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Sie haben, Verehrtester, seit mehreren Jahren durch Ihre schätzbare Hefte, zur erwünschten Mittheilung an die Theilnehmer eines gemeinsamen würdigen Bestrebens, den löblichen Gebrauch eingeführt, das Einzelne, wie es sich darbietet, ohne Bezug auf ein Ganzes und Geschlossenes, erscheinen zu lassen, - ein Bild des Lebens der Sache, ja man könnte sagen, - das Leben selbst. Der Gedanke, aus dem das Einzelne hervorgeht, der es zu einem Ganzen verknüpft, es zu einem Ganzen leitet, ist ausgesprochen, ist bekannt, die Absicht keiner Misdeutung unterworfen. So haben diese formlosen Erscheinungen, äußerlich kaum durch einen Titelumschlag zusammengehalten, in der Zeit mehr[264]gewirkt, als größere ausgeführte Werke später wirken würden; sie wirkten im günstigen Augenblick, nachhaltig und darum unwiderstehlich.

Indem ich mich dieser Wirkung Ihres Verfahrens dankbar erfreue, und mir eben beifällt, dasselbe mit der zweckmäßigen Kriegführung zu vergleichen, die uns in jenen unruhigen Jahren bekannt genug geworden ist, vermöge welcher, wenn einmal der Feldzug begonnen ist, alle hinter der Armee von weit her nachziehenden Truppentheile, ohne Unterschied, und oft im buntesten Gemenge in sogenannte Marschbataillone zusammengestellt, der Armee nachgesendet werden, damit alle Stockung vermieden, die Kräfte jeden Augenblick in Thätigkeit gesetzt und zum Ziele geleitet werden, - so überfällt mich der unabweisliche Vorwurf mit doppelter Gewalt, dieses schöne Beispiel für die briefliche Mittheilung nicht längst befolgt und demnach weder etwas Ganzes noch Halbes geleistet zu haben. So soll denn wenigstens dieser Brief, als ein wahres Marschbataillon, sich sogleich in Bewegung setzen; er bringe, was eben vorkommt!

Vor allem die Nachricht, daß Dr. Purkinje aus Prag seit 14 Tagen hier ist, und auf mein Zureden, nach seinem großen Wunsche, mit Ihnen in nähere Berührung zu kommen, binnen kurzem über Weimar nach Prag zurückreisen wird. Seine Bekanntschaft wird Ihnen sehr interessant sein; ich habe vieles von ihm gelernt, er manches von mir; für anderes gemeinsames Fortwirken ist der Plan besprochen worden. Ich bin getröstet, in ihm einen jüngeren, dem Fache ganz gewidmeten und gewachsenen Mann zu finden, der meine Erfahrungen über das Sehen zu benutzen und weiter zu führen im Stande ist; er soll alles haben, was ich gesammelt habe und was mir weiterhin vorkommen wird. Zum Ausarbeiten sehe ich auf lange Zeit hin keine Möglichkeit vor mir. - Über die Verschweigung Ihres Namens[265]in seiner Schrift wird P. sich zu Ihrer ganzen Zufriedenheit rechtfertigen. Daß Sie einen Auszug derselben in Ihrem Hefte bekannt machen wollen, war ihm sehr erfreulich, und das von S. nachgestochene Blättchen konnte er nur loben.

Ihren Auftrag an H. Min. v. A. habe ich nur schriftlich ausrichten können, jedoch sorgfältig nichts versäumt, was ich Ihnen schuldig war. Da H. v. A. kurz darauf über Thüringen hinaus gereist ist, so muß ich hoffen, daß derselbe Ihnen unmittelbar seinen Dank werde abgestattet haben.

Da Sie gütigst danach fragen, so melde, daß ich Ihre vier Hefte zur Naturwissenschaft und zur Morphologie vollständig, zum Theil sogar doppelt, besitze, zwar nicht durchaus von demselben Papier; doch wünsche ich, sie nicht umbinden zu lassen, sondern zu behalten, wie sie sind, als ein Zeichen Ihrer Güte und erlebten frohesten Genusses.

Von Andreani's Triumphzug des Cäsar fehlen mir die im Peintre graveur, XII, pag. 101 u. 102, unter no. 1 u. 7 aufgeführten beiden Blätter. Könnten Sie gelegentlich mir solche zuwenden, so geschähe mir ein großer Dienst.

Dagegen habe ich Gelegenheit gehabt, die im Peintre graveur, XIII, pag. 235 u. 236 , unter no. 12 u. 13 aufgeführten beiden Blätter von Mantegna zu erwerben, welche mir ein großes Vergnügen machen. Man sieht daraus, daß Andreani nach einer abgeänderten Zeichnung gearbeitet hat; aber der Stil und Geschmack in diesen Blättern des Mantegna ist so verschieden von Andreani's Arbeit, daß man sich kaum darein finden kann. Ich schätze sie höchlich; besonders anmuthig ist das Blatt no. 12. Man entdeckt die lieblichsten Motive, die Andreani nicht kennt. Wie mag es sich nun mit den Gemälden verhalten? stimmen diese mit Andreani überein, oder mit Mantegna's Blättern? Sollten[266]Ihnen diese letzteren unbekannt sein, so übersende ich sie schleunigst.

E. Schubarth härmt sich immerfort, daß Sie auf seine Fragen um Auskunft über Ihre dichterischen Intentionen nicht antworten. Ich suche ihn abermals, wie schon sonst, zu verständigen, daß er Unmögliches fordere. Er wünscht nun, daß Sie ihm dies wenigstens sagen mögen, um von einem misverstandenen Bestreben ablassen zu können. Auch habe ich ihm aus einem früheren Briefe an mich erst nochmals versichern müssen, daß Sie mit seinem Unternehmen, Homer aus der kritischen Zerstückelung zu retten, wohl zufrieden sind; er klagt, von Ihnen kein Zeichen erhalten zu haben, an dem er sich in diesen Zweifeln hätte aufrichten können.

Wollen Sie mir von Ihren Doubletten gütigst mitttheilen, so bitte wo möglich mir zuvor ein kleines Verzeichniß blos in Bezug auf Band und Nummer des Peintre graveur oder des Huber und Rost zukommen zu lassen. Meine Sammlung hat sich sehr vermehrt; seit Jahr und Tag habe ich die schätzbarsten Sachen erhalten, deren Genuß mich über so manche Noth und Entbehrung hinweghebt. Nächstens übersende ich ein Verzeichniß des Trefflichsten mit dem Erbieten, Ihnen mitzutheilen, was Sie wünsche möchten.

Hierbei erhalten Sie Kuhbeil's (Professor an unserer Akademie der Künste) 12 Ansichten von Rom und dessen Gegend, wie sie mir eben der Autor bringt. Diesen Mann und seine Bemühungen empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit; er ist mir unter unseren älteren Akademikern lieb geworden, nachdem ich aus seinen Sachen, die er im Stillen betreibt, ersehen, wie ein guter Genius ihn bei seinem Aufenthalte in Italien geleitet hat. Kunstgerecht ist er nicht, aber Talent und Geist sind ihm nicht abzusprechen. Finden[267]Sie diese Blättchen angethan, ihrer in Ihrem nächsten

zu erwähnen, so sollte es mich zu seiner Ermunterung erfreuen. Von demselben Meister sind seit 1812

, von ihm selbst radirt und verlegt, erschienen, jedoch bisher fast gar nicht bekannt geworden. Wenn Sie dieselben noch nicht kennen, so überschicke ich sie in der Hoffnung, daß solche Ihrer Beachtung werth befunden werden; ich beurtheile ihn als einen schätzbaren Dilettanten.

Henning ist durch Ihre persönliche Ermunterung sehr ermuthigt worden; seine Bekanntschaft mit Purkinje wird hoffentlich nicht unfruchtbar bleiben.

An Ihrem Geburtstage waren gute Freunde bei mir draußen in Buchholz; der Doctor Förster brachte das beikommende Lied mit, welches, von der schönen Stimme seiner schönen Frau gesungen, mit einem Chorus wohl aufgenommen und begleitet wurde. Es verleugnet seine Zeit und seinen Ursprung nicht. Im Stillen wurde an diesem Tage ein Vorhaben besprochen, - was aber noch kein Kleid hat und kann daher diesmal nicht mitmarschiren.

Theoli hat unsere treffliche Paula Gonzaga wegen zu großer Bedrängniß von seiten der Commission des Museums noch nicht weiterbringen können, er verspricht aber nunmehr, dazuzuthun; ich werde ihm nicht Ruhe lassen.

Aus meinem Besuche zu Weimar hat diesmal nichts werden können; Rauch ist in Dresden gewesen, habe ihn aber seit mehreren Monathen nicht anders als einmal im Vorbeigehen gesehen. Sie stellen sich nicht vor, wie wir hier leben.

Das Beste ist, daß seit einem Jahre meine Gesundheit sich stets gleich gehalten hat, und der milde Winter, der uns abermal zutheil wird, befestigt sie.

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Schubarth war inzwischen da und brachte zur Einsicht 6 Bogen Manuscript: "Haß und Liebe vorm Verhör sive Dialogus de causis corruptae eloquentiae post Tacitum in Germania vulgivagae"1, ein Ausbruch von Laune und Witz gegen die sich wider Sie erhebenden schlechten Tendenzen der Zeit. Schon früher hatte er etwas der Art verfaßt, welches aber zu bitter war, um gute Wirkung zu thun. Diesmal hatte er Namen zu nennen vermieden, und sich nicht ohne Glück in Humor versetzt; doch fallen seine Hiebe noch zu schwach, als daß man nicht nochmals erwägen sollte, ob so schlechtes Volk eines so ernsthaften Kampfes werth ist? S. wollte zwar nicht, daß ich Ihnen davon Nachricht geben sollte, bevor ich es approbirt hätte; warum sollte ich aber anstehen, Ihnen sein löbliches Bemühen anzuzeigen? Es sind vortreffliche Sachen darin; doch ist auch wol einiges darin zu ändern und auszufeilen.

Von der Kunstausstellung, die eben geschlossen ist, wäre ein Langes und Breites zu melden. Meyer kennt die ermüdend lange Reihe schmaler, halbdunkler Säle in dem neuen Gebäude, die alle, außer zweien, welche dem Einsturz drohen, geöffnet und mit Gegenständen, sowie mit Menschen überfüllt waren. An den Sonntagen sind allemal gegen 3000 Billete ausgegeben worden. Sie lesen ja die hiesigen Zeitungen oder lassen sie lesen und wissen daraus schon genug. Der Kopf der Prinzessin Wilhelm in Schadow's großem Gemälde ist an Naturwahrheit das non plus ultra dieser Tendenz; alle Welt war davon entzückt; gern hätte man das non plus ultra der Kunst darin gefunden; doch kündigte sich im Stillen die Ahnung an, daß das Ziel der Kunst anderswo liege. Da man nun auf diesem Wege nicht weiter kommen kann, ohne befriedigt zu sein, wohin wird sich das Streben wenden?

Die herzlichsten Anwünschungen an die vortrefflichen Damen, liebsten Kinder und Freunde Ihres beseligenden Hauses! Ewig verbunden
  der Ihrige
Schultz
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Einer unserer Kunsthändler, Gasparo Weiß, ist vor kurzem von Italien zurückgekommen und hat sehr schätzbare Kunstwerke, hauptsächlich an Gemälden und Kupferstichen, mitgebracht. Als vormaliger Commissionär Solly's hat er gute Kenntnisse erworben und daher verstanden, solche Sachen auszusuchen, wie man sie hier zu sehen nur wünschen konnte. Die Schätze in ältern Kupferstichen, sowol italienischer als deutscher Schule, hat er mehrentheils in der Schweiz billig zusammengekauft; in Italien, besonders in Rom, sind die Preise dieser Dinge übermäßig.

Schenck aus Braunschweig oder vielmehr sein Compagnon Gerstenberger, ein feiner Kenner der Kupferstiche, hat sich hier seit acht Monaten etablirt. Er hat sehr schöne Sachen, wie wir sie früher hier nicht sahen; aber seine Preise sind schon aufs höchste gesteigert und da muß man sich hüten, zu ihm zu gehen, um nicht in Schaden zu kommen.

Notes
1
Schubarths Schrift ist nicht erschienen. Vgl. dazu Thomas Wolf, Pustkuchen und Goethe, Tübingen 1999, S. 287.
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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2023). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 6. u. 8. November 1822. C. L. F. Schultz an Goethe. Z_1822-11-06_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-C548-2