[59r]

Auch Ihr Schreiben1, mein Werthester, vom 19
März war mir sehr angenehm; aber ver-
zeihen Sie, wenn ich nur theilweise antworte,
ich bewege mich gegenwärtig in weit entfern-
ten Regionen. Eilig und vor allen Dingen
sei daher gesagt, daß ich die Ordnung Ihres
experimental-didaktischen Vortrages höchlich
billige; Sie können von jedem Geradsinnigen
verlangen, das Aeußere, Gegenständliche
zu sehen, nicht aber in sein Inneres zurück-
zublicken und sich selbst zum Objekt zu ma-
chen.

Fangen Sie bei den Physischen Farben1 an, so liegt
die Hauptlehre von der Trübe alsobald zum
Grunde und sie haben den schönsten Fort-
schritt der Ableitung, bis Sie zum chemischen
gelangen und auch dieses durchführen. Lassen
Sie dann das Subjektive folgen, so kön-
nen Sie den Schülern überraschend sagen:
Was ihr bisher außer euch gesehen, geht
auch in euch vor. Wirkung und Gegen-
wirkung, die ihr überall bemerktet, er-
eignen sich gleichfalls im Auge und zwar
ganz folgerecht nach denselben Gesetzen.
Hiezu kann ich von den schönsten unmit-
telbarsten Bezügen Kenntniß geben.

Mit Ihrer Darstellung der Farbensäu-
me, des durch das Prisma gehenden Bil-
des einer Ladenöffnung bin ich nicht ganz
einig. Ich will die Figur durchstechen und
das eigentliche Verhältniß aufzeichnen lassen;
[59v]wenn Sie sich in diesen Dingen genau an
meine Tafeln halten, so können Sie nicht
fehlen.

Die entoptische für Sie bestimmte Ma-
schine ist fertig; sie sei zu Ihrer Anstalt
gestiftet. Leider geht noch der entoptische,
aus Glasplatten zusammengesetzte Kubus
ab, wegen welchen ich mich nunmehro an
den Chemiker gewendet habe; lassen
Sie ja Ihren Künstler sich hierin wohl
üben. Einen soliden Kubus mit entopti-
schen Eigenschaften finden Sie blos
zufällig und müssen daher alle die Ih-
nen zur Hand kommen, zwischen den
bekannten Spiegeln probiren und einen,
der die Probe besteht, willkommen hei-
ßen. Da indessen der aus Glas-
platten zusammengesetzte eben die Dien-
ste thut, ja sogar noch andere Vortheile
bietet, so thut der Künstler wohl, flei-
ßig zu versuchen, den Glasplatten durch
Glühen und schnelles Abkühlen die ge-
wünschte Eigenschaft mitzutheilen.

Meinen Aufsatz über entoptische Far-
ben im dritten Heft der Naturwissen-
schaft
empfehle zu getreuem Studium;
er ist höchst sorgfältig geschrieben, und
wenn Sie die Phänomene mit Gewand-
heit vortragen, so wird es gewiß
eines der interessantesten Kapitel
physischer Farbenabtheilung.

[60r]

Mit den kunstreich getrübten Trinkgläsern
ist es mir vergangenen Sommer in Böhmen
nicht geglückt; unter einem Dutzend sind
blos zwei einzige, die das Phänomen voll-
kommen darstellen, bei den andern scheint
sich der Schmelz schon zum Gelben speci-
ficirt zu haben; die doppelsinnige Trübe
ist verschwunden, wie es ja auch bei
chemischen Infusionen geschieht, und Sie je-
den Tag mit Roß-Kastanienrinde in
Wasser versuchen können.

Für heute nicht mehr! Verzeihung! meine
gegenwärtigen Arbeiten liegen gar zu weit
ab von diesem Felde. Schreiben Sie je-
doch nur öfters und fragen beliebig an;
ich werde dadurch wenigstens zu flüchtiger
Erwiederung angeregt; ich habe mir ein
Aktenstückchen von Ihren Briefen und
meinen Antworten gemacht, so daß ich
wohl nachkommen kann.

treulichst
:| JW. Goethe |:
[60v]

Noch muß ich bemerken, daß man zu den
Glasplättchen, denen man die entoptische
Fähigkeit mittheilen will, das reinste
Glas muß zu erhalten suchen, das nur
aus Kieselerde und Kali besteht, be-
sonders hat man sich vor allem Glase
zu hüten, bei welchem sich irgend ein
bleyischer Antheil eingeschlichen.

Farben]

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2023). Goethe, Johann Wolfgang von. 23. März 1822. Goethe an von Henning (Abschrift). Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-C303-1