“ (abgedruckt in: Sendschreiben, 53).

13
Vorrede zu meinem Leben

Auf den Seiten [XXII]–[XXV] der nicht paginierten „Vorrede“ seiner Lebensbeschreibung I (1781) geht Semler auf einige der Vorhaltungen Trapps ein und stellt sie als Teil einer von Basedow und anderen gegen ihn inszenierten Kampagne dar. Semler konstatiert allerdings, er „habe stets an Se. Excellenz [den Freiherrn von Zedlitz] alles [über Trapp] gemeldet“ [XXIV], und bestätigt damit einen der zentralen Vorwürfe gegen ihn.

14
ich möge Gründe gehabt haben [...] desselben begünstige etc.

Leicht verändertes Zitat z45 (Hervorhebungen von Semler).

15
gehört sonst eigentlich auf einen pohlnischen Reichstag

Sprichwörtlich für ein „Bild der Unordnung und Zerfahrenheit“ (Grimmsches Wörterbuch). Im polnischen Reichstag (Sejm) konnten bis zum Jahre 1791 einzelne adlige Abgeordnete (Landboten) mit einem Veto (Liberum Veto) jeden Beschluss blockieren, was Bestechungen erleichterte und zu politischer Lähmung und teils ungezügelter Wut der jeweiligen Mehrheit führte.

16
Die Universität hat zuerst eine Vorstellung eingeschickt

Semler zitiert in der nicht paginierten „Vorrede“ zu seiner Lebensbeschreibung I (1781), [XV]–[XX], das Schreiben an Minister von Zedlitz vom 31. Juli 1779, dem bereits ein erstes Schreiben am 4. Juli 1779 vorangegangen war.

17
eine besondere nachtheilige Localität

Laut Bahrdt (Geschichte seines Lebens I, 1790, 372) befand sich das (von ihm angeblich nicht als ein solches erkannte) Freudenhaus, auf das Semler hier anspielt, im „Barfüßergäßchen“ (Barfußgäßchen) im Zentrum Leipzigs.

18
der Professor und Geheime Rath Klotz

Christian Adolf Klotz (1738–1771) wurde 1765 Professor für Philosophie und Beredsamkeit in Halle, 1766 zusätzlich Geheimrat. Im selben Jahr begründete er die Neue[n] Hallische[n] Gelehrte[n] Zeitungen, die er bis zu seinem Tode herausgab. Klotz war bekannt für den gefälligen Stil und die thematische Breite seiner Werke. Die Kritik, die er an Lessings Laokoon (1766) in der Schrift Ueber den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine und ihrer Abdrücke (1768) übte, trug ihm beißende Repliken des Verfassers ein. 1768 vermittelte der gut vernetzte Klotz Bahrdts Wechsel von Leipzig an die Universität Erfurt.

19
eine hier überall bekannte Erzählung aus Leipzig, öffentlich im Druck bekannt gemacht worden war

Vgl. auch Christian Gottfried Schütz, Geschichte des Erziehungsinstituts bei dem theol. Seminarium zu Halle (1781), 14: „So spottete er [Klotz] über die histoire scandaleuse des Hrn. Bahrdt, der damals noch in Leipzig war, in den hallischen gelerten Zeitungen. Ich entsinne mich noch folgender Stelle, die ich Ihnen, mein Werthester, blos aus dem Gedächtnisse herschreiben muß, da ich den Band hallischer Zeitungen nicht bei der Hand habe, in welchem sie vorkömt. ‚Ja wol ist Hr. Bahrdt vir clarissimus geworden, wenn es war ist, was izt die Jungemägde in Leipzig von ihm erzälen.‘ So bald aber Hr. Bahrdt nach Halle hinüber kam, vor Klozen sich beugte, und ihm die Not vorstellte, in die ihn seine jugendliche Ausschweifung gestürzt hatte, ward jener so gleich sein Patron, und brachte ihn durch seine Fürsprache nach Erfurt.“ In Wahrheit hatte Klotz den Skandal nur andeutungsweise erwähnt. Als in einem von ihm rezensierten Band die Rede auf Bahrdt kam, fügte er in Fettdruck folgende Bemerkung ein: „zu viel der Ehre, daß jetzt noch der nun auf einer ganz andern Seite bekannt gewordene Mann in dergleichen Schriften nur genennt wird“ (Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 22. St., 17.3.1768, 174). Weniger als zwei Monate später besprach Klotz dann allerdings Bahrdts Commentarius in Malachiam (1768) in lobendem Ton (Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 38. St., 12.5.1768, 300f.), damit das Schütz’sche Diktum bestätigend, dass Klotz „Schriftsteller, die er auf alle mögliche Art verpottet hatte, so bald diese ihm ihre Devotion bezeugten, und zu seiner Partei übertraten, auf einmal wieder zu preisen [pflegte]“ (Schütz, Geschichte des Erziehungsinstituts, 14). In seinen Memoiren dankte Bahrdt es übrigens schlecht und konstatierte, dass „es in neuern Zeiten [schwerlich] einen Gelehrten von so mittelmäßigem Range gegeben [hat], welcher zu einem so algemeinen Ansehen sich hat emporschwingen können, wie es Klozen gelungen war“ (Bahrdt, Geschichte seines Lebens I, 1790, 387f.).

20
wir bekamen den Bescheid, Herr D. Bahrdt solle keine lectiones theologicas halten

Entgegen eines deutlichen Votums gegen Bahrdt, das die Hallesche theologische Fakultät Anfang Juni 1779 ausgesprochen hatte, verfügte der preußische Minister von Zedlitz (s. 489) zeitnah, dass Bahrdt zumindest an der philosophischen Fakultät lehren dürfe. In einem Schreiben an den König begründete Zedlitz diesen Schritt im Dezember 1779: „so muss ich gestehen, dass ich den Bahrdt nach Halle habe kommen lassen, weil ich eines Theils überzeugt bin, dass der Kais. Reichshofrath in protestantischen Religionssachen nicht juge competent ist, und weil der Bahrdt ein besonders in der Litteratur und Rhetoric geschickter Mann ist. Ich lasse ihn aber dort Rhetoric nach dem Quintillian und über die Orientalische Sprachen lesen, und keine Theologie, damit nicht etwa orthodoxe Eltern abgehalten werden, ihre Söhne nach Halle zu schicken.“

21
privat Schreiben an Sr. Excellenz, den Freyherrn von Zedliz

Karl Abraham Freiherr von Zedlitz (1731–1793) war ein preußischer Staatsminister (1770–1789) und Ehrenmitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften (seit 1776). Ihm unterstand nicht nur das Kriminaldepartement, sondern auch das Kirchen- und Erziehungswesen, das er tiefgreifend reformierte (Letztere Zuständigkeiten musste er 1788 im Zuge der unter Friedrich Wilhelm II. einsetzenden Reaktion an Johann Christoph Woellner abtreten). Zedlitz, ein Förderer Kants, repräsentierte die liberale Universitäts- und Religionspolitik Friedrichs des Großen. – Die theologische Fakultät in Halle wandte sich 1779 in zwei „unterthänigsten Privatschreiben“ mit der (erfolglosen; s. 488) Bitte an Zedlitz, nicht nur die theologische, sondern sämtliche Lehrtätigkeit Bahrdts in Halle zu untersagen. Das zweite Schreiben, das Semler laut eigener Auskunft zwar unterzeichnet, jedoch nicht verfasst hat, wird in der unpaginierten „Vorrede“, [XV]–[XX], zu seiner Lebensbeschreibung I (1781) abgedruckt.

22
wenn der Recensent Recht hat [...] öffentlich geschrieben hatte

Anspielung auf z46 und z48 („da man in seinen Schriften auch dergleichen findet“).

23
was ich in der Vorrede zu meiner Lebensbeschreibung schon erzählet habe

Vgl. Semler, Lebensbeschreibung I (1781), [XIII]–[XX].

24
„blos gewisse [...] von sich zu entfernen.“

Abgewandeltes Zitat z47 (Hervorhebung und Umstellung auf Konjunktiv gehen auf Semler zurück).

25
Der Recensent gestehet es selbst am Ende

Vgl. z50f. Der Rezensent spricht von der Möglichkeit einer Universalreligion, anders als Semler unterstellt, nur hypothetisch: „Sollte aber das Vorhaben [...] möglich seyn“ etc.

26
westphälischen Frieden

1648 beendete der auf dem fünfjährigen Friedenskongress von Münster und Osnabrück ausgehandelte und von den europäischen Mächten angenommene Friedensschluss den sog. Dreißigjährigen Krieg (1618–1648). Der Westfälische Frieden bekräftigte die im Augsburger Religionsfrieden (1555) festgeschriebenen Rechte der christlichen Konfessionen und stellte das Reformiertentum reichsrechtlich dem Luthertum und Katholizismus gleich.

27
westphälischen Frieden und westphälischen Schinken [...] wie Herr Basedow

Anspielung auf Basedows anonym erschienene Schrift Für forschende Selbstdenker. Lehren der Christlichen Weisheit und Zufriedenheit. Eine Folge des Friedens zwischen dem wohlverstandnen Urchristenthume und der wohlgesinnten Vernunft (1780), VI: „Warum haben [die vernünftigen Zweifler und Christen] mehr, oder eine andre Vernunft, als diese oder jene Kirche ihnen einzutrichtern für gut befindet? Der Westphälische Friede, und, wenn man große mit kleinen Sachen vergleichen darf, auch die westphälischen Schinken müssen in Ruhe genießbar einem jeden Kirchenlehrer, Küster, Canter und Glockenläuter bleiben.“

28
sehr angesehenen Juristen

Das Reichhofratsconclusum gegen Bahrdts Glaubensbekenntniß löste eine gelehrte juristische Debatte aus, an der sich u.a. Johann Jacob Moser (1701–1785) beteiligte. Vgl. vor allem auch die von Heinrich Aaron Spittler verfasste und anonym publizierte Schrift Von der Gerichtsbarkeit der höchsten Reichs-Gerichte in geistlichen Sachen bey Gelegenheit des neuesten D. Bahrdtischen Rechtsfalls (1779).

29
dessen Verfasser sich [...] zum Repräsentanten unserer Kirchen eigenmächtig macht

Anspielung auf a22.

30
daß eine ganz andre Religionsform [...] des teutschen Reichs heißen

Anspielung auf a23 („Reforme“) und a15 („O möchten doch Ew. Kayserl. Majestät von Gott auserkohren seyn“).

31
in der königlich preußischen Residenz selbst gedruckt und verkauft

Gemeint ist Berlin, wo die obrigkeitliche Zensur am schärfsten hätte greifen müssen.

32
In mehrern auswärtigen Zeitungen hatte man ausgebreitet

In den Frankfurter gelehrte[n] Anzeigen, Nr. 55 und 56 (9./13.7.1779), 488, hieß es etwa über Halle: „Ebendaselbst soll Herr Doktor Bahrdt, dessen Glaubensbekenntniß mit seiner rein biblisch vorgetragenen Lehre von dem Amte und der Person Jesu Christi in Predigten so gar merklich kontrastirt, die dritte theologische Professur erhalten haben.“ Die Hallische[n] Gelehrte[n] Zeitungen, Nr. 60 (29.7.1779), 480, widersprachen umgehend dieser Darstellung: „Wir wenigstens können öffentlich versichern, daß Herr D. Bahrdt nicht nur hier gar keinerley Art von Lectionen eröfnet, sondern auch Theologische Lectionen hier halten zu dürfen ganz und gar keine Erlaubniß bekommen habe“.

33
wie ich noch Briefe aus einem Theile der Schweiz zeigen kann

Es konnte nicht ermittelt werden, von wessen Briefen Semler hier spricht. Er stand zu der Zeit nachweislich mit den Schweizern Lavater, Johann Jakob Steinbrüchel (1729–1796), Ulysses von Salis und Hans Heinrich Corrodi in Kontakt – wahrscheinlich aber auch noch mit anderen.

34
die freye und dreiste Antwort

Der Ausdruck „dreist“ hatte noch nicht die ausschließlich negative Konnotation von heute, sondern konnte auch so viel wie „beherzt“ bedeuten, vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821), Kap. 12: „Nun aber fühlt sie sich, durch das große, freye Talent, die dreiste Hand des Künstlers aufgeregt, erweckt, was von Sinn und Geschmack in ihr treulich schlummerte.“

35
was ein (ganz andrer) Recensent [...] über das Schreiben an einen Freund in G. [...] laut gesagt hat

1779 war im Verlag George Jacob Decker anonym das Schreiben an einen Freund in G. den Herrn Doctor Bahrdt und sein Glaubensbekenntniß betreffend erschienen. Dieses Werk wurde ebenfalls in der Sammelrezension in der Allgemeine[n] deutsche[n] Bibliothek 43 (1780), 59–63, besprochen. Anders als von Semler suggeriert, ist diese Rezension demselben anonymen Rezensenten „St.“ zuzuschreiben, der auch Semlers Werk besprochen hatte; vgl. dazu AdB 49 (1782), 56.

36
Nun will ich Ihnen einige Zeilen weiter abschreiben

Es folgt ein Zitat aus der „anderen“ Rezension über Schreiben an einen Freund in G., in: AdB 43 (1780), 59–63, wobei Semler vor „Wozu?“ eine längere Passage stillschweigend auslässt.

37
Solöcismus

Sprachliche Rohheit; so benannt nach den Bewohnern der antiken Stadt Soloi (lat. Soli) in Kilikien (Kleinasien), die das Griechische angeblich äußerst fehlerhaft sprachen.

38
ein durchreisender rechtschaffener Prediger Herr W.

Die Identität konnte nicht ermittelt werden. Mindestens drei Bekannte Bahrdts aus der Heidesheimer und Londoner Zeit waren Prediger, deren Name mit „W“ beginnt: Hofprediger Wolf aus Grünstadt, der katholische Prediger Weimar aus Bockenheim und Gebhard Friedrich August Wendeborn (1742–1811), Prediger in London (Ludgate Hill); für keinen der drei gibt es Hinweise darauf, dass sie zwischen 1779 und 1781 auf „Durchreise“ in Halle gewesen sind.

39
mein Brief nach Heidesheim

Vgl. 169.

40
Vorstellungen von Standhaftigkeit, die man ihm aus Berlin [...] mitgetheilet hatte

Erhalten ist ein Brief des Berliner Oberkonsistorialrats Wilhelm Abraham Teller (vgl. 545) vom 26. April 1779, in dem es heißt, Bahrdt sei es sich und der Wahrheit „schuldig“, die eigene Überzeugung „aufrichtig von sich zu geben, und Frau und Kind [dabei] nicht anzusehen“ (Pott, Briefe II, 1798, 52).

41
seit dem December 1779

Im Dezember 1779 wurde Semler seiner Leitungsfunktionen an der Halleschen theologischen Fakultät enthoben, vgl. 480.

42
des Herrn Basedows Hülfstruppen

Der Verfasser des Sendschreiben[s] (vgl. 480), Ernst Christian Trapp, war 1777/78 Lehrer am von Basedow gegründeten Philanthropinum in Dessau gewesen. Der Semler namentlich nicht bekannte Autor der anonym erschienenen Rezension, Hermann Andreas Pistorius (vgl. 471), weist keinen besonderen persönlichen Bezug zu Basedow auf.

43
denken Sie immer daran, daß dem Herrn D. Bahrdt das Herz blutete, für die Religion Jesu

Anspielung auf a14.

44
so viele Seiten abschrieb aus jenem Sendschreiben

Vgl. 480.

45
medius Terminus

Vgl. 239.

46
ob die Thorheit, der man mich auch im Almanach beschuldiget

Das Wort „Thorheit“ o.Ä. fällt im Kirchen- und Ketzer-Almanach (vgl. 479) nicht, Bahrdts Hauptvorwurf lautet vielmehr, dass Semler aus „Schwachheit“ (165) seine früheren Überzeugungen verraten habe; vgl. auch d143, d162.

47
da sie sich für Weise hielten etc. etc.

Röm 1,22.

48
um, wie man sagt, aus der Noth eine Tugend zu machen

Die Redewendung stammt vermutlich vom Kirchenvater Hieronymus (347–420): „Fac de necessitate virtutem“ (Epistulae 54,6).

49
Common sense [...] Chesterfield

Philip Dormer Stanhope (1694–1773), seit 1726 4th Earl of Chesterfield, englischer Politiker, Diplomat und Essayist, stand auf vertrautem Fuße mit vielen Geistesgrößen der Zeit, insbesondere mit Voltaire. Als Schriftsteller ist er heute vor allem bekannt für die postum veröffentlichten Briefe an einen unehelichen Sohn: Letters to his Son (1774). Der Kritiker Samuel Johnson (1709–1784), der einen persönlichen Groll gegen Chesterfield hegte, behauptete von diesen Briefen, sie würden „die Moral einer Hure und die Manieren eines Tanzlehrers“ vermitteln. Bei Common Sense: or, The Englishman’s Journal (zeitweilig auch: Old Common Sense [...]) handelt es sich um eine von dem Journalisten und Gelegenheitsdramatiker Charles Molloy (gest. 1767) herausgegebene Wochenzeitschrift (1737–1743), zu der Chesterfield anonym Beiträge lieferte.

50
redete, von manchen Leuten, die zuweilen ernstlich gebraucht werden, gerade zu Absichten. Ich glaube es war das 25ste Stück

Im 25. Stück des Common Sense (s. 517) geht es um Männer schlechten Charakters, die von ihrer jeweiligen Partei gleichwohl als nützliche Werkzeuge zur Durchsetzung bestimmter Absichten betrachtet werden.

51
Dis beweiset [...] Verläumdung vertheidigt

Es handelt sich um eine, von kleineren orthographischen Varianten abgesehen, direkte Übernahme aus der deutschen Teilausgabe der Schriften Chesterfields: Vermischte Werke II (1779), Common Sense, 25. St., 117–129; 123. Die Ausgabe erschien bei Weidmann in Leipzig, der Übersetzer ist unbekannt.

52
Dreimal glückseelig

Es ist möglich, dass sich in dieser Formulierung erneut die Homer-Lektüre Semlers (vgl. 295; Lebensbeschreibung I, 40) niederschlägt: siehe Odyssee 6. Gesang, 154f. (τρὶς μάκαρες; „dreimal selig“ [Voß]). Die gefeierte Übersetzung Johann Heinrich Voß’ (1751–1826) war im selben Jahre (1781) erschienen. Semlers Hallenser Professorenkollegen Eberhard, Knapp und Niemeyer gehörten zu den ersten Subskribenten (vgl. Odüssee, 1781, [485]).

53
Wer sollte nicht mit uns wünschen [...] eine kaltblütige Untersuchung?

Leicht abgewandeltes Zitat z46.

54
auf obrigkeitlichen Befehl, geradehin verboten und confiscirt worden ist

So berichten etwa die Gothaische[n] gelehrte[n] Zeitungen, 63. St. (7.7.1779), 519f.: „Herrn D. Bahrdts Glaubensbekenntniß ist in den chursächsischen Landen bey 50 Rthr. Strafe für jedes Exemplar zu verkaufen verboten worden.“

55
des Ungenannten Urtheile angeführet

Gemeint ist Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817), Sohn des Neologen August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786), dem der oben erwähnte anonyme Traktat Schreiben an einen Freund in G. den Herrn Doctor Bahrdt und sein Glaubensbekenntniß betreffend (1779) zugeschrieben werden kann.

56
in Ansehung des iuris publici sacri protestantium

Vgl. 425.

57
antecedentia und consequentia

D.i. Ursachen und Folgen.

58
nach der alten Ordnung, quis, quid, ubi –

Die vollständige, in der Schulrhetorik der damaligen Zeit geläufige Aufzählung lautet: „quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando“ (Wer, was, wo, mit welchen Hilfsmitteln, warum, wie, wann?); bereits nachweisbar bei Matthäus von Vendôme (geb. um 1130): Ars versificatoria, 150, vgl. schon Cic. inv. 1, 21.

59
die Anmassung, Repräsentant unserer Kirchen hiemit zu seyn

Anspielung auf a22, vgl. auch b112–114.

60
Religionsform, für alle Palläste und Hütten

Anspielung auf a13 („Höfen bis in die Hütten“), vgl. b42.

61
daß ich nicht eine Zeile [...] lächerlich und verhaßt zu machen. – –

Gekürztes Zitat z46.

62
in dem wahren Geist eines Göze

Johann Melchior Goeze (1717–1786), Vertreter der lutherischen Spätorthodoxie, seit 1755 Hauptpastor in Hamburg, war einer der streitlustigsten Autoren der Zeit (vgl. auch 330), berühmt ist seine Auseinandersetzung mit Lessing im Fragmentenstreit. In den Freywillige[n] Beyträge[n] zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit 5, 71. St. (17.3.1778), 567f., begrüßte Goeze das Reichshofratsconclusum gegen Bahrdt und drohte unverhohlen: „Vielleicht wird der Herr Doctor Semler und seine Anhänger und Nachbeter auch auf dieses Wort merken. Und der Herr Leßing wird anfangen zu glauben, daß es keine Kleinigkeit ist, Fragmente drucken zu lassen, in welchen die heil. Apostel [...] als die ärgsten Bösewichter, Leichenräuber und Lügner gelästert werden.“ – Der erste Streit zwischen Goeze und Semler entzündete sich bereits 1765 an der Complutensischen Polyglotte, die u.a. die erste gedruckte Ausgabe des griechischen Neuen Testaments (1514) enthält und in Konkurrenz zu Erasmus’ textus receptus stand. Goeze, der das complutensische NT verteidigte, und Semler lieferten sich in mehreren Schriften und Gegenschriften einen erbitterten Schlagabtausch. Noch weit größeren Zorn erregte Semler aber dadurch, dass er in seinem Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die vielen Wundercuren und Mirackel in den ältern Zeiten (1767), 64–72, eine Predigt Goezes kritisierte, in der dieser Zweifel an den biblischen Berichten über Besessene und Teufel für „Gotteslästerung“ erklärt hatte. Semler hielt mit seiner Akkommodationstheorie (vgl. 385; auch 110) dagegen. In der „Vorrede“ der von ihm herausgegebenen Neue[n] Samlung auserlesener Canzel-Reden verschiedener berümter und verdienter Lehrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche 3 (1768), [3]–86 schoss Goeze scharf zurück. Es folgten u.a. Semlers Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart, in bescheidener Antwort auf Herrn Professor Danovs Sendschreiben (1771), zu Goeze vgl. z.B. 144, und Goezes Eine Probe von der Art, wie der Herr D. Semler seine Zeugen anzuführen pflegt (1771), in der er den Vorwurf der Gotteslästerung erneuerte.

63
Piderit

Johann Rudolph Anton Piderit (1720–1791), Wolffianer (vgl. 914), seit 1766 Professor für morgenländische Sprachen und Philosophie am Collegium Carolinum in Kassel. In den Jahren 1775/76 veröffentlichte er die zweibändigen Beyträge zur Vertheidigung und Erläuterung des Canons der Heil. Schrifft und der christlichen Religion überhaupt, in denen er u.a. Michaelis, Griesbach, Semler, Spalding, Teller, Basedow und Bahrdt der Heterodoxie bezichtigte. Den zweiten Band adressierte er explizit an das Corpus Evangelicorum (vgl. 171) und verlangte die „Steurung des überhand nehmenden Unfugs, wie er selbst von Lehrern der Kirche zum äussersten Verderben der Jugend betrieben wird“ (Beyträge II, CLX). In einem „ungedruckten Begleitungs-Schreiben“ (Piderit, Antwort [s.u.], 60) verklagte er Semler im Besonderen. Dieser reagierte mit einem polemischen Artikel (gestückelt wiederabgedruckt in: Piderit, Antwort [s.u.]) in der Kaiserlich privilegirte[n] Hamburgische[n] neue[n] Zeitung. Darin forderte er seinen Kontrahenten zu einer öffentlichen Disputation heraus. Piderit replizierte mit der Antwort auf Herrn D. Semlers zu Halle Seit. 16. der gelehrten Beyträge zur Hamburgischen neuen Zeitung bekannt gemachten Erklärung und darin an ihn geschehenen Herausfoderung (1776), in der er Semler abermals scharf attackierte, die vorgeschlagene Disputation jedoch als „vermessen“ ablehnte („Ich bin nicht die Evangelische Kirche“, 116). Semler hatte das letzte Wort in [A]usfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen (1777), 1–136. Piderits Agitation bewirkte das Gegenteil des Gewollten, im September 1776 wurde er – wenn auch nur kurzzeitig – des Amtes enthoben. Die obrigkeitliche Auflage, sich der theologischen Schriftstellerei gänzlich zu enthalten, scheint bis an sein Lebensende gegolten zu haben, wurde von Piderit, der sich in späteren Jahren für eine Union von katholischer und evangelischer Kirche (vgl. 153) einsetzte, jedoch vermittelst anonymer Veröffentlichungen unterlaufen.

64
für lange bekannt erklärt [...] kein Theil der Glaubenslehre

Sinngemäße Wendungen finden sich für Bahrdts Nr. 8 (a21) bereits in b103, für die beiden folgenden Abschnitte, wie von Semler angegeben, in b104f.

65
Bossuet

Vgl. 249.

66
Menschenopfer, und dergleichen Barbarismos

Anspielung auf a14. 18.

67
Wetterhan

Seit dem 14. Jh. nachweisbare Bezeichnung für einen Opportunisten.

68
mag er es wieder grämliche Laune – nennen

Der Rezensent spricht von einer „verdrießlichen mürrischen Laune“ (z46).

69
Ich habe ja in der Antwort den Herrn D. Bahrdt selbst auf die schmalkald. Art. verwiesen

Vgl. b107; s. auch unten d170.

70
wo Luther selbst die Ueberschrift gemacht hatte, über diesen Artikel mögen unsre Gelehrte handeln

Der dritte Teil der Schmalkaldische[n] Artikel (vgl. 424) wird von Luther mit der Bemerkung eingeleitet: „Folgende Stücke oder Artikel mögen wir mit gelehrten, vernünftigen oder unter uns selbst verhandeln“ (BSLK 433).

71
Thomistische und Skotistische Theorie

Luther wendet sich im dritten Teil der Schmalkaldische[n] Artikel, Art. 5 explizit gegen die Taufauffassungen des Thomas von Aquin (vgl. 215) und Johannes Duns Scotus (1266–1308); vgl. der Sache nach schon De captivitate Babylonica (1520), WA 6, 531, 31–37.

72
articulis ipsis saluis

Wörtlich „unter Wahrung der Artikel selbst“; gemeint ist „ohne die (Glaubens-)Artikel substanziell zu verändern“; s.u. d263[!] Semlers Wiederaufnahme dieses Gedankens: „ohne den Inhalt der Lehren zu ändern“.

73
ohne jene Lehrsätze, ohne Sachen, die Erbsünde, Genugthuung, Gottheit Christi – heissen

Anspielung auf a10.

74
Daher soll kaiserl. Majestät – –

Anspielung auf a24, vgl. auch a15.

75
Ich habe [...] in dem wahren Geiste eines Piderit und Göze geschrieben!

Zitat z46; vgl. 530 (Goeze); 531 (Piderit).

76
Diese Männer haben nicht geradehin alle Versuche – – gemisbilliget

Bezieht sich auf z46 („alle dahin zielende Versuche“ etc.).

77
das, was sie an mir, Herrn Teller etc. etc. tadelten

Zu Semler vgl. 530 (Goeze); 531 (Piderit). Wilhelm Abraham Teller (1734–1804), zunächst Professor in Helmstedt, ab 1767 Propst und Oberkonsistorialrat in Berlin (Cölln), gehört zu den profiliertesten Aufklärungstheologen und war u.a. Gründungsmitglied der Berliner Mittwochsgesellschaft. Neben seinem Lehrbuch des Christlichen Glaubens (1764) erregte insbesondere das Wörterbuch des Neuen Testaments (11772; 61805, BdN IX) nicht nur unter orthodoxen Theologen Widerspruch; vgl. auch 156. Piderit bezeichnete Teller in seinen Beyträge[n] zur Vertheidigung und Erläuterung des Canons (vgl. 531) als „Berliner Wörterkrämer“ (Beyträge II, CXIV) und zählte ihn zu den „Protestantische[n] Jesuiten“, die uns „geradezu ins Gesichte [sagen], daß sowohl das Athanasianische Glaubens-Bekänntniß und die Augspurgische Confeßion, Unsinn und Wahnwizz unsrer Zeiten, als die Schrift selbst, ein Buch sey, für das nur noch, die Dummheit und der Aberglaube, die Ehrerbietigkeit hegen kann, die ihr bisher alle Augspurgische Confessions-Verwandten geheiliget haben“ (XXIV–XXVI; vgl. Aufzählung: XXIX). Goeze erwähnt Teller hingegen kaum. In Leßings Schwächen, 3. St. (1778), 117, zitiert er zunächst Lessings Behauptung, der Hamburger Hauptpastor habe „die Ehre und das Vergnügen [...], den Herrn Basedow, Teller, Semler, Bahrdt, den Verfassern der allgemeinen Bibliothek, und seiner Wenigkeit die Verdammung anzukündigen, und solches deswegen, weil sie nicht gerade dasjenige glaubten, was [er] glaubte“, um dann mit unvermuteter Ironie festzustellen: „Der Verfasser [Lessing] bleibt so lange der unverschämteste Lügner, bis er mir diese Verläumdung erweiset, bis er mir in meinen Schriften die Seite zeigt, wo sie stehet, und wo ich des Hn. Tellers Nahmen genant habe.“ Vgl. Lessing, Anti-Goeze 3 (1778), [3]f.

78
so habe ich stets majorem eingestanden; und nur minorem geleugnet

Die lateinischen Bezeichnungen für Ober- und Untersatz (vgl. 384) lauten propositio major und propositio minor. Es ist nicht völlig klar, an was für einen Syllogismus Semler hier denkt. Folgende Rekonstruktion erscheint jedoch plausibel: 1. (propositio major) Alles, was essentieller Bestandteil der christlichen Religion ist, sollte auch Bestandteil der Religionslehre sein. 2. (propositio minor) Vorstellungen von Besessenen, von Reinigkeit des Textes etc. sind essentielle Bestandteile der christlichen Religion. 3. (conclusio) Also: Vorstellungen von Besessenen, von Reinigkeit des Textes etc. sollten Bestandteil der Religionslehre sein. Nach dieser Deutung betont Semler, um dem Vorwurf des Deismus oder Naturalismus zu entgehen, dass er im Zuge seiner Zurückweisung von (3) lediglich (2), nicht jedoch (1) geleugnet habe.

79
Berichtigung des Lehrsystems

Vgl. z46.

80
daß D. Semler in dem wahren Geiste eines P. und G. schreibet, [...] unnöthig machen will

Verändertes Zitat z46. Mit „P. und G.“ sind Piderit (s. 531) und Goeze (s. 530) gemeint.

81
πυξ και λαξ

Mit Faust und Ferse („mit Händen und Füßen“).

82
„ich, der sonst so kühne Theologe, [...] gemacht hat.“

Leicht verändertes Zitat z46.

83
Consensum praesumtum

Begriff aus der Rechtslehre (vgl. z.B. Kant, Die Metaphysik der Sitten [1797], AA 6, 292). Gemeint ist ein stillschweigend unterstelltes (jedoch nicht explizit eingeholtes) Einverständnis in einer bestimmten Sache.

84
Sic vos non vobis – –

Anspielung auf die Aneignung fremden geistigen Eigentums, nach einer Episode aus dem Donatus auctus (DA), einer humanistischen Lebensbeschreibung Vergils aus dem 15. Jh., die die Schrift Vita Vergilii des Aelius Donatus (4. Jh.) erheblich anreicherte, welche wiederum in großen Teilen auf ein verlorengegangenes Werk Suetons (um 70–nach 122) zurückgehen dürfte. Vgl. DA 68–70: Vergil verfasste ein Lobgedicht auf den Kaiser Augustus, für dessen Autor sich jedoch der mittelmäßige Dichter Bacillus ausgab und Ehrungen und Geschenke erhielt. Daraufhin schrieb Vergil die Worte „sic vos non vobis“ viermal untereinander auf ein Blatt Papier. Augustus forderte dazu auf, sie sinnvoll zu vervollständigen. Nachdem andere an der Aufgabe gescheitert waren, ergänzte Vergil die Verse schließlich wie folgt: „sic vos non vobis nidificatis aves. sic vos non vobis vellera fertis oves. sic vos non vobis mellificatis apes. sic vos non vobis fertis aratra boves.“ (So baut ihr Nester, Vögel, nicht für euch. So tragt ihr Wolle, Schafe, nicht für euch. So macht ihr Honig, Bienen, nicht für euch. So zieht ihr Pflüge, Rinder, nicht für euch.).

85
kal ve chomer

Entspricht in der talmudischen Tradition dem lateinischen argumentum a fortiori. Eine Aussage wird unter Verweis auf eine stärkere, d.h. begründungslastigere, vom Hörer jedoch bereits akzeptierte Aussage gerechtfertigt: „Wenn die Wohnung für ein Ehepaar zu klein ist, dann erst recht (kal va chomer / a fortiori) für eine dreiköpfige Familie.“

86
meine Untersuchung über den Canon

Gemeint ist die Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, 4 Bde. (1771–1775).

87
meine Anleitungen ad liberalem theologicam eruditionem

Der vollständige Titel lautet Institutio Brevior Ad Liberalem Eruditionem Theologicam, 2 Bde. (1765/66).

88
Befremdung

Anspielung auf z46 („Befremdend und auffallend muß [...] einem jeden seyn“).

89
das Gold der Christusreligion

Anspielung auf a15.

90
wie Herr Basedow uns vorgaukelte, die Urreligion erforschbar machen

Vgl. 283 .

91
wovon Herr Basedow lehrte, [...] das Exempel an mir statuirt werden [...], die Werkstätte, Akademien, gezeiget

Anspielung auf § 40 der Basedowschen Urkunde (vgl. 477): „Oeffentliche Freymüthigkeit der selbstdenkenden, und mit ihren Lehrformen unzufriedenen Kirchenlehrer, zu befördern, soviel ich dadurch kann, das ist einer der Hauptzwecke dieser Urkunde. Sie zeigt meinen Mitgenossen und Nachfolgern, welche eben dasselbe herzlich wünschen werden, an des H. D. Semlers Exempel, die Möglichkeit und Werkstatt des Mittels, welches oft und an Mehrern gebraucht werden muß, bis sich, hie und da, öffentliche Freymüthigkeit ohne Zurückhaltung zeigen wird.“ (32)

92
David Joris

David Joris (1501–1556), flämischer Glasmaler und täuferischer Laienprophet. Nach seiner Verbannung aus dem holländischen Delft empfing er um 1534 die Erwachsenentaufe und spielte eine wichtige Rolle unter den melchioritischen Täufern nach dem Fall des Münsteraner Täuferreiches (Bocholter Treffen 1536). Trotz schwerer Verfolgung seiner Anhänger hielt er sich bis 1544 in Antwerpen auf. Unter dem Namen „Johan von Brügge“ lebte er anschließend recht unbehelligt als Bürger in Basel, wo ihm erst postum der Ketzerprozess gemacht wurde. In den frühneuzeitlichen Häresiologien galt er seitdem als Erzketzer. Zahlreiche seiner spiritualistischen Schriften haben sich erhalten, die um 1700 in Teilen des radikalen Pietismus eine erneute Leserschaft fanden.

93
ex ungue Leonem

Von der Pranke auf den Löwen, d.h. vom Teil aufs Ganze, schließen. Plutarch, de defectu oracolorum 3, 410C schreibt eine entsprechende griechische Wendung dem Dichter Alkaios von Lesbos (ca. 630–580 v. Chr.) zu (fr. 113, Zählung Bergk). Anders der syrische Satiriker Lukian von Samosata (ca. 125–nach 180), der in dem griechischen Dialog Hermotimus, 54f. behauptet, der Bildhauer Phidias (5. Jh. v. Chr.) habe von einer Löwenpranke, die man ihm zeigte, erfolgreich auf die Größe des ganzen Tiers geschlossen.

94
Hutterus

Gemeint ist Leonard Hutter (auch: Hütter; 1563–1616), nach Studium in Straßburg, Heidelberg und Jena seit 1596 Professor der Theologie in Wittenberg. Hütter war als Verfechter und wirkmächtiger Interpret der Konkordienformel maßgeblich an der Ausbildung der lutherischen Orthodoxie beteiligt.

95
Quenstädt

Johann Andreas Quenstedt (1617–1688), nach Studium in Helmstedt ab 1649 Professor in Wittenberg, einflussreicher Vertreter der lutherischen Orthodoxie, bekannt für seine Polemiken gegenüber anderen theologischen Positionen.

96
Haffenreffer

Mathias Hafenreffer (1561–1619), nach Studium in Tübingen Hofprediger in Stuttgart, ab 1592 Theologieprofessor in Tübingen, 1617 Kanzler der Universität. Hafenreffer zählt zu den orthodoxen Verfechtern der Konkordienformel.

97
Calov

Gemeint ist Abraham Calov/Kalau (1612–1686), nach Studium in Königsberg und Rostock zunächst 1640 Extraordinarius in Königberg, 1643 Rektor und Pastor in Danzig, ab 1650 Ordinarius in Wittenberg. Calov gilt als Vertreter der lutherischen Orthodoxie, der sich gegen Sozinianer, aber auch gegen die aus seiner Sicht verfehlte Berliner Kirchenpolitik zur Wehr setzte.

98
Diese Beschuldigung, ich hätte mich an den Urkunden der Religion vergriffen, ist auch im Almanach ganz ernstlich wiederholet worden

Semler bezieht sich auf z46 sowie Bahrdts Kirchen- und Ketzer-Almanach (vgl. 479), v.a. 163f. Das Wort „vergreifen“ fällt an keinem der beiden Orte, weder buchstäblich noch sinngemäß.

99
teutsche Ausgabe des N.T. Lutheri [...], wo Luther selbst einige Bücher des N.T. von den andern, durch ein Zeichen abgetheilt

Luther hatte die neutestamentlichen Bücher Hebr, Jak, Jud und Offb als nachkanonische Schriften bewertet und in seinen Bibelausgaben auch druckgraphisch absetzen lassen.

100
Centuriatores

In den von Matthias Flacius (s. 610) initiierten Magdeburger Centurien (Ecclesiastica Historia, integram Ecclesiae Christi ideam [...] secundum singulas centurias, 8 Bde., 1559–74) werden ebenfalls Hebr, Jak und Jud als nachkanonisch (deuterokanonisch) bewertet, vgl. cent. 1. lib. 2 cap. 4. Semler bemühte sich mit seinem Lehrer Siegmund Jacob Baumgarten um eine Neuausgabe, von der jedoch nur die ersten fünf Centurien (1757–1765) erschienen.

101
Compendia von Haffenreffer an

Gemeint sein dürften Hafenreffers (s. 564) Loci Theologici: Certa Methodo ac Ratione (1600), die als Schul- und Lehrbuch weite Verbreitung fanden und viele Auflagen erlebten. 1650 in Stockholm (in schwedischer Übersetzung) und 1686 in Stuttgart wurden bearbeitete Fassungen als Compendium Theologiae herausgegeben.

102
dicta probantia

D.h. Belegstellen.

103
ich soll mich [...] vergriffen haben, folglich errege es auch eine Befremdung

Anspielung auf z46, vgl. 566.

104
Ich sage, es stehet den denkenden Christen frey, das Buch Esther [...] Offenbahrung Johannis [...] dadurch wollten weiter kommen

Ähnliche Aufzählungen finden sich an verschiedenen Stellen von Semlers Hauptwerk Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, z.B. I (1771), 34; 75; 216; II (1772), 312; 330 u.v.w.m.; zur Offenbarung (Apokalypse) des Johannes vgl. im Besonderen Abhandlung I, 114–253.

105
Cajetan

Gemeint ist Giacomo, seit 1484 mit seinem Ordenseintritt bei den Dominikanern Thomas, de Vio (1469–1534), häufig nach seinem Geburtsort „Cajetan“ genannt. Einflussreicher Dominikaner am Papsthof, seit 1517 Kardinal und 1518 Legat auf dem Reichstag zu Augsburg, wo er u.a. Luther verhörte. Cajetan unterschied wie auch Erasmus zwischen proto- und deuterokanonischen Schriften; diese Unterscheidung konnte sich auf dem Trienter Konzil (1545–1563) nicht durchsetzen.

106
Pellican

Gemeint ist Konrad Pellikan (eigentlich Kürschner) (1478–1556) , zunächst Franziskaner (1483–1524), nach humanistischem Studium in Heidelberg und Tübingen verfasste er 1501 als erster christlicher Philologe ein Lehrbuch des Hebräischen und wurde Mitarbeiter von Erasmus in Basel. Er wandte sich der Reformation zu, verbreitete Luthers Schriften im Schweizer Raum, wurde ab 1523 Professor in Basel und wirkte ab 1526 in Zürich. Pellikan verfasste einen vielbeachteten vollständigen Bibelkommentar, Commentaria Biblorum, 7 Bde. (1532–1539).

107
Dietrichs so oft gedruckten Summarien

Vgl. 416; in seinen Summaria des Neuen Testaments verzichtete Dietrich z.B. auf Zusammenfassungen des Jakobus-Briefes sowie der Offenbarung des Johannes.

108
„Wenn ein Leser [...] es haben wollen.“

Bearbeitetes Zitat z46.

109
in meinen ascetischen Vorlesungen über Gal. 4, 3. 1 Cor. 1, 31.

Gemeint sind Semlers [A]scetische Vorlesungen, zur Beförderung einer vernünftigen Anwendung der christlichen Religion, 1. Bd. [wurde nicht fortgesetzt] (1772). „Ascetisch“ heißen die Vorlesungen, weil sie auf das Einüben (gr. ἀσκεῖν) christlicher Tugenden angelegt sind. In der 15.–17. Vorlesung (oder „Stunde“), 227–271, legt Semler Gal 4,4–5 (mit Rückgriff auf Gal 4,3) aus, in der 25.–26. Vorlesung, 347–374, den Vers 1Kor 1,31. Semler kommt in den Vorlesungen mit manchen Formulierungen dem Arianismus oder Subordinatianismus nahe und gibt u.a. auch der Aussage, Christus habe uns von der Sünde „losgekauft“, eine alternative, nicht im Einklang mit der klassischen Satisfaktionslehre stehende moralische Deutung. Vor allem aber beklagt er, der metaphysische Status Christi sei zu einem „unseligen Zankapfel“ (247) gemacht worden. Man solle „nicht von Christo, [...] Gedanken und Urtheile zusammensezen, welche ihn gleichsam [nur] besonders für sich, ohne Zusammenhang mit uns, angehen“ (374).

110
des [...] Chemnitius gute und richtig Anmerkung

Gemeint ist Martin Chemnitz (1522–1586), ab 1545 Studium vor allem der Artes liberales und der Theologie in Wittenberg, 1554 Koadjutor in Braunschweig, ab 1567 Superintendent. Semler zitiert hier in freier Übersetzung aus Chemnitz’ postum von Polykarp Leyser dem Älteren (1552–1610) herausgegebenen Loci Theologici I (1591), 11: „Non enim pueriliter imaginandum est, quod [Baptista] tanquam arreptitius, quinq[ue]; tantum illas voces ingeminarit“. Dieselbe Stelle führte Semler bereits in einer Anmerkung zu Siegmund Jacob Baumgartens Evangelische[r] Glaubenslehre II (1760), 5, an, außerdem in der Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten (1779), 30.

111
acroamatischen Theologie

Wörtlich: die nur zum Hören bestimmte (gr. ἀκροαματικός) Theologie. In der Antike wurden mit dem Begriff „akroamatisch“ nicht durch Zwischenfragen oder Diskussionen unterbrochene Vorträge bezeichnet, die in der Regel dem inneren, fortgeschrittenen Kreis eines Lehrers vorbehalten waren (esoterische Lehre). Im Gegensatz dazu stand die auf Dialog und Selbstdenken angelegte exoterische, erotematische oder sokratisch-mäeutische Lehrart. In einem abgeleiteten Sinne, der Semler hier vorschwebt, bezeichnet „akroamatische Theologie“ ausschließlich für andere Gelehrte gedachte Forschung, im Unterschied zu einer sich an ein breiteres Publikum richtenden populär-katechetischen Theologie. Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Nösselt, Anweisung (BdN VI), 438–440.

112
Da hat schon Luther im Catechismo selbst es uns geheißen – Da kannst du es so buntkraus machen –

Vgl. den Kleine[n] Katechismus (BSLK 503): „da magstu deine kunst beweisen und diese stücke so bund kraus machen und so meisterlich drehen, als du kanst.“

113
Aber er sagt ja selbst, wie er es gemacht habe, um ja eben diesen christlichen Lehrsätzen völlig auszuweichen

Anspielung auf a10f.

114
dis kannst du freylich für dich (so unanstößig, so zusammenhängend, so nützlich) denken; aber öffentlich mußt du lehren, wie –

Zitat z46 (Klammer von Semler hinzugefügt).

115
du must lehren, wie die feyerlichen Bücher deiner Kirche es haben wollen

Zitat z46.

116
Consectaria

D.i. Folgerungen.

117
Blauendunst

Eine seit dem 16. Jahrhundert (z.B. bei Hans Sachs) belegte Redewendung für ein Täuschungsmanöver, deren Ursprung vermutlich im Jahrmarktmilieu zu suchen ist: Gaukler ließen vor ihren Zauberkunststücken oft blauen Dunst aufsteigen, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer abzulenken.

118
Der Lehrer im ersten Jahrhundert hat entweder mit Juden oder Heiden zu thun

Zur der im Folgenden angewandten Akkommodationstheorie vgl. 385.

119
nennt Jesum sein rechtes geistliches Opfer; seinen rechten Hohenpriester

Vgl. 1Petr 2,5 und Hebr 8,1.

120
Ich habe schon in der Antwort auf Herrn Basedows unächte Urkunde [...] geschrieben

Vgl. Semler, [A]ufrichtige Antwort (s. 478), v.a. 204–209.

121
articuli visitationis Saxonicae

Unter dem sächsischen Herzog Johann dem Beständigen (1468/86–1532), seit 1525 Kurfürst von Sachsen, entwickelte sich die Kirchenvisitation (vgl. 435) zu einem Instrument des evangelischen Kirchenregiments. Melanchthon verfasste Articuli de quibus egerunt per visitatores in regione Saxoniae (1527) sowie Vnterricht der Visitatorn an die Pfarhern ym Kurfurstenthum zu Sachssen (1528), die später nochmals aufgelegt wurden: Chursächsische Visitations Artickel vom Jahr 1527 und 1528 (1776).

122
consensus helueticus

Das „Helvetische Bekenntnis“ oder Confessio Helvetica Prior (1536) war neben dem Consensus Tigurinus (1549) und der Confessio Helvetica Posterior (1566) das wichtigste Dokument für die frühe Konfessionsbildung der reformierten Kirchen in der Schweiz.

123
„Wer kann sich [...] zu fragen –[“]

Leicht verändertes Zitat z46f, Hervorhebungen von Semler.

124
Erbsünde, [...] wobey gar ein Menschenopfer bisher zum Grunde liege, Rechtfertigung –

Anspielung auf a10 und a14. 18 („Menschenopfer“).

125
wie jener Ungenannte oben ehrlich sagte

Vgl. d126.

126
ihre Lehrsätze von Erbsünde – – seyen wider Schrift und Vernunft

Erneute Anspielung auf a10.

127
gehört aber zum moralischen Ganzen der Gesellschaft. Giebts einen menschlichen Körper ohne Füsse, Hände, Magen –?

Vgl. 1Kor 12,12–31. Die Körpermetapher findet sich bereits in Platons Dialogen Politeia und Timaios. Besonders wirkmächtig war ihre Wiederaufnahme auf dem Frontispiz und in der Einleitung des Leviathan (1651) von Thomas Hobbes (1588–1679).

128
In der römischen Kirche ist diese Privatfreiheit so bekannt [...] Scholastice disputo, ist die ganze Antwort auf [...] ernstliche römische censuras

Semlers Einschätzung beschreibt eine in vielen katholischen Gebieten stillschweigend geduldete Praxis („Ich disputiere [nur] als Gelehrter“), die jedoch kirchenrechtlich keineswegs abgesichert war. In der Enzyklika Christianae Reipublicae von Papst Clemens XIII. (1693/1758–1769) aus dem Jahre 1766 heißt es: „Es gibt andere, die [...] es mit menschlichen Mitteln wagen, die verborgenen Geheimnisse des Glaubens zu ergründen, welche alles Verstehen übersteigen. [...] Sie verspotten den Glauben einfacher Menschen. Sie entblößen die Geheimnisse Gottes. Sie räsonieren voreilig über Fragen von höchster Wichtigkeit. Der kühne Geist der Forscher beansprucht alles für sich, untersucht alles, lässt dem Glauben nichts übrig, beraubt den Glauben seines Verdiensts, in dem er Beweise für ihn in der menschlichen Vernunft sucht. [...] Die Situation macht es notwendig mit Entschiedenheit zu kämpfen, und mit aller Kraft das tödliche Übel auszumerzen, das durch solche Bücher verursacht wird. Der Inhalt der Fehler wird niemals verschwinden, solange nicht die kriminellen Elemente der Verworfenheit im Feuer brennen und vergehen“ (Übers. d. Hgg.).

129
wo doch Gerson schreiben durfte [...] sie verlohren haben

Der französische Theologe und langjährige Kanzler der Pariser Universität, Jean Gerson (1363–1429), spricht in seinem Werk an verschiedenen Stellen von der im Vergleich zur Gelehrtenzunft teils überlegenen Frömmigkeit von Laien und insbesondere Frauen. Ein Beispiel hierfür findet sich in der Schrift La Montaigne de Contemplation (1400): „Wer nicht durch diese Tür, die schlicht und niedrig ist, hineingeht, ist ein Dieb und seine Anstrengungen sind umsonst, wie Jesus sagt [Joh 10,1]. So kommt es, dass, wenn ein Mann mit erhobenem Kopf auftritt, d.h. völlig überzeugt von seiner Auffassungsgabe und seinem Wissen, und sich nicht kleinmachen will nach Art eines Kindes oder einer einfachen Frau, er niemals fähig sein wird, durch eine so schlichte [und niedrige] Tür zu gehen. Stattdessen wird er sich verletzen und zurückweichen [...]. Aus diesem Grund haben viele Gelehrte zu bestimmten Zeiten gewünscht, sie wären in einem Zustand der Einfachheit verblieben, wie ihre Mütter, ohne Buchstaben [d.i. Latein] zu kennen“ (Oeuvres Completés, 1966, Bd. 7.1, 17 [Übers. d. Hgg.]; vgl. auch 20).

130
Vorschläge –

Semler bezieht sich auf z47 („Vorschläge zur weitern Berichtigung des öffentlich festgesetzten Lehrbegriffs“); vgl. d155.

131
Luthers Kirchenpostille

Predigtsammlung, die eine immense Breitenwirkung und viele Nachdrucke erlebte. Von Luthers eigener Hand stammt nur der Advents- und Weihnachtsteil (Wartburgpostille, 1522), den Stephan Roth (1492–1546) 1525 um einen aus Nachschriften erstellten Fastenteil ergänzt hat.

132
„wozu soll [...] nähere Ursache finden.[“]

Zitat z47.

133
In dem Almanach wird geäußert, ich hätte für meinen Applausum Schaden gefürchtet

Vgl. Kirchen- und Ketzer-Almanach (s. 479), 165.

134
die größten, gelehrtesten Männer [...] stets habe befördern helfen, [...] sie werden gewis mich übertreffen

Vielleicht abgesehen von Johann August Eberhard (1739–1809), der seit 1778 Professor für Philosophie in Halle war und als junger Mann bei Semler studiert hatte, bestand zum damaligen Zeitpunkt für Semlers Schüler oder Hallesche Protegés kaum Aussicht, ihm an theologischen oder geistesgeschichtlichen Rang gleichzukommen, geschweige denn ihn zu „übertreffen“. Des ungeachtet spielt Semler hier wohl auf Johann August Nösselt (vgl. 146), Georg Christian Knapp (1753–1825) und August Hermann Niemeyer (1754–1828) an, deren Berufungen an die Theologische Fakultät zu Halle bzw. (in Niemeyers Fall) dortige Lehrtätigkeit er befürwortet hatte. Denken dürfte er auch an den von ihm geförderten Theologen, Philosophen und Philologen Christian Gottfried Schütz (vgl. 687), damals Professor in Jena, den Semler 1769 zum Inspektor am Theologischen Seminar gemacht hatte.

135
Confessio Saxonica und Würtembergica

1551 verfasste Melanchthon die Confessio Saxonica, die bald auch über Sachsen hinaus Anerkennung und an Einfluss gewann. Im selben Jahr entstand die Confessio Wirtembergica, an der Johannes Brenz (1499–1570) maßgebend beteiligt war.

136
aber in der Apologie geschiehet es

Vgl. Apologia Confessionis Augustanae (vgl. 273), Art. 13 und vor allem 24.

137
ob ich je die Sache, Erbsünde [...] Genugthuung –

Anspielung auf a10.

138
der Schrift und Vernunft entgegen laufe, zum Unglauben führe –

Anspielung auf a10.

139
„ich hätte [...] sie bestritten habe.“

Leicht bearbeitetes Zitat z47, Hervorhebungen von Semler.

140
„freylich hätte [...] Rücksicht gehabt?“

Zitat z47f.

141
bonam fidem

Begriff aus dem römischen Recht (bona fides); wörtlich „guter Glaube“. Was die Verwendung hier dem deutschen Ausdruck „Aufrichtigkeit“ hinzufügen soll, ist nicht klar.

142
Flacianische Beschreibung der Sünde

Matthias Flacius Illyricus, eigentlich Matija Vlačić (1520–1575), lutherischer Theologe venezianisch-kroatischer Herkunft, u.a. Professor in Wittenberg und Jena sowie Initiator der Magdeburger Centurien (1559–1574), der ersten, von protestantischer Warte aus geschriebenen Universal-Kirchengeschichte. Flacius war bekannt für seine kompromisslosen, ohne Rücksicht auf Verluste oder Etikette ausgetragenen Dispute (daraus womöglich abgeleitet: „Fläz“, „sich fläzen“). 1561 wurde er seines Amtes in Jena enthoben, 1573 der neuen Heimat Straßburg verwiesen. Den Hauptanstoßpunkt bildete seine als manichäisch verdächtigte Sündenlehre: Nach Adams Fall, so Flacius, sei die Erbsünde wesentlicher (und nicht etwa bloß akzidentieller) Bestandteil der menschlichen Natur. Gegen diese „flacianische Beschreibung“ richtete sich der erste Artikel der Konkordienformel (1577), Affirmativa 1. (vgl. Negativa 7.): „Wir gläuben, lehren und bekennen, daß ein Unterschied sei zwischen der Natur des Menschen, nicht allein wie er Anfangs von Gott rein und heilig ohne Sünde erschaffen, sondern auch wie wir sie jetzunder nach dem Fall haben, nämlich zwischen der Natur, so auch nach dem Fall noch eine Kreatur Gottes ist und bleibet, und der Erbsünde [die nicht von Gott geschaffen ist], und daß solcher Unterschied zwischen Gottes und des Teufels Werk sei.“ (BSLK 770)

143
schon mehrmalen habe ich Augustini Stelle (de catechizandis rudibus) nach dem Hyperius wiederholet

Andreas Hyperius, eigentlich Andreas Gerhard (1511–1564), war ein flämischer Reformator und Verfasser der ersten eigenständigen protestantischen Homiletik. Semler hatte mehrfach eine auf Hyperius (De Catechesi, in: Varia Opuscula [1570], 436–510; 446f.) zurückgehende Paraphrase bestimmter Aussagen der augustinischen Schrift De catechizandis rudibus (um 400; vgl. z.B. Kap. 15.) zitiert; am ausführlichsten im Apparatus ad libros symbolicos Ecclesiae Lutheranae (1775), 199: „Augustinus abunde docet talem aliter agere, cum his, qui ex gentilitate, aliter cum illis qui ex Iudaismo veniunt; aliter cum urbanis et politicis, aliter cum agricolis et prorsus incultis; aliter cum grammaticis, oratoribus, philosophis, aliter cum illiteratis; aliter cum his, qui foedis peccatis antea fuerint assueti, aliter cum his, qui inculpate vivere visi sunt, tractare omnia.“ Vgl. auch Semler, Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 12; [A]ufrichtige Antwort, auf Herrn Basedows Urkunde (1780), 56.

144
Wenn also der Recensent zugiebt, [...] nicht leugnen [...] den gröbsten Sinn [...] zu behalten

Anspielung auf z47f.

145
daß ich aus Bosheit, aus politischen Absichten

Anspielung auf z47, vgl. d113–115. 119–121. 160–162.

146
„Hr. D. Semler hätte [...] ascetischen Vorlesungen“ –

Zitat z48. Zu den [A]scetische[n] Vorlesungen vgl. 577.

147
Erbsünde, Genugthuung etc. seyen wider Schrifft und Vernunft [...] Verachtung der christlichen Religion

Anspielung auf a10.

148
Sonst war es schlechter Trost, Socios habuisse malorum

Das lateinische Sprichwort „Solamen miseris socios habuisse malorum“ (Trost für Elende ist es, Leidensgenossen zu haben) taucht dem Wortlaut nach wohl erstmals in Baruch Spinozas Ethica ordine geometrico demonstrata (1677) 4. Teil, 57 (Anm.), auf. Verwandte Formulierungen sind schon nachweisbar bei mittelalterlichen Autoren wie Thomas von Aquin, Dominicus de Gravina und Thomas von Kempen sowie bei dem englischen Dramatiker Christopher Marlowe (Doctor Faustus; postum 1604/1616), der den Ausspruch Mephistopheles in den Mund legt. Griechische Vorbilder reichen bis zu Thukydides (7, 75,6) und Äsops Fabel „Die Hasen und die Frösche“ (Nr. 143; Zählung Hausrath) zurück. – Semler zitiert hier, halb eingedeutscht, eine weniger geläufige, jüngere Variante des Sprichworts mit abweichendem Sinn: „Solamen miserum socios habuisse malorum“ (Es ist ein elender Trost, Leidensgenossen zu haben). Zu diesem Wortspiel vgl. z.B. Christian Thomasius, Ernsthaffte, aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedancken u. Erinnerungen über allerhand auserlesene Juristische Händel, Bd. 3 (21724), 252.

149
[„]den meisten [...] befördert und erhält.“

Zitat des Zitats z48, das eine Passage der unpaginierten „Vorrede“ der [A]scetische[n] Vorlesungen (s. 577), [8]f., wiedergibt.

150
Sind tres caussae conuersionis, wie Melanchthon diese Lehrart [...] hat

Melanchthon lehrte eine „synergistische“ Sicht, nach der bei der Bekehrung des Menschen 1) das Wort Gottes, 2) der Heilige Geist und nachrangig 3) der menschliche Wille zusammenwirken.

151
in unsern Staaten keine Formula concordiae den Lehrern vorgelegt

Gemeint ist Preußen, vgl. 158.

152
Die Ueberschrift des 3ten Theils der schmalkaldischen Artickel gehört wieder her

Vgl. d134. „Folgende Stücke oder Artikel mögen wir mit gelehrten, vernünftigen oder unter uns selbst verhandeln, denn der Papst und sein Reich achten derselben nicht viel. Denn conscientia (Gewissen) ist bei ihnen nichts, sondern Geld, Ehre und Gewalt.“

153
Noch ein Beyspiel, daß ich mir eben solche Beschuldigungen vormals erlaubt hätte, als ich jezt an Herrn Bahrdt tadelte. In dem Versuche einer freien Lehrart, S. 454 –

Semler bezieht sich auf z48, dort wird aus seinem Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777) zitiert.

154
der Recensent ist so übereilt, daß er des Richard Baxters Worte nicht einmal unterscheiden konnte

An der besagten Stelle in seinem Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 454, zitiert Semler tatsächlich den Puritaner Richard Baxter (1615–1691); allerdings ohne jegliche Distanzierung von Baxters Kritik an der Satisfaktionslehre. Genau genommen bietet Semler hier über mehrere Seiten jeweils kurze Ausschnitte aus Baxters Schrift; das konkrete Zitat (s. z48) ist entnommen aus Baxter, Methodus theologiae Christianae (1681), Teil III, Kap. 1, § 19 . Vgl. kritisch zu Semlers Interpretation von Baxters Thesen die Rezension von Engelbert Klüpfel (s. 474) in dessen Nova bibliotheca ecclesiastica Friburgensis 4 (1779), 502–505.

155
sollte Herr Bahrdt [...] im Sinn gehabt haben

Zitat z48.

156
daß Gott blos um eines Menschenopfers willen Sünde vergebe

Anspielung auf a14. 18.

157
„ich hätte darum keine hinlängliche [...] sie verwirft“

Umgestelltes Zitat z48f.

158
Herr D. Bahrdt hätte nur noch seinen Tadel in gemäßigten und behutsamen Ausdrücken vorbringen sollen

Zitat z47, Hervorhebung von Semler.

159
quod quis per alium Facit –

Das damals in variierenden Formulierungen geläufige Rechtsprinzip, auf das Semler hier anspielt, lautet vollständig: „Quod quis per alium facit, per se ipsum facere videtur.“ (Wer etwas durch einen anderen tut, wird so angesehen, als täte er es selbst.). Ähnliche Formulierungen finden sich bereits im römischen Zivilrecht sowie in den dem Liber Sextus (1298) angehängten Regulae Iuris, deren Zusammenstellung von Papst Bonifatius VIII. (1230–1303) veranlasst worden war (vgl. Regel 72).

160
nach mehrern uns bekannten Auftritten seines Lebens [...] nachdem er sich dort weg begeben hatte

Vgl. 301.

161
wormsischen Dinge

Bahrdts Wirkungsstätte zur Zeit der Abfassung des Glaubensbekenntniß[es], Schloss Heidesheim (vgl. 107), lag nur etwa 10 km von Worms entfernt. Der dortige Weihbischof und Bücherkommissar von Scheben (vgl. 95) hatte das Verfahren gegen Bahrdt in Gang gesetzt (s. a5).

162
daß ihm das Herz blute, über allen Systemwust in unsern Kirchen [...] um dem fernern Unglauben zu wehren, den unsre Lehren befördern sollen

Anspielung auf a14 („wie blutet mir das Herz“), a15 („Wust der Systemsreligion“) und a10 („Quelle des Unglaubens“).

163
daß Gott um eines Menschenopfers willen –

Leicht gekürztes Zitat a18.

164
Meine Antwort [...] weiset dieses nicht ab – trift Hrn. Bahrdt gar nicht; jeder Socinianer [...] kann dis unterschreiben, [...] dabey in Gedanken haben –

Kompiliertes Zitat z49, der Rezensent zitiert dort seinerseits b44f.

165
Herr D. Bahrdt that unrecht, daß er diese Bestimmung der Nothwendigkeit (a parte Dei) mit zu unserer Glaubenslehre rechnete; es war schon seit den Scholastikern theologische Aufgabe, und keine Glaubenslehre

Vgl. a10. Anders als Anselm von Canterbury (vgl. 360) leugnet z.B. Thomas von Aquin (vgl. 215) einen notwendigen Zusammenhang zwischen der Erlösung der Sünder und der Menschwerdung Christi: Gott hätte „einzig aufgrund seines Willens alle jene Vorteile im Menschengeschlecht [...] erwirken können, von denen wir sagen, sie seien ein Resultat der Inkarnation Gottes“ (Summa contra gentiles, IV, 55 [Antwort auf den zweiten Einwand] [Übers. M. H. Wörner]). Im selben Sinne äußert sich auch Johannes Calvin (vgl. 401) in seiner Institutio (1559), II, 12, 1: Dass der Mittler zwischen uns und Gott wahrer Mensch und wahrer Gott gewesen sei, beruhe „nicht, wie man sagt, auf einer ‚einfachen‘ oder ‚absoluten‘ Notwendigkeit, sondern es ergibt sich aus dem himmlischen Ratschluß, von dem das Heil der Menschen abhing. Der Vater hat eben in seiner Freundlichkeit beschlossen, was nach seiner Festsetzung für uns das Beste war!“ (Übers. O. Weber).

166
Darum schreibe ich: wir freuen uns, daß sie da ist etc. etc.

Zwar nicht wörtlich, aber sinngemäß („Wir danken Gott, daß [...]“), vgl. b44f. und z49.

167
Warum nahm nun aber der Recensent nicht meine Antwort auf das 3te Stück S. 74. 75. wo Herr Bahrdt, um Christi willen, wie wir lehren, erklärte, um eines Menschenopfers willen?

Semlers Antwort umfasste b74–80 und bezog sich auf a17f.

168
„hier ist kein Wort [...] vorgetragen wird.“

Zitat z49.

169
obedientiam actiuam, passiuam, Stellvertretung

Eine sowohl innerhalb der frühen reformierten Kirche als auch der lutherischen Orthodoxie verbreitete Unterscheidung; die ob(o)edientia activa, oder der tätige Gehorsam, Christi bezeichnet Jesu Befolgung und Erfüllung des Gesetzes, die ob(o)edientia passiva bezieht sich auf Jesu stellvertretendes Auf-sich-Nehmen der Sündenstrafe von Leid und Tod. Ob die oboedentia activa Christi ebenfalls stellvertretend für die Menschheit geschieht, welche satisfaktionstheoretische Wirkung ihr (wenn überhaupt) zukommt und wie einschlägige Passagen in den symbolischen Büchern zu deuten sind, war heftig umstritten.

170
der Schrift und Vernunft entgegen, und blos dem Unglauben – beförderlich seye

Anspielung auf a10.

171
Ueberredung, ich kann nichts – ich mus Gotte nur stille halten

Zitat z50.

172
das Vorhaben gewisser Männer, eine Universalreligion oder allgemeines Christenthum, aufzurichten – seye nicht so zu verachten

Paraphrase z50.

173
„meine Bemühung könne [...] geglaubt werden.[“]

Umgestelltes Zitat z51.

174
Kraftgenies

Interessanterweise nimmt Semler hier einen Ausdruck auf, den Bahrdt als einer der ersten im Kirchen- und Ketzer-Almanach (s. 479), 74, verwendete. Dort heißt es über Johann Gottfried Herder (1744–1803): „Ist ein Kraftgenie. Und man weiß ja, wie diese Herren sind. Sie rennen überall den Leuten wider die Stirn, schlagen links und rechts um sich, seh’n alles, was ihnen in den Weg kommt, für unsers Herrgotts Hornvieh an, und denken sich immer als die Einzigen vernünftigen Geschöpfe, die unter dem Monde leben.“ Der Ausdruck „Kraftgenie“ wird noch heute als Bezeichnung für typische Vertreter des „Sturm und Drang“ gebraucht.

175
noch andre Recensionen [...] zumahl von der Biographie; die auch kein Muster der Unpartheilichkeit ist

Gemeint ist die Rezension der Schrift „Biographie und Silhouette von C. F. Bahrdt“, AdB 43 (1780), 63–65. Die AdB macht keinerlei Angaben zu Verfasser, Erscheinungsort, -jahr oder Verlag. Ein Werk mit ähnlichem Titel liess sich in heutigen Bibliothekskatalogen nicht auffinden. Der Rezensent rekapituliert anhand der „Biographie“ in teils bewunderndem Ton den Lebenslauf Bahrdts, spart dabei aber unangenehme Details (Affäre in Leipzig, persönliche Zerwürfnisse, sich bereits vor der Flucht abzeichnendes ökonomisches Fiasko in Heidesheim etc.) aus.

176
Verfasser der Recension des wahren Characters des Hrn. D. Bahrdts in vertraulichen Briefen etc.

Semler zitiert im Folgenden aus der Rezension der anonym veröffentlichten Schrift Der wahre Character des Herrn Doctor C. F. Bahrdt. In vertrauten Briefen geschildert von einem Niederländischen Bürger an Seinen Freund in London (1779), AdB 43 (1780), 65. Beim Rezensenten handelt es sich um Hermann Andreas Pistorius, s. 471. Semler folgt der inkorrekten Titelangabe der AdB („vertraulichen“ statt „vertrauten“).

177
pasquillantisch

Ein Pasquill ist eine anonym oder pseudonym erscheinende Schmähschrift. Der Name leitet sich von einer römischen Statue, genannt „Pasquino“, her, an die die Bewohner der Stadt seit dem frühen 16. Jahrhundert Spottgedichte auf den Papst oder seine Regierung zu heften pflegten. Angeblich erhielt die Statue ihren Namen im Volksmund zu Ehren eines besonders schlagfertigen Schneiders aus der Nachbarschaft.

178
der weggelassene Name des Druckorts und Verlegers

Das Titelblatt von Bahrdts Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781 (s. 479) liefert folgende fiktive Angabe: „Häresiopel, im Verlag der Ekklesia pressa“. Tatsächlich wurde der Almanach bei Frommann in Züllichau verlegt. Laut Bahrdt (Geschichte seines Lebens IV, 1791, 144f.) wurde die Idee bei einem vergnügten Abendessen in Basedows Leipziger Unterkunft geboren und ihre Umsetzung sogleich in stillem Einvernehmen von Bahrdt und dem ebenfalls anwesenden Verleger Nathanael Sigismund Frommann (1736–1786) beschlossen. Weitere Gäste waren u.a. der reformierte Leipziger Prediger Georg Joachim Zollikofer (1730–1788) sowie der Medizinprofessor und Philosoph Ernst Plat(t)ner (1744–1818).

179
Druckort und Verleger eben nicht unbekannt

Die Schrift wurde offenbar mindestens einmal nachgedruckt, es sind zwei verschiedene Titelblätter erhalten; auf einem der beiden findet sich die fiktive Angabe „London, Bey James Brother“. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf den Verlag Rothe in Gera, dessen Name sich im Wort „Brother“ verbirgt.

180
actio iniuriarum

Der Begriff bezeichnet im klassischen römischen Recht eine Bußklage. Sie betraf vorsätzliche Körper- und Ehrverletzungen (Real- und Verbalinjurien).

181
da Herr D. Bahrdt noch so angesehene Verwandte in Leipzig hat

Bahrdts Eltern lebten seit 1747 in Leipzig, der Vater, ein anerkannter Theologieprofessor orthodoxer Prägung, Johann Friedrich Bahrdt (1713–1775), war zur Abfassungszeit der Theologische[n] Briefe bereits tot. Bahrdts Mutter Christiana Elisabeth, geb. Ehrenhaus, überlebte ihren Sohn. 1779 machte Bahrdt auf seiner Flucht nach Halle Station bei ihr (Geschichte seines Lebens IV, 1791, 17), über das weitere Verhältnis ist nichts bekannt. Von Bahrdts Geschwistern wohnte zumindest Margarethe Friederike Sophie (gest. 1805) mit ihrem Ehemann, dem Juristen August Friedrich Schott (1744–1792), in der Stadt. Degenhard Pott (Leben, Meynungen und Schicksale D. Carl Friedr. Bahrdts, 32) berichtet für das Jahr 1790, dass ein Bruder [Christian Gottlieb] „Doctor der Rechte und Syndikus der Universität Leipzig“, ein anderer [Christian Traugott, ebenfalls Doktor der Rechte] „Stadtschreiber in Geithayn“ (Sachsen) sei, eine zweite Schwester lebe bei der Mutter (die Namen nach eigenen Recherchen von den Hgg. ergänzt). – Bahrdts Verhältnis zu seinem Vater war geprägt von Zuneigung und Respekt, seine Mutter und die vier jüngeren Geschwister erwähnt er hingegen kaum.

182
Zusatz zur verbesserten Auflage des Almanachs

Bahrdt hatte eine alljährliche Ausgabe angekündigt (Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781 [1780], 246f.), tatsächlich erschien die nächste Ausgabe jedoch erst 1787. Dort wird unter Verweis auf die Erstveröffentlichung auf einen Wiederabdruck der Invektiven gegen den „große[n] Mann“ (175) Semler verzichtet. Zugleich konstatiert Bahrdt allerdings, dass dieser „in der gelehrten Welt nicht mehr in Rechnung komme[.], da er sich mit Chemie und Alchymie abgibt und – Achselzucken erregt“. Vor allem mokiert sich Bahrdt über das von Semler in mehreren Schriften (beginnend mit Von ächter hermetischer Arzenei [1786]) propagierte „Luftsalzwasser“, eine von einem gewissen Baron Leopold von Hirschen vertriebene Universalarznei geheimer Zusammensetzung. Bahrdts Rat an Semler, sich aus Wissenschaften herauszuhalten, von denen er nichts verstehe, entbehrt nicht der makabren Ironie, sollte Bahrdt doch wenige Jahre später sich und seine älteste Tochter mit eigenverordneten Quecksilberkuren umbringen.

183
in dem Schulalmanach, darinn – besonders Herr – so sehr gepriesen werden soll

Es ist unklar, auf was und wen sich Semler hier bezieht. Am wahrscheinlichsten ist wohl das kurzlebige Magazin für die Erziehung und Schulen besonders in den Preußischen Staaten gemeint, das erstmals im Herbst 1781 in Halle im Verlag Johann Jacob Gebauer erschien. Herausgeber war der Stettiner Lehrer und Historiker Johann Jakob Sell (1754–1816). Besonders „gepriesen“ (vgl. Widmung und Vorrede, Bd. 1, 1. St.) wurde das Wirken des Freiherrn von Zedlitz (vgl. 489), der Semler des Postens des Seminardirektors enthoben hatte (vgl. 480). Preußische Autoren waren zum Einsenden von Beiträgen ermuntert worden. Nicht völlig auszuschließen ist auch, dass Semler bereits auf Johann Heinrich Campes epochale Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens (16 Bde.; 1785–1792) anspielt, deren erster Band von einem programmatischen Beitrag Bahrdts eingeleitet wurde (vgl. 125) – allerdings erst vier Jahre später. Campe trug sich aber wohl schon seit 1780 mit dem Gedanken eines solchen Unternehmens und warb dafür unter Kollegen. In dem 1783 in der Berlinische[n] Monatsschrift (2, 162–181) veröffentlichten „Plan zu einer allgemeinen Revision [...]“ wird Bahrdt bereits als Beitragender aufgeführt. Zu guter Letzt könnte auch Trapps Werbeschrift Ueber das Hallische Erziehungs-Institut (1782) gemeint sein, in der er naturgemäß die eigene Arbeit als Institutsleiter „preist“. Für diese Deutung spräche, dass Semler auch sonst die namentliche Nennung seines Intimfeindes vermeidet (vgl. d115. 129) und ihm bekannt gewesen sein dürfte, dass Trapp mit Bahrdt auf vertrautem Fuße stand (Bahrdt, Geschichte seines Lebens IV, 1791, 87f.). Andererseits fällt es schwer, in Trapps oder Campes Publikationen einen „Almanach“ zu sehen.

1
August Mylius

Vgl. 456.

1
in einer kurzen Erklärung

Gemeint ist c.

2
öffentlichen Befehl der höchsten Reichsgerichte

Vgl. a6f.

3
als ob ich mich aus Leichtsinn und Uebereilung von der lutherischen Kirche losgesagt, und die Stiftung einer neuen Secte erzielet hätte

Vgl. b10 („Uebereilung, Leichtsinnigkeit“), zum Vorwurf, eine (unversalreligiöse) Sekte einführen zu wollen, vgl. z.B. b[V]. 19f. 29. 38. 57. 63–66; siehe auch c5.

4
Ich habe nie Erlaubniß gesucht, eigentliche theologische Collegia zu lesen

Vgl. aber b5 und d119, außerdem 488.

5
Und ohngeachtet, bald nach meiner Ankunft in Halle, der allerhöchste Befehl an die Universität ergieng, daß man mich nicht hindern solle, den hier studierenden jungen Leuten durch Vorlesungen nützlich zu seyn

Vgl. zur Universität in Halle 488 und zu Minister v. Zedlitz 489.

6
ein practisches Collegium über die Beredsamkeit nach den Grundsätzen des Quintilian und eines über die Anfangsgründe der hebräischen Sprache zu lesen [...] Vorlesungen über die Klassiker der Griechen und Römer

Bahrdt las ab dem Wintersemester 1779/80 an der Philosophischen Fakultät der Universität Halle (s. 488). Bahrdt schreibt über sich selbst im Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781 [1780], 13: „Er lebt jezt in Halle und ließt über den Quintilian, Tacitus, Plato.“

7
weisen und duldsamen Monarchen, der [...] jeden im Stillen seines Glaubens leben läßt

Unter Friedrich II. (1712–1786) herrschte in Preußen eine weitreichende Toleranz gegenüber anderen Konfessionen und Religionen. Schon zu Beginn seines Regierungsantritts vermerkte er im Juni 1740 handschriftlich auf der Eingabe des geistlichen Departements über den Umgang mit Katholiken in Preußen: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden, und Mus der fiscal nuhr das auge darauf haben das Keine der andern abruch Tuhe, den hier mus ein jeder nach Seiner Faßon Selich werden.“ Auch schon unter seinem Vater Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) hatte es aus pragmatischen politischen Erwägungen deutliche Zugeständnisse etwa gegenüber Katholiken gegeben, gleichwohl blieb die repressive Haltung gegenüber Juden auch unter Friedrich II. unverändert.

1
letztes Glaubensbekenntniß über natürliche und christliche Religion

Der (irreführende) Titel des postum erschienenen Werks geht nicht auf Semler selbst zurück, sondern wurde vom Herausgeber Schütz (vgl. 687) – wohl in Anlehnung an Bahrdts Skandalschrift – gewählt; vgl. fVII. – Semlers letztes Glaubensbekenntniß war nicht das einzige voluminöse Werk, das aus seinem Nachlass herausgegeben wurde: Nösselt (vgl. 146) veröffentlichte im selben Jahr eine 350 Seiten starke Schrift Semlers über den 1. Johannesbrief (Paraphrasis in primam Ioannis epistolam, 1792).

2
Chr. Gottfr. Schütz

Der Theologe, Philosoph und Altphilologe Christian Gottfried Schütz (1747–1832) war ein Schüler Semlers und Georg Friedrich Meiers. 1769 wurde er Inspektor am Theologischen Seminar in Halle, 1773 außerordentlicher, 1777 ordentlicher Professor für Philosophie, 1779 wechselte er als Professor für Dichtkunst und Beredsamkeit nach Jena, bevor er schließlich 1804 als Professor für Literaturgeschichte nach Halle zurückkehrte. Im Streit zwischen Semler und Bahrdt/Trapp (vgl. 480) bezog er öffentlich Stellung für seinen Lehrer (Geschichte des Erziehungsinstituts bei dem theol. Seminarium zu Halle [...] zur Apologie des Herrn D. Semler, 1781). Heute ist Schütz vor allem als früher Anhänger und Popularisator der kritischen Philosophie Kants bekannt, der er als Mitherausgeber des Rezensionsorgans Allgemeine Literatur-Zeitung (1785–1849) ein wichtiges Forum bot.

3
Friedrich Nicolovius

Matthias Friedrich Nicolovius (1768–1836) erlangte Berühmtheit als Verleger von Immanuel Kants Schriften. Nach Lehrjahren bei Johann Friedrich Hartknoch (1740–1789) in Riga eröffnete er 1790 eine Verlags- und Sortimentsbuchhandlung in Königsberg. 1818 musste er seine Buchhandlung an die Brüder Friedrich (1787–1866) und Ludwig Bornträger (1788–1843) verkaufen, die das Geschäft unter ihrem Namen weiterführten.

4
unleugbar der erste lutherische Theolog unsers Jahrhunderts

Diese Einschätzung wurde weithin geteilt, vgl. pars pro toto den umfangreichen Nachruf des Theologen und Orientalisten Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) in der Allgemeine[n] Bibliothek der Biblischen Litteratur 5 (1793), 1–183; 182f: „[Semler war] der erste Reformator unserer neueren Theologie, der kühnste und belesenste, der an Erforschungen und neuen Resultaten reichste Theolog unter den bis itzt verstorbenen unseres Jahrhunderts.“

5
an andern getadelt habe, was er sich selbst für erlaubt gehalten

Vgl. c[3], e18, z46.

6
bey der erstaunlichen Lektüre in die er sich von Jugend auf geworfen

Vgl. Semler, Lebensbeschreibung I (1781), z.B. 40–45. Von der enzyklopädischen Belesenheit Semlers zeugen die ca. 300, das gesamte Gebiet der Theologie umspannenden Einzelveröffentlichungen; s. dazu auch diverse weitere Erläuterungen.

7
die Art seiner Bestreitung des Wolfenbüttelschen Fragmentisten

Anspielung auf Semlers Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten (1779; vgl. 673), in der er mit dem (ihm namentlich nicht bekannten) Verfasser der Fragmente, Hermann Samuel Reimarus, hart ins Gericht ging.

8
Daß Ergebenheit [...] gar nicht abhängt

Vgl. Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Nathan der Weise (1779), 3. Aufzug, Erster Auftritt. Der Ausspruch entstammt dem Munde Rechas, der Adoptivtochter Nathans.

9
der allererste Grundsatz der christlichen Religion, (S. 9.) daß [...] beurtheile

Zitat f9.

10
die Lehre von der Dreyeinigkeit [...] Genugthuung Christi

Grundlegend äußert sich Semler dazu in seiner kontrovers aufgenommenen Institutio ad doctrinam christianam liberaliter discendam (1774), vermehrt erneut erschienen als Versuch einer freiern theologischen Lehrart, zur Bestätigung und Erläuterung seines lateinischen Buchs (1777). Zu seinem Bibelverständnis vgl. auch Semlers Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I–IV (1771–1775). Die offensichtliche Nähe zu einigen von Bahrdts Thesen (vgl. a10) wurde bereits zeitgenössisch häufig bemerkt, vgl. etwa z46.

11
Prof. Hufeland

Gottlieb Hufeland (1760–1817) war ein angesehener Jurist, der nach Professuren in Jena, Würzburg und Landshut für einige Jahre Bürgermeister in Danzig war und ab 1816 in Halle lehrte. Schütz und Hufeland kannten sich aus den gemeinsamen Jenaer Jahren, in denen sie ab 1785 zusammen mit Christoph Martin Wieland an der einflussreichen Allgemeine[n] Literatur-Zeitung beteiligt waren.

12
S. 70 u. f.

Paraphrase f70f.

13
Ueber das Recht [...] Jena 1788

Gottlieb Hufeland: Ueber das Recht protestantischer Fürsten unabänderliche Lehrvorschriften festzusetzen und über solchen zu halten[,] veranlaßt durch das preussische Religionsedict vom 9 Julius 1788 (1788). Während Hufeland in dieser Schrift kritisch Stellung zum Woellnerschen Religionsedikt nahm, verteidigte Semler die im Vergleich zum 1786 verstorbenen Friedrich II. restriktivere Haltung des neuen Monarchen Friedrich Wilhelm II. (1744/86–1797). Vgl. Vertheidigung des Königl. Edikts vom 9ten Jul. 1788 wider die freimüthigen Betrachtungen eines Ungenannten (1788).

14
Hutters oder Beyers Compendium

Zu Hutter vgl. 561; Johann Wilhelm Baier (1647–1695) war zunächst Theologieprofessor in Jena und ab der Universitätsgründung 1694 in Halle. Gemeint sind die auch im 18. Jh. häufig wieder aufgelegten Werke: Hutter, Compendium locorum theologicorum ex scripturis sacris et libro concordiae (11610) sowie Baier, Compendium Theologiae Positivae (11686).

15
was neuerlich wieder Hr. D. Rosenmüller so trefflich auseinander gesetzt hat

Johann Georg Rosenmüller (1736–1815) war ab 1775 Theologieprofessor in Erlangen, von 1783–85 in Gießen und schließlich Professor, Superintendent und Konsistorialpräsident in Leipzig, was ihm erlaubte, seine aufklärerischen Kirchenreformpläne auch in die Tat umzusetzen. Gemeint ist Rosenmüllers Beantwortung der Frage: Warum nennen wir uns Protestanten? (1790), 11: Protestanten müssten „gegen allen Gewissenszwang auf das feyerlichste protestiren“ und es gelte, „daß wir uns stets das Recht vorbehalten, selbst zu prüfen, nichts anders für wahr anzunehmen, als was wir [in der Bibel] nach gewissenhafter und sorgfältiger Prüfung, und nach gesunden Regeln der Auslegung durch den Gebrauch der uns durch die Vorsehung geschenkten bessern Hülfsmittel als wahr erkannt haben“.

16
Gottesverehrung müsse [...] rein deistisch seyn

Deisten betrachteten positive Religionen als Verfallsformen einer rationalen oder „natürlichen“ Religion. Sie glaubten zwar an die Existenz eines Schöpfergotts, bestritten jedoch, dass er in der Geschichte „interveniert“: Gott bewirkt keine (übernatürlichen) Wunder, wird nicht Mensch und offenbart sich auch nicht in heiligen Texten oder religiöser Erfahrung; vgl. auch 157 („Naturalisten“). Der Deismus war unter Gebildeten im 17. und 18. Jh. besonders im englischsprachigen Raum populär, fand aber auch in Frankreich und Deutschland Anhänger. Als Begründer gilt Edward Herbert, 1st Baron Herbert of Cherbury (1583–1648), der freilich noch an der Existenz von Wundern und der Wirksamkeit von Bittgebeten festhielt. Zu den bekanntesten Vertretern zählen außerdem Matthew Tindal (1657–1733), Anthony Collins (1676–1729), Voltaire und Hermann Samuel Reimarus. Die deistische Streitschrift The Age of Reason (1794/95; dt. 1796) des amerikanischen Revolutionärs Thomas Paine (1737–1809) gehörte zu den meistverkauften Büchern der Zeit. Der englische Publizist David Williams (1738–1816) musste seinen Versuch, 1776 in London einen deistischen Gottesdienst zu etablieren, allerdings mangels Nachfrage alsbald wieder einstellen.

17
Rotte von Aufklärern

Schütz bezieht sich hier (s. auch fVIII, „Rotte von Leuten“) vermutlich auf die im Gefolge des Woellnerschen Religionsedikts (1788) am 31. August 1791 ergangene „Instruction für die Königliche Examinations-Commission in Geistlichen Sachen“ des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. Die Mitglieder besagter Kommission wurden u.a. angewiesen, eine schwarze Liste zu erstellen und dabei „vorzüglich alle Neologen und die ganze Rotte der sogenannten Aufklärer unter den Predigern und Schullehrern“ zu erfassen. Die Instruction war allgemein bekannt, da Ernst Christian Trapp (vgl. 480) sie in seiner anonym publizierten Streitschrift Freymüthige Betrachtungen und ehrerbietige Vorstellungen über die neuen Preußischen Anordnungen in geistlichen Sachen (1791), 12–26, abgedruckt hatte. Wer Trapp die Instruction zuspielte, ist unklar.

18
Kaum war z.B. von Hn. Bahrdt die Union der Zwey und Zwanziger entworfen

Die Deutsche Union oder Union der Zwey und Zwanziger war ein von Bahrdt 1787 gegründeter Geheimbund, dem er gestützt auf anonym betriebene Korrespondenz zeitweilig erhebliche Anhängerschaft verschaffte. Berühmtestes Mitglied war Adolph Freiherr von Knigge (1752–1796); vgl. die in Pott, Briefe V (1798), gesammelten Briefe und Dokumente, darunter auch eine Mitgliederliste (334–360). Laut Geheime[m] Plan der deutschen Union ist der „letzte Zweck“ des Bundes nur „Brüder[n] des dritten Grades“ bekannt, unter die „Hauptzwecke“ werden gleichwohl u.a. gerechnet: „Vervollkommnung der Wissenschaften, der Künste[,] des Kommerzes etc. insonderheit der Volksreligion“, „Verbesserung der Erziehung“, aber auch „Belohnung entschiedener Verdienste“ und „Versorgung verdienstvoller Menschen im Alter und Unglück“. „[A]llgemeine Mittel“ dazu seien „[g]emeinschaftliches Wirken durch Rath, Empfehlung und Hülfe“, „Unterricht in Schriften“ sowie „[h]inlängliche Geldsummen“ – was bei manchem Zeitgenossen den Verdacht keimen ließ, Bahrdt verfolge mit der Union nicht bloß selbstlose Ziele. Als Bahrdt schließlich am 7. April 1789 wegen seines konspirativen Wirkens sowie der Veröffentlichung des Lustspiels Das Religions-Edikt (1789) verhaftet wurde, bedeutete dies auch das Ende des Geheimbundes. Das Gerichtsurteil – Freispruch u.a. in Sachen Union, jedoch zwei Jahre Festungshaft für die mit der Publikation des Lustspiels begangene Beleidigung und „Majestätsschändung“, später nach Fürsprache des attackierten Woellner auf ein Jahr reduziert – findet sich im „Anhang“ von Bahrdts Geschichte und Tagebuch meines Gefängnisses nebst geheimen Urkunden und Aufschlüssen über Deutsche Union (1790); ebenso dort: die Verteidigungsschrift des Bahrdt’schen Anwalts sowie der Geheime Plan.

19
die Schrift eines einzigen philosophischen und witzigen Kopfes, (Mehr Noten als Text,)

Anspielung auf die von dem Verleger und Freimaurer Johann Joachim Christoph Bode (1731–1793) anonym publizierte Schrift Mehr Noten als Text oder die Deutsche Union der Zwey und Zwanziger eines neuen geheimen Ordens zum Besten der Menschheit (1789). Bode kommentierte Ankündigungen, Pläne, Rundbriefe, Eidesformel etc. der Deutschen Union und versuchte, sie mit den Mitteln der Ironie als lächerlich, prätentiös oder größenwahnsinnig zu entlarven. Eine abgedruckte vermeintliche Mitgliederliste, die stark von der Pott’schen abweicht (vgl. 704), sorgte für Verlegenheit und bewirkte eine Reihe öffentlicher Distanzierungen.

20
ἀληθευειν ἐν ἀγαπῃ

Anspielung auf Eph 4,15: „Wahrheit bezeugen in der Liebe“.

21
Spalding

Johann Joachim Spalding (1714–1804), 1764–1788/91 Propst (St. Nikolai) und Oberkonsistorialrat in Berlin, Autor der epochalen Bestimmung des Menschen (1748; 111794, SpKA I/1), war einer der wichtigsten Vertreter der Neologie. Im Unterschied zu Bahrdt war Spalding für seine ausgleichende Art bekannt und ging der polemischen Auseinandersetzung für gewöhnlich aus dem Weg, vgl. etwa seine freundlich-souveräne Reaktion auf Herders feindselige Schrift An Prediger (1774) (Spalding, Briefe [2018], Nr. 127 und 129).

22
Teller

Vgl. 545.

23
Illuminaten

Der radikal-aufklärerische Geheimbund der Illuminaten („Erleuchtete“) war 1776 vom Ingolstädter Professor für kanonisches Recht Adam Weishaupt (1748–1830) gegründet, doch nach einigem Erfolg im süddeutschen Raum bereits 1785 verboten worden, was kurz darauf zu seiner Zerschlagung führte. Gleichwohl nährte der Gedanke eines zentralgeleiteten Ordens mit religionsfeindlichen Ideen diverse Verschwörungstheorien, die weit über die kurze Existenz der Illuminaten hinauswirkten. So wähnte man einen direkten Zusammenhang zu den Revolutionen in Amerika und Frankreich.

24
daß der Name christliche Naturalisten keineswegs einen Widerspruch [...] enthalte

Vgl. Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 88, und II (1772), 465–470. Semler betont dort, er wolle das Christentum an die christlichen Wahrheiten binden und nicht an die „Provinzen oder äusserlichen Hülfsmittel dieser oder jener [biblischen] Bücher“, insofern lasse er sich die Bezeichnung „christlicher Naturalist“ gefallen; vgl. 157 und 478.

25
Sokrates

Vgl. 163.

26
Sehr oft eiferte der sel. Semler [...] gegen das Aufdringen seiner Meinungen in Religionssachen

Vgl. z.B. b99; f149.

27
neuerlich Hr. Prof. Hufeland am bestimmtsten auseinander gesetzt

Gemeint ist wieder Hufelands Schrift (vgl. 699) Ueber das Recht protestantischer Fürsten unabänderliche Lehrvorschriften festzusetzen (1788), die dieser in Reaktion auf das Woellnersche Religionsedikt verfasst hatte.

28
Nutzbarkeit und Würde des Predigtamts

Hier klingt Spaldings Titel Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (1772; 31791, SpKA I/3) an.

29
ein tönendes Erz und eine klingende Schelle

Anspielung auf 1Kor 13,1.

1
Liebhaber oder Theilnemer

Semler verwendet diese im 18. Jh. nicht unübliche Wendung mehrfach. Er scheint hier eine unterschiedliche Intensität der Verbundenheit zum Christentum abbilden zu wollen. Interessanterweise kennt die niederländische reformierte Kirche schon im 17. Jh. eine ähnliche Einteilung in Liebhaber (nl. liefhebbers), die zwar zur Kirche gehen, aber ein loses Verhältnis dazu pflegen, und den Mitgliedern (nl. lidmaten), die sich unter die strenge Kirchenzucht stellen und zum Abendmahl zugelassen sind.

2
braminische

Vgl. 205.

3
natürliche Religion

Vgl. 157.

4
ob sie 2 oder 3mal an Sontagen und Festtagen sich versammeln will

Bis ins 18. Jh. hinein war es durchaus üblich, mehrmals am Sonntag zur Kirche zu gehen. Es gehört zu den vielfältigen Reformen im Protestantismus um 1800, diese Nebengottesdienste (etwa Metten, Frühpredigten und Nachmittagsgottesdienste) weitgehend abzuschaffen. In Preußen wurde 1773 die Anzahl der Feiertage reduziert, darunter auch die dritten Feiertage christlicher Hochfeste.

5
Priester und Leviten

Vgl. Joh 1,19. Leviten, benannt nach dem Stammvater Levi (Gen 29,34), erfüllen neben dem Priester (oder Rabbiner) bestimmte Funktionen in der Synagoge, vor allem bei der Thora-Lesung.

6
der allererste Grundsaz der neuen christlichen Religion, daß ein und derselbe Gott aller Menschen und Völker Herr und Vater sey

Anspielung auf z.B. Röm 3,29f.; vgl. aber schon Ps 67 oder Jer 32,27.

7
nach dem Maße ihrer Erkenntnis vom Guten und Bösen

Vgl. Gen 3,22.

8
Hellen

D.i. Grieche.

9
Skythe

Angehöriger eines antiken Nomadenvolks, das nördlich des Schwarzen Meers beheimatet war. Der Ausdruck „Skythen“ wurde in der Antike häufig verallgemeinernd auf alle nichtgriechischen Völker Osteuropas und des Kaukasus angewandt.

10
alle Nationen haben eben so wenig schon einen moralischen Vorzug, als Mann und Frau, Herr und Knecht

Anspielung auf Gal 3,28 und Kol 3,18.

11
daß schon Tertullian [...] und nach ihm andere christliche Lehrer, von einer dritten Nation reden

Quintus Septimius Florens Tertullianus (ca. 150–ca. 225) wird häufig als eigentlicher Begründer der christlichen Theologie im lateinischen Sprachraum betrachtet. Semlers Zuschreibung ist irreführend: In seinem Werk Ad Nationes I,8 diskutiert Tertullian zwar die zu seiner Zeit offenbar verbreitete (und abschätzig gemeinte) Vorstellung, die Christen seien eine „dritte Nation“ (genus tertium), weist sie jedoch scharf zurück. Die Trichotomie von Griechen (Heiden), Juden und Christen setzte sich aber des ungeachtet durch, s. etwa Eusebius und seine Praeparatio evangelica (vgl. 177).

12
elenden Schriftstellern

Vermutlich benutzt Semler das Adjektiv „elend“ hier nicht, um eine Wertung auszudrücken, sondern gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung „fremd, nicht dazugehörig“. Gemeint sein dürften also heidnische Kritiker der Missstände im antiken Christentum wie Celsus (vgl. 402), Porphyrius (233–301) oder Julian (vgl. 378).

13
den lauten Klagen eines Cyprians

Cyprian (ca. 200–258), Bischof von Karthago, Märtyrer und bedeutender lateinischer Autor der frühen Kirche. Semler dürfte sich vor allem auf die Schrift Über die Gefallenen (De lapsis) beziehen, in der Cyprian nicht nur den Abfall vieler Christen während der Verfolgung unter Kaiser Decius (ca. 200/249–251) beklagt, sondern auch Missstände unter den Bischöfen.

14
Eusebius

Vgl. 177. In seiner Kirchengeschichte berichtet Eusebius nicht nur von zahlreichen christlichen Märtyrern unter Diokletian (vgl. 730) und Galerius (ca. 250/305–311), sondern auch von Feigheit unter den Amtsträgern (8. Buch, 2f.).

15
Verfolgung unter dem Diokletian

Der römische Kaiser Aurelius Diokletian (284–305) verfügte weitreichende Maßnahmen gegen Christen. Sie gelten als Höchst- und Endpunkt der Christenverfolgungen in der Antike.

16
Hieronymus

Hieronymus (347–420), Kirchenvater, Asket, Verfasser der Vulgata, galt als ein scharfer Kritiker des römischen Klerus. 385 hielt er es für ratsam, Rom auf immer zu verlassen. Vgl. seine kaum verbrämte Kritik an den römischen Zuständen im Brief an Heliodorus (epist. 14).

17
alle Privat-Religion durch eine Vorschrift [...] abzuschaffen. Es gibt kein bürgerliches Gebot und Verbot über die eigene Grösse und Anwendung des Verstandes und Urtheils; weil es keine menschliche Gewalt [...] einschränken könnte

Hier klingt eine der Kernideen aus John Lockes A Letter concerning Toleration (1689; 7f.) an: „The care of souls cannot belong to the Civil Magistrate, because his Power consists only in outward force; but true and saving Religion consists in the inward perswasion of the Mind, without which nothing can be acceptable to God. And such is the nature of the Understanding, that it cannot be compell’d to the belief of any thing by outward force. Confiscation of Estate, Imprisonment, Torments, nothing of that nature can have any such Efficacy as to make Men change the inward Judgement that they have framed of things. [...] It is only Light and Evidence that can work a change in Mens Opinions.“ Vgl. 147.

18
Es giebt hie und da sehr nützliche Verzeichnisse öffentlicher Missethäter

Daten zur Kriminalstatistik lagen der Öffentlichkeit Ende des 18. Jh.s nur spärlich und regional begrenzt vor. Vgl. aber C.G.M. [Christian Gottlieb May], Geschichtliches Verzeichniß aller öffentlichen Lebensbestrafungen, welche in der oberlausitzischen Sechs Stadt Zittau, an unterschiednen Missethätern, seit Anfange der Stadt, bis auf gegenwärtige Zeiten, sind vollzogen worden (1774); eine Statistik der Nürnberger Exekutionen vom 15. Jh. bis ins Jahr 1781 liefert: Georg Andreas Will, Nürnbergische Criminal-Parallele, mit Bemerkungen und einem Anhang von allen Statuten, Historischdiplomatisches Magazin für das Vaterland und angrenzende Gegenden 2, 2. St. (1782), 218–266.

19
der Christ [...] gleichsam aus Gott geboren ist

Anspielung auf Joh 1,13; 1Joh 3,9 u.a.

20
in dem so genannten alten Testament

Es nicht klar, ob Semler hier mittels des Ausdrucks „so genannten“ eine Distanzierung vornehmen will (vgl. auch unten „so genannte Propheten“). Zu Semlers Auffassung, die (meisten) Bücher des Alten Testaments seien nicht als Quelle von Heilswahrheiten anzusehen, vgl. b91, d114. Nicht nur hier (s. weiterer Text) nimmt Semler von diesem Verdikt vor allem die Psalmen und manche der Propheten aus, vgl. z.B. Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 92.

21
hatten auch griechische Juden schon vielerley griechische moralische Aufsätze unter ihren Bekannten ausgetheilet

Anspielung auf das hellenistische Judentum, vgl. 176 (Philo); s. auch f119.

22
Pharisäer, Essäer und Sadducäer

Gemeint sind führende Religionsparteien des antiken Judentums, wie sie etwa Flavius Josephus (37/8–nach 100) in seinem Bellum Judaicum (75–79) und rabbinische Quellen nennen. „Pharisäer“ (hebr. Peruschim „Abgesonderte“) wurde im 18. Jh. teils von hebr. Parasch („auslegen“) hergeleitet; man verstand darunter eine Schule von Schriftgelehrten. Essener (Essäer) lebten abgeschieden in klosterähnlicher asketischer Gemeinschaft, weshalb heutzutage die Gemeinschaft von Qumran zu dieser Partei gerechnet wird. Sadduzäer (wahrscheinlich benannt nach Sadok, dem Priester Davids) formten eine Priestergruppe, die den dynastischen Anspruch erhob, den Hohepriester von Jerusalem zu stellen. Nach der Tempelzerstörung (70) verblasste der Einfluss dieser Gruppen, die mit Ausnahme der Essener auch im Neuen Testament vorkommen, wo sie durchweg negativ konnotiert sind. Vgl. zu zeitgenössischen Deutungen Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 281–295.

23
ehedem noch ein Mysterium

Semler nimmt in der (Heils-)Geschichte unterschiedliche Offenbarungsstufen im Sinne einer Akkommodationslehre (vgl. 385) an.

24
vielerley Engeln und Geistern

Semler spielt hier auf die rabbinische Dämonologie an, nach der der Erzengel Michael über die Juden wache, die übrigen Menschen jedoch unter dem Joch der Engel und Dämonen stünden. Vgl. dazu ausführlich Semler, Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 326–330.

25
LXX

Die griechische Übersetzung des hebräischen Alten Testaments, die um die Zeitenwende im griechischsprachigen Ägypten entstand, wird als Septuaginta („Siebzig“) bezeichnet, weil der Überlieferung nach siebzig Übersetzer daran gearbeitet haben, die wortgleich zur selben Übersetzung gekommen sein sollen. Kritisch dazu Semler, Versuch einer neuen Aufgabe des Erdichters der Geschichte von Siebzig in ihren Uebersetzungen des Alten Testaments aufs genaueste miteinander harmonirenden Dolmetschern, Magazin für das Kirchenrecht[,] die Kirchen- und Gelehrten-Geschichte nebst Beiträgen zur Menschenkenntniß überhaupt 1 (1787), 385–396.

26
Goim

Hebr. גוים bezeichnet alle Nicht-Juden.

27
Rabbinen

Gemeint sind die Rabbinen (hebr. „Lehrer“), die als Sammelbezeichnung für jüdische Autoren religiöser Schriften nach der Zerstörung des Tempels (70) benutzt werden, etwa für die Verfasser von Mischna, Tosefta, Talmud und Midrasch. Vgl. auch Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 301–305.

28
Dieser folglich blos historische Glaube

Siehe z.B. auch Semler, Vorbereitung auf die Königlich Großbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi (1787), „Ueberaus gern komme ich immer auf den Unterschied der moralischen und der historischen Religion; ich kann das Wesentliche der christlichen Religion, das allen Christen unentbehrlich ist zu ihrer christlichen Wohlfahrt und Seligkeit, sonst nicht gehörig unterscheiden, von dem was seiner Natur nach unwesentlich, zufällig, unfruchtbar, und also eigentlich unchristlich, ungeistlich [...] ist.“ Vgl. ferner die ganz ähnliche Unterscheidung von „historischem“ und „moralischem Glauben“, die Kant wenig später in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) vornimmt, AA 6, v.a. 102–124.

29
(μετανοειν, πιστευειν.)

„Den Sinn ändern“; „glauben“; vgl. f218.

30
hieß ein Bund, den Gott mit dem Patriarchen Abraham schon gemacht, und nachher durch den Moses [...] bestätiget habe

Vgl. Gen 15,18; 17,7 und Ex 19,5.

31
bessern Bunde

Anspielung auf Jer 31,31–34; vgl. auch Hebr 8,6.

32
alle Heiden, alle Völker Gott loben und preisen, und ein reines Opfer bringen

Anspielung auf Ps 117,1; Mal 1,11; vgl. auch Röm 11,25.

33
Diese Prophezeiungen [...] reden zuweilen [...] von einem besondern Knecht oder Diener Gottes, von einem rechten König, oder Gesalbten Gottes, Messias

Anspielung auf die Gottesknechtslieder (Jes 42; 49; 50 u. 52f.); auf den „rechten König“ (Sach 9,9 u. Jes 9,1–6); auf den „Gesalbten Gottes“ (Jes 11,1–16).

34
Nachricht, daß dieses nun erfüllet seie, oder eintreffe an diesem Jesus als Christus

Anspielung auf die typologische Deutung der alttestamentlichen Weissagungen im Christentum, etwa in Hebr 8,5.

35
alexandrinischen Juden

Das ägyptische Alexandria war der Mittelpunkt des hellenistischen Judentums, es beheimatete etwa Philo(n) von Alexandrien (vgl. 176) und die Übersetzer der Septuaginta (vgl. 740).

36
moralischen Kindern, Unmündigen, oder fleischlichen, sehr unfähigen, sinnlichen Christen

Anspielung auf 1Kor 3,1; vgl. z.B. Röm 8,5–9.

37
die starke Speise

Anspielung auf 1Kor 3,2 und Hebr 5,12–14.

38
tausendjähriges Reich auf Erden

In Offb 20,1–7 ist davon die Rede, dass vom Tode auferstandene Märtyrer sowie wahrhaft Gläubige zusammen „mit Christus“ eine tausendjährige Regierung auf Erden errichten. Erst anschließend komme es zum Jüngsten Gericht am Rest der Menschheit. Solche millenaristischen Vorstellungen erfreuten sich im frühen Christentum großer Beliebtheit und waren im 18. Jh. etwa bei Quäkern oder radikalen Pietisten verbreitet.

39
Apocrypha, oder ihres Inhalts wegen geheim gehaltenen Bücher

Gemeint sind alle frühjüdischen und frühchristlichen Texte, die nicht im Alten oder Neuen Testament kanonisiert (vgl. 757) wurden. Vgl. auch Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 10.

40
wie denn aus der Apostelgeschichte und dem Briefe Pauli an die Christen in Galatien schon die grose erste Theilung ersehen wird

Gemeint ist der Konflikt zwischen sog. Juden- und Heidenchristen, der u.a. auf dem Apostelkonzil in Jerusalem (ca. 48 n. Chr.) ausgetragen wurde, vgl. Apg 15,1–29; Gal 2,1–21.

41
Verbrüderung der Bischöfe

Gemeint sind etwa die Kanonisierungsbemühungen auf der Synode von Karthago (397). Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 14: „daß daher 4) einige Bischöfe sich wegen des Canons eben nun vereiniget haben; daß 5) namentlich die africanische catholische Parthey sich mit der römischen Kirche ausdrücklich verabredet und vereiniget hat, nur so und so viel Bücher als canonische zum Vorlesen gelten zu lassen“.

42
unter dem Namen Canon

Ab dem 2. Jh. wurden erste Versuche unternommen, die unterschiedlichen Überlieferungen verbindlich zusammenzustellen. Um 200 taucht auch der Begriff „novum testamentum“ für diesen Kanon (gr. „Richtschnur“) heiliger Schriften auf. Vgl. dazu auch Semlers Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 110–113[!] statt 129.

43
Es wurden [...] allerley Evangelia, Geschichten und Briefe der Apostel, Offenbarungen (Prophezeiungen) [...] untersagt

Gemeint sind etwa das Thomas- und Petrusevangelium, die Andreas- und Johannesakten, der Barnabasbrief oder die Petrusapokalypse und Hirte des Hermas. Die ausführlichste Liste solcher Schriften bietet ein wohl späterer Zusatz zum Decretum Gelasianum (382).

44
13 oder 14 Briefe Pauli, 7 oder 4 Briefe anderer Apostel

Das Corpus Paulinum umfasst traditionell 13 Briefe, die Alte Kirche zählte noch häufig Hebr dazu. Während die Synode von Karthago (397) sieben weitere Briefe: 1/2Petr, 1–3Joh, Jud und Jak als kanonisch ansah, qualifizierte Luther viele dieser Schriften als deuterokanonisch (vgl. 567). Unterschiedliche historische Beispiele der Kanonisierung bietet Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 9–15.

45
Wesen der christlichen Religion, die innere heilige Wirksamkeit zur täglichen Besserung und Vollkommenheit der einzelnen Christen

Hier klingen zwei für das Denken der Aufklärung charakteristische Ideen an: 1) Vervollkommnungsfähigkeit (Perfektibilität) als zentrales Merkmal der Natur des Menschen; vgl. dazu etwa Spaldings Bestimmung des Menschen (1748) und Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755); 2) Identifikation des Wesens religiöser Praxis mit dem Streben nach Moralität, beispielhaft ausgeführt in Kants Religionsschrift (vgl. 743), vorweggenommen im Werk der meisten Neologen, freilich – im Gegensatz zu Kant – unter Betonung des irreduzibel christlichen Charakters moralischer Religion. Vgl. auch 743.

46
schon Justinus [...] bis auf den Augustinus, glaubten, diese LXX enthielten durch Inspiration

Justin der Märtyrer (ca. 100–165) beruft sich zwar in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon wiederholt auf die Septuaginta (LXX; vgl. 740) als einer verlässlichen Übersetzung des hebräischen Texts, die unzweifelhaft auf Christus vorausdeute, behauptet aber nicht, sie sei göttlich inspiriert o.Ä. In der Ersten Apologie, 31, liefert Justin zudem eine von der Legende des Aristeasbriefs abweichende Erklärung der Entstehung der Septuaginta, die ohne Rekurs auf übernatürliche Vorgänge auskommt. Anders Augustinus (vgl. 262), der sich im Gottesstaat (De Civitate Dei), 18,42, besagter Legende anschließt und u.a. von „göttlicher Übereinstimmung“ und „nicht-menschlichen, göttlichen Schriften“ spricht; vgl. auch De doctrina christiana, 2,15. Zum Entstehungsmythos der Septuaginta äußert sich Semler ausführlich in: Versuch einer neuen Aufgabe (vgl. 740).

47
Daher sich unter den Christen eben diese Meinung [...] ausbreitete

Vgl. a21, b104.

48
Schoos Abrahams

Abrahams Schoß (vgl. Lk 16,23) gilt im Judentum als Ort der Seligkeit oder aber als ruhevoller Ort, wo die Verstorbenen das Kommen des Messias erwarten.

49
in jener Parabel; ein Acker trägt 10–20, ein andrer 60 fältig

Anspielung auf das Gleichnis vom Sämann (auch „Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld“) und Jesu Deutung desselben; vgl. Mt 13,3–9.18–23; Mk 4,3–20; Lk 8,4–8.11–15 .

50
die Erkenntnis und Verehrung Gottes im Geist und in der Wahrheit

Anspielung auf Joh 4,24.

51
unter dem Namen der allein wahren Kirche

Anspielung auf das Cyprian v. Karthago (3. Jh.) zugeschriebene Diktum extra ecclesiam nulla salus („außerhalb der Kirche kein Heil“), das katholischerseits häufig in Abgrenzung zum Protestantismus bemüht wurde.

52
daß er Gott unter den Juden verklären, verherrlichen wolle und solle

Das Motiv des Verherrlichens (δοξάζειν) Gottvaters durch Jesus findet sich im Johannesevangelium, vgl. etwa Joh 17. Luther übersetzt „verkleren“.

53
Christus hatte sich [...] von allen Königen und Fürsten [...] gar sehr unterschieden

Vgl. etwa Mk 12,17 oder Joh 18,36.

54
der machte es seinen Schülern zur Pflicht, alles selbst für sich zu prüfen

Anspielung auf 1Thess 5,21; vgl. 138.

55
für falschen Propheten sich zu hüten [...] hie ist Christus, da ist Christus

Anspielung auf Mt 24,23f.; vgl. auch Mt 7,15; Mk 13,22f.; 1Joh 4,1.

56
so liessen die Apostel alle bürgerliche Obrigkeit, alle äusserliche Ordnung stehen

Vgl. etwa Röm 13,1–7.

57
einander alle als Brüder ältere oder jüngere lieben können

Anspielung auf das biblische Gebot der Brüderliebe; s. etwa 1Joh 3, wo u.a. auch Kains Mord an seinem „jüngeren“ Bruder angesprochen wird (1Joh 3,12); vgl. außerdem Joh 13,34; Jak 2,8.

58
Diese eigene Religionsübung kann an ihrer Stelle kein Bischof oder Priester, oder Religionsbedienter vornemen

Siehe auch Semler, Versuch einer neuen Aufgabe (vgl. 740), 394: „der kindische Begrif von Priestern, welche zwischen Gott und Menschen die steten unumgänglichen Mittler wären, [ist] ganz und gar durch Christum und durch die Apostel, zumal durch den Brief an die Hebräer, aufgehoben worden“.

59
der alte jüdische Irtum

Vermutlich Anspielung auf die Apologie der Confessio Augustana, Art. 13: „Das ist aber stracks ein jüdischer Irrtum, so sie halten, daß wir sollten durch ein Werk und äußerliche Zeremonie gerecht und heilig werden ohne Glauben“ (BSLK 295).

60
muste auch Petrus endlich lernen und einsehen

Anspielung auf Apg 10,34f.

61
sogar zum Kirchengesez gemacht hat

Anspielung auf die Häretikerverfolgung durch die Inquisition, vgl. 809.

62
das Gesez, das Gott ebenfals gleichsam selbst in ihre Herzen schreibt, wie ehedem in Moses Tafeln

Anspielung auf 2Kor 3,3; vgl. auch Jer 31,33; Röm 2,15; Hebr 8,10 („ins Herz geschriebenes Gesetz“) und Ex 31,18 („Moses Tafeln“).

63
das jüdische kleinere Gesez erfüllet

Anspielung auf Mt 5,17–20.

64
der falsche Begriff der Juden von einem Sohn Gottes

Gemeint ist die Vorstellung vom Sohn Gottes oder Messias als einem politischen Befreier oder Heilsbringer (vgl. oben f36.54).

65
eine andere vollkommnere Beschneidung

Anspielung auf die „Beschneidung des Herzens“ in der christlichen Taufe (Röm 2,29 und Kol 2,11; vgl. auch Jer 4,4).

66
Verehrung Gottes im Geist und Wahrheit

Anspielung auf Joh 4,24.

67
Tempel in Samaria

Semler erwähnt den Tempel aufgrund des biblischen Kontexts der von ihm zitierten Phrase aus Joh 4,24 (Gespräch mit der Samariterin, vgl. v.a. 4,20). – Vermutlich Ende des 6. vorchristlichen Jh.s kam es zu einer Art innerisraelitischem Schisma zwischen Juden und Samaritanern. Letztere errichteten Mitte des 5. Jh.s auf dem Berg Garizim (Westjordanland) einen Tempel, der bis zu seiner Zerstörung durch den jüdischen Hasmonäerkönig Johannes Hyrkanos I. (164/34–104) im Jahre 111 v. Chr. bestand.

68
Opfer und äusserliche Reinigung

Gemeint sind hier vor allem die im Alten Testament genannten Tieropfer und rituellen Waschungen.

69
Anwendung des ganzen Gemüts und aller Seelenkräfte des Menschen

Anspielung auf Mt 22,37; Mk 12,33; Lk 10,27.

70
eine Nachahmung der ehemaligen politischen römischen Regierung

Semler insinuiert hier eine Kontinuität zwischen dem antiken römischen Reich und der römischen Papstkirche.

71
Wenn Paulus sich über jene Spaltung zu Corinth so deutlich heraus läßt

Anspielung auf 1Kor 3,3.

72
Anhänger des Petrus, des Apollos

Anspielung auf 1Kor 3,4.

73
Arbeiter an demselben neuen Anbau

Im Neuen Testament häufig benutzte Metapher für die Anhänger Jesu und Verkünder des Evangeliums, vgl. Mt 9,37f., Lk 10,2; 2Tim 2,15, s. auch die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16).

74
Christus, als Eckstein

Anspielung auf Eph 2,20; vgl. auch Ps 118,22; Mt 21,42; Apg 4,11; 1Petr 2,7.

75
Geist und Wahrheit

Vgl. Joh 4,23f.

76
Concilien

Gemeint sind die seit der frühen Kirche abgehaltenen Versammlungen (lat. concilia; gr. σύνοδοι) der Bischöfe, auf denen versucht wurde, strittige Punkte zu klären und Lösungen allgemeinverbindlich festzulegen.

77
Professionisten

Menschen, die einen Beruf ausüben, eine Profession betreiben; insbesondere Handwerksleute.

78
beweisen alle diese Kirchenlehren

Semler bezieht sich im Folgenden auf den Gegensatz zwischen dem protestantischen sola scriptura-Prinzip und der katholischen Auffassung, wie sie klassischerweise in Melchior Canos (1509–1560) De locis theologicis (postum 1563) formuliert wurde, wonach neben der Bibel auch Tradition und Lehramt unverzichtbare Quellen theologischer Erkenntnis sind.

79
wie schon Augustinus zu seiner Zeit ehrlich sagte und doch selbst zu noch mehr Unterdrückung half

Semler spielt auf eine Spannung im Werk (und Leben) Augustinus’ an. Auf der einen Seite beruft sich Augustinus verschiedentlich auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30), betont, dass die Kirche aus einer Mischung aus beidem bestehe, und fordert zur Toleranz auf, vgl. etwa seine 73. Predigt, 4 (PL 38, 472): „Sowohl unter den Spitzen der Kirche ist Weizen und Unkraut, als auch im Volk ist Weizen und Unkraut. Lasst die Guten die Schlechten tolerieren; lasst die Schlechten sich ändern und die Guten nachahmen.“ Auf der anderen Seite kämpfte Augustinus aber nicht nur mit harten Bandagen gegen Juden und Manichäer, sondern auch gegen innerkirchliche Gegner wie die Donatisten und Pelagianer (vgl. 262 und 350). Etwa ab dem Jahre 407 interpretierte er das Gleichnis vom großen Gastmahl, Lk 14,23 (Nötige sie hereinzukommen; „Compelle intrare“), im Sinne einer Rechtfertigung von Gewalt gegen tatsächliche oder vermeintliche Häretiker, vgl. Brief 185 (De correctione Donatistarum liber unus), 10f.: „Falls sie [die Donatisten] denken, dass niemand im Gebrauch von Gewalt gerechtfertigt sein kann [...]. Es gibt eine ungerechte Verfolgung der Kirche Christi durch die Gottlosen, und eine gerechte Verfolgung der Gottlosen durch die Kirche Christi. Letztere ist daher gesegnet, wenn sie um der Gerechtigkeit willen leidet; doch jene sind nichtswürdig, wenn sie um der Ungerechtigkeit willen leiden. Außerdem verfolgt die Kirche aus Liebe, sie hingegen aus Grausamkeit.“ Siehe ähnlich auch Brief 93.

80
der alte Geist der Furcht und Knechtschaft

Anspielung auf 2Tim 1,7 („Geist der Furcht“) und Röm 8,15 („Geist der Knechtschaft“).

81
durch einen so gar zweideutigen Papst, als durch einen Vicarium

Die Päpste verstanden sich seit dem 13. Jh. als vicarius („Stellvertreter“) Christi, was Semler klassisch durch die Anspielung auf das Schisma in der lateinischen Christenheit (1378–1417), währenddessen es mehrere Päpste in Rom und in Avignon gleichzeitig gab, als nichtigen Anspruch entlarvt.

82
Anathema

In Anlehnung an Gal 1,8f. (ἀνάθεμα ἔστω) benutzten seit der Synode von Elvira (52) kirchliche Lehrentscheidungen diese Bannformel zum Ausschluss (Exkommunikation) aus der Kirche.

83
allein durch den eigenen Glauben hat der Mensch seine christliche Seligkeit

Semler rekurriert auf das reformatorische sola fide-Prinzip, für das es Vorläufer bei Kirchenvätern und -lehrern gibt: Der Mensch ist vor Gott allein gerechtfertigt durch den Glauben, nicht durch Werke (vgl. Gal 2,16; Röm 3,28).

84
Es ist jezt die Rede nicht davon, ob diese Christen wirklich hiezu verbunden gewesen sind

Hintergrund dieser Bemerkung ist der Streit um die Frage, ob es supererogatorische Akte gibt, d.h. gute Handlungen, die über das moralisch Gebotene hinausgehen. Thomas von Aquin (z.B. Summa Theologiae I-II, q.108, a.4) unterschied, wie vor ihm andere Theologen, zwischen moralisch verbindlichen Geboten (praescripta) und bloßen Ratschlägen (consilia), deren Befolgung für die ewige Seligkeit zwar nicht notwendig, aber förderlich sei. Viele römisch-katholische Autoren nahmen entsprechend an, dass ein weltliches Leben mit Familie und Besitz zwar moralisch nicht beanstandet werden könne, einem mönchischen Leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam aber gleichwohl nicht an Wert gleichkomme. Eine solche Konzeption ließ auch Raum für die Ansicht, große Nachteile oder gar den Tod für den Glauben auf sich zu nehmen, sei unter bestimmten Umständen zwar ein supererogatorischer oder heiliger Akt, aber keine moralische Pflicht. Dieser Auffassung wurde von den Reformatoren heftig widersprochen, für sie ist der Begriff einer supererogatorischen Handlung in sich widersprüchlich. In der Erläuterung zu seiner 58. Ablassthese schreibt Luther: „Jeder Heilige ist verpflichtet, Gott so sehr zu lieben, wie er kann, ja mehr, als er kann, doch niemand hat das je geleistet, noch konnte er es je leisten. [...] Die Heiligen tun in ihren vollkommensten Werken durch Tod, Martyrium, Leiden nicht mehr als verlangt ist. Tatsächlich tun sie [nur], was sie verbunden sind zu tun, und kaum das“ (Resolutiones disputationem de indulgentiarum virtute [1518], WA 1, 606 [Übers. Hgg.]).

85
und die Entberlichkeit eines Concilium [...] dargethan

Bereits in der Vorrede zu den Schmalkaldische[n] Artikel[n] (vgl. 424) verwirft Luther die Notwendigkeit eines Konzils.

86
Gerson in der Schrift de auferibilitate papae

Semlers Bezugnahme auf Jean Gersons (vgl. 597) Schrift De auferibilitate papae ab ecclesia (1409) ist rätselhaft, denn in ihr streitet Gerson gerade entschieden für die Unentbehrlichkeit von Konzilien. Dabei richtet er sich nicht nur gegen einen Provinzialismus, gemäß dem jeder Bischof sein eigener Papst sei (consideratio 8), sowie gegen die Auffassung von der Unabsetzbarkeit und unumschränkten Macht des Papstes (considerationes 10–12), sondern auch gegen einen u.a. von Ockham (ca. 1285–1347) ins Spiel gebrachten religiösen Individualismus, gemäß dem prinzipiell denkbar sei, dass der wahren Kirche nur eine einzige Person angehört (consideratio 7). Ein solcher Individualismus mache das sakramentale christliche Leben unmöglich. Umso merkwürdiger erscheint es, dass Semler Gerson hier zum Gewährsmann seiner Konzeption von Privatreligion machen will. – Vgl. allerdings auch Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte III (1778), 192: Semler referiert dort die Ansicht, bestimmte altkirchliche Autoren von Tertullian bis Gerson „setz[t]en die Schrift über den Pabst und über ein algemeines Concilium“. Für diesen Prioritätenstreit wäre allerdings nicht das von Semler angegebene Werk einschlägig, sondern De sensu litterali Sacrae Scripturae (1413/14).

87
Die papistischen Gelerten rechneten auch jene apocryphischen Bücher

Vgl. 754.

88
wie im Colloquio zu Regensburg [...] das Hündlein (Tobiae) wedelte mit dem Schwanze

Vgl. 420.

89
nur ex traditione oder per auctoritatem ecclesiae ihre Gewisheit [...] hätten

Die katholische Kirche erkennt neben der Bibel auch andere theologische Erkenntniswege wie die Lehrtradition an; vgl. 793.

90
Photinianer

Benannt nach Bischof Photin von Sirmium (gest. 376), dessen Lehre zu Lebzeiten mehrfach als häretisch verurteilt wurde. Photinianer betonen die Einpersönlichkeit Gottes und lehnen deshalb sowohl die göttliche Fleischwerdung in Christus als auch eine Präexistenz Christi ab.

91
Kirchen-Polizey

„Polizey“ von gr. πολιτεία meint hier noch nicht die „Ordnungsinstanz“, sondern in der älteren Bedeutung des Wortes die „Verfasstheit“ und „Ordnung“ der Kirche; vgl. auch f146f.

92
Teufel, als bisherigen Herrn der heidnischen Welt Κοσμοκρατωρ, oder sonst auf kleinere jüdische Begriffe

Der Ausdruck „κοσμοκράτωρ“ (Weltenherrscher) kommt im Neuen Testament einmal (im Plural) vor, Eph 6,12: „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, mit den Herren der Welt [πρὸς τοὺς κοσμοκράτορας], die über diese Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.“ Parallelen zu gnostischen Vorstellungen (vgl. 358) sind augenfällig: Sowohl Anhänger des Valentinus (ca. 100–160) als auch des Markion (ca. 85–160) bezeichneten den Teufel (Demiurgen, das böse Prinzip) als Kosmokrator. – Zu Semlers Auffassung von Teufeln, Dämonen, vgl. 404, 530; zu (bösen) Geistern und Engeln im Judentum vgl. f24.36.46.244.

93
Umgekehrt mus es eine öffentliche gemeinschaftliche Religionsform geben, so bald eine große Menge schon eine besondere Gesellschaft ausmacht

Vgl. dazu 855.

94
Inquisition

Im frühen 13. Jh. entwickelte die Papstkirche das Inquisitionsverfahren als neue Prozessform, bei der keine Anklagepartei (Akkusationsverfahren) nötig war, sondern das Gericht von Amts wegen (ex officio) eine „Befragung“ (lat. inquisitio) einleiten konnte. Ursprünglich zur Verfolgung innerkirchlicher Missstände gegründet, entwickelte sich die Inquisition im Verlauf des Spätmittelalters schnell zum Instrument gegen Häretiker, deren persönliche Glaubensüberzeugungen überprüft und deren Verstöße gegen die Rechtgläubigkeit geahndet wurden.

95
haben schon alle verständige Heiden ehrlich geleugnet, [...] selbst ein Julian

Zu Kaiser Julian vgl. 378. Obwohl er ein entschiedener Gegner des Christentums war, gewährte Julian allen Religionen im römischen Reich Toleranz und (weitgehend) gleiche Rechte. Er ließ sogar unter seinem arianischen Vorgänger Constantius II. (317/353–361) ins Exil verbannte Häretiker wieder zurückholen – wenn auch wohl in der Hoffnung, damit innerchristlichen Zwist zu säen.

96
so wenig er alle Menschen in einerley oder gar unveränderlichen Zustand und Verhältnis ihres Menschenlebens gesezt hat, welches schon die physische Beschaffenheit und stete Veränderlichkeit des Erdbodens unmöglich macht

Semler referiert hier und im Folgenden so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner der zeitgenössischen Klima- und Rassetheorien, wie sie von Montesquieu (1689–1755), Carl von Linné (1707–1778), Kant, Christoph Meiners (1747–1810) oder Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) vertreten wurden. Anders als die meisten der genannten Autoren (Ausnahme: Blumenbach) stellt Semler jedoch nirgendwo eine intellektuelle oder charakterliche Rangliste von Völkern oder Menschenrassen auf – auch wenn er im Folgenden konstatiert, dass manche Völker „wol [...] besser als ihr Juden bisher, sind“. Vgl. auch f123f., f130 und 369 (moralische Geographie).

97
auf dem Menschen sich nach Gottes Ordnung und Willen, immer mehr ausbreiten sollen

Anspielung auf Gen 1,28.

98
Aus der Unterwerfung an Römer und an andre heidnische Oberherrn [...] wird euch ein Sohn Gottes gewis nicht erlösen

Vgl. z.B. oben f74.

99
sein Vater, den ihr den Hochgelobten immer nent

Anspielung auf Ps 18,4; 35,27. Vgl. auch Mk 14,61f. („Da fragte ihn der Hohepriester abermals und sprach zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Jesus aber sprach: Ich bin’s“).

100
gelerte Juden haben [...] aus griechischen [...] Schriftstellern [...] ihre moralische Erkenntnis erweitert

Anspielung auf das hellenistische Judentum, vgl. 176 (Philo); 736.

101
Wenn ihr auch gar sagt, die Heiden haben es aber aus unsern Büchern ehedem entwendet

Vgl. etwa den jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus, Contra Apion, 281–286, der behauptet, griechische Philosophen und Stadtväter hätten die Juden in ihrer Treue zum Gesetz, Ansicht über Gott, Lehre von einfacher Lebensweise und sozialer Gemeinschaft, Einhaltung eines wöchentlichen Ruhetags u.v.w.m. nachgeahmt; vgl. auch 168; 257. Semler hatte Auszüge der Schrift übersetzt und kommentiert (Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie. Fünfter Theil [1761], Anhang 59–84).

102
der keinesweges ein König und Monarch der Juden auf Erden seyn solte

Absage an einen politischen Messias; vgl. Joh 18,36.

103
wo der Sohn Gottes ja ohnehin schon immer gewesen ist

Anspielung auf die Lehre von der Präexistenz Christi (vgl. 372).

104
Reich der Finsternis oder des Teufels [...], als eure Rabbinen, spät genug es erdacht haben

Für Semler ist erst im alexandrinischen Judentum (vgl. 750) etwa durch die Übersetzung der Septuaginta (vgl. 740) eine Lehre des Teufels und seiner Macht über die Menschen ins Alte Testament eingedrungen. Vgl. Semler, Abfertigung der neuen Geister und alten Irtümer (1760), 212. Er hofft, man möge erkennen, „daß ich mit gutem Gewissen mehr nicht auf die griechische Uebersetzung und diese apocryphischen Bücher jetzt bauen kan, da die Rede ist von einem wirklich biblischen Grunde und Beweise der gemeinen Meinungen von der leiblichen Gewalt des Teufels, und von Zaubereien.“

105
Religionsbotmäßigkeit

D.i. religiöse Gerichtsbarkeit oder Herrschaft.

106
ein ungeschriebenes, in dem Gewissen der Menschen bekantes Gesez

Anspielung auf Röm 2,14f., wo Paulus seinerseits auf die etwa bei Aristoteles (384–324 v. Chr.; rhet. 1368b 7–9) oder Philo (vgl. 176; decal. 1) zu findende Vorstellung eines ungeschriebenen Gesetzes (ἄγραφος νόμος; ius naturale) zurückgreift.

107
Opfer

Anspielung auf Hebr 9.

108
Hohenpriester in dem allerhöchsten Verstande

Anspielung auf Hebr 7.

109
eine ganz andre Beschneidung

Vgl. Röm 2,29 und Kol 2,11.

110
Osterlam

Gemeint ist das Pessachlamm, das an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnern soll (Ex 12). Durch die johanneische Identifikation von Christus als dem „Lamm Gottes“ (Joh 1,29.36, vgl. auch Jes 52,13ff.) und der überlieferten Kreuzigung und Auferstehung Christi in einer Pessachwoche kommt es zu der Gleichsetzung des jüdischen Pessachfestes mit dem christlichen Ostern; vgl. dazu auch den Eintrag „Oster-Fest, oder Ostern der Jüden“ in: Zedler, Universal-Lexicon 25 (1749), 2269–2276.

111
Der Geist Gottes wird zeugen, wie es Luther übersezt

Luther übersetzt μαρτυρήσει in Joh 15,26 mit „zeugen“.

112
euch immer mehr lehren, unterweisen, versicherte Christus selbst

Anspielung auf Joh 14,26.

113
daß die natürlichen Seelenkräfte der Menschen schon von vorneher, oder von ihrer localen Anwendung eine so ungleiche Stimmung haben

Vgl. f118.

114
Im N. T. wird sie wirklich als eine fortgehende moralische Familie, von den andern Menschen unterschieden, die immer Κοσμος heissen, weil diese vornemlich sich nur mit der sinnlichen, sichtbaren Welt beschäftigen

Der Ausdruck „κόσμος“ bezeichnet im Neuen Testament nicht nur das physische Universum, sondern – analog zur Verwendung des Ausdrucks „Welt“ im Deutschen – auch die Gemeinschaft der menschlichen Bewohner der Erde. „κόσμος“ wird dabei, wie Semler hier feststellt, häufig verwendet, um den moralischen Gegensatz zwischen Anhängern Jesu und (dem Rest) der „Welt“ zu betonen, vgl. z.B. Joh 1,10 (hier beide Verwendungsweisen von „κόσμος“ [!]); 7,7; 1Kor 1,21; 11,32; 2Petr 2,20; 1Joh 3,1.

115
woher eben ehedem viele so gar die von Kezern ertheilte Taufe nicht für gültig hielten

In der antiken Kirche war die Frage, ob von Häretikern vollzogene Taufen Gültigkeit haben, umstritten. Sowohl Tertullian (vgl. 726), de bapt. 15, als auch Cyprian (vgl. 728), z.B. ep. 69,11, verneinten dies entschieden, während die Synode von Arles (314) und Augustinus (vgl. 262; 794), z.B. ep. 93,46, in Auseinandersetzung mit den Donatisten die gegenteilige Ansicht vertraten. Die Auffassung, dass der rechte Ritus und die rechte Absicht über die Gültigkeit einer Taufe entscheiden, nicht jedoch die Rechtgläubigkeit des Spenders, setzte sich schließlich durch, wurde von mehreren Konzilien bestätigt und in der Neuzeit ausschließlich von den Taufgesinnten (vgl. 839) in Frage gestellt.

116
und sagen, daß dieses nur ein orientalischer Sprachgebrauch sei, oder ein Ueberbleibsel aus der Kindheit der moralischen Welt

Während Semler selbst durchaus eine Akkommodationslehre vertritt (vgl. 385), führt er hier die Aporien einer solchen Lehre bei den Naturalisten vor, wenn diese jede Religion nur als historische und letztlich nicht notwendige Überformung der eigentlichen natürlichen Religion ansehen. – Zur Idee einer moralischen Kindheit in der Menschheitsentwicklung vgl. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777/80), v.a. § 16.

117
petitio principii

Im nachklassischen Latein bedeutet der Ausdruck in etwa „Postulieren des Beweisgrundes“; gemeint ist damit eine Argumentationsfigur, bei der das, was eigentlich zur Debatte steht, vom Sprecher bereits (in trivialer Weise) vorausgesetzt wird, z.B.: „Das Universum hat einen Anfang, weil alles einen Anfang hat“; hier: „Natürliche Religion ist dem Christentum vorzuziehen, da Letzteres gegen die Natur des Menschen verstößt“. – Der Ausdruck „petitio principii“ geht vermutlich auf eine mittelalterliche Übersetzung von Phrasen aus den logischen Schriften (Organon) des Aristoteles zurück, vgl. Aristot. an. pr. 64b 29: Τὸ δ᾿ ἐν ἀρχῇ αἰτεῖσθαι καὶ λαμβάνειν („den ursprünglichen Punkt zu fordern oder vorauszusetzen“) und soph. el. 166b 25.

118
Die moralische Welt ist ganz gewis nicht weniger in sehr ungleiche Climata, oder unabänderliche Einflüsse schon getheilt, als die Lage der Erdkugel

Vgl. 369 (moralische Geographie) und 811.

119
da der Ertrag der moralischen Welt eben so unendlich ungleich seyn kann

Vgl. 837.

120
Proselytenmachen

Als „Proselyten“ (gr. Προσήλυτοι, „Hinzugekommene“) bezeichnete man ursprünglich Anhänger des Judentums aus anderen Völkern (Apg 2,11). Der Ausdruck „Proselytenmachen“ steht für das häufig negativ bewertete Abwerben von Gläubigen aus anderen Religionen.

121
die sogenannte einzige wahre Kirche [...] ja gar eine ewige Seligkeit hiemit zu assecuriren

Vgl. z.B. die von Papst Eugen IV. (1383/1431–1447) auf dem Konzil von Florenz 1442 erlassene Bulle Cantate Domino: „Sie [die Kirche] glaubt fest, bekennt und verkündet, daß niemand, der sich außerhalb der katholischen Kirche befindet, nicht nur [keine] Heiden, sondern auch keine Juden oder Häretiker und Schismatiker des ewigen Lebens teilhaft werden können, sondern daß sie in das ewige Feuer wandern werden [...]. Und niemand kann, wenn er auch noch so viele Almosen gibt und für den Namen Christi sein Blut vergießt, gerettet werden, wenn er nicht im Schoß und in der Einheit der katholischen Kirche bleibt“ (DH 1351); vgl. auch 766.

122
Es ist aber eine unendliche Aufgabe, worin das gröste Wohlergehen aller so verschiednen Menschen, bürgerlich und moralisch bestehe

Das Bild einer für den menschlichen Geist unerschöpflichen „unendlichen moralischen Welt“ taucht seit Beginn der 1780er Jahre immer wieder in Semlers Schriften auf. Vgl. als ein Beispiel unter vielen: „Wenn aber der Sohn Gottes kein weltlicher König ist, sondern in viel grösserm Begriff, Gott, Urheber und Herr der unendlichen moralischen Welt; wenn er die innere moralische Wohlfahrt und Seligkeit offenbaren, schaffen und an seinem Beispiel kenntlich machen sollte: so war eine allereinzige, eine unveränderliche Summe und Stuffe der Erkenntniß, welche nun die immer ungleichen Menschen aus seiner Lehre und Historie sammlen sollten, nicht möglich“ (Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi, 1787, 34); vgl. auch f130.203.

123
sollen alle Menschen Gott lieben von ganzen Herzen

Anspielung auf Dtn 6,5; Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27.

124
Mennonit

Benannt nach Menno Simons (1496–1561), zunächst Priester, nach dem Fall des Münsteraner Täuferreichs (1535) führender Ältester der niederländischen Täufer (vgl. 437) und Autor einflussreicher täuferischer Schriften (Fundamentbuch, 1539). Schon früh avancierte Menno zum Namensgeber für unterschiedliche Sammlungsbewegungen friedfertiger Täufer und deshalb auch insgesamt zum Synonym für die Nachfahren kleinerer radikalreformatorischer Gruppierungen.

125
Die Augspurgische Confession heißt auch anfänglich eine Apologie und Schuzschrift

Die CA (vgl. 114) war zunächst als kursächsische Schutzschrift geplant, wandelte sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts aber immer stärker zu einer Bekenntnisschrift.

126
zürchischen Partei

Gemeint sind die Anhänger von Zwingli (vgl. 322).

127
Priester- und Pfaffenbetrug

Die Auffassung, die Entstehung und/oder Gestalt positiver Religionen gehe auf einen „Priesterbetrug“ zurück, ist antiken Ursprungs und findet sich schon bei dem Sophisten Kritias (ca. 460 v. Chr.–403 v. Chr.), DK B25. Im 18. Jh. war die Theorie vor allem unter radikalen Aufklärern in Frankreich populär. Siehe exemplarisch den von Baron d’Holbach (1723–1789) verfassten Encyclopédie-Artikel „Prêtres“ [Priester], Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers 13 (1765), 340f. In zuvor unerreichter Breite wurde die Betrugstheorie in Bezug auf Juden- und Christentum von Reimarus verfochten – freilich nur in Auszügen („Fragmenten“) postum und anonym publiziert (vgl. 673). Bahrdt verarbeitete das Thema literarisch in seinen Ideenromanen Geschichte des Prinzen Yhakanpol (1790) und Ala Lama (1790; s. 978).

128
bis nachher der öffentliche Religionsfriede auch auf die Reformirten im teutschen Reiche erstrekt worden

Gemeint ist die Duldung der Anhänger der CA im Augsburger Religionsfrieden (1555), der dann 1648 offiziell auch auf die Reformierten ausgeweitet wurde.

129
daher schon Spener über solchen Misbrauch der symbolischen Bücher ernstlich geklagt hat

Spener (vgl. 186) äußerte sich dazu mehrmals, vgl. seine unpaginierte Vorrede zu Balthasar Köpke, Sapientia Dei in mysterio crucis Christi abscondita I (1700), § 29, sowie Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. Confession (1695), 67.

130
die sich selbst berichten können, wie Luther redet

Das Verb „berichten“ wird bei Luther (auch) mit der Bedeutung „das Abendmahl reichen/mit einem Sakrament versehen“ verwendet; vgl. z.B. Vom mißbrauch der Messen (1521), WA 8, 514f.: „Do man aber fur das brechen und außteylen der sacrament selbst behalden und genommen hatt und den diener priester geheyssen, do ist das opffer erfunden wurden, auff das der heylige priester auff dem alltar ettwas tzu thun hette und nicht müssig stünde. Wenn aber yemandt sich selbst berichten wollt, ßo nehm erß doch nicht alleyn, sunder breche es und gebe den andern auch, das er doch etwas thu, das dem exempel unnd der eynsatzung Christi gemeß sey.“ Vgl. auch Zedler, Universal-Lexicon, Supp.-Bd. 3 (1752), 827.

131
wenn sie ihre moralische Wohlfart nicht als eine physische Folge [...] ansehen sollen

Vgl. 397.

132
Pauli Vorschrift, der [...] fordert; διδακτικος soll der Lehrer seyn

Anspielung auf 1Tim 3,2; siehe auch 2Tim 2,24; διδακτικός, „geschickt im Lehren“.

133
Die Christen würden zu todten Maschinen gemacht

Das Bild des „maschinenmäßigen Christen“ könnte Semler aus Predigten von Spalding (1765; SpKA II/1, 278) oder Herder (1768; Sämtliche Werke 31 [1889], 120) entlehnt haben. Vgl. auch Gottlieb Wilhelm Rabener (1714–1771), Satiren IV (1755), 105: „maschinenmäßige Andacht“.

134
jus publicum sacrorum communium

Gemeint ist der auf Religionsgemeinschaften bezogene Teil des öffentlichen Rechts.

135
sanciret

Vom lateinischen sancire; wörtlich „heiligen“, im übertragenen Sinne: „etwas unverbrüchlich festsetzen“, vgl. auch f292.

136
auf das Kanzelholz schmäleten

Der aus dem Deutschen so gut wie verschwundene Ausdruck „auf etwas schmälen“ bedeutet „über etwas schimpfen, etwas herabsetzen“. Vermutlich will Semler hier sagen, dass die protestantischen „Dissidenten“ die wichtige Funktion der Predigt leugneten. Ein literarisches Vorbild hierfür konnte nicht ermittelt werden.

137
Beichtstul und Höllenpful zusammenreimeten

Der Ausspruch „Beichtstuhl, Satansstuhl, Höllenpfuhl [auch: Feuerpfuhl]“ wird dem pietistischen Berliner Pfarrer Johann Caspar Schade (1666–1698) zugeschrieben, der sich weigerte, nach der Ohrenbeichte routinemäßige Absolution zu erteilen, s. Spener (vgl. 186), Theologische Bedencken II (1701), 144. Der sog. Berliner Beichtstuhlstreit endete schließlich mit der Freigabe des Abendmahlsbesuchs auch ohne vorherige Einzelabsolution.

138
ein armes Wortspiel mit Bibel, Bubel, Babel aufbrachten etc.

Der Reformator Johannes Agricola (1494–1566) schreibt die Alliteration „Bibel, Bubel, Babel“ Thomas Müntzer (vgl. 433) zu: „Er verachtete und verlachte auch spötlich alle so sich der heyligen schrift annahmen und trösteten/ und sagte/ Wen man sich auff die Bibel berieff. Was Biebel/ bubel/ Babel Man mus auff ein Winckel krichen und mit Gott reden“ (Die Episteln durchs gantz Jar. Mit kurtzen summarien, 1544, Bl. P). – In Müntzers erweitertem deutschen „Prager Manifest“ von 1521 heißt es jedoch lediglich: „Ich becrefftige unde schwere bey dem lebendigen Goth: wer do nicht horeth auß dem munde Gots das rechte lebendige worth Gots, was bibel und Babe[l], ist nicht anders denn ein todt ding. Aber Gots wort, das durch hertz, hyen [Hirn], haut, haer, gebein, marck, safft, macht, krafft durchdringet, dorff woll anders herdraben dan unser nerrisschen, hodenseckysschen [sic!] doctores tallen.“ (Thomas Müntzers Schriften und Briefe, [1968], 501) – Vermutlich handelt es sich bei „Bibel, Bubel, Babel“ um eine gegen Müntzer gerichtete Verballhornung Luthers, die dann von Agricola zunächst in seiner Auslegu[n]g des XIX Psalm (1525) übernommen und schließlich Müntzer selbst als Zitat zugeschrieben wurde, s. Luther, Eyn brieff an die Fürsten zu Sachsen von dem auffrurischen geyst (1524), WA 15, 211: „‚Gottes stym (sagen sie [die Aufrührer]) mustu selbst hören und Gottes werck ynn dyr leyden und fülen wie schweer deyn pfund ist, Es ist nichts mit der schrifft, Ja Bibel Bubel Babel‘ etc.“. – Im 18. Jh. wurde der Ausspruch häufig auch mit den Anhängern Andreas Karlstadts (vgl. 434) und der Täuferbewegung (vgl. 437) assoziiert; vgl. z.B. Barthold Nicolaus Krohn, Geschichte der Fanatischen und Enthusiastischen Wiedertäufer (1758), 227.

139
geradehin stinkend gemacht

Möglicherweise Anspielung auf Luthers Sendbrief an den Papst Leo X. (1520), WA 7, 7: „Adeh, liebs Rom. stinck furt an, was da stinckt, und bleyb unreyn fur und fur, was unreyn ist.“

140
die Rede von gesellschaftlichen Rechten und Verträgen, wohin alle Gedanken oder Grillen von Naturstande, von Menschenrechten, von kosmopolitischen Anstalten gar nicht gehören

Theoretiker des Gesellschaftsvertrags wie Hobbes, Locke, Rousseau oder Kant teilen bei allen Unterschieden in etwa folgendes Bild: Die Menschheit befand sich unmittelbar nach ihrer Entstehung in einem vorrechtlichen Naturzustand, der geprägt war von großer Freiheit, aber auch großer Unsicherheit. Nach Hobbes (Leviathan, 1651, Kap. 14) besaß in diesem Zustand jeder „ein Recht auf alles, selbst auf den Körper eines anderen“. Andererseits hatten Menschen immer schon (oder erwarben jedenfalls im Laufe ihrer Geschichte) ein objektives Interesse daran, Freiheit für Sicherheit sowie die Aussicht auf arbeitsteilige Kooperation einzutauschen. Dieser Umstand lässt sich mit der Idee eines (fiktiven) Gesellschaftsvertrags ausdrücken, in dem Bürger natürliche Rechte auf einen Souverän übertragen, der ihnen im Gegenzug Schutz und Rechtssicherheit garantiert. Sowohl für Hobbes als auch für Rousseau ergibt sich aus dem Gesellschaftsvertrag das Recht besagten Souveräns, im Sinne der Staatsräson eine einheitliche öffentliche Gottesverehrung (Hobbes, Leviathan, Kap. 31) bzw. ein einheitliches „bürgerliches Glaubensbekenntnis“ (Rousseau, Contrat Social, 1762, 4. Buch, Kap. 8) vorzuschreiben; vgl. auch f109114. – Semler will hier betonen, dass, insofern die „öffentliche Religionsordnung“ oder die „gemeinschaftliche Theilnemung an feierlichen äusserlichen Handlungen“ (s.u.) betroffen ist, die Berufung auf den „Naturzustand“ fehlgeht, da der Naturzustand ja eben gerade im Zuge der Vergesellschaftung verlassen wurde – und zwar aus völlig vernünftigen Gründen (vgl. f369). Ähnliches gilt für die Rede von natürlichen „Menschenrechten“, die (nach Zustandekommen des Gesellschaftsvertrags) dort ihre Grenze haben, wo das Funktionieren des Gemeinwesens in Frage steht; vgl. auch f184.368.375. „Kosmopolitische Anstalten“ oder „Grillen“ (d.i. wunderliche Einfälle/fixe Ideen), wie man sie etwa bei Kant (z.B. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [1784], AA 8, 15–31) findet, sind für Semler schließlich solange irrelevant, wie es sich um bloße „Anstalten“ handelt und die Diskutanten mit nationalen Rechtsgemeinschaften zu tun haben. Zu Semlers Skepsis bezüglich universalreligiöser Bestrebungen vgl. z.B. b[VII]; f69.

141
Luther hat im 2ten Theil der schmalkaldischen Artikel

Der vierte Artikel im zweiten Teil der Schmalkaldische[n] Artikel (vgl. 424) spricht dem Papst die Vormachtstellung über alle Christen ab und nennt ihn „verum Antichristum“ (BSLK 430).

142
Geist und Kraft

Anspielung auf 1Kor 2,4.

143
so scheint es [...], daß kein Christ selig werden könne, ohne durch die Lehrer und Bediente der öffentlichen Religion; und daß notwendig alle andre Menschen, die nicht Christen heissen, aller Seligkeit entberen

Vgl. 773 und 836.

144
wenn gleich dieser Ausdruck [...] gar oft im teutschen N.T. vorkommt, wie das hebräische Wort

Es handelt sich im Neuen Testament keineswegs nur um Ableitungen von σωτήρια. Teller vermerkt dazu in seinem Wörterbuch (41785, BdN IX), 426: „Im Grundtext sind es verschiedene Wörter, für die Luther allezeit ohne Unterschied diese Wörter und Redarten braucht.“ Nur die wenigsten Fälle leiten sich von hebr. גאל („erlösen“) ab.

145
Dein Glaube hat dir geholfen, oder hat dich wieder gerettet aus deiner Krankheit

Anspielung etwa auf Mt 9,22; Lk 8,48.

146
Er wird sein Volk selig machen von ihren Sünden

Mt 1,21 (vgl. Wortlaut der Luther-Übersetzung von 1545 im Gegensatz zu späteren Modernisierungen).

147
zur Strafe der Sünden ihrer Väter

Anspielung auf Ex 20,5.

148
Es wird also in vielen Stellen des N.T. [...] die Seligkeit oder Erlösung der Heiden bejahet

Vgl. etwa Röm 11,11; Eph 2,16.

149
Gott [...] will also, daß allen Menschen (moralisch) geholfen werde; (daß sie selig werden, σωδηναι im Griechischen,) und also daß sie immer mehr selbst zur Erkentnis der Wahrheit kommen

Anspielung auf 1Tim 2,4. Die korrekte Form des griechischen Aorist Infinitiv Passiv zu σώζω („ich rette“) lautet σωθῆναι („gerettet werden“).

150
daß Christus dem, der bisher des Todes Gewalt hatte, [...] alle Macht genommen

Hebr 2,14.

151
daß er die bisherigen Werke und Geschäfte des Teufels zerstöret

Anspielung auf 1Joh 3,8.

152
Christus hat uns erlöset von aller vorigen Ungerechtigkeit

Tit 2,14.

153
oder von allem vorigen eitlen Wandel

1Petr 1,18.

154
von der unwürdigen Herrschaft der sinnlichen Begierden

Anders als beim Rest der langen Aufzählung handelt es sich um kein Zitat, vgl. aber Tit 3,3 oder Jak 1,14f.

155
er ist gestorben um unsrer Sünden willen

Röm 4,25.

156
Christus sagt: mein Blut wird vergossen zur Vergebung der Sünden proprie oder logice verstanden

Anspielung auf Mt 26,28; den Zusatz „proprie oder logice“ erklärt Semler in seiner Schrift Vorbereitung auf die Königlich Großbritannische Aufgabe (1787), 31, wie folgt: „Alle diese Beschreibungen [die von Christus als Sohne Gottes und von seiner Bestimmung u.a. als Opfer für die Sünden der Menschen reden] können, der Sache nach, an und für sich, zu gleicher Zeit in zweyerlei Sinne verstanden werden; proprie, physice, buchstäblich; und imroprie, logice, vergleichungsweise.“ S. auch f171.342.

157
wenn sie die Gnade und Wahrheit Gottes immer mehr erkennen

Anspielung auf Joh 1,14.

158
jene jüdische Meinung von den unreinen oder verworfenen Heiden [...] aus einigen Stellen der griechischen [...] LXX hergeleitet [...] der man unrichtig eine götliche Eingebung beigelegt hat

Vgl. 819.

159
Es haben [...] die meisten Kirchenväter eine solche locale Theorie beibehalten, Christus habe die Menschen aus der physischen Gewalt des Teufels erlöset

Vgl. 899 (Lösegeld-Theorie). Semler diskutiert den tatsächlich oder vermeintlich lokalen Charakter dieser Theorie in vielen seiner Zusätze zu Hugh Farmer (1714–1787), Briefe an D. Worthington über die Dämonischen in den Evangelien (1783; orig. 1778), vgl. etwa Zusätze 25, 50 oder 91. Zu einer möglichen Anpassung (Akkommodation) der Kirchenväter an ihren damaligen Hörerkreis vgl. auch Semlers [A]scetische Vorlesungen (1772), 266f.

160
die ältere lateinische Uebersezung

Gemeint sind die als Vetus Latina zusammengefassten älteren lateinischen Übertragungen der Bibel, bevor sich die „allgemeine [Übersetzung]“ (Vulgata) des Hieronymus (vgl. 731) aus dem späten 4. Jh. durchsetzte.

161
So hies es überhaupt: Christus ist für die Sünden gestorben, vor der Taufe

Die christliche Vorstellung, dass mit der Taufe alle bisherigen Sünden des Täuflings (bei Neugeborenen: die Erbsünde) „abgewaschen“ werden, hat ihren Ursprung in Apg 22,16; vgl. u.a. auch Apg 2,38, 1Petr 3,21. Sowohl Luther als auch das Konzil von Trient blieben der Auffassung der alten Kirche im Grundsatz treu, die Reformierten sahen in der Taufe hingegen eine bloß symbolische Handlung (vgl. 1052). – Viele Aufklärer hielten die Idee einer durch die Taufe bewirkten Sündenvergebung für moralisch anstößig. Laut Kant (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793, AA 6, 199) stellt die Auffassung, mit der Taufe ließen sich „alle Sünden auf einmal abwaschen“, gar einen „Wahn“ dar, vergleichbar einem „fast mehr als heidnischen Aberglauben“.

162
Die Seligkeit selbst wurde gar erst nach dem Tode der Christen angesetzt

Semler unterstellt hier eine präsentische Eschatologie, gemäß der sich das für das menschliche Heil entscheidende Geschehen im Hier und Jetzt vollzieht (im menschlichen Gewissen oder Glauben) und nicht, wie Vertreter einer futurischen Eschatologie annehmen, während eines endzeitlichen Jüngsten Gerichts o.Ä. Vgl. Luther in einer Predigt zu Joh 3,17 aus dem Jahre 1538, WA 47, 102f.: „Den wen wir die Wortt betrachteten: Wer do gleubet an mich, der darff das Jungste gerichte nicht furchten. Den das Gerichte ist auffgehoben, es gehet ihn so wenig an, als es die Engel angehet. [...] Ehr bedarf der Heiligen nicht zu Furbitter, furchtet sich auch nicht fur dem fegfeuer [...] Allhier werde ich nun, und wers sonst aus der weitten welt sein mochte, selig gemacht, wen ehr gleubet“ (Hervorh. d. Hgg.).

163
im Fegefeuer erst sich reinigen

Der Sache, wenn auch nicht dem Ausdruck nach, findet sich die Idee eines Fegefeuers (lat. purgatorium) bereits Anfang des 3. Jh.s bei Tertullian (vgl. 726), de anima 58. Die Vorstellung vom Fegefeuer als einem Ort der Läuterung der Seele – im Unterschied zur Hölle als einem Ort ewiger Verdammnis – reagierte auf ein systematisches Problem: Wie kann ein Sünder, der sich zwar mit Gott versöhnt hat, jedoch die zu seiner Rechtfertigung, wie man glaubte, notwendige Buße zu Lebzeiten nicht erbringen konnte, zur Seligkeit gelangen? Dogmatisch festgeschrieben wurde die Lehre vom Fegefeuer in der Bulle „Benedictus Deus“ von Papst Benedikt XII. im Jahre 1336. Die Reformatoren lehnten die Lehre ab: Sie sei zum einen unbiblisch, zum anderen sei eine postmortale Buße für die Rechtfertigung vor Gott, die allein aus Glauben, und nicht aus Werken, geschehe, überflüssig. Vgl. z.B. Zwingli, De vera et falsa religione commentarius (1525), CR 90, 855–867; Luther, Widderruff vom Fegefeur (1530), WA 30.2, 367–390. Das Konzil von Trient bestätigte 1563 in seiner 25. und letzten Session die römisch-katholische Lehre vom Fegefeuer sowie die Wirksamkeit von Fürbitten, Messopfer und Ablass hinsichtlich der in ihm zu erleidenden zeitlichen Sündenstrafen (DH v.a. 983).

164
das Meßopfer [...] und lies viele Messen für die Seelen im Fegefeuer Jahr aus Jahr ein halten

Der Ausdruck „Messopfer“ ist eine andere Bezeichnung für die heilige Messe der römisch-katholischen Kirche. Die Eucharistie wird dabei als sakramentale Vergegenwärtigung und Darbringung des Opfers Christi verstanden. Die Vorstellung, das Los (reuiger) Verstorbener lasse sich durch das Lesen von Messen in günstiger Weise beeinflussen, ist fast so alt wie die Idee des Fegefeuers selbst; vgl. z.B. Augustinus, Enchiridion, 29; Papst Gregor der Große (ca. 540/590–604), Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum, IV, 55. Das Konzil von Trient bestätigte wie andere Konzile zuvor diese Auffassung, vgl. 878 (Fegefeuer).

165
In der orientalischen [...] Kirche

Vgl. 261.

166
wenn gleich schon Flacius sein Corpus doctrinae N.T.

Fehlzuschreibung Semlers. Bei dem Corpus Doctrinae. Das ist/ Die ganze leer unsers Herren Jesu Christi/ unnd der Aposteln/ von allen und jeden Heuptartickeln der waaren Religion [...] (1562; lat. Σύνταγμα, seu Corpus doctrinae Christi, ex novo Testamento tantum, 1563) handelt es sich um ein Gemeinschaftswerk von Johann Wigand (1523–1587) und Matthaeus Judex (Matthias Richter; 1528–1564). Freilich weisen beide Autoren eine große persönliche Nähe zu Flacius (vgl. 610) auf: Alle drei Theologen sind dem Kreis der sog. Gnesiolutheraner (vgl. 352) zuzurechnen, wurden 1561 an der Universität Jena ihres Amtes enthoben und waren als Initiatoren bzw. Hauptverfasser maßgeblich an der Entstehung der Magdeburger Centurien (vgl. 568) beteiligt. Offenbar nahm Semler (vgl. Lebensbeschreibung I, 1781, 281f.) an, dass auch das Corpus Doctrinae auf Flacius’ Anregung zurückging, doch dafür fehlt ein schlüssiger Beleg. – Bei Wigands und Judex’ Werk handelt es sich um den Versuch der systematischen Entfaltung klassischer Theologumena auf ausschließlich neutestamentlicher Grundlage. Bemerkenswert ist – und darauf spielt Semler hier an –, dass Belege aus Evangelien/Apostelgeschichte und Belege aus den Briefen nicht gemeinsam, sondern in jeweils eigenen Kapiteln in zwei voneinander getrennten Buchteilen abgehandelt werden.

167
proprie oder improprie, logice

Vgl. 871.

168
wes Geistes Kinder sie seyn sollen

Anspielung auf Lk 9,55.

169
über eine Satisfaction, über Zurechnung der Gerechtigkeit [...] Christi

Vgl. 133, 360, 633.

170
allein durch den Glauben

Anspielung auf die protestantische Sola-Lehre, darunter auch die Überzeugung, dass die Gläubigen nicht aufgrund ihres Verdienstes, sondern sola fide („allein durch den Glauben“) selig werden.

171
daß auch ein Tröpflein kleine die ganze Welt kann reine, ja gar aus Teufels Rachen frey los und ledig machen etc.

Anspielung auf Zeilen aus der 9. Strophe des evangelischen Kirchenlieds „Wo soll ich fliehen hin“ von Johann Heermann (1585–1647), die auch in Bachs Choral „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz“ (BWV 136) benutzt wurden. Dieses Lied ist unter der Nr. 279 auch im neuen neologisch beeinflussten Berliner Gesangbuch (1780) weiterhin vorhanden, wurde dort jedoch deutlich überarbeitet und um die Nennung des Teufels gereinigt (vgl. 1040).

172
Anabaptisten

Vgl. 437.

173
Anhänger der schwenkfeldischen Schriften

Der schlesische Adelige Caspar Schwenkfeld von Ossig (1490–1561) war seit 1519 ein Anhänger von Luthers Reformation, der sich zunehmend radikalisierte. Aufgrund seiner spiritualistischen Ansichten, die er auch in vielen Schriften verbreitete, lebte er nach Stationen in Straßburg und Justingen in Ulm im Verborgenen. Seine zahlreiche Anhängerschaft in Süddeutschland verlor sich während des Dreißigjährigen Krieges. In Schlesien lassen sich Schwenkfelder hingegen bis ins 19. Jh. nachweisen, viele wanderten 1734 ins nordamerikanische Pennsylvanien aus. Vgl. dazu Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 1057–1062.

174
In England und Holland entstehen noch einzelne christliche Familien etc.

Semler benutzt den Begriff „Familie“ allgemein für kleine Gruppierungen (s.o. f29). Hier dürften jedoch konkret die Anhänger der Familia Caritatis (Hausgemeinschaft der Liebe) gemeint sein, die der Emdener Kaufmann Hendrik Niclaes (ca. 1500–ca. 1580) um 1540 stiftete und die besonders in den Niederlanden und England erfolgreich war. Die Familisten betonten die private häusliche Frömmigkeit, forderten den strikten Gehorsam unter das jesuanische Liebesgebot und lehnten konfessionelle Streitigkeiten um den äußeren Ritus ab. Um 1700 entwickelten ihre Schriften vor allem unter Pietisten eine neue Wirkmächtigkeit. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 903; 1065–1067.

175
gleich vom Anfange [...] die römischen Päbste die Protestanten für Kezer und Unchristen [...] sogleich erklärt haben

Semler spielt auf die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine Papst Leos X. (1475/1513–1521) an. Sie stammt vom 15. Juni 1520. In ihr wurde Luther eine Frist von 60 Tagen zum Widerruf bestimmter Thesen gesetzt, andernfalls würden er und seine Anhänger als Häretiker verdammt und jeder, der sie aufnehme oder unterstütze, mit Exkommunikation belegt. In der Bulle Decet Romanum Pontificem vom 3. Januar 1521 wurde die Drohung vollzogen.

176
Luther den Zwingli einen Heiden gescholten

Das Marburger Religionsgespräch (1529) konnte die bestehenden dogmatischen Differenzen nicht beilegen, sondern war Ausgangspunkt zahlreicher Verdikte Luthers gegen Zwingli. Vgl. Luther, Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament (1544), Bl. B1: „Weil nu [...] Zwingel [...] gar zum Heiden worden ist“ (WA 54, 144).

177
die nachherigen lutherischen Theologen den Calvin, Beza erschrecklich verkezert

Theodor Beza (1519–1605) war Nachfolger des Genfer Reformators Calvin (vgl. 401). Während die Konkordienformel (1577) gewisse innerlutherische Differenzen auszugleichen half, bestätigte sie die Abgrenzung zur reformierten Theologie, so etwa in der Lehre vom Abendmahl (Art. VII), von der Person Christi (Art. VIII) oder von der Prädestination (Art. XI). Vgl. auch die sächsischen Visitationsartikel im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Kryptocalvinismus; Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1777), 830–833.

178
auch die Socinianer geradehin für Unchristen angesehen haben

Anhänger von Sozzini (vgl. 148) und andere Rationalisten wurden mit dem Vorwurf des Sozinanismus belegt und häretisiert.

179
wie die ältern Reformirten die jüngern Arminianer verdammten

Der Leidener Theologieprofessor Jacobus Hermanszoon/Arminius (1560–1609) lehnte eine strikte Lehre der Prädestination ab, was sein Leidener Kollege und Gegenspieler Franciscus Gomarus (1563–1641) als häretisch brandmarkte. Die Parteinahme des Statthalters Moritz von Oranien (1567–1625) zugunsten der Gomaristen führte zu einer politischen Krise der jungen Republik der Vereinigten Niederlande, die in der Gefangennahme von Hugo Grotius (s. 336) und der Hinrichtung von Ratspensionär Johan von Oldenbarnevelt (1547–1619) eskalierte. Während die Arminianer 1610 in der sog. Remonstranz (dt. Eingabe) ihre Lehre nochmals darlegten, konnten sich auf der Synode von Dordrecht (1618/19) die strikten Reformierten durchsetzen, was zu einem vorläufigen Verbot der arminianischen/remonstrantischen Prediger führte.

180
Zurechnung der Gerechtigkeit Christi

Vgl. 133.

181
ich mus Gotte mehr in meinem Gewissen [...] gehorchen [...] als andern Menschen

Anspielung auf Apg 5,29.

182
moralische Gewisheit

Eine Aussage ist für eine Person P genau dann moralisch gewiss, wenn sie für P einen so hohen Grad an (epistemischer) Wahrscheinlichkeit aufweist, dass P gerechtfertigt ist, die Wahrheit der Aussage selbst bei moralisch-praktisch höchst folgenreichen Entscheidungen vorauszusetzen. Die Wahrheit einer solchen Aussage muss für P sehr wahrscheinlich, nicht jedoch logisch, mathematisch oder „absolut“ gewiss sein. Der Begriff (certitudo moralis) geht wohl auf Jean Gerson zurück (De consolatio theologiae, 1418, 4. Buch, 2. Prosa). Für den Naturforscher Robert Boyle (1627–1691) ist „moralische Gewissheit“ der Grad an Gewissheit, der einen Richter berechtigt, ein Todesurteil zu fällen (Some Considerations about the Reconcileableness of Reason and Religion, 1675, 95). Einer der wichtigsten Pioniere der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie, Jacques Bernoulli (1655–1705; Ars conjectandi, postum 1713, Teil 4, Kap. 2, § 9), schlug vor, moralische Gewissheit numerisch zu beziffern, z.B. als eine mindestens 99%ige Gewissheit oder eine mindestens 99.9%ige. Vgl. auch die Verwendung des Ausdrucks bei Semlers Lehrer Georg Friedrich Meier, Auszug aus der Vernunftlehre (1752), § 175, und in Kants Kritik der reinen Vernunft (1781; 21787), A829/B857.

183
freie unendliche Kraft Gottes durch einige todte Worte hindern

Möglicherweise Anspielung auf 2Kor 3,6: „der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“

184
Lösegeld

Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45; 1Tim 2,5f.

185
erkaufen

Vgl. Gal 3,13; 4,5 („Christus hat uns losgekauft“ etc.).

186
es habe Christus dem Teufel sich als ein Aequivalent für das Recht gegeben, das er bisher an den Menschen durch die Sünde gehabt hat

Die im Text beschriebene sog. Lösegeld-Theorie war, bis sie von Anselms in Cur Deus Homo entwickelter Satisfaktionslehre (vgl. 360) abgelöst wurde, die dominierende Auffassung unter christlichen Theologen. Erstmals formulierte Origenes (vgl. 402) sie in klarer Weise in seinem Matthäuskommentar (16, 8), vgl. auch Augustinus, de trinitate 13, 15.

187
in unserer Zeit hat die Historie der christlichen Lehrform ein grösseres Licht hinlänglich ausgebreitet

Semler spielt auf die sich im 18. Jh. zu einer eigenständigen theologischen Disziplin entwickelnde Dogmengeschichte an, wobei er an Autoren wie Gottfried Arnold (1666–1714), Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760), Johann Lorenz von Mosheim (1693–1755), Siegmund Jacob Baumgarten (vgl. 313) und nicht zuletzt auch an sich selbst denken dürfte. Gottlieb Jakob Planck (1751–1833) hatte 1781 mit der Herausgabe einer insgesamt sechsbändigen Dogmengeschichte des Protestantismus begonnen: Geschichte der Entstehung, der Veränderungen und der Bildung unseres protestantischen Lehrbegriffs vom Anfang der Reformation bis zu der Einführung der Konkordienformel (1781–1800).

188
selbst edle würdige Männer in der römischkatholischen Kirche diesen Misbrauch der öffentlichen Religion eingestehen

Semler spielt hier auf die breite Tradition der Klerikerkritik an, die schon im Mittelalter aus der innerkirchlichen Polemik zwischen unterschiedlichen religiösen Experten, etwa zwischen Weltklerikern und Mendikanten, resultierte. Einige dieser Kritiker hielten dann protestantischerseits Einzug in die protoreformatorische Ahnengalerie von ‚Wahrheitszeugen‘, so etwa in Flacius’ Catalogus testium veritatis (1556).

189
Kein Befel, keine Vorschrift kann [...] aufheben oder einschränken

Vgl. 732.

190
von Christo und seiner Versönung, daß er ein Opfer, ein Hoherpriester ist für die Sünden der Menschen

Anspielung auf Hebr 7,9f.

191
Es sind wenigstens thörichte unglückliche Grundsäze, wenn eine äusserliche Gleichheit aller Zeitgenossen eingefürt werden wil

Semler mag hier an Bernard Mandevilles (1670–1733) viel diskutierte „Bienenfabel“ gedacht haben: The Fable of The Bees: or, Private Vices Publick Benefits (1714, erste Fassung 1705, mehrfach erweitert, 2. Buch 1729; dt. 1761 als Anti-Shaftesbury), die u.a. Rousseau und Adam Smith (1723–1790) beeinflusste. Mandeville gilt als Vordenker des Kapitalismus, ihm gelang das seltene Kunststück, gleichermaßen von Karl Marx und Friedrich August Hayek gepriesen zu werden. Laut Bienenfabel beruht das Gedeihen von Gesellschaften auf billiger Arbeitskraft, eine hinreichend große Anzahl an Armen ist entscheidend für den Wohlstand und zivilisatorischen Fortschritt einer Nation.

192
grössere Ehre Gottes [...] darf man nicht mehr vorwenden

Anspielung auf das Verbot (1773) des Jesuitenordens, dessen Wahlspruch „Ad maiorem Dei gloriam“ (Zur größeren Ehre Gottes) lautete.

193
die ganze Christenheit auf Erden, [...] hält in einem Sinn gar eben

Zitat aus Martin Luthers Kirchenlied „Wir glauben all an einen Gott“ (1524; Evangelisches Gesangbuch Nr. 183), 3. Strophe. Vgl. z.B. auch Röm 12,16.

194
Gott [...] von ganzem Herzen und allen Kräften lieben

Anspielung auf Dtn 6,5; Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27.

195
die jüdische Redensart, vom Zorn und Eifer Gottes

Vgl. z.B. Dtn 29,20.

196
Sehr gelehrte Väter, Scholastiker, bis auf den Calixtus, haben es bejahet

Zur Bestreitung eines notwendigen Zusammenhangs zwischen Erlösung (und Besserung) der Sünder und Menschwerdung Christi vgl. 633. Auf welche Aussagen des Irenikers Georg Calixt (vgl. 3cwnd#erl_b_0_39 und 411) sich Semler genau bezieht, ist nicht klar. Die Frage wird von Calixt diskutiert in De pactis quae Deus cum hominibus iniit (1654), §§ 26–32. (Es handelt sich um eine von Samuel [von] Voss [1621–1674] unter Vorsitz Calixts verteidigte Disputation, von Letzterem verantwortet und herausgegeben).

197
die Behauptung, daß das Blut Christi nur als causa moralis anzusehen sey, und nicht physice wirke

Vgl. 397.

198
Richard Baxter [...] in dem Buch Methodus theologiae

Vgl. 622; s. dazu Semler, Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 454–466.

199
der grosse Philosoph Wolf, in den marburgischen Nebenstunden

Christian Wolff (1679–1754), schulbildender Philosoph, Jurist, Naturforscher und Mathematiker. Semler bezieht sich auf Wolffs in drei Bänden zusammengefasste Horae Subsecivae Marburgenses, die Aufsätze der Jahre 1729–1731 versammeln und zwischen 1729 und 1741 veröffentlicht wurden. Eine strenge Demonstration der Satisfaktionslehre sucht man in ihnen vergebens: In der Schrift „Notio Servi Jesu Christi Rom I 1 evoluta“ (2, 550–559; 559) stellt Wolff allerdings fest, dass ein Beweis „nicht schwierig“ zu erbringen sei, wenn Platzgründe es nicht hinderten: „Non difficile nobis foret ex notionibus creationis, redemtionis ac generationis demonstrare, quomodo inde nascatur jus Dei in homines, quod dominii nomine appellari solet, nisi angustia spatii excluderemur.“ In den Beiträgen „De Usu methodi demonstrativae in explicanda Scriptura sacra“ (3, 281–317) und „De usu methodi demonstrativae in tradenda Theologia revelata dogmatica“ (3, 480–542) setzt Wolff ausführlich auseinander, wie die eng mit seinem Namen verbundene „demonstrative Methode“ nicht nur auf die natürliche Theologie, sondern auch auf Schrift und Offenbarungstheologie angewendet werden könne.

200
für alle fähigern Menschen, oder für πνευματικους

Semler nimmt hier eine Gradation der Gläubigen an, bei der die besseren Christen „geistlich“ sind, was schon Paulus abstuft zu den „Fleischlichen“, vgl. 1Kor 3,1–3.

201
Discantstimme

D.i. Sopran.

202
Unendlichkeit der moralischen Welt

Vgl. 837.

203
seit dem nicänischen ersten Concilio, oder christlichen Landtage, die Homousie [...] als eine katholische Bestimmung, eingefürt haben

Vgl. 129 und 241; zu „katholisch“ s. 354.

204
diesen falschen Lehrsatz einfürte, kein Mensch kann selig werden, ohne durch die katholische Kirche

Vgl. 836.

205
Ich wil, doch sehen, sagte Luther, wer mich zwingen wil, homousios zu sagen

Vgl. dazu Luther, Rationis Latomianae confutatio (1521), WA 8, 36–128; 117. Während Luther hier dieses Wort als außerbiblisch abqualifiziert, stellte er sich später deutlich hinter diese auf dem Konzil von Nicäa (325) verabschiedete Zentralformel der Christologie.

206
Calvin und mehr würdige Gelerte bedauerten es ganz laut, daß man die Worte drey Personen so gebieterisch eingefüret habe

Während Calvin heute vor allem mit der Hinrichtung des Trinitätskritikers Michel Servet (1509?–1553) in Verbindung gebracht wird, mussten sich 1537 die Genfer Reformatoren Calvin, Guillaume Farel und Pierre Viret in ihrer Auseinandersetzung mit Pierre Caroli noch dafür rechtfertigen, dass sie die altkirchliche Formulierung der Trinität vermieden.

207
extra ecclesiam lutheranam non dari salutem, war noch vor 50–60 Jahren eine öffentliche Disputation

Unter dem Vorsitz des Rostocker Theologieprofessors Johann Nicolaus Quistorp (1651–1715) disputierte der spätere Rostocker und Greifswalder Theologieprofessor Albertus Joachim Krakewitz (1674–1732) über De speranda extra ecclesiam lutheranam salute (1699).

208
Da aber die christliche [...] Seligkeit nicht erst mit dem Tode anfängt, wie die Juden ein Paradies, einen Schoos Abrahams erst dahin sezen

Vgl. 876 (Seligkeit bereits vor dem Tode). Zum „Schoß Abrahams“ s. 763.

209
Fertigkeit, welche Buße und Glauben im N.T. heist

Vgl. z.B. Mk 1,15.

210
kann kein Priester das leisten, was jeder schon zur Pflicht hat

Anspielung auf das reformatorische „Priestertum aller Gläubigen“, das die Notwendigkeit einer Vermittlung durch die kirchliche Instanz aufhob.

211
Vorurteile der Juden, daß andre Völker vor Gott unrein hiessen

Vgl. z.B. Lev 18,24–28; Esra 9–10.

212
Christen älterer Zeit, so lange sie noch äusserliche Begebenheiten und Veränderungen erwarteten, die zu einem sichtbaren Reiche Christi gehören sollten

Semler denkt hier wohl u.a. auch an die sog. Parusieverzögerung, d.h. an das Ausbleiben der von den frühen Christen erwarteten Wiederkunft Jesu. Für den jüngeren Paulus war es eine ausgemachte Sache, dass Christus in seiner Generation wiederkehren werde, um die Gläubigen zu erhöhen (1Thess 4,15–17; 1Kor 15,51–58). Vgl. außerdem Mk 9,1; 13,30. Zu Semlers Annahme einer präsentischen Eschatologie vgl. 876.

213
das eigene jezige moralische μετανοειν, πιστευειν

S. 744.

214
Selbstchristen

Vgl. auch f300. Ein „Selbstchrist“ ist jemand, der ohne Vermittlung der Kirche oder der Theologie aus eigener Erfahrung zum (moralisch-praktischen) christlichen Glauben findet. Der Ausdruck taucht nur bei Semler auf. Vgl. insbesondere: Einige Berrachtungen [sic!] über die bisherige Streitigkeit zwischen Christen und Naturalisten, Berlinische Monatsschrift 17 (1791), 295–312; 302f.: „Da ist eine geheime Verehrung Gottes im Geist und Wahrheit ohne alle Dekrete der Bischöfe, die stets nur eine äußerliche Menge Menschen durch äußerliche Ordnung nach äußerlichen Absichten, öffentlich, kenntlich, sichtbar, einschränken. Dort aber erfährt der Selbstchrist durch das Evangelium von einem solchen Christus eine neue Kraft Gottes zu einer neuen (übernatürlichen, oder sonst unbekannten) Seligkeit. [...] Diese praktischen Selbstchristen wissen wahrlich, daß ihr eigner Glaube der eigne einheimische Sieg ist, den sie in einer neuen täglichen Uebung gewiß behalten, um selbst, ohne andre Menschen, nach ihrer neuen Erkenntniß in Gott moralisch zu leben. [...] Die [sic!] freie praktische Evangelium des unendlichen Gottes durch Christum ist in allen Sekten oder Parteien der Christen immer einerlei Geist und Leben, und unterscheidet diese Selbstchristen von allen ganz ordentlichen oder schulgerechten Kirchenchristen.“ – Zur Begriffsverwendung vgl. ferner Semler, Vorbereitung auf die Königlich Großbritannische Aufgabe (1787), 28; und Unterhaltungen mit Herrn Lavater über die freie practische Religion (1787), 9.

215
Photinianern

Vgl. 805.

216
da Katholicken die Unzulänglichkeit der Bibel [...] behaupten

Vgl. 793.

217
Caluinum iudaizantem

Anspielung auf den Vorwurf, Calvin (vgl. 401) nähere sich zu sehr jüdischen Vorstellungen an, den der Wittenberger Theologe Ägidius Hunnius (vgl. 420) in seinem Calvinus Iudaizans (1593) erhob.

218
wie schon vorhin (Frage 14)

Verweis auf f92107.

219
modum cogitandi und loquendi

Der modus cogitandi ist die Art und Weise, wie eine bestimmte Sache gedacht, vorgestellt, begrifflich definiert wird; der modus loquendi die Art und Weise, wie über eine bestimmte Sache gesprochen wird. Veränderungen in den modi cogitandi oder loquendi bedeuten keine Veränderung der Sache selbst. Vgl. dazu Crusius, Weg zur Gewißheit (11747), 378–381; vgl. auch 395.

220
unitatem specificam [...] unitatem numericam

Der Ausdruck „unitas specifica“ bezeichnet die Identität der Gattung (lat. species), der Ausdruck „unitas numerica“ numerische Identität. Johannes, Petrus und Paulus fallen unter dieselbe natürliche Art oder Gattung „Mensch“, sie sind daher gattungsmäßig identisch. Doch sie sind numerisch verschieden, denn es handelt sich bei ihnen um drei Exemplare der Gattung Mensch, nicht um ein und dasselbe Exemplar. Marcus Tullius, der Autor der Reden gegen Catilina und Cicero sind hingegen numerisch identisch. – Theologiegeschichtlich ist die Unterscheidung für das Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist relevant. Sind die Genannten als göttliche Wesen nur gattungsmäßig identisch oder auch numerisch identisch, sodass es sich bei ihnen um ein und dasselbe Wesen handelt? Und falls sie numerisch identisch sind, wie können sie gleichwohl als Personen verschieden sein? Vgl. 129 und 236.

221
Apollinarismus

Es folgt eine Aufzählung von spätantiken häretischen Positionen, denen vorgeworfen wurde, die doppelte Natur Christi, wie sie auf dem Konzil von Chalcedon (451) festgeschrieben wurde, in Frage zu stellen. Gemeint sind zunächst die Anhänger von Apollinaris von Laodicea (4. Jh.), die lehrten, der sündlose Christus könne bei seiner Menschwerdung nicht den depravierten menschlichen Verstand (πνεῦμα) angenommen haben. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 471–473.

222
Nestorianismus

Gemeint sind die Anhänger des Nestorius (um 381–451/3). Ihm wurde (vermutlich fälschlich) vorgeworfen, die zwei Naturen Christi – entgegen der späteren Formulierung des Konzils von Chalcedon – als „geteilt“ zu konzipieren, so dass sich der Logos im Menschen nur einwohne und zwei Personen in Jesus nebeneinander existierten. Er lehnte außerdem den Titel θεοτόκος („Gottesgebärerin“) für Maria ab. Diese Lehre wurde 553 auf dem zweiten Konzil von Konstantinopel verurteilt. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 473–481.

223
Eutychianismus

Gemeint sind die Anhänger des Eutyches (gest. 454), der als radikalster Vertreter der Einnaturenlehre (Monophysitismus) gilt. Eutyches lehrte, dass bei der Menschwerdung Christi die menschliche in der göttlichen Natur aufgegangen sei. Seine Lehre wurde auf dem Konzil von Chalcedon (451) verurteilt. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 481–486.

224
Monotheletismus

Im Gegensatz zum Monophysitismus wurden hier nicht die zwei Naturen bestritten, jedoch Christus nur ein Wille (von gr. μόνος „ein“ und θέλημα „Wille“) zugesprochen. Diese Lehre wurde auf dem dritten Konzil von Konstantinopel (680) verurteilt. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 486–489.

225
so verstunden sie in eben der Substanz Gottes ein 2tes Subjekt: consubstantiuus secunda in deo persona, sagte schon Tertullianus

Die lateinische Wendung ist nicht belegt. Tertullian (vgl. 726) benutzt zwar die Begriffe „consubstantialis“ (Herm. 44,3) und „consubstantivus“ (Val. 12,5; 18,1; 37,2) als Übersetzung des griechischen „ὁμοούσιος“ (wesensgleich; vgl. 241), jedoch lediglich um die Ansichten der Gnostiker (vgl. 358) zu referieren und ohne Bezugnahme auf Christus. In trinitätstheologischem Zusammenhang spricht er vielmehr von „una substantia“ (z.B. Adv. Prax. 2,4). Inwieweit Tertullian damit die nicänische Lehre (vgl. 129) vorwegnimmt, ist umstritten.

226
Die im Orient aber sagten, Gott hat dieses Subjekt zum Sohn d.i. zum Mitregenten über alles gemacht

Semler bezieht sich auf den sog. Adoptianismus, der vor allem in Kleinasien vertreten wurde, z.B. von Theodotus von Byzanz (2. Jh.) und dem Bischof von Antiochien Paul von Samosota (ca. 200–275). Gemäß dieser Lehre, von der wir ausschließlich durch ihre Gegner wissen (u.a. Hippolyt von Rom, ca. 170–235; Epihanios von Salamis, ca. 315–403) wurde Jesus erst nach seiner Taufe (abweichend auch: seiner Auferstehung) zum Gottessohn erhoben.

227
andre aber sezten [...] gerade vor die Erschaffung aller Dinge

Zur Lehre von der Präexistenz Christi, die u.a. von Adoptianisten (s. 941) und Arianern (s. 129) abgelehnt wurde, vgl. 372.

228
wie der Kaiser Aurelianus im J. 275 der italischen oder römischen Loge den Vorzug gab

Lucius Domitius Aurelianus (214–275) war von 270–275 römischer Kaiser. Wie Eusebius in seiner Kirchengeschichte (VII 30, 18f.) berichtet, stärkte Kaiser Aurelian die Hegemonie der römischen und italienischen Bischöfe gegenüber den Bischöfen in Antiochien, nachdem er aufgefordert worden war, im Streit um den als häretisch gebrandmarkten und abgesetzten Bischof Paul von Samosata einzugreifen.

229
diese ganze Religion [...] um ihres moralischen Besten willen da ist, und die Christen nicht da sind, um blos eine kirchliche Regierung über sich [...] zu begünstigen

Anspielung auf Mk 2,27 („Der Sabbat ist für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“).

230
als wenn sie ein Fegfeuer nach dem Tode [...] Infallibilität und Almacht der Kirche etc. zu Glaubensartikeln erhoben hat

Zu Fegefeuer, Fürbitte der Heiligen und Messopfer vgl. 878. Ein Ablassbrief oder -zettel bescheinigte dem Erwerber einen Ablass, d.h. den Nachlass von auferlegten Strafen, die vom Sünder nach reuiger Umkehr noch zu verbüßen sind. Der Handel mit Ablassbriefen ist in der römisch-katholischen Kirche seit 1570 unter Strafe der Exkommunikation verboten. Die Verbindlichkeit von Ordensgelübden (inkl. Ehelosigkeit usw.) ist seit Papst Leos I. (vgl. 391) Epistolas fraternitatis (458/59; DH 321f.) geregelt. Die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche – nicht zu verwechseln mit der Unfehlbarkeit des Papstes – hinsichtlich Glaubens- und Sittenlehre, wurde zwar erst vom I. Vatikanum (1869/70) dogmatisch festgeschrieben, aber schon seit etwa dem 4 Jh. von Kirchenoberen in aller Regel als selbstverständlich vorausgesetzt. Worauf genau Semler mit der Behauptung hinauswill, die „Allmacht der Kirche“ sei zum Glaubensartikel erhoben worden, ist nicht klar.

231
warum in Sachsen damalen die äusserliche Reformation [...] als in der [...] Schweiz

Gemeint ist die vergleichsweise größere Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft vom katholischen Kaiserhaus, wiewohl die Schweiz erst 1648 aus dem Reichsverband ausgegliedert und offiziell unabhängig wurde.

232
die alten kaiserlichen Strafgeseze, die wider die Kezer reden

Seit dem 12. Jh. hatten die Kaiser im Rückgriff auf das römische Recht das Ketzereidelikt als Gottesbeleidigung mit dem crimen laesae maiestatis (Majestätsbeleidigung) gleichgesetzt. Häretiker wurden seitdem nicht nur kirchlicherseits durch das kanonische Recht verfolgt, sondern waren auch mit scharfen obrigkeitlichen Strafen bis zum Tod bedroht. Entsprechend war Luther nach seiner Verurteilung als Häretiker in Rom (1520) auf dem Reichsgebiet mit der Strafe der Acht („vogelfrei“) belegt.

233
nun gar Geheimnisse heissen

Ein Glaubensgeheimnis (mysterium fidei) im strikten Sinne ist eine Wahrheit, die zwar offenbart und Gegenstand allgemeinen Wissens werden kann, sich jedoch nicht mit den Mitteln der Vernunft herleiten oder vollständig verstehen lässt. Die Ansicht, die christliche Lehre enthalte solche übervernünftigen Wahrheiten, findet sich schon bei Paulus (z.B. 1Kor 2) sowie den meisten Kirchenvätern. Die Bestreitung von Glaubensgeheimnissen war ein Kernanliegen deistisch (vgl. 702) und rationalistisch gesinnter Autoren; vgl. das programmatisch betitelte Werk John Tolands (1670–1722), Christianity Not Mysterious: Or, A Treatise Shewing, That there is nothing in the Gospel Contrary to Reason, Nor Above it: And that no Christian Doctrine can be properly call’d A Mystery (1696).

234
Festtäge für die Christen [...], die doch weder Christus noch die Apostel eingefürt hatten

Gemeint sind alle Festtage jenseits des Sonntagsgebots und der christlichen Hochfeste (Ostern, Pfingsten und Weihnachten). Kritik an außerbiblischen Festtagen formulierten bereits die Reformatoren, sie wurde jedoch in der Aufklärung verstärkt geübt. Parallel dazu wurde in den Reformen um 1800 vielerorts die Anzahl der Festtage reduziert (s. 719).

235
wenn sie wolte

Wiewohl grammatisch und inhaltlich möglich, erscheint es wahrscheinlicher, dass hier ein Satzfehler vorliegt und „wen sie wollte“ gemeint ist.

236
durch so viel paternoster, aue Maria, [...] Bestellung der Seelmessen

Semler spielt hier auf die spätmittelalterliche Tradition der „gezählten Frömmigkeit“ an, nach der schon die schiere Anzahl bestimmter religiöser Handlungen über die Seligkeit des Gläubigen entscheide, was im Ablasshandel gipfelte. Die Reformation betonte gegenüber einer solchen taxierbaren Werkgerechtigkeit die Rechtfertigung „allein durch den Glauben“, wonach gute Werke nicht als Voraussetzung, sondern als Wirkung des Glaubens verstanden wurden.

237
daß ja selbst noch iezt Protestanten einen Beweis der Wahrheit der christlichen Religion von Mirakeln und Weissagungen etc. entlenen

Anspielung auf Gottfried Leß (1736–1797), Beweis der Wahrheit der christlichen Religion (1768; 61786). Der Göttinger Theologieprofessor und Universitätsprediger Leß betrachtete Wunderwerke, zu denen er auch Weissagungen („Wunderwerke der Kenntniß“) rechnete, als „das vornehmste Fundament der christlichen Religion“. Es komme für die Glaubwürdigkeit des Christentums „beinahe alles auf den Erweis dieser Begebenheit an: daß Jesus wahrhaftig göttliche Wunderwerke verrichtet“ (290; vgl. 410).

238
so sind die miracula der nächsten Jahrhunderte gar zu ungewis und zweideutig; ja häufig als listige Betrügereien bekant worden

Vgl. hierzu ausführlich Semlers Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die vielen Wundercuren und Mirackel in den ältern Zeiten; zur Beförderung des immer bessern Gebrauchs der Kirchenhistorie (1767).

239
Es ist aber allerdings kein Theil der christlichen Religion oder algemeinen Glaubenslehre, daß alle Christen über diese Zeichen und Wunder im N. T. durchaus einerley denken müsten

Semler denkt an die mit großer Intensität geführte Wunderdebatte, zu der Autoren wie Spinoza, Locke, Reimarus, Richard Price (1723–1791), George Campbell (1719–1796) oder Leß wichtige Beiträge lieferten. Besonders viel diskutiert wurde David Humes (1711–1776) berühmt-berüchtigte Wunderkritik „Of Miracles“ (An Enquiry concerning human understanding, 1748; dt. 1755, Kap. 10). Gegen Semlers ausgleichende Auffassung stellt Hume am Ende seines Essays mit deutlich ironischem Zungenschlag fest: „Christian religion not only was at first attended with miracles, but even at this day cannot be believed by any reasonable person without one. Mere reason is insufficient to convince us of its veracity“.

240
Juden [...], die durchaus immer Zeichen und Wunder sehen und hören wolten

Vgl. z.B. Joh 4,48; s. schon Ex 7,3.

241
wie Bengel selbst gestund

Der lutherische Theologe Johann Albrecht Bengel (1687–1752) gilt als Hauptvertreter des württembergischen Pietismus. In seinem Gnomon Novi Testamenti (1742) äußert Bengel sich zu den Wundern und Zeichen in Joh 4,48.

242
die nicht sehen [...] und doch selbst gläuben

Anspielung auf Joh 20,29.

243
wie zu Ende des Evangelii Johannis stehet, diese Zeichen damalen erzälet wurden

Verweis auf Joh 20,30.

244
daß sie durch diesen ihren Glauben [...] das Leben haben möchten, in seinem Namen

Joh 20,31.

245
Ganz recht sagten auch die zu Samaria, Joh. 4.

Anspielung auf Joh 4,41f.

246
Freilich hat die Kirche auch das so genante donum Miraculorum gar als fortdauernd angesehen

In der lateinischen Kirche wurde das „Geschenk von [gottgewirkten] Wundern“ durchaus weiterhin angenommen. Zur Kritik daran vgl. etwa Semler, Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die vielen Wundercuren und Mirackel in den ältern Zeiten (1767).

247
ἀληθείαν [...] πνεῦμα

ἀλήθεια, Wahrheit; πνεῦμα, Geist.

248
oder durch die eigene starke Speise der freien volkomnen Christen

Vgl. Hebr 5,14.

249
Christus nur nach dem Fleische [...] kennen

Anspielung auf 2Kor 5,16.

250
Wunder und Zeichen fordern nur die Juden, sagt Paulus

Anspielung auf 1Kor 1,22.

251
weil die Juden die Körperwelt unter dem Mond dem Gebiet der guten und bösen Engel unterworfen hatten

Die Einteilung des Kosmos in eine unveränderliche, sich ewig kreisförmig bewegende translunare Sphäre und eine dem Werden und Vergehen unterworfene sublunare Welt („unter dem Mond“) bildete seit dem vierten vorchristlichen Jh., von bedeutenden Ausnahmen abgesehen, die vorherrschende Auffassung unter antiken Gelehrten. Die klassische, bis in die Frühe Neuzeit enorm einflussreiche Formulierung dieser Konzeption geht auf Aristoteles zurück (vgl. v.a. De caelo). Entsprechende kosmologische Vorstellungen wurden auch vom hellenistischen, rabbinischen und mittelalterlichen Judentum (z.B. Maimonides, ca. 1135–1204) aufgegriffen. Juden (wie Christen und Muslime), die sich an Aristoteles orientierten, wichen freilich insofern von ihm ab, als sie eine göttliche Schöpfung der translunaren Sphäre und einen Anfang der Zeit behaupteten. Zu jüdischen Vorstellungen von Engeln und Dämonen s. 739.

252
eine weise unverbesserliche Ordnung in dem einzigen Reiche der Natur

Semler steht hier vor Augen, dass die Naturforscher des 17. und 18. Jh.s die Unterscheidung von trans- und sublunarer Sphäre (s. 966) aufgaben und die Einheit der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten betonten. So behauptete etwa Newton in seinem epochemachenden Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687; 31726) die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes für alle Körper – seien es Sterne, Planeten oder Äpfel (3. Buch, prop. VII). Die Rede von „unverbesserlicher Ordnung“ spielt möglicherweise auf Newtons Antipoden Leibniz und seine Theorie der „besten aller möglichen Welten“ an, vgl. etwa Essais de Théodicée (1710), 1. Buch, § 8.

253
böse Geister in der Luft herrschten, also auch in die Menschen durch die Luft eingehen

In der Antike war die Vorstellung, körperliche und mentale Krankheiten entstünden durch böse Geister (Dämonen-Theorie), weit verbreitet. Gleiches galt für die Auffassung, schlechte Luft sei für Gebrechen verantwortlich (Miasma-Theorie). Als Beleg für die Hartnäckigkeit besagter Theorien kann gelten, dass sich noch Anfang des 18. Jh.s der Name Malaria (ital. „schlechte Luft“) zur Bezeichnung der entsprechenden Krankheit etablierte.

254
Der ganze Beweis aus so genannten Weissagungen in den Schriften des A.T.

Zur von Semler abgelehnten typologisch-christologischen Auslegung des Alten Testaments vgl. 380. Zur hier und im Folgenden Anwendung findenden Akkommodationstheorie vgl. 385.

255
der und jener Prophet redet davon, er war getrieben durch den Geist Gottes

Anspielung auf 2Petr 1,21.

256
nun trifft es ein, es wird erfüllet, was da geschrieben stehet

Anspielung auf Lk 24,44.

257
uns hat es Gott näher offenbaret durch eben diesen Geist

Anspielung auf 1Kor 2,10.

258
eine geistliche viel vollkomnere Beschneidung

U.a. Anspielung auf Kol 2,11; vgl. 780.

259
ἐπιπνοην adspirationem dei nente man schon lange vor der Zeit der Christen

Gemeint sein dürfte „ἐπίπνοια a(d)spirationis dei“. Die griechisch-lateinische Phrase bedeutet „Einhauchen des Odems [eigentl. Anhauchen; Ausdünstung] Gottes“; vgl. Gen 2,7.

260
Stoiker erinnerten ihre Schüler an den Geist Gottes

Eine gängige stoische Definition spricht vom Wesen Gottes (τὴν τοῦ θεοῦ οὐσίαν) als intellektuellem, „feuerartigen“ Atem/Geist (πνεῦμα νοερὸν καὶ πυρῶδες), der alles durchdringt, alles nach seinem Plan formt (Aetius; Stoicorum Veterum Fragmenta II, 1009). Die mit Notwendigkeit ablaufende, gesetzmäßige Umsetzung dieses Plans bezeichneten die Stoiker als fatum (gr. εἱμαρμένη). Die Vernünftigkeit und Unentrinnbarkeit des Fatums zu akzeptieren (sich an sie zu „erinnern“), ist Voraussetzung eines guten Lebens. Vgl. auch 160 (Epiktet).

261
die geheimen Grundsätze der Magisten

Es ist nicht klar, auf wen und was Semler sich hier bezieht. Gemeint sein könnten: a) antike Anhänger magischer Praktiken im Allgemeinen; b) zoroastrische Priester, genannt „Magi(ere)“ (vgl. Mt 2,1: μάγοι, „Weise aus dem Morgenland“); c) Anhänger des Simon Magus (1. Jh.; Apg 8,9–25), der ähnlich wie die Stoiker (s. 975) gelehrt zu haben scheint, Gott sei das „feuerartige“ Prinzip des Kosmos, eine unendliche Kraft oder Potentialität (vgl. Hippolyt von Rom, s. 941, Refutatio omnium haeresium, 6, 7–20; v.a. 9 u. 17). Die dritte Lesart erscheint aufgrund des Kontexts zwar plausibel, allerdings werden die vor allem im 2. und 3. Jh. in Rom aktiven Anhänger Simons in der Literatur fast ausschließlich als „Simonianer“ angesprochen, die Bezeichnung „Magisten“ lässt sich für sie nicht belegen.

262
in Gott leben, weben und sind wir

Apg 17,28.

263
So sagt einer erst neuerlich: Gott würde durch eine übernatürliche Belerung den natürlichen Gang einzler Menschen stören [...] als wenn man einen Haufen Sand in eine Uhr schütten wolte etc.

Semler bezieht sich auf Bahrdts politischen Roman Ala Lama oder der König unter den Schäfern, auch ein goldner Spiegel, 2 Bde. (1790). Vgl. Bd. 1, 226: „Wenn [der Gott] Bohama den natürlichen Gang vernachlässigen und ganz neue und auf dem Wege der Natur unentdekbare Theorien uns mittheilen wolte; so würde das unsere ganze Seele zerrütten, und alle Räder der Maschine stoken machen. Denn wenn alles nach dem Gange der Natur verkettet ist, wenn alle Ideen des Menschen, die er durch Sinne, Erfahrung und Vernunft sich samlete, unter sich associiret sind und ein homogenes Ganzes ausmachen; so müßte das Hinzukommen hetrogener Ideen durch eine Offenbarung, ohngefähr das anrichten, was die Einschüttung eines Haufen Sandes in eine Uhr, anrichten würde.“ – Der Titel der Schrift spielt auf Wielands utopischen Roman Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian (1772) an. In der „Vorrede“ des Ala Lama erklärt sich ein gewisser „Johan Niklas, Illuminat“ zum Übersetzer des anonymen Werks „aus dem Deutschen“ (!), was gewiß „sonderbar“ klinge, aber ein „Räthsel“ sei, das „nicht eher, als im Jahre 2442“ aufgelöst werden könne. Auch angesichts dieser für Bahrdt charakteristischen Art von Humor dürfte Semler über die Identität des Verfassers im Bilde gewesen sein.

264
wenn der Naturalist die unendliche Weisheit Gottes dahin ziehen wil, daß ausser der physischen Ordnung aller Dinge, die doch von Gott immer abhängt, Gott gar keine Wirkung weiter übrig haben könne

Vgl. 157 und 702.

265
Wir wissen [...], daß die guten Früchte einer neuen Belerung [...] eine moralische Natur behalten

Möglicherweise Anspielung auf Gal 5,16–25: „Ich sage aber: Wandelt im Geist [...]. Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit.“

266
das Alte ist vergangen, es ist alles neu worden

Anspielung auf 2Kor 5,17.

267
Wie es Eine Taufe war

Anspielung auf Eph 4,5.

268
Geist und Leben, Geist und Wahrheit, Volkommenheit, Geist und Kraft

Anspielungen auf Joh 6,63 („Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben“); Joh 4,23f. (Anbeten „im Geist und in der Wahrheit“); Mt 5,48 („Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“); 1Kor 2,4 („Erweis des Geistes und der Kraft“).

269
So heißt es, Gott ist dem Abraham, dem Moses – – erschienen; ein Engel ist erschienen

Anspielung auf Gen 18; Ex 3,2 und Lk 1.

270
Indes bejahen doch so gar mehrere christliche Schriftsteller, daß Philosophen, Dichter, Historiker – eben dieselben moralischen Begriffe und Wahrheiten [...] gekant hätten

Vgl. hierzu als ein Beispiel unter vielen: Clemens von Alexandrien (ca. 150–215): Stromateis (Teppiche), 1, 20,99: „Freilich machte einst auch die Philosophie allein die Griechen gerecht“; man beachte aber auch Clemens’ – für christliche Autoren der Zeit genauso typische – direkt anschließende Einschränkung: „wenngleich sie sie nicht zur Gerechtigkeit überhaupt [καθόλου] führte“. Vgl. auch 1, 5,28.

271
λογος ἑνσπαρτος

Während im Druck das in der Christologie gebräuchliche λογος ἐνσαρκος („fleischgeborenes Wort“) steht, folgen wir den autorschaftlichen Corrigenda am Ende der Vorrede und am Ende des Werks. Gemeint ist hier das insitum verbum („eingepflanzte Wort“), vgl. Jak 1,21, also eine Art natürlicher Glaube an Christus in allen Menschen. Vgl. auch Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater (1787), 458.

272
nemo sine Christo nascitur, sagte so gar Hieronymus

Eine vergleichbare Formulierung gibt es bei Hieronymus (vgl. 731) in seinen Commentarii in Epistolam Pauli Apostoli ad Galatas, I, 1,15 (CCL 77A, 31). Die von Semler gebrauchte Formel dann etwa bei Louis Thomassin, De verbi Dei incarnatione I (1680), 46. Vgl. auch Semler, Freimütige Briefe über die Religionsvereinigung (1783), 143.

273
eine Theurgia, vielen platonischen Schülern gar geläufig

Die fehlerhafte Schreibung im Druck wurde bereits in den autorschaftlichen Corrigenda am Ende der Vorrede vermerkt und ist hier stillschweigend verbessert worden. – Der aus dem Griechischen stammende Ausdruck „Theurgie“ (wörtlich „Gotteswerk“) bezeichnete in der Antike rituelle Praktiken, die mit der Absicht vollzogen wurden, in Verbindung mit Gott (oder Göttern) zu treten. Das Ziel bestand in der Herbeirufung einer göttlichen Wirkung oder in der Herstellung einer Einheit (Henosis; ἕνωσις) mit dem Göttlichen. Schon der platonische Sokrates forderte im Theätet (176a–b) dazu auf, der irdischen Welt zu entfliehen und, soweit es Menschen möglich ist, wie Gott zu werden. Einige (wenngleich keineswegs alle) Neuplatoniker verfochten die Theurgie als Mittel eines solchen Aufstiegs der Seele von der irdischen in die geistige Welt, darunter Iamblichos von Chalkis (ca. 245–325), Proklos (412–485) und Pseudo-Dionysius Areopagita (6. Jh.). Iamblichos verfasste auch eine Schrift, De mysteriis Aegyptiorum, die unter dem Namen Theurgie bekannt ist.

274
wie die Stoiker davon reden, daß Gott in manchen Menschen wone

Anspielung auf Seneca (vgl. 277), Brief 41,2: „In unoquoque virorum bonorum – quis deus incertum est – habitat deus“. (In jedem einzelnen guten Menschen wohnt Gott – welcher Gott ist unsicher). Vgl. 1Kor 3,16. Zur Rolle Gottes im Denken der Stoa s. 975.

275
Wenn nun viele unfähigere Menschen bisher an den Kirchengesängen und gemeinsten Cärimonien nicht nur keinen Anstos finden

Semler denkt hier wohl vor allem an Gesangbuchstreitigkeiten, zu denen es im Zuge aufklärerischer Reformbemühungen in Berlin (vgl. 1040) und anderswo gekommen war. In seiner Lebensbeschreibung I (1781), 207, stellt er dazu fest: „Es ist sehr rümlich und löblich, daß [...] in vielen Kirchen eine solche gemeine Revision der Gesangbücher vorgenommen wird [...]. Nur mus doch gleichwol sehr viel Vorsichtigkeit dabey statt finden, um nicht, durch ganz unnötige Veränderung oder Vertilgung mancher Lieder, viele gute Christen unruhig und unzufrieden zu machen, deren wahre feste Erbauung oft auf einem solchen alten Liede oder Verse gegründet ist.“

276
die Christen sind nicht um der Bibel willen da

Anspielung auf die jesuanische Lockerung des jüdischen Sabbatgebots in Mk 2,27.

277
Denn in der Gesellschaft schon leben, und doch auf den Stand der so genannten Natur sich berufen

Vgl. 855.

278
Alles, was wirklich nüzlich ist, ist es nur durch die Schranken und durch das gehörige Maas [...] Der Feler [...] war ebenfals das zu Viele, das nimium.

Anspielung auf das Prinzip der richtigen Mitte (μεσότης), das seinen Ursprung in der aristotelischen Ethik hat (eth. Nic. 1106b–1107a), sowie auf den Ausspruch Senecas (vgl. 277), de tranquilitate animi 9,6: „vitiosum est ubique, quod nimium est“ (Fehlerhaft ist all das, was zu viel ist); sprichwörtlich als „omne nimium nocet“ oder „omne nimium vertitur in vitium“.

279
obgleich Protestanten gar keine Priester haben, als in der alten Sprache, die vor der Zeit der Protestanten diesen Namen mit einem Meßopfer eingefürt hatte

Gemeint ist, dass es im Protestantismus keine (sakramentale) Weihe von Pfarrern (Priestern) mehr gibt, denen im Rahmen eines Pontifikalamts die Messopfergewalt (s. 879) übertragen wird.

280
Wenn die ganze natürliche Religion zunächst im Genusse alles sinnlichen Vergnügens, in Frölichkeit und Lustigkeit der Menschen bestehet

Möglicherweise Anspielung auf Bahrdts Anthropologie und Pädagogik, vgl. 125.

281
Augenlust, Fleischeslust, hoffärtiges Leben

1Joh 2,16.

282
schandbare Worte und Narrentheidung

Anspielung auf Eph 5,4; „Narrent(h)eiding“: mhd., Narrengeschwätz.

283
Man samlete sich aus der Bibel jene alten Psalmen [...] Bilder, die Christum so fruchtbar beschreiben, Hirte, Lehrer, vollkommner Priester, Licht der Welt, Weinstock, Lamm Gottes, Opfer für die Sünden der Juden und Heiden

Vgl. Ps 23 mit Joh 10,11–16 (Hirte); Ps 25,5; 71,17; 94,10 mit Joh 3,2 (Lehrer/lehren); Ps 110,4 mit Hebr 7,24–27 (vollkommener Priester); Ps 27,1 mit Joh 8,12; 9,5; 12,46 (Licht der Welt); Ps 80,9–14 mit Joh 15,1–8 (Weinstock); Ps 50/51 mit Hebr 10,12 (Sündopfer). Lediglich das Bild vom „Lamm Gottes“ (z.B. Joh 1,29) taucht nicht im Buch der Psalmen auf, wohl aber in einem anderen berühmten poetischen Text des Alten Testaments, im vierten sog. Gottesknechtlied (Deutero-)Jesajas 52,13–53,12; 53,7.

284
2 Petri 1,5 folg.

Von den Herausgebern korrigiert. Die Textvorlage hat „2 Petri 1–5 folg.“ Diese Angabe kann jedoch nicht stimmen, da der 2. Petrusbrief nur aus drei Kapiteln besteht.

285
Erzälungen von Besessenen, von Engeln

Semler bezieht sich auf Berichte über Besessenheit (z.B. Mk 1,21–28) und Engel (z.B. Mt 4,11) im Neuen Testament, die er der akkommodierenden (vgl. 385) Lehre Jesu bzw. Erzählweise der Evangelisten zuschreibt.

286
als ihnen selbst Friedrich der Zweyte verstatten oder zugeben wollte

Anspielung auf die weitreichende religiöse Duldung in Preußen unter Friedrich II. (s. 685).

287
Selbst das so liebe Losungswort, Freiheit, bringt eine Gegenkraft mit sich, es gehört nur Zeit dazwischen

Als der römische Senat nach der Ermordung Caligulas im Jahre 41 n. Chr. die Republik wiederherstellen wollte, benutzte er (angeblich) das Losungswort „Freiheit“ (libertas); vgl. Flavius Josephus, ant. Iud. 19,186. Nach nur wenigen Tagen oder Wochen obsiegten jedoch die imperialen „Gegenkräfte“ und setzten Claudius (10 v. Chr./41–54 n. Chr.) als Alleinherrscher ein. Semler mag auch an die Französische Revolution und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 (vgl. Art. 4) denken.

288
die vielen Romane von platonischen schönen Republiken, die im Monde sind

Semler spielt hier auf das Urbild utopischer (vgl. 212) Staatsentwürfe, Platons Politeia (frühes 4. Jh. v. Chr.), an. Ein Beispiel für eine utopische Erzählung, die auf einem fremden Planeten, wenngleich nicht dem „Mond“, angesiedelt ist, bildet Christoph Martin Wielands (1733–1813) Frühwerk Gesicht von einer Welt unschuldiger Menschen (1755). In ihm schildert das lyrische Ich die Vision einer der Erde ähnlichen, von intelligenten Wesen bewohnten Welt ohne Sünde oder Privateigentum, voller Liebe, Schönheit und Harmonie. Der anonyme Herausgeber des Theologische[n] Briefwechsel[s] eines Laien: über die Versöhnung unsers Planeten und anderer Welten mit Gott durch Christum (1782), an dem auch Semler sich beteiligte, gab Wielands Werk als Inspiration an. Zum „Mond-Roman“ Bahrdts vgl. 218.

289
Inquisition [...] vogelfreyen Märtyrer

Vgl. 809.

290
daß nicht alle Früchte gleich gut überal wachsen

Anspielung auf Mt 13,1–23.

291
man schränkte daher so gar die Philosophie ein, die ja freilich ihre vielerley Lehrmeister nicht zugleich zur Volksregierung erheben konte

Anspielung auf Platons Konzept der Philosophenherrschaft, das er in seiner Politeia entfaltete (vgl. z.B. 473c–d), auch Leibniz und Wolff sympathisierten mit ihm (z.B. Wolff, De rege philosophante et Philosopho regnante, Horae Subsecivae Marburgenses 2, 1732, 563–632). Semler, der Wolffs Aufsatz gekannt haben dürfte (vgl. 914), lässt hier erneut die Ansicht durchblicken, dass durch gemeinschaftliches Philosophieren oder vernünftiges Nachdenken kein Konsens in politischen oder religiösen Fragen zu erzielen sei und es immer „vielerley Lehrmeister“ geben werde. Einen Einwand ganz anderer Art, den bereits Platon in seinem Spätwerk Nomoi gegen sein jüngeres Ich erhob, formuliert Kant in Zum ewigen Frieden (1795): „Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“ (AA 8, 369).

292
würdige, edle Männer [...], die nie eine Bittschrift erst nötig hatten, welche um Abolition ihrer anstössigen Auffürung nachsuchte

Vermutlich Anspielung auf Bahrdt, der in seinem Leben häufig in die Verlegenheit kam, Bittschriften verfassen zu müssen, ganz zu schweigen von den zahlreichen Fällen, in denen Familienangehörige, Gemeindemitglieder oder Kollegen gute Worte für ihn einlegten (vgl. etwa 103). Zuletzt wandte Bahrdt sich nach seiner Verhaftung im Jahre 1789 (vgl. 704) u.a. an den von ihm zuvor verspotteten Minister Woellner und brachte auch Semler dazu, sich höheren Orts für ihn zu verwenden. Vgl. Bahrdt, Geschichte und Tagebuch meines Gefängnisses (1790), 114–133.

293
sie lassen sich für jeden Bogen bezalen; sie genießen bey ihres gleichen eine Genemhaltung solcher besondern Projecte

Womöglich Anspielung auf Bahrdts Vielschreiberei (vgl. 109) und Projektmacherei (vgl. z.B. 704). Zumindest was den Ausstoß an Publikationen anging, saß Semler allerdings im Glashaus: Die bereits beachtliche Bahrdt’sche Produktivität wurde von ihm noch einmal deutlich überboten (vgl. 692) – und man darf annehmen, dass er den Verlegern die jeweiligen Manuskripte nicht umsonst überließ.

294
es gebe keinen Timotheus und Titus in unsern Zeiten

Timotheus und Titus waren Mitarbeiter des Apostels Paulus und begleiteten ihn auf einigen seiner Reisen (vgl. z.B. Apg 16,1–5; Gal 2,1–10). Zumindest Timotheus scheint auch unter Verfolgungen gelitten zu haben (Hebr 13,23); die nur apokryph belegte Geschichte seines späteren Martyriums im Jahre 97 dürfte aber erfunden sein. Die paulinische Autorschaft der beiden Timotheusbriefe und des Briefs an Titus wird heute in der Forschung – anders als zu Semlers Lebzeiten – mehrheitlich bestritten.

295
Pietisten

Ursprünglich als „Frömmlerei“ (lat. pietas; „Frömmigkeit“) verspottet, entwickelte sich der Pietismus im 17. und 18. Jh. zu einer der wirkmächtigsten Reformbewegungen innerhalb des Protestantismus, deren Kritik an den bestehenden kirchlichen Verhältnissen teils bis zur Separation (radikaler Pietismus) führen konnte. Das pietistische Ideal von gesteigerter Innerlichkeit und Soziabilität äußerte sich etwa in eigenen Kirchenliedern und umfangreicher Erbauungsliteratur.

296
Schibboleth

D.i. Losungswort, nach Ri 12,5f.

297
nicht blos Hörer sondern Thäter des Worts

Anspielung auf Jak 1,22.

298
Selbstchristen

Vgl. 929.

299
Synedriums

Das Synedrium (von gr. συνέδριον; Synhedrion, „Zusammensitzen“) war ein vermutlich zwischen Beginn der Makkabäerzeit (165 v. Chr.) und Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) existierendes, religiöses und politisches Gremium der Juden, das aus 70 Ältesten bestand und unter dem Vorsitz des Hohepriesters tagte. Luther übersetzte schlicht „Rat“. Dem Synedrium kam die höchste Gerichtsbarkeit im Judentum zu, es wurde in seinen Kompetenzen allerdings von Herodes (73/37–4 v. Chr.) und den Römern beschnitten (vgl. Joh 18,31). Laut den synoptischen Evangelien wurde Jesus vom Synedrium verhört und vor Pilatus verklagt (z.B. Lk 22,66–23,5).

300
Geheimnisse fingen auch unter den Christen an, die hauptsächliche Reizung und Empfelung für den Zutritt zur neuen Religion zu werden

Semler scheint hier einen Einfluss antiker Mysterienkulte (Mithraismus u.a.) auf das frühe Christentum anzudeuten – eine Auffassung, die in der Forschung erst Ende des 19. Jh.s vermehrten Zuspruch fand. Vgl. auch Semler, Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären (1788), 12: „Alle [frühchristlichen] Partheien beobachten geraume Zeit diese Nachahmung der Mysterien, oder geheimen Brüderschaften. [...] Ich denke immer mehr, daß dieses gerade zur ersten Geschichte der Christen gehört; so sehr wir bisher das Gegentheil glauben.“

301
kam die große bischöfliche Gesellschaft blos historisch in die Höhe, die vornemlich wundervolle Historien Christi, [...] und noch bevorstehender Dinge, nun zum Gegenstande der öffentlichen Religion machten

Gemeint sind die zahlreichen apokryphen Schriften (s. 758).

302
die auch Mutter aller Christen hies

Vgl. z.B. Augustinus, De Moribus Ecclesiae Catholicae [388], Kap. 30.

303
Unterschieds der Schwachen und Unfähigern andrer Christen

Vgl. 110.

304
die sogenannten Geistlichen allein musten den Gottesdienst öffentlich verrichten

Semler baut erneut einen Gegensatz zum protestantischen „Priestertum aller Gläubigen“ auf, s. 951.

305
allegorische, mystische Deutung

Gemeint ist eine übertragene Deutung und innere Bedeutung jenseits der wörtlichen Lektüre der heiligen Schriften, wie sie in der christlichen Exegese eine lange Tradition haben; vgl. auch 2Kor 3,6.

306
einen geistlichen Simson

Simson ist eine Figur aus dem Buch der Richter (Ri 13,1–16,31), die oftmals als Vorausdeutung auf Christus interpretiert wurde (vgl. 1020 und 380): Die Geburten Simsons und Christi wurden beide von Engeln angekündigt; Simson wurde von einer unfruchtbaren Frau, Jesus von einer Jungfrau geboren; Simson bezwang einen Löwen, Christus den Teufel; Simson war mit einer Tochter des Feindes verheiratet, Christus mit der ihm feindlich gesonnenen Menschheit; Simson wurde von Delila, Jesus von Judas Ischariot für Silbermünzen verraten; beide wurden vor ihrem Tod misshandelt und gedemütigt. Vgl. dazu etwa Daniel Cramers (1568–1637), Biblische Außlegung (1627), 192–195: Simson ist für Cramer „Bildnuß Christi“ (192; 195) und Christus „unser geistlicher Simson“ (193).

307
geistlichen Ahasverus, geistliche Esther

Bei Ahasveros und Est(h)er handelt es sich um Figuren aus dem Buch Est(h)er. Es erzählt die Geschichte der Jüdin Esther, die sich mit dem persischen Herrscher Ahasveros vermählt. Dieser wird heute zumeist mit Xerxes I. (ca. 519/486–465 v. Chr.) identifiziert, die ältere Tradition hält ihn für Artaxerxes I. (?/465–424 v. Chr.) oder Artaxerxes II. (ca. 453/404–358 v. Chr.). Für keinen der drei Herrscher ist eine jüdische Gemahlin außerbiblisch belegt. – Einige römisch-katholische Theologen sahen in Ahasveros und Esther das Abbild Gottvaters und der Jungfrau Maria. Das Versprechen Ahasvers, Esther sein halbes Königreich zu überlassen (Est 5,3), wurde von Gabriel Biel (ca. 1410–1495) etwa wie folgt gedeutet: „Wir fliehen aber zuerst zur allerseligsten Jungfrau, Königin des Himmels, der der König der Könige, der himmlische Vater die Hälfte seines Reichs gegeben hat. Dies wird angezeigt durch die Königin Esther, der Ahasverus [...] die Hälfte seines Königreichs versprach. So hat unser himmlischer Vater, der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit besaß, die Gerechtigkeit behalten und die Ausübung der Barmherzigkeit an die jungfräuliche Mutter abgetreten“ (Sacri Canonis Missae Lucidiss. Expositio Profundissimi [1576], Lectio 80, 799 [Übers. Hgg.]).

308
Braut Christi

Der Ausdruck „Braut Christi“ dient in der christlichen Tradition als Metapher für die Kirche, im Neuen Testament lässt er sich explizit nicht finden (vgl. aber Mt 25,1–13; 2Kor 11,2; Eph 5,25–27; Offb 19,7–9). Das Bild einer Beziehung zwischen Gott und den Menschen, analog zu derjenigen zwischen Brautleuten oder Ehepaaren, ist im Alten Testament vorgezeichnet, am deutlichsten wohl in Jes 62,5.

309
Absonderung von der despotischen Kirche, die allen Gebrauch des eigenen Gewissens bey den Christen aufgehoben hatte, war die Hauptsache, in der Augspurgschen Confession [...] und den Catechismis

Zur Rolle des Gewissens in der protestantischen Abgrenzung von der Papstkirche vgl. in den von Semler aufgeführten Bekenntnisschriften exemplarisch: Confessio Augustana Art. 15 („das man die gewissen damit [mit der Einhaltung von Kirchenordnungen] nicht beschweren sol“, BSLK 69), Apologie, Vorrede (BSLK 141–144); Schmalkaldische Artikel, Einleitungspassage des Dritten Teils („Denn Conscientia [Gewissen] ist bey inen [= dem Papst und seinen Anhängern] nichts, Sondern gelt, ehr und gewalt ists gar“, BSLK 433); Großer Katechismus, Vom Sakrament des Altars („Das sol nu das erste sein, sonderlich für die kalten und nachlessigen, das sie sich selbs bedencken und erwecken. [...] man [muß] sich je mit dem hertzen und gewissen befragen und stellen als ein mensch, das gerne wolt mit Gott recht stehen“, BSLK 718).

310
die Luther ohnehin nur für Pfarrhern [...] aufgesezt hat

Luther widmete 1529 seinen Kleine[n] Katechismus „allen treuen fromen Pfarhern und Predigern“ (BSLK 501). Schnell entwickelte er sich als Basis für die grundlegende Katechese der Hausgemeinschaft und wurde auch häufig im Schulunterricht benutzt. Sowohl der Kleine wie auch der Große Katechismus (1529) wurden 1580 als zentrale Bekenntnistexte ins Konkordienbuch aufgenommen.

311
Selbst die formula concordiae hat eben diese äusserliche Absicht

Vermutlich Anspielung auf folgende Passage aus der Vorrede der Konkordienformel (1577): „Was dann die Condemnationes, aussetzung und verwerffung falscher unreiner Lere [...] betrifft, so in dieser erklerung und gründlicher hinlegung der streitigen Artickeln ausdrücklich und unterschiedlich gesetzt werden müssen, [...] ist gleicher gestalt unser wille und meinung nicht, das hiemit die Personen, so aus einfalt irren und die warheit des Göttlichen Worts nicht lestern, viel weniger aber gantze Kirchen in oder ausserhalb des heiligen Reichs deutscher Nation gemeint, sondern das allein damit die falschen und verführischen Leren und derselben halsstarrige Lerer und lesterer, die wir in unsern Landen, Kirchen und Schulen keines weges zugedulden gedencken, eigentlich verworffen werden, dieweil dieselbe dem ausgedruckten Wort Gottes zu wider und neben solchem nicht bestehen können, auff das fromme hertzen für derselben gewarnet werden möchten“ (BSLK 755f.).

312
Cryptocalvinismus

Ausgelöst von der postumen Veröffentlichung des Arztes Joachim Curaeus (1532–1573) wurde 1574 in Kursachsen Anhängern der Lehre Melanchthons (Philippisten) vorgeworfen, sich in der Abendmahlsauffassung zu stark der Theologie Calvins (vgl. 401) und Bezas (vgl. 892) angenähert zu haben. Sie wurden daraufhin gefangen genommen und genötigt, ihrem „Kryptocalvinismus“ abzuschwören.

313
Man muß aber hier die politische Lage nicht vergessen

Zwar waren die Anhänger der Confessio Augustana (1530) durch den Augsburger Religionsfrieden (1555) reichsrechtlich geduldet, strittig war jedoch, ob auch Anhänger des Reformiertentums darunterfielen. Offiziell wurden die Reformierten erst 1648 gleichgestellt.

314
Unsere Fürsten sagen daher selbst am Ende

So heißt es im Beschluss des Augsburger Bekenntnisses: „es ist ye am tage und offentlich, das wir mit allem vleis mit Gots willen on rhum zuredden verhut haben, damit je kein neu und gotlose lere sich in unsern kirchen heimlich einfluchte, einrissen und uberhant nemen“ (BSLK 134).

315
Oder wie es Melanchthon ausdrückt, daß nicht neue unchristliche Lehre bey uns angenommen würde.

Philipp Melanchthon, eigentlich Schwarzerdt, (1497–1560) gilt als wichtigster Mitstreiter Luthers in Wittenberg. Nach dem humanistischen Studium in Heidelberg und Tübingen kam er 1518 nach Wittenberg, bekleidete zunächst den neugestifteten Lehrstuhl für Griechisch und las als Baccalaureus biblicus ab 1519 biblische Vorlesungen. Ab 1525 erhielt er wie Luther einen Sonderstatus, der es ihm erlaubte, sich stärker der reformatorischen Bewegung zu widmen. Entscheidend war sein Einfluss auf die frühen Kirchenvisitationen und insgesamt auf die Konsolidierung des lutherischen Protestantismus. So war er 1530 maßgeblich an der Formulierung des Augsburger Bekenntnisses (CA) sowie der Apologie (AC) beteiligt. Nach Luthers Tod haben sich Teile des Luthertums stärker auf Melanchthon bezogen, weshalb sie von den „Gnesiolutheranern“ abschätzig als „Philippisten“ bezeichnet wurden (s.o. Cryptocalvinisten). Die deutschsprachige Ausgabe der CA wurde im besonderen Maße Melanchthon zugeschrieben, vgl. dazu Baumgarten, Erleuterungen der im christlichen Concordienbuch enthaltenen symbolischen Schriften (1761), 47. Aus dieser Ausgabe zitiert Semler hier die Parallelstelle des eben gebotenen Zitats: „das nicht neue unchristliche lar bey uns geleret odder angenomen werden möcht“ (zitiert nach Confessio odder Bekantnus des Glaubens [1530], vgl. BSLK 134 ).

316
Jesuiten suchten [...] Freiheit, den Lutheranern, durch solche politische Schreckbilder [...] zu nemen

Ein Paradebeispiel hierfür bildet das als Gegenschrift zu Niccolò Machiavellis (1469–1527) Il Principe (1513) konzipierte Werk des spanischen Jesuiten Pedro de Ribadeneira (1527–1611) Tratado de la religion y virtudes que deue tener el principe christiano (1595). Das 27. Kap. trägt die Überschrift: „Que las heregias son causa de reuoluciones, y perdimientos de Estados“ (Wie Häresien Revolutionen und das Verderben von Staaten verursachen); für eine Aufzählung der tatsächlich oder vermeintlich von Protestanten verursachten Konflikte vgl. 184–187.

317
gar elende Beschaffenheit dieser schlecht compilirten Samlung, formula concordiae

Über Entstehungsgeschichte und Hauptaussagen der Konkordienformel äußert sich Semler ausführlich im Apparatus ad libros symbolicos Ecclesiae Lutheranae (1775), 252–432.

318
lutherische Theologen diese symbolischen Bücher dazu gemisbraucht haben, eine Art von päbstlichen Inquisitionsgericht damit wider einander in Gang zu bringen

Der Philosoph und Mathematiker Thomas Abbt (1738–1766) – ein Freund Moses Mendelssohns, zuletzt als Hofrat in der Grafschaft Schaumburg-Lippe tätig – veröffentlichte in seinem Todesjahr anonym eine schmale Satire, Erfreuliche Nachricht von einem hoffentlich bald zu errichtenden protestantischen Inquisitionsgerichte und dem inzwischen in Effigie zu haltenden erwünschten Evangelisch-Lutherischen Auto da Fe. Unter den für ein erstes Autodafé vorgesehenen Kandidaten zählt Abbt Semler auf (12.21), während der damals noch als orthodox geltende Bahrdt zu den die symbolischen Bücher schwingenden (17) Inquisitoren um die Hamburger Pastoren Christian Ziegra (1719–1778) und Goeze gerechnet wird (19f.23–26): „Hernach bittet der Hr. Magister [Bahrdt], daß die Akademie den Juden Moses zwingen solle, jährlich einen Beweiß für die Wahrheit der christlichen Religion anzuhören, der aber nicht so eingerichtet seyn solle, daß man mit der Vernunft darüber nachdenken könne, [...] sondern einen solchen (eben zur Demüthigung dieses stolzen Vernünftlers), der blos und allein für den Glauben und gar nicht für den Verstand“ sei (25).

319
weil niemand Gott ausschließen kann, wenn Menschen ihn suchen

Möglicherweise Anspielung auf Apg 17,26f.

320
es seie ihnen mehr gegeben worden als andern

Anspielung auf Mk 4,11f., vgl. auch Lk 12,48.

321
buchstäblich und proprie, oder aber logice, improprie

Vgl. 871.

322
klingende Schelle

Anspielung auf 1Kor 13,1.

323
Mystiker

Vgl. 296.

324
Theosophen

Unter gr. Θεοσοφία („Göttliche Weisheit“) wurden recht unterschiedliche mystische und naturphilosophische Ansätze zusammengefasst. Im späten 18. Jh. muss hier zunächst an Anhänger von Jacob Böhme (vgl. 187) gedacht werden, aber auch an andere Einflüsse wie Paracelsus. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 1067–1082.

325
König Friedrich lies auch dem Apitsch alle Privatreligion ungekränkt

Der Kaufmann Samuel Lobegott Apitzsch (?–1786) war ein Hauptprotagonist im Berliner Gesangbuchstreit. Nachdem 1780 unter der Federführung von Johann Samuel Diterich (1721–1797), Spalding (vgl. 707) und Teller (vgl. 545) ein neues Gesangbuch für Preußen erschienen war, das ganz im aufklärerischen Sinne viele Liedtexte glättete oder ältere Lieder strich, rührte sich dagegen Protest. Apitzsch zettelte eine Kontroverse an und forderte die Abschaffung des neuen Gesangbuchs. Friedrich II. lehnte diesen Wunsch ab, ließ ihn hingegen in einer Kabinettsresolution vom 18. Januar 1781 wissen, es stehe in Preußen allen frei zu singen, was sie wollten. Privatreligion meint hier also nicht ein Zuviel an Neuem, sondern gerade das Verharren in älteren Traditionen.

326
Haben wirklich die Naturalisten den Auftrag, Repräsentanten der ganzen Menschheit zu seyn?

Vgl. a22; s. schon b112f.

327
sequi antecedentem gregem, ire non qua eundum est, sed qua itur, war schon ein alter Tadel

Leicht abgewandeltes Zitat aus Senecas (vgl. 274) De vita beata, 1,3: „Nihil ergo magis praestandum est quam, ne pecorum ritu sequamur antecedentium gregem pergentes non, quo eundum est, sed, quo itur“ (Vor nichts sollten wir uns folglich mehr in Acht nehmen als davor, wie Schafe der Herde zu folgen, die vor uns dahinzieht, und nicht die Richtung einzuschlagen, in die man gehen müsste, sondern die, in die man geht [Übers. G. Fink]). Kant stellte das Zitat der Vorrede seiner Schrift Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746) als Motto voran.

328
warmer Christ

Die Einteilung in „warme“, d.h. eifrige, „lau(warm)e“ und „kalte“ Christen war gängig, sie entstammt ursprünglich Offb 3,16.

329
daß Christus der Grund der Seligkeit ist

Vgl. 1Kor 3,11.

330
Feuerländer, Kamschadalen

Die südamerikanischen Ureinwohner Feuerlands und die indigenen Bewohner (Itelmenen) der nordostasiatischen Halbinsel Kamtschatka galten Europäern des ausgehenden 18. Jh.s als ganz besonders „primitiv“. Der Naturforscher Johann Reinhold Forster (1729–1798), der zusammen mit seinem Sohn Georg (1754–1794) Captain James Cook (1728–1779) auf dessen zweiter Südseereise begleitet hatte, vermeinte in seinen Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung (1783; engl. 1778; Übers. G. Forster) „Dummheit“ und „Stumpfsinn“ in der „leeren Physiognomie“ der Feuerländer zu erkennen (513) und bescheinigte ihnen, weit unter allen anderen Südseevölkern, ja selbst unter den Grönländern zu stehen (257–259; 274). – Georg Wilhelm Steller (auch: Stöller) (1709–1746), Teilnehmer der zweiten Kamtschatkaexpedition unter Vitus Bering (1681–1741), begegnete den Itelmenen zwar mit größerer Sympathie und Einfühlungsvermögen als die Forsters den Feuerländern, stellte aber u.a. fest: „Es ist diese Nation dem Gemuthe [sic!] nach, so biegsam zum Guten als Bösen, und gleichen hierinn den Affen die ohne Untersuchung alles nachmachen, was sie vor Augen sehen. [...] [Sie richten] einig und allein alles dahin, ohne Sorgen allezeit fröhlich und völlig vergnügt in ihrer Dürftigkeit zu leben“ (Beschreibung von dem Lande Kamtschatka, postum hg. von J. B. Scherer, 1774, 285f.).

331
Es mag in Europa gar viel geheime Verbindungen geben

Vgl. 704 und 709.

332
Haben dort Schüler des Augustinus und Flacius [...] sich zu viel herausgenommen

Semler spielt auf die radikalen Sündenlehren des Kirchenvaters Augustinus und des Reformators Flacius an. Seit einer theologischen Kehrtwende im Jahre 396/397 behauptete Augustinus, dass die Menschheit als Konsequenz aus dem Fall Adams einen einzigen „Sünden“- oder „Sünderklumpen“ (massa peccati bzw. peccatorum) bilde, zu dem er selbst ungeborene Kinder rechnete (de. div. quaest. ad Simplicianum I,2, 16.19). Dabei berief er sich vor allem auf Röm 9,9–29 und 1Kor 15,22. Im nämlichen Geiste hatte Flacius die Sünde zu einem essentiellen Bestandteil der menschlichen Natur nach dem Fall erklärt. Vgl. 262 (Augustinus) und 610 (Flacius).

333
Erstgeborne und Eingeborne Sohn Gottes

Vgl. 266.

334
seine Erzeugung aus dem Wesen [...] Jahrhunderte lang streiten

Vgl. 372; 942 u.a.

335
schwärmerisch

Vgl. 207.

336
Feler [...], davon selbst Luther und Calvin nicht frei waren

Gemeint ist etwa Luthers harsche Verurteilung der Täufer und der Bauern als „Schwärmer“ und „Fanatiker“ sowie die durch Calvin veranlasste Hinrichtung Michel Servets.

337
sacramentliche Wirkung auf die Seele

Während Orthodoxe, Katholiken und Lutheraner (vgl. CA, Art. 13 [BSLK 68]) annehmen, dass Sakramenten eine Gnadenwirkung zukommt, verstehen Reformierte (vgl. Heidelberger Katechismus, Frage 66) und Sozinianer sie als bloß symbolhafte Handlungen.

338
Wirkungen in der körperlichen Welt von Reliquien, Bildern und geweiheten Sachen

In der orthodoxen und römisch-katholischen Volksfrömmigkeit wurde (und wird) Reliquien (Überresten von Heiligen), Heiligenbildern (Ikonen) und geweihten Dingen (Weihwasser, Weihekreuz etc.) bei Berührung oder ehrfurchtsvoller Huldigung eine wundersame Wirkung auf das körperliche Wohl und seelische Heil des Glaubenden zugeschrieben. Schon im Jahre 386 ließ der Kirchenvater Ambrosius Märtyrergräber öffnen, um die Gebeine an einen Altar zu überführen. Im Laufe der Kirchengeschichte kam es immer wieder zu Versuchen, besagte Art von Kult zu unterbinden (Ikonoklasmus, Bildersturm), u.a. im sog. byzantinischen Bilderstreit (8./9. Jh.) oder bei Abfassung der fränkischen Libri Carolini (794). Durchsetzen konnte sich schließlich die Ansicht, eine Verehrung (veneratio) von Bildern und Reliquien sei legitim, nicht jedoch die Anbetung (adoratio). Während der Reformation kam es an verschiedenen Orten (z.B. in Wittenberg und Münster) zum Bildersturm. Luther lehnte zwar den Reliquienkult und die Weihe von Gegenständen ab, wollte Bilder jedoch im Gegensatz zu Calvin (als vor allem pädagogisches Mittel) weiterhin gelten lassen.

339
in reiner Tugend gegen sich selbst

Die Rede von „Tugenden gegen sich selbst“ hat Semler von seinem Lehrer Siegmund Jacob Baumgarten übernommen; vgl. z.B. dessen postum erschienenen und von Semler mit einer Vorrede versehenen [A]usführliche[n] Vortrag der Theologischen Moral (1767), v.a. 1439–1460. Eine Tugend ist für Baumgarten die „Fertigkeit zur Leistung seiner Pflicht“ (1384), eine Tugend gegen sich selbst folglich die Fertigkeit zur Leistung einer Pflicht gegen sich selbst (1399). Zu letzterer Art von Tugend zählt Baumgarten u.a. rechtmäßige Selbstliebe, Demut, Mäßigkeit, Keuschheit, Vergnügsamkeit, Gelassenheit, Sparsamkeit, Fleiß, Selbstbewusstheit, Vernünftigkeit, Beständigkeit, Tapferkeit, Sorgfalt, Weisheit und Sinn für das Himmlische.

340
Nebenmenschen, über die Gott einerlei Sonne scheinen läßt

Anspielung auf Mt 5,45.

341
Jesus hat selbst dieses als das vornemste und gröste Gebot anempfolen, woran alles Gesez und alle Propheten bei den Juden gleichsam hängen

Anspielung auf Mt 22,34–40.

342
daß niemand Gott zu erkennen, zu lieben mit Grunde vorgeben kann, der seinen Bruder und Nebenmenschen nicht um des gemeinschaftlichen Gottes willen, liebet

Anspielung auf 1Joh 4,20.

343
aus den Ikkanien, oder allgemeinen jüdischen Religionsartikeln der jüdischen Nation

Es handelt sich hier offensichtlich um einen Satzfehler und müsste vielmehr „Ikkarim“ heißen. Gemeint ist das Sefer ha-Iqqarim („Buch der Grundlehren“, 1425) des spanischen Rabbiners Josef Albo (1365–1444), das Semler an mehreren Stellen seiner Schriften bemüht, vgl. etwa Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten (1779), 47. Albo hatte in der Tat den Juden den Glauben an einen künftigen Messias freigestellt, vgl. Sefer ha-Iqqarim I,1.

344
Einwoner von Palästina, die ihr Land für ein heilig Land ansahen

Der auf Pälastina bezogene Ausdruck „Heiliges Land“ findet sich in den kanonischen Schriften des Alten Testaments nur einmal: Sach 2,16 (vgl. aber 2Makk 1,7; Weish 12,3). Er tritt zurück gegenüber Palästina als dem „Land der Verheißung“ (z.B. Gen 13,15). Der Sache nach wird die Heiligkeit Israels in der rabbinischen Literatur aber zumeist unterstellt, vor allem im Hinblick auf den eschatologischen Vorzug, dort zu siedeln und begraben zu werden. Im Babylonischen Talmud heißt es etwa: „Wer vier Ellen im Land Israel geht, dem ist ein Platz in der Welt, die kommen wird, sicher“ (Ket. 111a).

345
Viele fanatische Juden [...], rechneten die Zeit aus, da der Christus kommen, und den heidnischen Antichrist überwinden würde, sie waren daher [...] geneigt zur Rebellion wider die Römer

Pälastina war seit dem Einmarsch des Feldherrn Pompeius (106–48) im Jahre 63 v. Chr. Teil der römischen Herrschaftssphäre. Rom übte zunächst über Vasallenkönige (am bedeutendsten: Herodes 73/37–4 v. Chr.) Kontrolle aus, von 6–66 n. Chr. fungierte Judäa mit einer kurzen Unterbrechung als römische Provinz. Trotz der römischen Toleranzpolitik (pax romana) kam es immer wieder zu Spannungen, die sich u.a. an der Steuerlast, dem jüdischen Bilderverbot (im Angesicht römischer Standarten, Münzen etc.), dem Versuch Kaiser Caligulas (12/37–41 n. Chr.), den Kaiserkult durchzusetzen, oder der Anwesenheit und dem mitunter provozierenden Verhalten der in Jerusalem stationierten römischen Garnison bzw. des dortigen Statthalters entzündeten. Zu großen, von messianischen Erwartungen befeuerten Aufständen kam es in den Jahren 66–70, 115–117, und 132–135 (Bar-Kochba-Aufstand). Die erste Erhebung mündete in den Jüdischen Krieg und führte zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Truppen des späteren Kaisers Titus (39/79–81). Nach dem letzten Aufstand wurden die jüdischen Einwohner Jerusalems vollständig enteignet und die Stadt paganisiert. – Die Idee eines Gegenmessias (Antichrist) taucht im Judentum erst ab dem zweiten vorchristlichen Jh. auf und auch dann nur andeutungsweise, vgl. v.a. Dan 7f. sowie die vermutlich auf die Zeit der genannten Aufstände zurückgehenden pseudoepigraphischen Texte 2Bar 39,5–40,3 (im 18. Jh. unbekannt) und Sib 2–5 .

346
daß sein Tod das größte Opfer für die Sünden aller Menschen seie

Vgl. z.B. Hebr 10,12.

347
daß die Gnade und Liebe Gottes sich auch auf die Heiden erstrecke

Vgl. z.B. Eph 3,6.

348
daß er kein neues Reich in Palästina anfangen wolle

Vgl. z.B. Joh 18,36.

349
daß eine Beschneidung – – nicht mehr nöthig seie, weil man nun eine ganz andre Beschneidung hatte kennen lernen

Anspielung auf Röm 2,29 und Kol 2,11; vgl. auch 1Kor 7,19.

350
den allerersten Artikel [...] (Gott, Christum, Geist Gottes [...]) [...] über alles zu lieben, und den Nächsten als sich selbst

Mt 22,34–40; Mk 12,28–31; Lk 10,25–28.

351
von ganzem Herzen, aus allen Kräften der Seele

Erneute Anspielung auf Mt 22,34–40.

352
So ist der pluralis im symbolo nicaeno πιστευομεν eine Erzählung der Bischöffe

Vgl. Semler, Apparatus ad libros symbolicos Ecclesiae Lutheranae (1775), 30.

353
Ausgehen des heiligen Geistes

Semler denkt an den sog. filioque-Streit: „Geht“ der Heilige Geist vom Vater „aus“, wie es im nicäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis von 381 heißt, oder von Vater und Sohn (lat. filioque)? In der Westkirche wurde der Zusatz seit dem 5. Jh. dem Bekenntnis häufig hinzugefügt, Anfang des 13. Jh.s wurde er schließlich dogmatisch fixiert, auch die Reformatoren behielten das filioque bei. Mit der Formulierung sollte vor allem der Anschein einer Unterordnung (Subordination) des Sohns unter den Vater vermieden werden (vgl. 129). Bis heute bildet der zugrundeliegende trinitätstheologische Dissens die wohl größte dogmatische Differenz zwischen Katholizismus und Ostkirche.

354
den sogenannten Pelagianern

Vgl. 350; s. auch 127.

355
Albigensern, Waldensern, Hussiten

Alle drei Gruppen gehören zur traditionellen Häresiologie: Im südfranzösischen Albi lebten im späten 12. Jh. sog. „Katharer“, die im Albigenserkreuzzug (1209–1249) nahezu ausgerottet wurden. Unter Katharern werden Christen verstanden, die in einer Art Gegenkirche eine private Devotion der „Reinen“ (gr. καθαροί) anstrebten. – Die Waldenser um den wohlhabenden Petrus Valdes aus Lyon verpflichteten sich 1180 zunächst innerhalb der mittelalterlichen Kirche zu Armut und einer Lebensweise gemäß der Evangelischen Räte, was viele Anhänger fand und langfristig zu einer Distanzierung von kirchlichen Strukturen führte. – Der Prager Priester Johannes Hus (1370–1415) nahm bestehende Reformimpulse auf, die sich im Streit um die Kelchkommunion entluden. Die Bewegung fand auch nach Hus’ Verurteilung und Hinrichtung auf dem Konstanzer Konzil vor allem in Böhmen zahlreiche Anhänger.

356
der Christ darf Gott durch Christum selbst erkennen

Anspielung auf Joh 14,7–9.

357
unterminirlich

Die sehr seltene Vokabel hat nichts mit „unterminieren“ zu tun, sondern leitet sich vom lateinischen „interminabilis“ (unbegrenzt, unendlich) ab.

358
in Sachsen, in der Schweiz

Sachsen steht hier wieder einmal pars pro toto für das Luthertum, die Schweiz für das Reformiertentum.

359
Sie müssen umgekehrt allen alles werden

Anspielung auf 1Kor 9,22.

360
Brüderschaften

Bruderschaften (lat. fraternitates) waren freiwillige Personenvereinigungen, die in erster Linie religiöse und karitative Aufgaben verfolgten. Neben berufsspezifischen Bruderschaften im Kontext von Zünften und Gilden gab es vor allem religiöse Bruderschaften, die stark von der spätmittelalterlichen Laienbewegung des langen 15. Jh.s geprägt waren. Sie bildeten spezifische Formen der Devotion und verbanden gesellige, soziale und religiöse Zwecke, etwa in der Kranken- und Armenpflege und beim Totengedenken. Einerseits nahmen sie somit teils Formen und Funktion späterer Konventikel vorweg, andererseits verloren sie im Protestantismus an Bedeutung, so dass Semler sie hier als Auswuchs der vorreformatorischen Kirche brandmarken kann.

361
Gott, Christus, der Geist Gottes wonet moralisch in den Christen, nicht im Tempel zu Jerusalem

Anspielung auf 1Kor 3,16, vgl. auch Joh 4, 20–24.

362
im todten alten Buchstaben

Vgl. 2Kor 3,6 und 898.

363
Betrügereien einer sogenanten Priester- und Pfaffenreligion

Vgl. 842.

364
Unkraut und Waizen wächset mit einander

Anspielung auf Mt 13,24–30.

365
σωμα und πνευμα

D.i. Körper und Geist.

366
aus dem bürgerlichen Stande einen Stand der Natur schaffen

Vgl. 855.

367
an moralischen kosmopolitischen Projekten

Vgl. 855.

368
politischen Kirchenstaat

Gemeint ist jede Form von Theokratie, in der – wie auch im päpstlichen Kirchenstaat, der damals weite Teile Mittelitaliens umfasste – der Monarch sowohl weltliches als auch geistliches Oberhaupt ist.

369
wie sie auch ihr eigen Kirchenrecht nur als eine menschliche Ordnung gelten lassen

Semler bezieht sich darauf, dass die römisch-katholische Kirche im Unterschied zu den protestantischen ein göttliches Recht (ius divinum) annimmt, das die grundsätzliche Funktion und hierarchische Ordnung der Kirche vorschreibt. Anders als das menschengemachte bloße Kirchenrecht (ius mere ecclesiasticum) kann ein Gesetz, das auf den Willen Gottes zurückgeht, nicht aufgehoben, modifiziert oder ausgesetzt werden. Unterschieden wird häufig zwischen einem positiven göttlichen Recht (ius divinum positivum), das aus der Offenbarung entspringt, und dem natürlichen göttlichen Recht (ius divinum naturale; s. 821), das mit Mitteln der Vernunft anhand der Schöpfungsordnung erkannt werden kann. Welche Rechtsinhalte genau göttlicher – und damit unabänderlicher – Natur sind, war und ist umstritten. Zumindest die Unterscheidung von Laien und Klerikern wird aber allgemein auf göttliche Weisung zurückgeführt; auch das Primat des Papstes gilt als Ergebnis eines von Christus selbst an Petrus und seine Nachfolger ergangenen Auftrags. Zur Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Recht vgl. die einleitenden Passagen des Decretum Gratiani (ca. 1140), das Teil des zu Semlers Zeit einschlägigen Corpus Iuris Canonici war; vgl. ferner im heutigen Codex Iuris Canonici (1983) Can. 24 § 1; außerdem Can. 207 § 1 (Priester/Laien) und Can. 331 (Primat des Papstes).

370
Alle Protestanten haben aber schon lange den wahren Begrif Kirche, wozu freilich kein Pabst, [...] gehört, unterschieden

Vgl. dazu Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation (1520), WA 6, 404–469; 407: „Dem nach szo werden wir allesampt durch die tauff zu priestern geweyhet.“ Die Confessio Augustana, Art. 7, spricht von der christlichen Kirche als einer „versamlung aller gleubigen, bey welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sacrament laut des Evangelii gereicht werden“ (BSLK 61).

371
wie immer fort alle verständigen Regenten und Zeitgenossen curiam und ecclesiam romanam unterschieden haben

Semler denkt vor allem an die Gravamina nationis Germaniae, Beschwerden gegen Papst und Kurie, die von den Reichsständen u.a. auf dem Reichstag zu Augsburg 1518 vorgebracht wurden und sich der im Text genannten Unterscheidung bedienten. Luther knüpfte daran in seinem 1. Galaterkommentar (1519) an: „Quare et ego horum Theologorum laycorum exemplo pulcherrimo longissime, latissime, profundissime distinguo inter Rhomanam ecclesiam et Rhomanam Curiam.“ (WA 2, 448).

372
desto mehr giebt man ferner dem Kaiser was seine ist

Anspielung auf Mt 22,21; Mk 12,17; Lk 20,25.

373
das Reich Christi doch nicht von dieser Welt

Anspielung auf Joh 18,36.

374
Michael Molinos, über die freie Seelenruhe der wahren Christen

Der spanische Jesuitenzögling und Priester Miguel de Molinos (1628–1696) gilt als Zentralfigur des Quietismus, dessen großer Einfluss bis hin zum römischen Papsthof reichte. In seinem Hauptwerk Guía espiritual (dt. „Seelenführer“) lehrte er eine von der Mystik beeinflusste Seelenruhe. Molinos’ Geringachtung äußerlicher Frömmigkeitspraktiken weckte den Argwohn der Jesuiten, was zu einem Inquisitionsverfahren gegen ihn und einer lebenslangen Klosterhaft führte. Besonders in pietistischen Kreisen wurden Molinos’ Schriften sehr geschätzt. So brachte August Hermann Francke die lateinische Fassung Manuductio Spiritualis (1687) heraus sowie Gottfried Arnold die deutsche Fassung Der Geistliche Wegweiser (11699).

375
Weder ein Recht der Menschheit noch der Natur [...] so wenig als alle Künste und Wissenschaften, Früchte des Standes der Natur waren

Zum Begriff des Naturzustandes vgl. 855. Semlers folgende Bemerkungen lassen sich als ein Kommentar zu Rousseaus viel diskutiertem Discours sur les sciences et les arts (1750; dt. 1752) verstehen. Semler stimmt mit Rousseau überein, dass Künste und Wissenschaften ein Ergebnis der menschlichen Vergesellschaftung sind, betrachtet ihre Hervorbringung aber anders als der französische Philosoph durchweg als „Vorzug“. Während Rousseau beklagt, dass das Leben in der modernen Zivilisation die Menschen unglücklich mache und der Aufstieg der Künste und Wissenschaften sie moralisch korrumpiere („Bei einem Menschen fragt man nicht mehr, ob er rechtschaffen ist, sondern ob er Talent hat“; Rousseau, Schriften zur Kulturkritik [1995; Übers. K. Weigand], 47), spricht Semler umgekehrt von „neue[n] moralische[n] Fertigkeiten“, die uns eine „cultivirte[.] Natur“ eröffnet habe (f369).

376
Darum leben wir eben in einer geselschaftlichen Verbindung, um nicht durch einzelne Menschen täglich überwältiget und beunruhiget zu werden

Vgl. Hobbes’ berühmte Charakterisierung des vorgesellschaftlichen Naturzustands (Leviathan [1651], Kap. 13) als einer Zeit, „während der die Menschen keine andere Sicherheit als diejenige haben, die ihnen ihre eigene Stärke und Erfindungskraft bietet. In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann [...]. [E]s herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (Übers. W. Euchner). Vgl. auch erneut 855.

377
das fruchtbare lehrreiche Buch, das Martini in Helmstädt [...] unter dem Titel: Vernunftspiegel, drucken lassen

Der Philosoph und Theologe Jakob Martini (1570–1649) war ab 1602 Professor der Logik und Metaphysik in Wittenberg, ab 1613 der Ethik und ab 1623 Professor der Theologie. Sein Vernunfftspiegel. Das ist gründlicher vnnd vnwidertreiblicher Bericht was die Vernunnft [...] sey [...] vnd fürnemlich was für einen gebrauch sie habe in Religions-Sachen (1618) gilt als eines der ersten philosophischen Werke in deutscher Sprache und macht sich zur Aufgabe, Philosophie und Luthertum zu vereinen. Anders als es Semler angibt, erschien dieses Werk nicht in Helmstedt, sondern in Wittenberg, so auch richtig in Semlers Lebensbeschreibung II (1782), 25. Womöglich verwechselt Semler den Verfasser hier mit dem namensgleichen Helmstedter Theologen Cornelius Martini (1568–1621), der ebenfalls in den durch den philosophiekritischen Theologen Daniel Hofmann (1538–1611) ausgelösten Streit um die aristotelisch geprägte Metaphysik verwickelt war.

378
weil Critiker, Spötter, Zweifler ihre Menschenrechte hiemit auszuüben vermeinen

Anspielung auf a16.24. Vgl. auch b21.26.63.119.

379
sich auf Vielwissen etwas einzubilden

Der Topos der (bloßen) Vielwisserei findet sich schon bei Heraklit (6./5. Jh. v. Chr.): „Viel zu wissen, lehrt nicht Verstand“ (DK B40). Während der Renaissance und im Barock galt die Polymathie (πολυμαθής; „vielgelehrt“) gleichwohl als Erkenntnisideal, dem nicht nur Universalgenies wie Leonardo oder Leibniz folgten. – Die Neologen betonen zwar in der Regel den Wert der Gelehrsamkeit, aber doch nur insofern, als es sich bei ihr nicht um leeren Selbstzweck handelt, sondern um ein Mittel, der Welt nützlich zu sein. Vgl. exemplarisch Spalding, Bey der Jubelfeyer des Berlinischen Gymnasiums [1774], in: Neue Predigten. Zweyter Band (1784, SpKA II/3), 32–51; v.a. 43f. und Nösselt, Anweisung zur Bildung angehender Theologen (11786, BdN VI), 29–34.

380
Erleuchtung, ein neues Licht, ein heller Schein

Anspielung auf 2Kor 4,6.

381
sie solten selbst prüfen, δοκιμαζειν

Anspielung auf 1Thess 5,21: „Prüfet [gr. δοκιμάζετε] aber alles und das Gute behaltet.“

382
nachdenken, λογιζεσθαι

Vgl. 2Kor 10,7.11: „Bedenke [gr. λογιζέσθω]“ usw.

383
immer selbst wachsen in der Gnade und Erkentnis Christi

Anspielung auf 2Petr 3,18.

384
aus dem Stande der Kindheit fortzurücken, und ein vollkommener Mann zu werden

Anspielung auf Hebr 5,13f.

385
nicht aller Acker gab denselben Saamen dreißig, sechszig, hundertfältig wieder

Anspielung auf Mt 13,23 und Mk 4,20.

386
Protestanten sezen das jus circa sacra publica oder multis communia, ausdrüklich über den ganzen Lehrstand

Vgl. 425.

387
Ein jeder lern und thu sein Lection, So wird es wohl in jedem Hause stohn!

Semler zitiert den von ihm leicht abgewandelten Schlussreim der „Haustafel“, die Luthers Kleine[m] Katechismus (1529) angehängt wurde: „Ein jeder lern sein Lection./ So wird es wol im Hause ston“ (BSLK 527).

388
statt ἑνσαρκος lies: ἑνσπαρτος

Vgl. 986.

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TextGrid Repository (2022). BdN I - Bahrdt/Semler, Glaubensbekenntnisse (1779-1792). Bahrdt/Semler, Glaubensbekenntnisse, 1779-1792 (BdN I). Neologie. Pietsch, Andreas. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000E-8B2C-5