Fräulein Salome Hunzikers Teekanne.

Wenn ein junger Mann in die Stadt zu wohnen kam, und ein günstiges Geschick lenkte seine Schritte ins Haus „Zum roten Schneck“, so konnten Mutter und Schwestern frohen Herzens an ihn denken, und keiner der Vorfahren brauchte sich seinetwegen im Grabe umzudrehen. Der junge Mann war geborgen. Er war sozusagen im Paradies.

Das Haus „Zum roten Schneck“ liegt am Fluß. Nur durch eine schmale, mit Bäumen bestandene Straße ist es von dem breiten Wasser getrennt, das seine gewaltigen Wogen schiebt und drängt durch sonnenfrohe und regenschwere Tage, durch mondlichttrunkene und finsterbrütende Nächte – unermüdlich, unermüdlich.

Jenseits baut sich hoch und frohgemut die größere und ansehnlichere Stadthälfte auf, mit breiten Patrizierhäussern, deren Gärten in Terrassen niedersteigen, mit schlanken und mit wuchtigen Kirchtürmen, mit einer Reihe alter, schmaler Häuser, deren Dächer keine gerade Linie, sondern ein munteres Durcheinander von Auf und Ab bilden.

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Das Haus „Zum roten Schneck“ ist wie diese hoch und nur stubenbreit gebaut. Drei Stockwerke türmen sich übereinander; mit seinem obersten Fenster kann es über die grünen Baumwipfel hinwegschauen. Der Nachbar zur Linken ist von derselben Größe, aber nur ein unanssehnlicher Bau von schwärzlicher Farbe, ohne Namen und Zierat.

Wie ganz anders schaut dagegen der Nachbar zur Rechten drein, der sein Dach noch ein gut Stück über das des roten Schnecks emporhebt. Seine freie Seitenwand, der entlang das Reverenzgäßlein läuft, ist mit einem alten Bild des genannten Gäßleins geschmückt und tut in schnörkeligen Buchstaben kund, daß dieses in vergangenen Jahrhunderten des öftern seinen Namen gewechselt. Aus einem Hagengeßlin war es zum Schüßgeßlin, später zum Goldgeßlin geworden.

Die dem Strom zugekehrte Seite des Hauses trägt über dem Fenster des Erdgeschosses die Aufschrift „Zum kleinen Sündenfall“. Dicht darunter stecét ein verwittertes, kleines Relief, auf dem die Gesstalt Evas und ein Baumgerippe unschwer zu erkennen sind, Adam dagegen und einige Tier- und Pflanzengruppen lassen sich nur noch ahnen.

Das Haus des kleinen Sündenfalls ist von schöner, blaßgrüner Farbe, das Haus des roten [9]Schnecks nur von graulichem Weiß; doch hebt sich davon gar prächtig die riesige rote Schnecke ab, die sachte zwischen den Fenstern des ersten und zweiten Stockwerks durchschleicht.

Wer statt des Weges am Fluß die hinter der Häuserreihe liegende alte Gasse wählt, kommt ebenfalls am roten Schneck und kleinen Sündenfall vorbei. Freilich, die Fenster, die nach der Gasse schauen, spiegeln keine Lindenblätter und blaue Wasserflut wieder. Sie schauen nicht ins Sonnengold, bis sie selbst anfangen zu leuchten, daß die Häuser jenseits des Stromes kaum wagen herüberzuschauen. Aber sie hat auch ihr Gutes, die alte Gasse.

Sie weiß Geschichten, geheimnisdunkle, oft schwer von Blut und Tränen, denn durch diese Gasse, vom Rathaus her, kamen sie einst geschritten, die man vor die Stadt hinausführte, um sie aus dem Leben, das vor den Mauern in tausend Farben lockte und jauchzte, in das ungewisse Dunkel zu stoßen.

Es mochte einem wohl ein Grausen das Herz erfüllen, wenn die Gasse diese alten Geschichten murmelte. Denn es waren nicht nur rohe und hartgesottene Sünder, die den Weg zur Richtstätte gingen, es schritt ihn manch kecer und feiner Knab’, den das rasche Blut in schlimme Händel verstrickt, es schritt ihn manch todblasses schönes Mägdlein, das verstört in die [10]gaffenden Gesichter blickte, die nur Abscheu vor der verdammten Hexe ausdrüctkten.

Aber die alte Gasse weiß auch Schönes. Sie weiß, daß sie in einer stillen Nachtstunde von hasstigen und gedämpften Schritten widerklang. O die braven, die prächtig furchtlosen Herzen, die es wagten, das feine Hexlein aus dem Kerker zu befreien und auf bereitgehaltenem Nacken in Sicherheit zu bringen! „Der Teufel hat sie geholt!“ hieß es am andern Morgen, und diese Kunde ward am eifrigsten und nachdrücklichsten von etlichen Jungmännerstimmen wiederholt.

Und die Gasse weiß auch, daß einmal das Wunderbare geschehen, daß sich ein vornehm Töchterlein, dem die rotbraunen Zöpfe lang aufs dunkelblaue Samtkleid fielen, durch die Menge drängte, die den kleinen Trupp Verurteilter an sich vorüberziehen ließ, mit gleichgültigen und mürrischen, mit selbstgerechten und abweisenden Gesichtern. Es blitzte ein Etwas in ihrer Hand — zerschnitten die Stricke, die die Hände des zulett Schreitenden zusammengehalten. Und ihre feine Hand ergreift die seine, und mit heller Stimme spricht sie es aus vor allem Volt, daß sie den Armen und Geächteten wähle zu ihrem ehelichen Gemahl und ihn damit nach uraltem Recht der Schande und dem Tod entreiße . . .

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Frau Birmann, die Besitzerin des kleinen Sündenfalls, sprach es wieder und wieder aus, daß es sich durchaus nicht lohne, alten Geschichten nachzudenken. „Es ist gerade schwer genug, mit dem jetzigen verrückten Leben zurechtzukommen, man muß nicht auch noch das tote aufwecken wollen. Und überhaupt, bewahr’ mich der Himmel vor einer Erscheinung aus der andern Wett! Ich weiß ja zwar bestimmt, daß es keine Geister gibt. Aber wenn einmal einer zu mir kommt ich glaube, der Schlag rührt mich! Und das tät’ mich nun wirklich ärgern, so vor der Zeit wegzussterben.“

Frau Birmann kniff die Lippen ein, denn sie war bei ihrem Strickmuster an eine schwierige Stelle gekommen, und so entging es ihr, daß ihre Freundin und Nachbarin, das zarte, schlankgebaute Fräulein Hunziker, sie mit einem mutwilligen kleinen Lächeln betrachtete. Frau Birmann sah drein, als habe sie das „verrückte Leben“ nicht allzu sehr mitgenommen. Das runde Gesicht erinnerte in seinen kräftigen Farben und in seiner glatten Wohlgepflegtheit an einen Apfel jener herbsüßen Sorte, die sich bis tief in den Winter hinein frisch zu erhalten pflegt. Niemand, der sie da am Fensterplatz thronen sah, hätte der stattlichen Erscheinung mit der tiefsschwarzen Haarkrone angesehen, daß sie die Mitte der fünfzig schon überschritten habe, oder [12]hätte gedacht, daß die Freundin ein ganzes Jahrzehnt jünger sei. Fräulein Hunzikers Gesicht war blaß und hatte einen sanften kleinen Sorgenzug; aber wenn ihr etwas das Herz erwärmte, ging in den grauen Augen ein helles Leuchten auf. Doch am schönsten war ihr Lachen.... In dieses Lachen hatte sich ihre Jugend gerettet.

Frau Birmanns zusammengekniffene Lippen taten sich auseinander, die Strickerei erforderte keine allzu große Aufmerksamkeit mehr. ,Hast du dich nun wirklich entschlossen, diesen Herrn aufzunehmen, Salome?“ fragte sie in strengem Ton.

Fräulein Hunziker errötete, als sie zaghaft erwiderte: „Ich konnte nicht anders, Pauline. Platz ist ja da, und wenn es schon einmal drei sind, macht ein vierter nicht viel mehr Mühe. Das Anneli ist es auch ganz zufrieden. Ich will ihm dann ein wenig aufbesssern.“

„Ein Wunder, daß du nicht ein zweites Mädchen einstellst und auch noch die Wohnzimmer in Herrenzimmer verwandelst! Laß dir's sagen, Salome, du ruinierst dich finanziell und richtest deine Gesundheit zugrunde. Und was hast du eigentlich davon? Von deiner ganzen Gutmütigkeit? — Wie schön und ruhig könntest du's haben! Gerade wie ich. Statt dessen lädst du dir diese Last und Sorge auf.“

Fräulein Salome erwiderte nichts. Es war [13]diese Sache ein oft erörtertes Thema zwischen den Freundinnen, und sie hatte es allmählich aufgegeben, Frau Pauline die Gründe für ihr Handeln klar zu machen. So beugte sie sich nur tiefer über ihre Näharbeit, um den forschenden Blicken Frau Birmanns zu entgehen. Auch diese schwieg, aber um so erregter arbeiteten ihre Gedanken. O diese Salome! Wie war es nur möglich, sich für fremde junge Männer verantwortlich zu fühlen, sie vor schlechten Wegen bewahren zu wollen! . . . Das wäre eine schöne Geschichte, wenn man sich auch noch für Hie Sünden der andern schuldig fühlen müßte. Sehe jeder, wie er's treibe! Und + einmal würde sich diese bodenlose Gutmütigkeit schon rächen. Zwar bis jetzt war die gute Salome mit ihren Logisherren ~ eigentlich wurde einem schon übel beim bloßen Klang des Wortes, und die Salome sagte drum auch immer „meine Buben“ — Â ja, eigentlich war sie bis jetzt immer gut gefahren. Vor vier Jahren hatte ssie die verrückte Idee gefaßt, weil so eine ängstliche Frau Mama sie gefragt, ob sie ein passsendes Logis für ihren Sohn wüßte. Da war in Salomes Kopf, oder besser Herzen, der Gedanke aufgetaucht, daß der rote Schneck wohl das passendste Lcgis für den jungen Herrn sei. Und mit unglaublicher Hartnäckigkeit hatte sie den Gedanken in die Tat umgesetzt, und bald hatte man [14]im Haus zum roten Schneck neben Fräulein Salomes leichten Schritten und Annelis überstürztem Laufen einen festen männlichen Schritt gehört, dazu Pfeifen und Geigenspiel und gelegentlich ein bärenmäßiges Lachen . . . Und zum ersten hatte sich ein zweiter gesellt und ein dritter . . . Und nun Follte gar noch ein vierter kommen, ein Ausländer, bei dem die Anfrage, was für eine Geborene die Mutter sei, nicht eine gemeinsame Base im vierten Glied oder eine einstige Pensionsfreundin zutage fördern würde. Die andern alle, die zurzeit im Hause waren, der Theologe Braun, der Buchhändler Klaiber und der Bankangesstellte Dreher, sie waren wackre Schweizerbürger, sie sandten ihre Wäsche nach Hause, und es kam etwa ein Familienglied nach ihnen sehen. Dieser Neue aber –~ was wußte man von ihm? Nichts, rein nichts. – Die Salome, das gute Huhn, hatte sich da sicher eine schöne Suppe eingebroct . . . Nur gut, daß sie, Pauline Birmann, noch da ist zum Mitauslöffeln. Denn im Stich läßt sie die Salome ja nicht. Ach, und irotz ihrer verrückten Ideen ist sie ihr eben von Herzen lieb . . . Hat sie nicht vorher ein wenig hart mit ihr gesprochen? „Wann kommt er denn, Meeli?“ fragte Frau Birmann mit so zarter Stimme, daß Fräulein Salome freudig erstaunt aufschaute.

„Uebermorgen, Pauline. Er kriegt das untere [15]Zimmer, das hinten hinaus liegt. Es ist ja ein wenig dunkel, aber er sagt, das sei ihm einerlei. Die Ruhe sei ihm das Wichtigste, und daher sei ihm dies Zimmer lieber als eines der andern.“

„Da wird er aber aufhorchen, wenn ein Wagen mit Fässern übers Pflaster rumpeltl!“ frohlocte Frau Birmann. „Uebrigens, daß er nicht an die Helle will, Salome, das scheint mir kein gutes Zeichen. Im Dunkeln ist gut munkeln, denk’ an mich.“

„Aber Pauline, wer wird denn auch gleich an etwas Böses denken! Ich muß froh sein, daß der gute Bursche so genügsam ist. Ich könnte mir ja allerdings meinen vergnügten Frieder nicht gut da hinten denken. Der gehört in das Sonnenstüblein . . . Aber für einen Muiiker paßt doch das heimelige Zimmerchen ganz vorzüglich. Wenn man in dem großen Lehnstuhl sittt und das Bild von der Ursula anguckt, da müssen einem ja die schönsten Melodien einfallen. Und, Pauline, ich bin sicher, daß er ein guter Mensch ist. Er hat sso klare Augen.“

Fräulein Salomes Gesicht leuchtete. Sie hatte die Näharbeit sinken lassen und die Hände ums Knie geschlungen.

Frau Birmann schaute sie an. „Du bist unbezahlbar, Meeli! Ich sehe, der Musiker sitzt dir schon tief im Herzen. Aber eines rate ich [16]dir: das kostbare Bild ließe ich nicht im Zimmer.“

„Pauline!“ sagte Fräulein Salome. Ihre sanften Augen sahen wahrhaft entrüstet drein.

„Sei nicht böse, Meeli, ich mein’s ja nur gut mit dir. Und wenn es dir weh tut, will ich auch kein Wort mehr gegen den Monsieur sagen. Wie heißt er eigentlich?“

Es war nicht schwer, Fräulein Salome zu versöhnen. Mit Eifer und nicht ohne Stolz entgegnete sie: „Einen schönen Namen hat er, Pauline, einen nordischen. Er heißt Olaf Larsen.“

„Hm, so, schön“, brummte Frau Birmann. „Sonderbar, Olaf! Will mir gar nicht passen.“

„Der arme Larsen,“ lachte Fräulein Salome, „ich glaube, er paßt dir halt überhaupt nicht. Aber sieh ihn nur einmal erst. Wir machen übermorgen abend eine kleine Begrüßungsfeier. Wir haben kein Kolleg, wir haben alle frei —- ich meine, die Buben haben alle frei.“

„Wer gemeint ist, weiß ich schon, Salome. Aber es wäre doch gut, wenn du dir das „Wir“- Sagen der zärtlichen Mutter abgewöhnen könntest. Wir gehen ins Kolleg, w i r haben heute Versandtag, wi r müssen Zinseintragungen machen, das lasse ich mir noch einigermaßen gefallen. Aber wenn man sagt: wir lassen uns einen Bart wachsen –

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„Aber Pauline, das habe ich nie –

„Jawohl hast du's gesagt! Heute früh, als der Braun auf der Treppe an uns vorbeiging, sagte ich: wie sieht denn der Mensch drein, so verwahrlost und verkommen! Da sagtest du mit deiner allermitfühlendsten Stimme: das geht bald vorüber. Wir lassen uns eben einen Bart wachsen . . . So, nun mußt du dich selbst auslachen, Meeli. Und das tut einem immer gut.“

Frau Birmann legte den Arm um die verlegen dreinschauende Fräulein Salome. „Gib dem Brummbär einen Kuß! Und übermorgen abend komme ich natürlich. Du wolltest mich doch vorhin einladen?“

„Ja, freilich, das wollte ich. Um sieben, Pauline! Aber wir sehen uns ja noch vorher.“

„Gewiß! Und wenn ich etwas helfen kann, oder wenn du die Sara brauchst, so sag's nur. Die weiß ja ohnedies nicht, was mit ihrer Zeit anfangen, und erstickt demnächst im Speck. Sie soll dir kochen, dann hast du das Anneli frei fürs Servieren und mußt nicht selber Fuchs und Has sein.“

„Dank für alles, Pauline, du bist so eine Gute“, sagte Fräulein Salome. Sie stand oben an der Treppe, das Lämpchen in der Hand, und wartete, bis sich die Haustüre hinter der Freundin geschlossen hatte.

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Um halb sechs Uhr machte sich Fräulein Salome daran, mit Annelis Hilfe die Tafel zu rüsten. Das feine, von der Großmutter geerbte Service, das weniger abgenutzte Silber und die chinesischen Tassen, die so durchsichtig zart waren wie köstliche Wunderblumen, wurden hervorgeholt, auch die silberne Teekanne, Salome Hunzikers größter Schatz. Es knüpfte sich eine kleine Liebesgeschichte an diese Teekanne, die Fräulein Salome dem andächtig lauschenden Anneli bei jedem Hervorholen zu erzählen pflegte. Nicht eine von Fräulein Salomes eigenen Liebesgeschichten. Bewahre, diese zu besprechen, wäre ihr nicht taktvoll erschienen. Nein, es ging ihre Urgroßmutter an, die schöne Ursula. Diese hatte einsc in ihrer Jugend an einem Badeort die Bekanntschaft eines englischen Lords gemacht. Die beiden fröhlichen jungen Menschen fanden Gefallen aneinander, trotz des Entsetzens der beidersseitigen Elternpaare. Da machte der alte Lord der Liebesherrlichkeit ein rasches Ende. Er schicte den Jungen auf eine seiner indischen Kaffeeplantagen, drohte ihm mit Enterbung, falls er einen Briefwechsel unterhalte, und so mußte die schöne Ursula ihr gebrochenes Herzchen so gut es ging zusammenflicken, was ihr auch ganz prächtig gelang. Sie ward eine glückliche Frau und zog fünf stramme Buben und eine Tochter groß. Am Tage, da [19]sie eben dem Jüngsten die blaßblauen Schleifen ins Taufkleid knüpfte, wurde ihr eine kleine, an ihre Adresse gerichtete Kiste ins Zimmer gebracht. Die Handschrift war ihr unbekannt, und wer sollte ihr etwas aus England schicken? Da kam ihr plöglich eine Erinnerung. Sollte? . . . Ach nein, das war unmöglich, völlig ausgeschlossen!

Aber als die Urgroßmutter am Abend vorher hatte sie keine Zeit gefunden ~ die Kiste öffnete, da war das Unmögliche doch wahr. Der einstmals Geliebte war in der Stadt gewesen, hatte Frau Ursula gesehen und erkannt, hatte von ihrem Familienglück erfahren und bat sie nun „kor old sake’s sake“ den beiliegenden bescheidenen Gruß aus Indien mit Wohlwollen aufzunehmen. Es scälte sich dann aus vielen weichen Hüllen eine silberne Teekanne, die auf den ersten Blick das Land ihres Ursprungs verriet. Ein kunstvoll gearbeiteter Elefantenkopf mit gebogenem Rüssel bildete den Griff, ein zweiter mit hochaufgerichtetem diente zum Ausguß. Auf dem flachen Detkel saß ein kleiner Götze, und rings um die Kanne lief ein breites Relief: zwischen Palmen und niederem Gesträuch schlich ein Leopard, trabte ein Elefant, duckte sich ein Tiger zum Sprung, auch das possierliche Stachelschwein und der Tapir fehlten nicht.

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Wieder und wieder drehte Frau Ursula das Kunstwerk in ihren Händen. Ihre Wangen brannten, halb in der Erinnerung an alte Zeiten, halb um der Nectkereien ihres Mannes willen. Dann schrieb sie einen anmutig-höflichen Dankesbrief und legte die Silhouette ihrer Tochter bei, da diese in dem Schreiben des Lords ausdrücklich erwähnt worden. In ihren Händen wünsche er später einmal die Teekanne zu wissen, und wenn der Himmel es füge, daß sie Mutter einer Tochter werde, möge diese die nächste Empfängerin sein. „Und so ist denn die Teekanne endlich auf mich gekommen, Anneli“, schloß Fräulein Salome. „Aber jetzt,“ sie seufzte ein wenig, fuhr dann aber gleich mit heiterer Stimme weiter, „jetzt kriegt sie eben einmal das Esthi. Es wird sich auch freuen und Sorge tragen zu dem alten Stück . . . Du kannst noch das Brot aufschneiden, Anneli.“

Fräulein Salome überschaute die Tafel mit zufrieden prüfendem Blick. Sie sah wirklich festlich drein mit den tiefroten und weißen Astern und den zarten grünen Ranken. Die Hängelampe übergoß alles mit ihrem durch den rotseidenen Umhang weichgedämpften Licht.

Fräulein Salome setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, auf eine zwischen den Fenstern stehende Truhe. Pauline Birmann hatte sie schon oft um dieser Neigung willen ausgelacht. „Du [21]bist unbezahlbar, Meeli! Jeder, der hereinkommt, ist hingerissen von dem Blick aus dem Fenster. Du drehst dem allem den Rücken und schaust deine alte Stube an.“

Aber Fräulein Salome liebte eben die alte Stube. Ihr war immer, als hätten all die Menschen, die hier aus und ein gegangen, einen Hauch ihres Lebens zurückgelasssen, etwas von dem, was ihr eigenstes Wesen ausgemacht. Nie war diese Stube kalt und leer und fremd, nie überkam Fräulein Salome ein Gefühl des Alleinseins, wenn sie auf ihrer Truhe saß und die Augen auf den Möbeln und Bildern ruhen ließ. Ueber dem Kanapee hingen zwei alte Porträts, die aus dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts stammten. Das eine war die „Wiegenbraut“, wie man sie genannt haite, im sechsten Lebensjahre, das andere ihr Gemaÿl, dem sie in ihrem vierzehnten Jahr angetraut worden. Er war einer der Gäste an ihrem Tauffest gewesen, denn ihr Vater hatte ein Wohlgefallen gefunden an dem tüchtigen und strebsamen jungen Mann und hatte ihn in sein Haus gezogen. Und schon damals, am Tauffest, versprach er ihm die kleinwinzige Hand seiner Tochter Salome. Daher der Name „Wiegenbraut“.

Die kleine Salome wuchs auf wie andere Kinder, spielend und lachend, aber sie wußte immer, daß der hochgewachsene Mann, der von Zeit [22]zu Zeit im Hause erschien, einmal ihr Gatte sein würde. Wenn er sich dem Hause näherte, und die alte Vrene erspähte ihn durchs Fenster, so rief sie dem Kinde zu: „Meeli, leg' die Puppe weg, der Herr Hochzeiter kommt.“

So kam es, daß die kleine Salome nie das Träumen lernte. Andere hatten ihr Schicksal gezimmert und vor sie hingelegt: da nimm. Wonach hätte sie sich sehnen, wovon träumen sollen? Nur das Unbekannte, das Ferne, weckt die Träume. Sie aber war die Wiegenbraut und kannte ihren Hochzeiter, seit sie Vater und Mutter kannte. Daher ist auch das Bild der kleinen Salome kein Kinderbild. Diese schlanke junge Dame mit dem hochgetürmten Lockenhaar eine Sechsjährige? Sie trägt ein ausgeschnittenes Kleid aus rosa Seide und breite Spizen um Hals und Arme. Sie hat eine hohe Stirne und gerade Nase, einen energischen kleinen Mund und schmale, klugblickende Augen. Nur die Rundung der Wangen und die Hände, kurzfingrig und breit, verraten das Kind. Auf den ersten Blick wirkt das Bild fremd und kühl. Aber beim näheren und innigeren Beschauen ist es, als erwache auf dem Antlitz der jungen Salome ein feiner und seltsamer Zauber. Ist es nicht, als füllten sich die dunkeln Augen mit Leben, als husche um den frühreifen Mund ein fröhlich Kinderlachen? .. . Hast du ihn wohl lieb gehabt, [23]kleine Salome, den würdevollen Herrn an deiner Seite, mit dem schönen dicken Tellerkragen und der weißbepuderten Perücke? Er ist eine Respekisperson, und er weiß es auch. Das sagen die kühlen, gescheiten Augen, und noch deutlicher der selbstbewußte Mund, der gar geistvolle, aber auch spitze Dinge zu sagen weiß . . . Du scheinst ihn gut gepflegt zu haben, deinen Eheherrn, kleine Salome. Das Kinn mit dem Grübchen drin hat sich verdonpelt, und die Gessichtsfarbe ist bräunlich und schön, wie es von König David heißt . . . Und du scheinst das Leben lieb gehabt zu haben, du junge Salome, denn du wurdest ja so alt, daß du sagen konntest: „Tochter, sag’ deiner Tochter, ihrer Tochter Kind schreie!“ . . . Ja, und nun sitzt die Urenkelin jenes Kindes in deiner Stube, wieder eine Salome. – ~

Im Hausflur ertönte Frau Birmanns Stimme, und Fräulein Hunziker schrak zusammen und stand eilig und mit schuldbewußtem Gesicht von ihrer Truhe auf. Gut, daß Pauline keine Gedanken lesen konnte! Sonst hätte sie wohl wieder gesagt: „Bei welcher Ahnfrau bist du zu Gaste gewesen, Meeli? Ich wette, bei der allerältesten, die die verrückte Heirat gemacht, denn du siehst drein, als kämesst du aus der tiefsten Tiefe gestiegen.“

Noch ehe Fräulein Salome die Türe öffnen konnte, ward sie von außen aufgestoßen mit [24]einem dienstfertigen „Sie gestatten“. Frau Pauline segelte ins Zimmer mit einem unaussprechlichen Ausdruck im geröteten Antlitz, hinter ihr erschien eine mittelgroße Jünglingsgestalt. Das weißblonde Haar, die zarte Gessichtsfarbe und die seltsam leuchtenden Augen vom hellsten Blau taten so deutlich seine Abstammung kund, daß Frau Birmann gar keine Vorsstellung abwartete, sondern gleich knapp und kühl hervorstieß: „Wie gefällt es Ihnen bei uns, Herr Larsen? Für Sie sind wir wohl der reinste Süden?“

Herr Larsen lächelte mit so wunderschönen, gesunden Zähnen, daß ihm Frau Birmann wider Willen auf den Mund sehen mußte. „Das doch nicht, gnädige Frau! Ich –“

„Birmann ist mein Name ~ Frau Pauline Birmann.“

Herr Larsen verbeugte sich, während Fräulein Salome ein Lächeln zu verbergen suchte. In diesem Augenblick klopfte es, und auf ihr Herein kamen all die Buben, frisch und wohlgebürstet, und mit Gesichtern, die es deutlich aussprachen: wir wissen, daß wir einen schönen Abend vor uns haben.

Fräulein Salomes Augen strahlten. Es klang ihr feines Lachen, und mit einem Mal schien sie diesen Jungen verwandt und schwesterlich nah.

Herr Larsen ward vorgestellt und begrüßt, dann nahm man unter lauten Bewunderungsrufen [25]die angewiesenen Plätze ein. „Gnädiges Fräulein Haben das wunderschön gemacht!“ lächelte Herr Larsen und neigte sich zu seiner Nachbarin. Fräulein Salome hatte ihn vorssorglich in ihre Nähe genommen, möglichst entfernt von der ihr am andern Ende gegenüberssitenden Freundin. Aber Pauline Birmann hatte gute Ohren. „Fräulein Hunziker! Fräulein Salome Hunziker!“ rief sie streng über den Tisch herüber, und Herr Larsen verneigte sich abermals in ihrer Richtung mit höflich zustimmender Miene. „Hampelmann, mir imponierst du nicht mit deiner Gnädigen und mit deinen Bücklingen! Im Gegenteil!“ dachte Frau Birmann. Ihre schwarzen Augen schossen grimmige Blitze, aber sie prallten alle ab an dem Schild höflicher Gleichmütigkeit, den ihr Herr Larsen entgegenhielt. So wandte sich Frau Pauline ihrem Nachbar, dem Theologen Braun, zu, für den nicht nur Fräulein Salome, sondern auch sie selbst eine kleine Schwäche hatte. Freilich, zugegeben hätte sie das nie, so wenig als sie sich je zu einem zärtlichen Ausdruck, wie sie Fräulein Salome so gerne entschlüpften, hinreißen ließ. „Darf ich Ihnen den Salat geben, Frau Birmann?“ fragte Frieder Braun diensteifrig. „Jawohl dürfen Sie das. Und nun erzählen Sie mir einmal, wie es Ihnen im Examen ergangen ist,“

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Während Frieder Braun mit sichtlichem Vergnügen das Betragen seiner Examinatoren und ihrer Opfer schilderte und mit hellem Auflachen die Zwischenbemerkungen seiner Nachbarin quittierte, entspann sich am andern Ende des Tisches ein lebhaftes Gespräch zwischen Herrn Larsen und seinem Gegenüber, dem Buchhändler Klaiber. Fräulein Salomes Anteilnahme galt weniger dem Thema, das die beiden bearbeiteten, als den Sprechenden sselbst. Ob Brahms, ob Schubert oder Schumann oder gar einer der ganz Neuen der König aller Liederkomponisten sei, focht sie im Grunde wenig an. Sie war ihnen allen gleichermaßen dankbar, daß sie gelebt und ihre schönen Weisen geschrieben Hatten. Aber das eifernde Hervorheben des einen zu Ungunsten des andern war ihr fremd und berührte sie meist peinlich. Hier nun nicht. Im Gegenteil. Es freute sie, daß der etwas blassierte und über alles den Stab brechende Klaiber so warm und lebendig für seinen Liebling Brahms eintrat. „Er hat doch Herz, der Bub,“ dachte Fräulein Salome zufriedenen Sinnes, als Klaiber auf die Zigeunerlieder zu sprechen kam. Enthielten sie nicht alles, einfach alles, was ein Menschenherz bedrängt und beseligt? Leichtsinn und Schwermut, Sehnsucht und jubelnden Besitz, und vor allem eine ganz klare, eine ganz innige Liebe, deren leise Stimme wie durch Tränen spricht.

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Fräulein Salomes Augen fingen an zu leuchten. Wie mußte diese Begeisterung Herrn Larsens Herz erwärmen! Aber seine Augen, die an glänzende Bachkiesel gemahnten, zeigten nichts von Wärme und Ergriffenheit. Sie blickten nur höfliche Zustimmung, und dann fügte die wollklingende Stimme in ihrem fremdartig-hübschen Deutsch ein paar Sätze hinzu, die Fräulein Salome erstaunt aufhorchen ließen. Trug er sie nicht vor wie etwas Auswendiggelerntes, wie etwas, das ihn im Grunde nichts anging? Und in demselben gleichmütigen Ton glitt er auf Schumann über und begann von seinen Liebesliedern zu reden. Und wieder war es Fräulein Salome, als hätte sie diese Sätze schon einmal gelesen oder vortragen gehört . . . schöne Sätze, fein charakterisierende Sätße. Und doch, und doch — die oft unvollendeten oder ineinandergeschachtelten des jungen Klaiber hatten ihr tausendmal schöner geklungen, denn sie waren lebendig, sie waren —~ aufrichtig gewesen. Das war es. Aus diesem Wort wuchs der feine Nebel auf, der sich zwischen sie und den neuen Hausgenossen drängen und ihr das helle Gesicht verdunkeln wollte.

Aber Fräulein Salome wehrte sich. Sie hatte dem jungen Menschen ihr Haus und Herz aufgetan. Sollte ein ungewisses Etwas, ein Nichts, dem sie gar keine Worte hätte geben können, [28]ihn daraus vertreiben? Nein, nein, das Unbehagen, das sie jezt empfand, würde sich bei näherem Kennenlernen verlieren, und der Fremdling würde ihr ebenso nahe kommen wie ihre Schweizerbuben.

Das Anneli trat jetzt an Fräulein Salome heran und tat flüsternde Fragen. Sie gab ihm ebenso leise Beschein. Als sie sich wieder zu ihren Gästen kehrte, merkte sie, daß das Gespräch in ein ganz anderes Fahrwassser geraten war. Herr Larsen hatte sich an seinen Nachbar, den bis dahin beinahe stummen Bankangestellten Dreher, gewandt: sie sprachen von alten und merkwürdigen Bauten der Stadt. Herr Larsen äußerte sich anerkennend über die Pflege, die anscheinend den Häusern vergangener Jahrhunderte zuteil werde. Immerhin gebe es Ausnahmen – er lächelte ein wenig boshaft ~ wie z. B. das Nachbarhaus, dessen Bildnis kauri mehr zu erkennen sei.

Frau Pauline Birmann besaß die wunderbare Fähigkeit, zwei Gesprächen folgen und dabei noch eigene Beobachtungen machen zu können. „Was fehlt Ihnen denn an dem Bild?“ fragte sie plötzlich und schaute Herrn Larsen an wie eine richtende Königin.

„Nun, Adams Gestalt vor allem. Eva ist ja einigermaßen erkenntlich, auch der Baum und die Schlange, aber –“

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Dann haben Sie ja alles, was in der Geschichte eine Rolle spielt. Mehr braucht's nicht. Denn Sie werden doch nicht behaupten wollen, der Adam habe eine Rolle gespielt. Das heißt, er spielt eine, aber was für eine traurige! Tut keinen Mucks, außer wie's ans Ausreden geht: da läuft plötzlich das Mundwerk und beschuldigt gar noch den Herrgott. Aber vorher ~ steht wie ein Oelgöte und beißt in den Apfel, den ihm die Eva hinsstreckt. Uebrigens eine feine Geschichte, Herr Larsen, die sich durch all die tausend Iahre immer wieder erzählt hat. Ich will ja nun gewiß nicht behaupten, die Eva spiele eine rühmliche Rolle darin. Aber lieber als die des Adam ist sie mir schon. Wenn ich dran denk’, wie er nichts tut, nichts spricht, sondern nur dasieht und in den Apfel beißt!“

„Nun, das war dann doch eine Handlung!“ lachte Frieder Brauns fröhliche Stimme. Herr Larsen aber sagte: „Ich sehe mit Vergnügen, daß – gnädige – ah pardon! Frau Birmann! ~ daß Sie eine so freie Stellung zur Bibel einnehmen. Ich muß gestehen, daß ich so viel Aufklärung nicht erwartet hätte.“

„Aufklärung!“ sagte Frau Birmann und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. „Aufklärung!“ wiederholte sie langsam, und nun waren aller Augen auf ihr strenges, stolzes Gesicht gerichtet. „Ich will Sie gern einmal aufklären, mein [30]Herr. Weil ich mir die Freiheit nehme, über eine alte Geschichte in der Bibel meine eigenen Gedanken zu haben, meinen Sie, ich hätte sie überhaupt als etwas Ausgebrauchtes und Ueberlebtes abgetan. Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Larsen: können Sie mir ein Buch bringen, das Klareres und Tieferes über des Menschen Natur sagt als die Bibel? Oder ein Buch, das einen bessern Weg weiß für eben dieses Menschen strauchelnde Füße? Wissen Sie mir einen Führer, der höher steht als der, von dem die alten Evangelisten erzäßlen? – Solange ich nichts Besseres habe, halte ich mich an dieses Bibelbuch.“

Zum erstenmal war der gewandte Herr Larsen unsicher. Er beugte sich stumm über seinen Teller. Fräulein Salome aber lächelte die Freundin zustimmend an, und Frieder Braun sagte: „Frau Birmann, Sie müssen mir einmal in meinem Amt beistehen|“

Frau Pauline legte ihre Hand auf seinen Arm. Schelmisch blitzten ihre schwarzen Augen: „Herr Braun, es heißt, das Weib schweige in der Gemeinde.“

Ein paar Wochen später saßen die Freundinnen wieder zusammen in Fräulein Hunzikers Stube. Man schrieb den ersten Dezember, und [31]beide Frauen waren mit Weihnachtsarbeiten beschäftigt. Fräulein Salome häkelte eine dunkelrote Krawatte. Frau Pauline strickte an einem mächtigen wollenen Schal.

„Ich sag’ dir, Salome, das Ding ruiniert mich nochh Mein halbes Vermögen muß ich hineinstricken. Aber bis es um die Postur der Sara reicht! Für wen machst du die Krawatte?“

„Für Larsen.“

„Hm. Da hätte eine grellrote bessser gepaßt! Denn, Salome, der Kerl ist sicher ein verkappter Sozi. Ach, Meeli, ich wollt’ ja nichts mehr gegen den Monsieur sagen, weil ich's dir versprochen hab’. Aber nun kann ich's nicht mehr aushalten ~ ich trau’ dem Kerl halt nicht! Der geht irgendwie auf krummen Wegen.“

Frau Pauline hatte Abwehr und entrüsteten Widerspruch erwartet. Aber Fräulein Salome ließ die Arbeit sinken und sagte mit bekümmerter Miene: „Pauline, mir geht's ganz gleich.“

„Dir! Na, da muß er's schön getrieben haben! Aber erzähl’, Meeli, erzähl’! Ist er frech gewesen, oder hat er mit dem Anneli schön getan, oder was sonst ?“

Fräulein Salome seufzte. „Nein, nein, frech ist er nicht. Im Gegenteil, er ist ja so höflich, daß es mir beinahe zu viel wird. Und gegen das Anneli beträgt er sich durchaus korrekt. Aber, Pauline! — er arbeitet nicht, wenigstens [32]nicht das, was er sollte. Er hatte mir doch gesagt, er werde im Konservatorium Klavier- und Orgelstunden nehmen, mit all dem Drum und Dran von Theorie und dergleichen. Und nun habe ich erfahren, daß er keine einzige Stunde hat, und das Klavier, das ich ihm extra ins Zimmer stellen ließ, rührt er kaum an. Und dabei erzählt er mir von seinen Lehrern und Mitschülern, von seinen Studien und Fortschritten ~ — ich weiß nicht, wo hinschauen, so muß ich mich schämen.“

„Na, und hast du's ihm denn nicht ins Gesicht gesagt, er sei ein Lügner, ein Halunke ?“

„Aber, ich bitt’ dich, Pauline! Das kann ich doch nicht. Wenn ich das sage, muß ich ihn auch wegschicken. Und – und –

„Selbstverständlich mußt du ihn wegschicken! Schon um der andern willen, Salome. Wie kannst du dich nur besinnen!“

„Ich dachte,“ sagte Fräulein Salome leise, und eine feine Röte stieg in ihr blasses Gesicht, „ich dachte, es tue ihm vielleicht gut, wenn er hier ist und sieht, wie die andern Buben so fleißig und brav und vergnügt sind und auf ordentlichen Wegen gehen. Vielleicht käme er zur Einsicht, und dann käme die Sache doch noch zu einem guten Ende.“

Beinahe freudig klangen die letzten Worte. Aber Frau Pauline ließ sich nicht beeinflussen. [33]„Ach, Meeli, der hat schon viele arbeitsfrohe und ordentliche Menschen gesehen, die ihm hätten ein Beispiel sein können. Ich sag’ dir: schick den Kerl weg, je eher, desto besser. Hat er dir schon einmal Miete bezahlt?“

„Nein,“ gestand Fräulein Hunziker beschämt. „Er bat um Entschuldigung, die Geldsendung von zuhause sei unerklärlicherweise ausgeblieben.“

„Wer's glaubt!“ Höhnte Frau Birmann und rollte ihren Riesenschal zusammen. „Also morgen wird Fräulein Hunziker dem Monsieur Olaf Larsen kündigen. Verssprich mir's, Meeli! Ich werde sonst ernstlich böse. Du kannst es ja schriftlich tun, wenn es dir so schwer fällt.“

Am nächsten Abend legte Fräulein Salome auf Olaf Larsens Tisch ein längliches weißes Kuvert. Darin stectte ein Brief, der in den denkbar zartesten Worten Herrn Larsen bat, das Haus zum roten Schneck zu verlassen.

Fräulein Salomes Hand zitterte, als sie den Brief auf den Tisch legte. „Ich hätte es doch nicht tun sollen, vielleicht wäre ihm zu helfen gewesen“, murmelte sie leise. Lange saß sie auf ihrem Truhenplatz und sann über das Wie ihrer Hilfe nach. Aber sie mußte sich beschämt gestehen, daß sie ja nie das Wort gefunden, das diesen aalglatten Nordländer gefaßt und festgehalten hätte.

Herr Olaf Larsen bekam Fräulein Hunzikers [34]Brief nicht zu Gesicht. Er kehrte an jenem Abend nicht nach Hause zurück. Statt seiner erschien am andern Morgen ein freundlicher Herr, der sich mit einem Notizbuch neben Fräulein Salome setzte und sie angelegentlich über ihren interessanten Pflegling ausfragte. „Hat er bei Ihnen nichts gestohlen?“ fragte der freundliche Herr zum Schluß.

„Nein, nein“, wehrte Fräulein Salome ab. „Im Gegenteil, er hat ja alle seine Toilettensachen, auch Schuhe und Kleider, dagelassen.“

„Na, es hat eben mit der Abreise geeilt,“ meinte der freundliche Herr, „und was er mitgenommen hat, wiegt die paar Habhseligkeiten auf. Ein durchtriebener Kerl das!“

Als der freundliche Herr das Haus verlassen, schlich sich Fräulein Hunziker mit zitternden Knien ins Haus zum kleinen Sündenfall. Frau Birmann empfing sie mit erwartungsvollem Gesicht, aber was sie nun zu hören bekam, übertraf denn doch alle ihre Erwartungen.

„Ein Detektiv, Meelil Ein Detektiv! Das hätte sich der rote Schneck auch nicht träumen lassen, daß einmal ein Detektiv über seine Schwelle treten würde. Wenn das die alte Salome oder ihr würdevoller Ratsherr wüßte! Aber hab' ich dir ~

Der Redestrom stockte plötzlich, denn Fräulein Salome fing an hHerzbrechend zu weinen, und [35]Frau Pauline mußte ihr geheimstes Herzenstürlein auftun, um Worte des Trostes und der Liebe hervorzuholen.

Fräulein Salome beruhigte sich nach und nach. Sie kehrte in den roten Schneck zurück, paciîte eigenhändig Olaf Larsens Sachen und adressierte sie an die Polizei. Sie drohte dem froh-entsezten Anneli mit Kündigung, falls es nicht zu schweigen verstehe. Sie brachte es über sich, den gewohnten Mittwochabendssitz mit den Buben abzuhalten.

Die dreie bemühten sich redlich, Fräulein Salomes traurigen Sinn aufzuheitern. Frieder Brauns gutes Bubengesicht strahlte eitel Liebe und Besorgnis. Klaiber holte seine Gitarre und sang alle die Lieder, von denen er wußte, daß sie Fräulein Salome wohlgefielen. Dreher, der große Schweiger, erzählte eine Anekdote um die andere. Manchmal konnte man die Pointe nicht herausfinden, aber es schadete nichts. Fräulein Salome verstand ihn, das genügte. ~

Am andern Morgen ersah Fräulein Hunziker aus ihrem Kalender, daß der allmonatliche Silberputtag herangekommen. „Anneli, bring’ das runde Brett herein, ich will dir das Silber herausgeben“, rief Fräulein Salome durch die Küchentüre. Hierauf ging sie in die Stube, und kurze Zeit darauf trat auch das Anneli hinein. [36]Es fiel ihm auf, daß Fräulein Hunzikers Hände zitterten, als sie die silbernen Gabeln und Löffel herauslegte, und daß sie sie leise zählte. Das war doch sonst nicht geschehen. Das Anneli staunte mit offenem Mund. Fräulein Salome stellte die Zuckerbüchse heraus, dann die zwei Fruchtschalen, die Butterdose – und nun schloß sie die Schranktüre. „Soll ich die Teekanne nicht putzen?“ fragte das Anneli. „Nein, sie hat's nicht nötig“, erwiderte Fräulein Salome kurz.

Als sich die Türe hinter dem Anneli geschlossen, sank sie auf ihre Truhe und schaute sich ganz verstört um. War dies wirklich ihre Stube, ihre trauliche, liebe, stille Stube? Und in diese Stube hatte sich einer geschlichen und die Schranktüre geöffnet und hatte die Teekanne, die schöne, ängstlich gehütete Teekanne gestohlen? Daß er es gewagt hatte, unter der jungen Salome ernsthaften Kinderaugen die Hand auszustrecken! Ach, vielleicht war er ja in Not gewesen, dieser Olaf Larsen! Warum Hatte er sich nicht vertrauensvoll an sie gewandt? Sie hätte ihm ja gewiß geholfen. Und Pauline hätte es nicht zu wissen brauchen. Himmel . . . was würde Pauline sagen!

Sie konnte zuerst überhaupt nichts sagen. Sie öffnete und schloß ein paar Mal den Mund, als müsse sie die unerhörte Nachricht löffelweisse in sich aufnehmen. Aber dann brach ein Redestrom [37]los, den alle Einwürfe Fräulein Salomes und selbst ihre Tränen nicht zum Stocken bringen konnten. Frau Birmann hörte erst auf, als die Stimme ihren Dienst versagte. Mit einem lezten, halb stöhnenden „Halunke, elender!“ lehnte sie sich endlich in ihren Stuhl zurück, die Hände über der zornigwogenden Brust gefaltet. Dann richtete sie sich plötzlich wieder auf: „Hast du der Polizei Meldung gemacht, Salome?“

„Nein, und ich werd's auch nicht tun.

„Du wirst es nicht tun?“

„Nein. Und es nügtt nichts, wenn du mich überreden willst. Ich werde es nicht tun.“

Das zarte, schlanke Fräulein Hunziker richtete sich bei diesen Worten kerzengerade auf. So entschlossen sah sie drein, daß Frau Pauline nur durch ein Brummen ihre Mißbilligung zu äußern wagte.

Die beiden sprachen dann von gleichgültigen Dingen, und nach einer Weile empfahl sich Frau Nauline. Unter der Türe aber wandte sie sich beinahe triumphierend um. „So, Salome, eines wirst du mir nun zugeben müssen: di e Sache hat nun keine gute Seite, wie du sonst von allem Ungemach zu behaupten pflegst. Du magst sie drehen und wenden und von allen Seiten begucken, Gutes wirst du nirgends finden. Kein Mietzins, vermehrte Arbeit, der Detektiv und jetzt noch ~“

[38]

Fräulein Salome stieß einen kleinen Schrei aus und legte die Hand auf Frau Birmanns Mund. ,Sei doch still, Pauline. Du hast ja ganz recht, aber ich will nicht, daß das Anneli etwas von der Teekanne erfährt“, flüsterte sie angstvoll.

„So, du gibst zu, daß ich recht habe? 's freut mich, Meeli, 's freut mich.“

Vor ihren drei Buben konnte Fräulein Salome das Geheimnis der Teekanne nicht bewahren. Und zum ersten Male geschah es, daß sie dem traurigen Bericht nicht die Worte hinzufügte, die sonst jede mißliche Erzählung begütigend abschlossen. „Die Sache hat aber doch eine gute Seite“, pflegte Fräulein Salome zu sagen und je nachdem eine längere oder kürzere Erläuterung dieser Worte hinzuzufügen. Die Geschichte Olaf Larsen mit dem Schlußkapitel Teekanne hatte wirklich keine gute Seite, Fräulein Salome mochte ihre sanften Augen noch so sehr zum Klarssehen zwingen.

Und daß sie diese Entdeckung nicht machen konnte, daß wirklich etwas in ihr Leben getreten, dem nichts Gutes abzugewinnen war, bekümmerte Fräulein Salome mehr als der Verlust der Teekanne und das Schicksal Olaf Larsens an sich.

[39]

Sie sprach mit niemand darüber, aber Frau Pauline sowohl als die Jungen fühlten den leisen Schatten, der über ihrem Wesen lag. Und jedes sann im stillen nach, wie er zu heben sei.

Am Abend des 23. Dezember hielt Fräulein Salome die Christtagsbescherung mit ihren Buben ab. Auch Frau Birmann war dazu geladen. Punkt 7 Uhr trat sie mit ungewöhnlicher Feierlichkeit ins Zimmer und schritt auf Fräulein Salome zu, die eben die letzten Kerzchen am Baum entzündete.

„Frohe Weihnacht, Meeli!“ sagte Frau Pauline. „Sieh, hier hab’ ich dir ein Geschenk, das du gewiß nicht von mir erwartet hast.“ Sie streckte der Freundin die Photographie eines jungen Mannes entgegen, und als Fräulein Salome verständnislos darauf hinstarrte, fügte Sie hinzu: „So, den hab’ ich für dich aufgegabelt, Meeli, damit du wieder ins untere Hinterzimmer gehen kannst. Ich weiß, daß du seit jenem Tag nicht mehr drin warsst, und die schöne Ursula hat gewiß Heimweh nach dir.“

„Pauline!“ stieß Fräulein Salome hervor, „Daß du das getan hast, gerade du! Das vergesse ich dir in meinem ganzen Leben nicht!“

„Na, 's ist schon recht. Ich weiß wenigstens diesmal, daß keine Teekanne gestohlen und die Miete pünktlich bezahlt wird. Es ist der jüngste Bub vom Vetter vom Schwager von der Frau [40]Stauber selig . . . Himmel, was geht denn da los!“

Vor der Stubentüre tönten Schritte und Stimmengemurmel, dann vorsichtiges Räuspern, und nun setzten drei frische Stimmen an und ssangen das alte Weihnachtslied „Es ist ein Rof’ entsprungen“ so zart und andächtig, daß nicht nur Fräulein Salomes sanfte Augen voller Tränen standen, auch an Frau Paulinens stolzem Nasenrücken liefen ein paar Tränlein hinunter, die sie hastig und mit verstohlenem Seitenblick auf die Freundin abwischte.

Vor der Türe war es still geworden. Dann plötzlich ward sie aufgestoßen, und herein traten mit feierlichen Schritten Fräulein Salomes Buben. Frieder Braun, der in der Mitte ging, trug in den erhobenen Händen eine – Fräulein Salome verschlug es beinahe den Atem ~ funkelnde Teekanne. Keine indische, aber schön war sie doch.

„Hier ein kleiner Ersatz für die Verlorene von uns dreien!“ sagte Frieder Braun strahlend und sette die Teekanne unter den Christbaum ins grüne Moos. Ja, da saß sie nun, leuchtete mit den Lichtern um die Wette und gab das Spiegelbild der bunten Kugeln und der grünen Zweige in wunderlichen Verzerrungen wieder.

Das wurde ein frohes Beisammensein. Fräulein Salome hatte ihr verlorenes Lachen wieder [41]gefunden. Wie eine köstliche Melodie durchklang es den ganzen Abend. Nur eine kleine Weile saß sie still und verssonnen, so daß Frau Pauline schon anfing, sie unruhig zu betrachten. Aber mit einem Mal ward ihr Gesicht so hell und freudig, daß die Freundin erlöst aufatmete.

Als sich die Jungen verabschiedet hatten, standen die beiden Frauen und schauten sich in die Augen. „Bist wieder vergnügt, Meeli ?“ fragte Frau Birmann und zwinkerte lustig nach der Teekanne.

„Dankbar bin ich, Pauline, o so dankbar! Denk’ doch, zw e i gute Seiten hat die Sache jetzt: du hast dich zu meinen Buben bekehrt, und der Dreher, um den ich mich immer sorgte, weil er ein wenig geizig ist – denk’ dir, der Dreher war’s, der den Plan mit der Teekanne hatte.“

„Meeli,“ sagte Frau Birmann, „du bist unbezahlbar!“

Und dann gab sie ihr einen Kuß.

[42]

Das Rathaus.

In früheren Jahren hatte sich Jakob Flury gewundert, daß ihn Gott nicht auf einen Acker oder in einen Garten gestellt, denn er liebte mit heißer und inbrünstiger Andacht die Erde und alles, was aus ihrem Schoß emporsteigt. Es dünkte ihn das Köstlichste, helfend und fördernd teilzuhaben am Wunder des Werdens und Wachsens und allzeit der Gefährte zu sein von Gottes vollkommensten Gesschöpfen, den Blumen und Bäumen.

Aber als Jakob Flury älter wurde, merkte er, warum ihn Gott in die Stadt gestellt.

Mit einem Male war die Erkenntnis über ihn gekommen, an einem Frühlingstag, dem ersten nach langen Winterwochen, als er von der Schreibstube nach Hause gegangen. Da hatte es ihn getrieben, ein Stück Wegs den Fluß entlang zu wandern, und da war das Wunder geschehen.

Er kam an einem Gärtlein vorbei, drin ein Zierstrauch stand, mit golden leuchtenden Blüten bedeckt. Er blieb stehen, und seine Seele trank die Lieblichkeit des goldenen Busches . . . da zwang ihn plötzlich etwas, in die Höhe zu schauen.

[43]

Hinter dem Gärtlein stand ein Haus, ein altes, blaßgraues. Aber oben unter dem Dach zog sich eine halb verwitterte bunte Malerei, eine Girlande von Aepfeln und Birnen wollte es Jakob Flury scheinen.

Er betrachtete das Haus immer aufmerksamer. Auch um die niedern, breiten Fenster zog sich die bunte Girlande; an der einen Seite sprang ein Erker vor, von starkem Efeu umklammert, daneben war eine breite Türe aus tiefbraunem, mit Schnitzereien bedecktem Holz.

Das alles hatte Jakob Flury schon oft gesehen. Unzählige Male war er an diesem und an ähnlichen Häusern vorbeigegangen ~ blind, seiner Sehnsucht ferne Bilder weisend.

Aber nun waren seine Augen aufgetan, und er sah das alte Haus, sah es und liebte es von Stund an, wie er zuvor Baum und Wiese, Kornfelder und Rebhänge geliebt. Doch lag in dieser neuen Liebe etwas, das die alte nicht gehabt: eine halb mitleidige, Halb bewundernde Zärtlichkeit, wie man sie Menschen gegenüber empfindet, denen eine köstliche Gabe verliehen ist, die sie unter verschlossenem und abweisendem Wesen verbergen.

Das Lachende und Strahlende in der Welt, dachte Jakob Flury, wird von allen geliebt. Wer aber liebt die alten Häuser mit ihren finstern, steilen Treppen, der niedern Zimmerdecke, den [44]unsymmetrischen Fensterreihen? Wer liebt es, am Abend die alte Petroleumlampe anzuzünden, die die Ecken des Zimmers im Dunkel läßt und nur ein klein golden Netz der Behaglichkeit um sich spinnt?

Er, Jakob Flury, liebte die alten Häuser, und als er diese Liebe erkannt, wußte er, warum ihn Gott in die Stadt gestellt.

Des Abends, nachdem die Schreibstube geschlossen war, ging Jakob Flury regelmäßig spazieren. Zu Hause wertete niemand auf sein Kommen, denn Jakob Flury war Junggeselle und kannte in der ganzen Stadt keine Seele, die ihm nahe gestanden hätte. Vor Jahren + aber das lag so weit zurück, daß er sich kaum daran erinnerte — hatte seine Schwester in der Stadt gelebt. Damals hatte er manche Abendstunde bei ihr verbracht. Sie verstanden sich ohne viel Worte, die beiden schwer, ja widerwillig von den Lippen kamen. Aber die Schwester kränkelte viel. Es kam eine Seuche in die Stadt, der vor allem die Zarten und Müden zum Opfer fielen. Leicht und beinahe schmerzlos war der Schwester Sterben gewesen. Nur im letzten Augenblick war ein Schatten über ihr Gesicht geglitten, und sie hatte leise und Heiser geflüstert: „So allein bist, Jakob!“ — „Sorg dich nicht, ich kann's erleiden“, hatte er geantwortet. Und das Wort war aufrichtig gedacht und gesprochen: Jakob Flury [45]trug seine Einsamkeit mit zufriedener Gelassenheit. Hatte er nicht seine Bücher, seine Welt der Gedanken? Dabei hätten ihn die Menschen, die schnabelbereiten, nur gestört. Hatte er nicht seine Freunde, die alten Häuser, die keine Worte machten und doch zu ihm redeten? . . .

Er liebte sie aber nicht alle in gleicher Weise. Es gab da eines, das ihm besonders nahe stand. Vor Jahrhunderten, als die durch den Strom getrennten Stadthälften ungeeint hüben und drüben trotzten, hatte die „mindere Stadt“ ein eigen Rathaus besessen. Stolz und traulich zugleich stand das mächtige Eckhaus an der auf die Brücke führenden Freihofgasse. An der dem Fluß zugekehrten Seite prangte das lebensgroße Bildnis eines ehemaligen Schultheißen in blauem Samtrock und braunem Ueberwurf, das Haupt mit einer seltsamen Pelzmügtze bedeckt. Er schien ein kriegerischer und vornehmer Herr gewesen zu sein.

Das Rathaus, darin er geamtet, war später in eine Apotheke verwandelt worden. So war es sich in gewissem Sinne treu geblieben: nach wie vor mühte es sich, zur Heilung der Volksschäden beizutragen.

Jakob Flury stand oft und viel vor dem Hause. Aber noch nie hatte er einen Fuß hineingeseßzt. Was ihn fessselte, ließ sich sehr wohl von außen betrachten.

[46]

Durch zwei Fenster schaute man in die Apotheke, die mit ihren Flaschen und Büchsen und endlosen Schubfächern dreinsah wie irgend eine andere Apotheke auch. Durchs dritte Fenster aber blickte man in eine wundersame, längst versunkene Welt. Das heißt, wenn man sehende Augen hatte. Es ging wohl mancher vorbei, der sich verwunderte, daß der Apotheker die kleine Stube nur zur Aufbewahrung alten, unnützen Trödels verwende.

Jakob Flury dankte es ihm aus tiefster Seele. Zärtlich und ehrfuchtsvoll stahlen sich seine Blicke durchs Fenster und wanderten in der altertümlichen kleinen Apotheke von einem Gegenstand zum andern. Himmel, was war das für eine Zeit gewesen! Die Porzellantöpfe standen nicht wie die heutigen als Anstaltskinder in schwarzweißer Uniform auf ihren Brettern. Nein, ein jedes trug ein eigen fröhlich Kleid: um die kühn geschnörkelten Buchslaben der Aufschrift zog sich ein Rosenkränzchen oder ein zartes Gewinde aus Vergißmeinnicht und Maßlieb. Auch die übrigen Geräte, Büchsen, Messsinggeschirr und Flaschen aller Art — ein jedes trug die Spuren einer lächelnden und zärtlichen Kunst. Wahrlich, wer einst in diese Apotheke getreten, den mußte ein tröstliches Gefühl durchrieselt haben, denn all die schönen, heitern Dinge waren dazu angetan, wie eine frohe Verheißung zu wirken. Aber auch ein [47]grusliches Gefühl mochte ihn beschlichen haben, denn von der Decke hing seltsames Getier herab: ein ausgestopftes kleines Krokodil, ein dickbäuchiger Fisch, ein riesengroßer Seestern.

Jakob Flury dachte sich den einstigen Besitzer dieser Herrlichkeiten als kleines, graues Männchen, ähnlich demjenigen, das schon seit Jahrzehnten als Gehilfe in der Apotheke nebenan waltete und mit seinem erloschenen Gesicht und seiner vertrockneten Gestalt an die grauen Feigen gemahnte, die, an Schnüre gereiht, im niedern Fenster baumelten. Nur eine Aehnlichkeit fehlte: er war nicht so süß wie jene. Wenigstens glaubte Jakob Flury diesen Schluß ziehen zu dürfen, nachdem ihm der Graue mehrfach seine stille Andacht vor dem Fenster mit brummigen und anzüglichen Worten gestört. Er ahnte nicht, daß eine Art Tifersucht das vertrocknete Männchen zu seinen Ausfällen trieb. Was brauchte ein Fremder mit seinen Blicken Besitz zu nehmen von dem Heiligtum, in das er selbst durch ein Schiebfenster im Innern stundenlang hineinstaunte . . .

Eines Tages machte Jakob Flury eine furchtbare Entdeckung.

Das alte Rathaus und seine nächsten Nachbarn, zehn an der Zahl, standen der gegenüberliegenden Häuserreihe so nahe, daß sich der Menschenstrom zu gewissen Tageszeiten an dieser Stelle staute und sich die Straßenbahn nur langsam [48]und unter fortwährendem Geklingel ihren Weg bahnen konnte. Dem mußte abgeholfen werden. Allzu lang hatte man die alten Häuser pietätvoll geschont. Sie waren immerhin nicht so viel wert wie ein Menschenleben, denn sicher würde sich eines Tages an diesem engen Durchlaß ein Unglück ereignen. Natürlich war es bedauerlich, daß die alten Häuser, vor allem das Rathaus, weichen mußten, aber so war nun einmal der Lauf der Welt.

Der Beschluß wurde in der Stadt lebhaft erörtert, aber Jakob Flury hörte nichts davon. So traf es ihn wie ein Schlag ins Gesicht, als er eines Abends beim Schlendern in der Freihofgasse das halbabgerissene Haus ,„Zem Dolder“ entdecte. Auch auf das danebenstehende hatte die Zerstörung schon übergegriffen: die Bewohner waren geflüchtet, und leer und tot schauten die Fenster auf die Straße.

Jakob Flury wollte seinen Augen nicht glauben, und noch weniger seinen Gedanken, die eilig die Häuserreihe entlang liefen, um schreckerstarrt am alten Rathaus Halt zu machen. Er, der Wortscheue, hielt die Vorübergehenden an und besprach sich immer wieder, in ängstlicher Erregtheit, über das Ungeheuerliche. Er merkte nicht, daß ihn spöttische und mitleidige Blicke streiften. Erst als die Worte an sein Ohr schlugen: „Der hat wohl bis jetzt auf dem Mond gelebt!“ kam [49]er zur Besinnung und ließ von seinem Fragen ab. Nein, auf dem Mond hatte er nicht gelebt, aber vielleicht in einer Welt, die so ferne und silbern war wie jene . . .

Die Zerstörung schritt weiter und fraß ein Haus nach dem andern. Noch stand das hohe, nur stubenbreite, und das behäbige mit den vielen Fenstern —~ nachher würde das Rathaus an die Reihe kommen . .

Es war um die Abendstunde, da sich Fabriken und Arbeitsstuben leeren. Durch die Freihofgasse schoben sich die Menschen, eilig und heiter, schwerfällig und müde. Jakob Flury ließ sie fluten und drängen. Wie ein fernes, undeutliches Brausen nur hörte er ihre Schritte, ihr Schwatzen und Lachen. Er starrte in die kleine Schatzkammer und nahm Abschied von all den geliebten Dingen, die ihm ein Gruß gewesen aus einer stillen und friedlichen Welt, die auch um ihre Alltagsgeräte ein Kränzlein von Rosen gewunden.

Jakob Flury trat von dem Fenster zurück. Er hob seine Augen zum Bilde des Schultheißen, zu den Malereien des überhängenden Daches. Langsam ging er rückwärts, Schritt für Schritt, um mit einem letzten, abschiednehmenden Blick das Haus zu umfassen.

Da –~ ~ = wütendes Klingeln entsetztes Aufschreien und Fluchen – – dann ein [50]Rennen vieler Füße . . . Starke Arme griffen zu und zogen Jakob Flury unter den Rädern des Straßenbahnwagens hervor.

Sie trugen ihn in das nächststehende Haus, das glücklicherweise eine Apotheke war. So, nun war es ja eingetroffen, das längst erwartete Unglück. Höchste Zeit, daß der alte Kasten wegkam.

Eine Weile noch staute sich die Menge vor der Apotheke. Als die Männer, die Jakob Flury hineingetragen, wieder auf die Straße traten und achselzuckend Auskunft gaben, verlief sie sich rasch.

Drinnen, auf dem Ledersofa, lag Jakob Flury mit geschlossenen Augen. Der Apotheker stand am Telephon und rief den nächsten Arzt an. Der graue Gehilfe lehnte an der Wand und betrachtete Jakob Flurys Gesicht. Er hatte ihn gleich erkannt, und er konnte sich auch den ganzen Vorfall zusammenreimen.

Da faßte ihn mit einem Mal eine Art Neid auf den stumm Daliegenden. „Nun braucht er's nicht zu erleben“, murmelte er halblaut.

Jakob Flury öffnete langsam die Augen. Sein Blick glitt über die Wände und blieb endlich fragend auf dem grauen Männchen haften. Dieses trat näher. „Sie sind im alten Rathaus. Man hat Sie hereingetragen, als Sie – –~ = Haben Sie Schmerzen? Der Doktor wird gleich kommen.“

[51]

Jakob Flury antwortete nichts. Er öffnete nur die Augen weit . . . Das graue Männchen mußte plötzlich an ein Kind denken, das einer großen Freude entgegenssieht. Dann sah er, wie die Augen suchend zur Seite irrten.

Er verstand. Dort drüben war das Heiligtum. Er brauchte nur das grüne Vorhängchen wegzuschieben, so lag es frei da.

Noch zögerte er einen Augenblick; aber dann schritt er entschlosssen hinüber. Einem Sterbenden die lezte Bitte verweigern –~ ~ bewahr’ uns Gott, der Herr!

Er schob den Vorhang zur Seite. Dann wandte er sich, Jakob Flurys Freude zu schauen . .

Aber siehe, dieser war schon eingetreten in eine Welt, friedlicher noch und stiller als die von ihnen beiden geliebte.

[52]

Die alte Madame.

Die alte Madame, wie ihre Dienstboten sie zu nennen pflegten, war äußerst schlechter Laune.

Begreiflicherweise. In der Frühe, als sie den prächtigen weißen Elfenbeinkamm in ihr immer noch wunderschönes rotes Hacr stecken wollte, war er ihren Händen entglitten und so unglücklich auf der Marmorplatte des Toilettetisches aufgeschlagen, daß er in zwei Stücke zersprang.

Aber es kam noch besser. Regula, die doch sonst nicht zu den Ungeschickten gehörte, mußte ausgerechnet zwei Stunden später, als sie der alten Madame das Frühstüc ins Boudoir brachte, über eine Falte des Teppichs stolpern und – – ach, es war am besten, gar nicht weiter darüber nachzudenken. Aber ein Elend war es schon mit den Diensstboten! Jetzt hatte die Person demnächst dreißig Jahre Zimmerdienst bei ihr getan und stolperte noch über den Teppich! So etwas wäre in Rußland nicht vorgekommen. Wenn sie an Nadjeschda dachte, die mit unhörbaren, schwebenden Bewegungen durchs Zimmer glitt, und von deren Lippen die Worte ihrer melodischen Sprache niederriesselten [53]wie das süße Geklingel des Glockenspiels auf St. Georgij! Freilich, das mußte sie gerechterweise auch bedenken: das geschmeidige Schlänglein Nadjeschda hatte sich einst auch mit derselben unhörbaren Grazie an einen Ort geringelt, wo sie durchaus nichts zu suchen gehabt, und alle ihre süßen Jammertöne hatten sie nicht davor retten können, mit Schimpf und Schande davongejagt zu werden. Regula aber war grundehrlich, ja, das war sie. Und sie hatte ein gutes Herz, das fühlte man aus jedem Wort ihrer rauhen Sprache.

Die alte Madame drückte auf die Klingel. Aber nach einer Weile erschien nicht Regula, sondern das kleine Küchenmädchen, das mit sichtlichem Entseßzen an der Türe stehen blieb und auf die Frage der Herrin, wo Regula bleibe, stotternd hervorstieß: „Sie sitzt in der Küche und heult.“

„Heult? Sag’ ihr, sie solle es jetzt aufstecken. Mit Tränen flict man zerbrochenes Geschirr nicht mehr zusammen, und auch der Teppich wird wohl besser mit Fleckenseife behandelt. Sag’ ihr, sie soll hereinkommen und mir erzählen, was sie letzte Nacht geträumt hat.“

Die Kleine sperrte vor Erstaunen die Augen auf, daß sie ihr fast aus dem Kopfe sprangen. Aber sie brachte doch ein „jawohl, Madamel!“ heraus, ehe sie eilig das Zimmer verließ.

[54]

Draußen tat sie einen Luftsprung, denn sie war erst siebzehn Jahre alt und hatte die Gewohnheit, ihren Lustgefühlen in dieser und ähnlicher Weise Luft zu machen, noch nicht ganz abgelegt.

„Nun, hat sie dich gebissen?“ fragte die Köchin lachend, als die Kleine wie ein Wirbelwind in die Küche hereinfuhr.

„Nein! Gott sei Dank, ich bin noch am Leben! Aber — Regula, Sie sollen hineingehen und ihr erzählen, was Sie letzte Nacht geträumt haben.“

Zur großen Verwunderung der Kleinen hörte Regula fast augenblicklich mit Weinen auf. Sie kühlte die Augen am rinnenden Wasser, strich ihre Schürze glatt, und als sie sich noch einmal energisch geschneuzt und statt des naßgeweinten ein trocsenes Taschentuch zu sich gestect, trug ihr Gesicht einen geradezu fröhlichen Ausdruck.

Die Kleine schaute ihr mit offenem Munde nach. Da sollte einer klug draus werden! Jetzt hatte sie geglaubt, die alte Madame mache sich über Regula lustig, und diese werde wohl noch unglücklicher werden als zuvor. Und statt desssen sah sie wahrhaft verklärt drein.

„Tummel dich, tummel dich!“ mahnie die Köchin, „dort, die Salatköpfe nimm einmal zuerst vor.“

[55]

Regula war mittlerweile bei ihrer Herrin eingetreten und saß mit steifem Rücken auf der äußersten Kante des angewiesenen Stuhles. Die Madame hatte sich aus dem mißhandelten Boudoir ins Wohnzimmer geflüchtet, dessen breite Fenster nach dem Garten schauten. Ueber diesen und sein schönes eisernes Tor hinweg sah man ein kleines Stück der buckligen Vorstadt. Die alte Madame pflegte häufig an einem der Fenster zu sitzen und unbeweglich hinauszustarren. Regula suchte dann manchmal verstohlen in ihrem Gesicht zu lesen, ob es wirklich der Garten oder die paar Vorübergehenden seien, die ihre Herrin so gefangen hielten. Aber schon nach wenigen Augenblicken fühlte diese die forschenden Blicke und Gedanken und richtete ihre großen schwarzen Augen so verweisend und königlich stolz auf die Dienerin, daß es Regula fast in die Knie zwang.

An diesem Vormittag nun, als sie der alten Madame gegenübersaß, wandten sich ihr die schwarzen Augen mit einem leisen Lächeln zu.

„Wie gut sie mit einem Male dreinsieht!“ dachte Regula, ,schade, daß es so selten ist.“ Sie besann sich, ob sie die alte Madame eigentlich jemals habe lachen hören, seit Alexandra –

„Nun, Regula, was haben Sie denn letzte Nacht geträumt?“

Die Stimme der alten Madame riß Regula [56]aus ihren Gedanken. Aber sie war gleich bei der Sache, denn das Gebiet der Träume, insonderheit der eigenen, ward von ihr mit leidenschaftlichem und tiefernstem Interesse umfaßt. Allmorgendlich pflegte sie der Köchin Bericht zu erstatten von den Wunderlichkeiten ihrer nächtlichen Hirngespinste. Erschien ihr der Fall ganz besonders eigenartig, dann wagte sie es auch, ihn ihrer Herrin zu unterbreiten, nicht ohne Furcht vor deren spöttischen Auslegungen; aber wenn diese vollends von sich aus eine Frage tat, ging Regulas Herz auf wie eine Blüte, und mit der Freudigkeit und Begeisterung eines alten Barden hub sie an, die nächtlichen Abenteuer ihres Geistes zu schildern.

Daß die alte Madame nun just an diesem Morgen die erwünschte Frage stellte, war ein Glücksfall sondergleichen, denn gerade diese Nacht . ..

Regula tat einen tiefen Atemzug, setzte sich eiwas bequemer und begann: ,„Ja, diese Nacht habe ich etwas ganz Unglaubliches geträumt. Ich sagte gleich heute morgen zur Josephin: wenn das nur nichts Schlimmes bedeutet. Und nun ist's richtig so gewesen. Ach Gott, ach Gott, der gute Teppich, und wo die Eier jetzt so teuer sind!‘

„Ich dachte, Sie wollten mir Ihren Traum erzählen, Regula!“ mahnte die alte Madame.

[57]

„Ja freilich, ja! Also, ich träumte, ich wolle auf die Straße hinaus Einkäufe machen. Ich nehme den Marktkorb + der große, runde war's ~ und gehe zum Tor hinaus. Da auf einmal packt mich die Lust zu fliegen! Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich auf den verrückten Gedanken gekommen bin, wo ich doch immer sage, das Fliegen sei Gott versucht. Also ich strecke die Arme aus wie zwei Flügel und fliege die Straße hinunter, aber nur zwei Schuh hoch über dem Boden, daß ich immer Angst gehabt, ich schlage mir noch die Nase an. Erst wie ich an der Ecke bin, geht es besser, und mit einem Male fliege ich über die Laternen weg, immer den Marktkorb am ausgestrectten Arm. Und alles ist stehen geblieben und hat mir nachgegafft. Ich hab' mich fast zu Tod gesschämt und wäre gerne heruntergeflogen. Aber ich konnte einfach nicht! . . . Durch die ganze Vorstadt mußt’ ich fliegen und ums Tor herum, dann endlich ging's wieder nach Hause und just in mein Kammerfenster hinein. Du lieber Gott, war ich froh! Ich konnt’ die Arme wieder hängen lassen wie ein vernünftiger Christenmensch, und nun lief ich schnell in die Küche hinunter. Der Marktkorb war ganz von selbst voll geworden, ich wollt’ ihn der Jossephin bringen. Aber — ich denk’, es trifft mich der Schlag! — wie ich die Küchentür aufmach’, steht am Herd ein Eisbär und schlägt [58]Eier in die Pfann’! So gewiß ich dasitz), Madame, ein Eisbär war's und dazu ein ganz erschrecklich großer und zottiger Kerl. Es fährt mir durch den Kopf: ob er die Josephin schon gefressen hat? Mit dem kommt der Kerl auf mich zu. Das Eigelb tropft ihm von den Krallen herunter, und gebrummt hat er ganz fürchterlich. Ich aber, ich hab’ den Korb gepackt und hab’ ihn dem Kerl mit aller Kraft an den Kopf geworfen. Da hat er noch viel ärger gebrummt und = ja, und dann bin ich aufgewacht, aber gebrummt hat er immer noch, das heißt nein, nicht der Eisbär hat gebrummt, aber die Josephin hat geschnarcht, ich hab's durch die Wand hindurch gehört . .. War das nicht ein merkwürdiger Traum?

„Gewiß, Höchst interessant“, sagte die alte Madame, und wieder sah Regula mit Befriedigung ein Lächeln über ihr Gesicht gleiten. Und dann stellte sie sogar noch eine Frage: „Sind Sie wirklich um das ganze Tor herumgeflogen, Regula ?“

„Jawohl, Madame,“ versicherte Regula strahlend, dann fügte sie nachdenklich hinzu: „Am meisten hat's mich eigentlich gewundert, daß ich sso glatt zum Fenster hineingekommen und just auf mein Bett gefallen bin.“

Kopfschüttelnd machte sie sich an ihre Arbeit. Die alte Madame aber, die eine gute Vorstellungskraft [59]besaß, hatte ob der fliegenden Regula ihren Aerger vergessen.

Am folgenden Nachmittag übergab die alte Madame Regula ein Kuvert und sagte: „Zu Pfarrer Metzger. Für seine Armen. Aber wenn er mir etwas berichten will, soll er es schriftlich tun. Sagen Sie ihm, daß ich niemand empfange.“

„Außer den Herrn Dr. Römer“, widersprach Regula leise.

„Gut. Wenn Sie Ihr Gewissen zwickt, können Sie das ja hinzusetzen. Und – sagen Sie auch noch, daß ich es mit seinem Vorgänger genau so gehalten habe. Alle Vierteljahre werde ich ihm diese selbe Summe zustellen. Was er damit macht, ist mir vollständig gleichgültig. Ich verlange keine Rechenschaft und auch keinen Dank.“

Als Regula die breite, mit einem weichen, tiefroten Teppich belegte Treppe hinunterschritt, brummte sie halblaut vor sich hin: „Ob die wohl je anders wird! Jetzt lauf’ ich doch gewiß schon zum fünfzigstenmal mit dem Brief zum Pfarrer. . . . Oder gar zum hundertstenmal! Sie hat ja die Sache angefangen, kaum daß sie von Rußland zurück war. Wie oft die Alexandra auch gebeten hat, selbst zu den Armen gehen zu dürfen, [60]sie hat es ihr nie erlaubt. Ach, die Alexandra, die ist ein armer Tropf!“

„Hat sie Ihnen wieder geschrieben?“ fragte plötzlich eine Stimme.

Regula blieb auf der untersten Treppenstufe stehen und starrte ganz entgeistert in den dämmerigen Vorraum, daraus die Stimme geklungen. Da trat ein zierliches ältliches Männchen auf sie zu, verbeugte sich und sagte lächelnd: „Die Jungfrau Regula braucht nicht so fürchterlich zu erschre>éen. Es ist nicht der leibhaftige Gottseibeiuns, sondern nur einer seiner geringsten Diener.“

„Aber, Herr Doktor!“ schalt Regula. „Wie können Sie nur so lästerlich reden! Und dabei weiß ich doch ganz genau, daß Sie ein frommer und christlicher Herr sind.“

„So, da wissen Sie ja mehr als ich selbst. Ich bin mir über diesen Punkt noch nicht ganz klar. Aber Regula: Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet. Hat Ihnen Alexandra wieder geschrieben?“

„Nein, Herr Doktor. Seit dem letzten Brief, den ich Ihnen ja zeigte, ist nichts mehr gekommen.“

„Hm. Wie lange ist das nun?“

„Warten Sie einmal . . . Drei Monate werden’s schon sein. Ja, 's war im Juli, denn sie schrieb, der Bub sei dreiviertel Jahr alt, und [61]der ist im Oktober geboren. Herrjeh, da hat er ja bald Geburtstag, da sollt’ ich doch gratulieren.“

„Tun Sie das, Regula, tun Sie es gewiß. Und ~“ sein Gesicht ward plötzlich rot, und die gescheiten Aeuglein zwinkerten verlegen in der alten Dienerin Gesicht, als er leise weitersprach: „Könnte man nicht bei dieser Gelegenheit ein wenig den guten Onkel spielen? Oder ist sie dafür auch zu stolz?“

„Sagt’ ich's nicht, daß Sie ein christlicher Herr sind!“ triumphierte Regula. „Das lohn’ Ihnen Gott, der Herr! Ach, ich glaub’, die arme junge Frau ist nicht mehr so stolz wie früher. Wissen Sie, seit sie das Kind hat, ist manches anders geworden. Es ist schwer, ein Kleines Mangel leiden zu sehen.“

„Mangel! Alexandras Kind leidet Mangel! Und das sagen Sie mir erst jezt? Da soll doch gleich – –! Können die Weibsleut’ nie den Mund zur rechten Zeit auftun!“

Mit kurzen, zornigen Schritten lief der kleine Herr hin und her, dann blieb er wieder vor Regula stehen.

Sie sah ihm mit einem strengen und traurigen Blick ins Gesicht.

„Ich weiß nicht, ob es ausgerechnet die Weibsleut’ sind, die keinen Mut haben, ein offenes Wort zu sprechen“, sagte sie langsam.

Dr. Römer schaute plötzlich beschämt drein. [62]Er nickte ein-, zweimal, dann streckte er die frauenhaft zarte und schmale Hand aus und sagte, während Regula ihre harten Finger in die seinen legte: „Sie haben recht, Regula. Ich darf Ihnen wahrhaftig keinen Vorwurf machen, verzeihen Sie. Aber es hat mich ganz übernommen, der Gedanke, daß Alexandras Kind Mangel leiden könnte.“

„Ich weiß ja nichts Gewissses“, suchte ihn Regula zu beschwichtigen. „Ich hab’ nur so meine Befürchtungen, und aufgefallen ist mir, daß sie meine letzten Sendungen so dankbar angenommen hat.“ Ein triumphierender Ausdruck trat plötzlich auf ihr Gesicht. „Wenn das die alte Madame wüßte, was ich mit der Wäsche gemacht, die ich dem Pfarrer für seine Armen hätte bringen sollen! Was Arme! habe ich bei mir gedacht. Da gibt's Leute, die dir näherstehen...Es war so schöne, weiche Leinwand, Herr Doktor. Wie gemacht für zarte Gliedlein. Und die junge Frau hat glückselig geschrieben, wie sie die Hemdlein gekriegt hat. Und wissen Sie, was ich später gemacht habe? Finde ich da eines Tages in einer Bodenkammer einen Koffer mit Kindszeug. Das habe ich alles so nach und nach der jungen Frau geschickt!“

„Ei, ei, die Jungfrau Regula gehört zur Langfingerzunft!“ scherzte der kleine Herr.

„Das wäre noch schöner!“ entrüstete sich [63]Regula. „Lieber tät’ ich mir die Hand abhacken als etwas nehmen, das nicht mir gehört. Aber das Kindszeug – Sie wissen wohl, Herr Doktor: die junge Frau hat ein Recht darauf, und nicht nur auf das Kindszeug ~ daß Gott erbarm!“

„Gewiß, gewiß!“ nickte Dr. Römer. „Ist sie übrigens immer gleich? Sagt sie nie ein Wort von der Tochter ?“

„Ietzt sprechen Sie wohl von der alten Madame? Ja, die ist immer die gleiche . . . Ich glaube, Sie sind volle vier Wochen nicht dagewesen, Herr Doktor?“

„Stimmt, stimmt. Ich war verreist.“

„Na also, in diesen vier Wochen hat sie in der ersten Zeit vernünftig geschlafen und gewacht wie unsereins auch. Nachher hat sie zehn Tage lang umgekehrt gelebt. So gegen sieben Uhr abends ist sie aufgestanden, und wenn's Tag geworden, ist sie zu Bett gegangen. Ich sage Ihnen, ich war halb tot nachher. Zum Glück sind die letzten acht Tage wieder gut gewesen.“

„Ich, müßt ihr denn alle diesen Lebenswandel mitmachen? Das kann sie doch nicht verlangen.“

„Nein, nicht alle. Die Kleine kommt gar nicht in Frage. Aber jemand muß doch zur Stelle sein, wenn sie etwas braucht. Da bleibe ich eben auf und wecke die Köchin nur, wenn sie etwas will, das ich nicht kochen kann,“

Dr. Römer brummte etwas, das wie ,verrückte [64]Geschichte“ klang. Regula aber sagte in plötzlichem Erschreden: „Nun muß ich mich aber sputen. Sonst bin ich ja nicht zurück für den Tee. Nein, wie man sich nur so festschwatzen kann!“

„Lassen Sie sich's nicht gereuen, Regula. Es hat uns beiden gut getan. Aber –“ er hob warnend den Finger, „keine Selbstgespräche mehr! Es könnte sie auch ein anderer als ein guter Freund aufschnappen.“–

Dr. Römer schritt sehr nachdenklich die Treppe hinauf.

Beinahe auf jeder Stufe blieb er stehen, legte den Finger an die Nase, sann eine Weile und ging dann kopfschüttelnd wieder weiter. Als er endlich vor der Salontüre angelangt war, darin ihn die alte Madame zu empfangen pflegte, lag auf seinem Gesicht ein entschlossener, fast ein grimmiger Zug und, entgegen der Warnung, die er Regula erteilt, sagte er leise: „So, heute muß endlich gesprochen werden.“

Als auf sein zweimaliges Klopfen keine Antwort ertönte, trat er ins Zimmer. Die alte Madame haite ihn schon vor Jahren gebeten, oder besser: ihm befohlen, von diesem Freundesrecht Gebrauch zu machen. Er schloß die Türe abhsichtlich laut, rückte noch einige Stühle hin und her, um seine Anwesenheit kund zu tun, denn er wußte, daß sich die alte Madame in dem anstoßenden Zimmer befinde.

[65]

In der gemütlichen Ecke beim Kamin, zwischen einem zierlichen Kanapee und einem hochlehnigen Polsterstuhl, stand ein Tischchen, in dessen Platte ein Schachbrett eingelassen war. Die Figuren waren schon aufgestellt, eine jede von ihnen ein kleines Kunstwerk aus blassem oder aus rotbemaltem Elfenbein geschnitt. Auf den ersten Blick erkannte man, daß sie aus dem Lande hervorgegangen, dessen bezopfte Bewohner dieses tiefste aller Spiele mit wahrer Leidenschaft lieben.

Dr. Römer ergriff den Chinesenkönig mit spitzen Fingern und betrachtete mit geradezu verliebten Blicken sein von wundervollen Ornamenten bedecktes Oberkleid und den langen, fast an die Knie reichenden Zopf. Aber dann verfinsterte sich sein Gesicht wieder. Er stellte den kleinen König auf sein Feld zurück und begann in dem großen, fast saalartigen Zimmer hastig auf und ab zu gehen.

Hin und wieder blieb er vor einem der alten, prächtigen Möbelstücke stehen, um ihm einen bewundernden Blick zu schenken, aber fast ärgerlich riß er sich alsbald los, irgendein unwirsches Wort zwischen den Zähnen.

Auf einem Seitentisch stand eine Blattpflanze, herrlich gewachsen, mit breiten, in Gelb und Rot gemusterten Blättern. Dr. Römer betrachtete sie freudig. Vorsichtig nahm er eines [66]der schönen Blätter zwischen die Finger, aber im nächsten Augenblick fuhr er zurück, als hätte er in eine Flamme gegriffen. „Pfui Teufel!“ sagte er laut und heftig. Er hatte ja ganz vergessen gehabt, daß diese herrliche Pflanze ein verlogenes Leben zur Schau trage. Die samtne Pracht ihrer Blätter war nicht ein Wunderwerk der Natur, sondern raffinierteste Kunst von Menschenhand. Auch der Strauß Astern auf dem Kaminsims drüben, die Vase mit den Vogelbeeren, das zarte Blättergewirr in jener Schale – alles war unecht. Die alte Madame duldete keine lebenden Blumen um sich. Ging nicht ihre Lieblichkeit in wenig Tagen, ja oft Stunden verloren? Sie alterten, welkten und starben ~ ein häßlicher und beklemmender Anblick. Die alte Madame aber liebte es nicht, an Vergänglichkeit und Tod erinnert zu werden. Ihr eigener Körper tat es nicht. Sie war von eiserner Gesundheit, und ihre sechzig Jahre hatten ihr kaum die Frische und keinesfalls die Anmut der jüngern Jahre geraubt . . .

Dr. Römer blieb vor einem Bilde stehen, das sich merkwürdig genug von all den andern abhob. Seine Rückseite war dem Zimmer zugekehrt: eine tote, graue Fläche, etwa zwei Spannen hoch und breit, von einer schmalen Holzleiste einfasst und plötzlich hob Dr. Römer die Hände, nahm [67]das Bild von der Wand, drehte es um und hing es wieder an den alten Platz.

Es war der Kopf eines kleinen, vielleicht fünfjährigen Mädchens: traurige schwarze Augen in einem blassen, von dunkelm, widerspenstigem Haar umkrausten Gesicht.

Ein weicher Ausdruck kam in die Augen, die sich in das Bild versenkten. „Kleine Alexandra,“ sagte Dr. Römer leise, „du siehst drein, als hättest du dein Schicksal vorausgeschaut.“

Er schritt von dem Bilde weg, denn er hatte im Nebenzimmer eine Bewegung gehört. Im nächsten Augenblick trat die alte Madame ins Zimmer und grüßte ihn mit der feinen und edlen Gebärde, die sein Herz immer aufs neue entzückte. Einmal war eine Zeit gewesen –+ wie weit lag sie doch zurück! — da sein ganzes Wesen erfüllt gewesen von ihr, da er nur ein Ziel kannte: sie zu erringen, nur von ein er Furcht wußte: sie zu verlieren. Noch jetzt durchlief ihn ein Schauder, wenn er der Nähe gedachte, die er durchlebt, als er ihre Verlobung erfahren. Ein Glück, daß ihre Heirat mit dem reichen Kaufmann sie nach Rußland verpflanzte, so daß seine Liebe sich nicht immer aufs neue an ihrem Anblick entzünden mußte . . .

Die alte Madame hatte sich auf das kleine Kanapee gesetzt, Dr. Römer in den hochlehnigen Armstuhl. Während er den Blick auf ihrem [68]stolzen Antlitz ruhen ließ und dabei jede ihrer Bewegungen wie eine süße und einschmeichelnde Musik in sich sog, verspottete er sich in unhörbarem Selbstgespräch. „Unverbesserlicher alter Narr! Kaum zwei Minuten genügen, um dich wieder unter ihren Zauber zu bringen! Hättest du das Bild nicht umgewendet, du schwiegest wahrhaftig auch heute.“

„Wollen wir beginnen?“ fragte die alte Madame und hob die Hand, um eine Figur zu ergreifen. Aber die Hand fiel plötzlich schwer zurück, und die stolzen Augen starrten nach der Wand, daran das umgewendete Bild hing, dann wandten sie sich zu dem Freunde. „Ein übler Scherz, Rudolf, der bessser unterblieben wäre“, sagte sie mit harter Stimme.

Dr. Römer betrachtete seine Fingernägel, als er mit erheuchelter Ruhe entgegnete: „Kein Scherz . . . . Als ich das Bild umwandte, tat ich es, weil ich hoffte, es rufe Ihnen die Tage zurück, da die kleine Alexandra Ihr einziges Glück und Ihre einzige Sorge war. Ich hoffte, diese Erinnerung werde Sie weicher stimmen gegen die Alexandra von heute.“

„Mein einziges Glück!“ widerholte die alte Madame. „Dies Kind war nie mein Glück, nie. Ich weiß kaum, ob ich es je geliebt habe.“

„Das habe ich nicht gewußt. Arme kleine Alexandra“, sagte Dr. Römer leise. Und während [69]er diese Worte sprach, merkte er zu seinem Erstaunen, daß die Verzauberung, die ihn immer in der Nähe dieser Frau ergriffen, langsam von ihm zu weichen begann. Ihm war, ihre warme, lebendige Anmut falle von ihr ab wie elender Plunder, und das, was ihm nun entgegentrat als ihre nate Seele, war ein erbärmliches und häßliches Gebilde.

„Wollen wir spielen?“ fragte die alte Madame zum zweiten Mal. Aber Dr. Römer sprang plötzlich empor, so heftig, daß die zierlichen Figürchen in leises Schüttern gerieten.

„Nein!“ rief er und tat einen tiefen Atemzug, „Dies Spiel ist ausgespielt.“

Dann beugte er sich zu der alten Freundin nieder. „Yvonne,“ bat er mit weicher Stimme, „wissen Sie, daß Alexandras kleiner Sohn Mangel leidet? Können Sie den Gedanken daran ertragen, inmitten all Ihres Reichtums? Können Sie ihr nun, um des unschuldigen Kindes willen, nicht vergeben?“

Einen Augenblick schien es ihm, als hätten seine Worte eine Saite ihres Innern berührt ... eine Saite, die noch nicht verrostet und tonlos war. O, wie er hoffte, es klinge ein holder Ton zurück!

Aber er hatte sich getäuscht. „Was geht mich das Kind an'“ sagte die alte Madame mit eisiger Stimme. „Hier in dieser Stube ist's gewesen, [70]daß ich zu ihr gesagt habe: verläßt du mein Haus, so verläßt du auch mein Leben. Du wirst mir sein, als wärest du tot . . . Und sie ist dennoch gegangen. Ihrer Kunst zuliebe. Bah, diese Kunst! Sie war ihr mehr wert als ihre Mutter.“

„Als ihre Mutter,“ wiederholte Dr. Römer, „haben Sie mir nicht eben selbst gesagt, daß Sie Alexandra nicht geliebt haben? Wie konnten Sie eine Liebesernte erwarten, wo Sie keine Saat ausgestreut? . . . Wir ernten immer, was wir gesät, Yvonne. Auch die Saat dieser Stunde wird aufgehen.“

Die alte Madame antwortete nichts. Fast schien es, als hätten die Worte des Freundes eine kleine Besorgnis in ihr wachgerufen. Aber dann blitzte in den Augen der alte unbändige Trotz auf. Sie erhob sich, schritt zu dem Bild hinüber . . . und aufs neue starrte statt des traurigen Kleinmädchengesichts die tote graue Fläche ins Zimmer.

Als die alte Madame sich umwandte, zog Dr. Römer eben die Türe hinter sich ins Schloß. Sie erblaßte. Dann drückte sie auf die Klingel.

„Dr. Römer konnte nicht länger bleiben, ich bin allein beim Tee“, sagte sie zu der eintretenden Regula. „Und dann = ich möchte heute erst um elf Uhr zu Nacht essen. Ich werde aufbleiben.“

[71]

Regula konnte kaum einen Seufzer zurückhalten. „Lieber Himmel!“ dachte sie kummervoll, „wie lange wird die Sache wohl diesmal währen ?“

In den Nächten, die die alte Madame zu durchwachen pflegte, mußten alle Türen des Hauses offensstehen, denn sie wanderte alsdann stundenlang durch die Räume und liebte es nicht, dabei auf das Hindernis einer geschlossenen Türe zu stoßen. Auch alle Lichter mußten angedreht sein, denn der Gedanke, daß ihr Haus nun als einziges wie ein strahlender Demant in der Dunkelheit stehe, gab ihr ein seltsames Gefühl der Befriedigung. Sie stellte sich vor, daß der eine oder andere nächtliche Wanderer oder auch ein aus dem Schlafe Aufgewachter, dessen Fenster nach ihrem Hause schauten, sich mit ihr, als einem wunderlichen Geheimnis, beschäftigen werde. Und auch dieser Gedanke kitzelte sie angenehm.

Die alte Madame befand sich bei ihrem Nachtleben meist äußerst wohl und in gehobener Stimmung. Hätte sie nicht einen unangenehmen Einfluß auf ihre Gesundheit befürchtet, sie hätte diese Art zu leben noch häufiger geübt.

Manchmal trug sie bei ihren Wanderungen ein Bildchen in der Hand, in dessen Anblick sie sich wieder und wieder vertiefte. Dabei ging in ihrem strengen Antlitz eine wunderbare Wandlung [72]vor sich. Regula hätte wohl kaum ihren Augen getraut: so weich der Mund, so samten und tief die Augen, so zärtlich und bewegt die leise Stimme. Denn die alte Madame pflegte bei ihren Wanderungen lange Gespräche zu führen. Ihre Erinnerungen waren bei ihr zu Gast und geleiteten sie durch die Räume.

Es kamen die leuchtenden Gestalten der russischen Zeit, darin die schöne und stolze Yvonne gleich einer Königin stand, deren Gnade die Herzen beseligt und deren Ungnade sie in Verzweiflung stürzt.

Es kamen Erinnerungen mit heißem Atem und fast unheimlichem Funkeln. Und es kamen solche, die weiche Arme um ihren Hals legten und leise flüsterten: Matuschkae. Und dann sah ssie nur das eine: das Antlitz ihres geliebten Kindes . . . Manja. Eine Blüte war ihr Gesichtchen gewesen, das leuchtende Gelock gleich den spielenden Sonnenstrahlen; die Augen aber waren wie aus einem Stückchen Himmelsblau geschnitten, und die Geschmeidigkeit ihrer Glieder glich dem weichen Spiel der Wellen.

Wie hatte sie dieses Kind geliebt! . . . Sie entsann sich, daß sie manchmal, während die Kleine in ihrer Nähe spielte, immer nur ihren Namen wiederholt hatte, heiß und inbrünstig wie ein Gebet . . . Manja, Manja.

Jede andere Liebe war vor dieser verblaßt. [73]Als man ihr drei Jahre nach der Geburt Manjas die kleine Alexandra in die Arme legte, betrachtete sie das gelbliche Gesichtchen fast teilnahmslos. Und als sie später entdeckte, daß das Kind ihre dunklen Augen und dazu des Vaters schwarzes Haar geerbt, durchfuhr es sie wie ein Triumph: sie würde keine zweite Manja werden, diese Kleine! Mochte sie schön werden, einerlei! Es würde die Schönheit der Nacht sein, nicht die des strahlenden Tages.

O, wie die Erinnerungen plaudern können, und wie sie mit flinken Fingern Bild um Bild entwerfen! Zwei kleine Mädchen jagen sich auf den weiten Rasenplätzen, schaukeln jauchzend in der flirrenden Sonnenluft, pflücken Blumen, beide kleine Arme voll, und stürzen damit auf die Mutter zu, die in der offenen Veranda sitzt. Und das eine, das blonde Kind, das wie ein Sonnenstrahl lacht und funkelt, wird heiß umschlungen und mit Liebesworten überschüttet, das andere aber, das blasse mit den großen schwarzen Augen, geht leer aus. Dann ist es gut, wenn neben der Mutter auch noch der Vater da ist. Der nimmt die Kleine auf die Knie und drückt sie wortlos an sich. Und sie lehnt sich an ihn, reglos fast, und so sehen sie beide dem Liebesspiel der zwei andern zu. Einmal hat sich auch der ernste, schweigsame Mann zu der schönen Frau Yvonne hinübergeneigt und gesagt: „Hast [74]du so wenig zu geben, daß wir beide immer zu kurz kommen?“ Aber die schöne Frau Yvonne hat ihn nur mit einem seltsamen, schillernden Blick gestreift, daß er die kleine Alexandra hastig auf die Erde setzte und davonging. – –~

Es kommen auch Erinnerungen, die sind gleich den unheimlichen, plöglich aufzutkenden Schlangen, deren tückischer Blick ihr Opfer gebannt hält, daß es kein Glied rühren und nicht mehr entfliehen kann.

. . . Es war einmal ein Tag, der begann mit Sannenschein und Lachen und mit der Ausfahrt zweier froher kleiner Mädchen an der Seite ihres Vaters, und dieser Tag endete in einer schwarzen Verzweiflung, die wie eine gefräßige Springflut über den Garten ihres Lebens hereinbrach.

Manja tot . . . Auch den Gatten brachten sie tot, und die kleine Alexandra war so schwer verletzt, daß man zuerst an ihrem Aufkommen zweifelte. All das berührte sie nicht. Sie wußte nur eines: Manja tot. Und nicht gestorben in ihren Armen, sondern am Wegrand, wohin sie durch die scheugewordenen Pferde geschleudert worden. Sie haßte den Diener, der kaum eine Verletzung davongetragen. O, warum stand er hier vor ihr und erzählte, daß die Kleine wohl sogleich tot gewesen . . . Daß er doch tot und steif gebettet läge und Manja hier neben ihr stünde in ihrer lebendigen Lieblichkeit . . .

[75]

In jener Nacht, als die schöne Frau Yvonne an der Seite ihrer Toten wachte, erstarb die heiße Glut ihres Herzens, daß es war, sie trage fortan einen schweren eisernen Klumpen in der Brust. Ihre Umgebung hoffte, es werde den kleinen Händen Alexandras gelingen, das harte Herz wieder zu erwärmen und zu erweichen, aber sie täuschten sich. Die Mutter haßte den Anblick ihres Kindes. Warum, ach warum hatten sich statt der sonnigen Augen nicht diese düstern geschlossen? Sie vergaß, daß sie es war, die die Düsterheit darin verschuldet. Diese Augen konnten wohl lachen, daß es war, goldene Funken sprühten darin auf, aber unter den harten und feindseligen Blicken der Mutter wagte sich die Freude nicht hervor. Und je älter Alexandra wurde, desto deutlicher fühlte und wußte sie, daß ihre Mutter sie nicht liebe und ihre Gegenwart im besten Fall dulde. In schlimmen Zeiten war es ihr eine Lust, das Kind zu quälen.

Es sind böse Nächte, wenn diese Erinnerungen zu Gaste kommen. Woßhl geht in ihrem Gefolge nicht die Reue. Was hat ein eisernes Herz mit Reue zu tun? Aber doch liebt auch ein solches die heitern Erinnerungen mehr als die dunkeln, liebt vor allem sie, die ihm die Zeiten bringen, da die Sonne Tag und Nacht am Himmel stand ~ die Sonne, die Manja hieß . . .

[76]

Als es Mitternacht schlug, erhob sich die alte Madame mit den Worten: „Wenn Sie abgeräumt haben, Regula, können Sie zu Bett gehen. Ich brauche nichts mehr. Um sieben Uhr will ich frühstücken.“

Regula betrachtete ihre Herrin mit forschenden Blicken. Das frühe Weggehen Dr. Römers hatte ihr zu denken gegeben. Auch fühlte sie, daß die alte Madame nicht ganz dieselbe sei wie sonst. Hatte Dr. Römer endlich, endlich gesprochen? Ach, sie wagte es kaum zu hoffen. Und wenn er es getan, was hatten seine Worte wohl bewirkt?

Während sie ab und zu ging, das Geschirr in die Küche trug und im Eßzimmer Ordnung schaffte, war ihr, sie höre neben sich ein leichtes Schreiten wie von Kinderfüßen . . . So war es in früheren Jahren gewesen, als die kleine Alexandra sie auf Schritt und Tritt begleitet hatte. Sie war ja so viel lieber bei ihr gewesen als bei der kalten Mutter. Sieben Jahre hatte die Kleine gezählt, als sie von Rußland gekommen, und ein halbes Jahr später war Regula bei ihrer Mutter in Dienst getreten. Wie gut sie sich noch ihrer ersten Begegnung mit der Kleinen erinnert! Die alte Madame hatte ihr mit einer Handbewegung die Türe des Kinderzimmers bezeichnet, aber sie war nicht mitgekommen, ihr die Kleine zu zeigen. So [77]schritt sie denn ein wenig zaghaft auf die Türe zu und klopfte an. „Herein!“ rief eine zarte und klingende Kinderstimme, und Regula horchte erstaunt auf. Das bekannte Wort hatte seltsam fremd geklungen. So deutlich sprach hierzulande niemand das R aus, und auch in der Endsilbe hatte ein fremder Klang mitgesschwungen.

Sie trat ins Zimmer und betrachtete das „Russenkind“, wie sie es in Gedanken genannt. Sie hatte sich fast ein wenig vor ihm gefürchtet und geglaubt, die stolze Mama werde wohl ein noch stolzeres Töchterlein haben. Aber die kleine Alexandra, die, von ihrem Spieltischchen aufstehend, mit artig ausgestrecktem Händchen auf sie zukam, sah so gar nicht stolz drein. Im Gegenteil! Sie glich – sie glich ja dem Zigeunerkind, das einmal bettelnd, in zerfeztem Röckchen, an ihrer Türe gestanden! Genau mit denselben hungrigen Augen schaute das Kind zu ihr auf, das in einem kostbaren schwarzen Samtkittelchen vor ihr stand. Und Regula dachte nicht mehr an das vornehme Russenkind, vor dessen Stolz sie sich gefürchtet. Eine starke Liebe zu dem traurigen kleinen Mädchen stieg in ihrem Herzen auf und brach warm aus ihrer Stimme, als sie sagte: „Und du bist die kleine Alexandra? Gott grüß dich, Kind.“

Einen Augenblick schaute das Kind in Regulas Gesicht, dann hob es sich auf die Zehen [78]und streckte die Arme nach ihr aus. Ein wunderfeines Lächeln ging dabei in seinen Augen auf und lief als rosiger Schimmer über das Gesichtchen.

Regula erschrak fast ob der Gebärde des Kindes. Sie beugte sich nieder, und während sie die Kleine hochhob und ihre umschlingenden Arme und die weiche Wange fühlte, hatte sie die Empfindung, einen großen und heiligen Augenblick zu erleben.

Abends, als sie Alexandra zu Bette brachte, erzählte diese ihr, daß es nichts Schöneres auf der Welt gebe als Zeichnen und Malen. „Wissen Sie, Regula,“ sagte sie in ihrem fremden, klingenden Deutsch, das Regula lieblich tönte wie Musik, „ich kann es jetzt noch gar nicht gut. Aber Pascha sagt – Pascha ist mein großer Freund in Rußland ~ wenn ich groß sei, werde ich gewiß schöne Bilder malen können .. . . Regula!“

„Ja, mein Kleines, was möchtest du wissen?“

„Regula, glauben Sie, daß meine Mutter mich dann lieben wird, wenn ich schöne Bilder malen kann?“

O wie gut erinnert sich Regula ihres Erschreckens bei dieser Frage!

Sie hatte, während sie die Kleine zudeckte, etwas davon gemurmelt, daß ihre Mutter sie gewiß jetzt schon liebe, daß alle Mütter ihre [79]Kinder lieb hätten. Aber die Kleine schaute sie mit ihren schwarzen Augen ernsthaft an und sagte: „O nein, Regula. Es ist ganz anders. Meine Mutter liebt mich nicht . . . Vielleicht, wenn ich wie Manja wäre! Manja hatte goldenes Haar, Regula, und blaue Augen wie der Himmel. Schwarze Augen und Haare sind häßlich.“

„Ach Unsinn!“ sagte Regula ärgerlich, „mir gefällst du gerade wie du bist. Und überhaupt hat das Aussehen nichts mit der Liebe zu tun.“

Und wieder sschlang das Kind seine Arme um Regulas Hals und lachte glückselig. – –

Ach, das Schönste im Leben: das Zeichnen und Malen hatte der kleinen Alexandra nicht nur Freude gebracht. Als sie älter geworden und das ihr anvertraute Pfund gewissenhaft verwalten, es in strenger Arbeit pflegen und mehren wollte, da hatte die Mutter all ihren Wünschen und Plänen ein hartes Nein entgegengesegt.

Sie tat es nicht, weil sie an Alexandras Begabung zweifelte, sie tat es, weil sie ihr den innern Reichtum nicht gönnte und auch nicht die äußere Freiheit, um die die Tochter sie wieder und wieder bat.

Das waren harte Jahre gewesen. Regula wagte kaum, ihrer zu gedenken. Aber dann sie war eben 25 Jahre alt geworden – machte Alexandra eine kleine Erbschaft, und bald nachher verließ sie die Heimat. Sie war nicht feige [80]geflohen; sie hatte der Mutter ihren Entschluß ehrlich kundgetan, ein leztes Mal um Verständnis und Teilnahme werbend. Aber ihre Worte hatten kein Echo geweckt. Als Alexandra ging, wußte sie, daß ihr die Heimat fortan verloren sei.

Und doch blühte sie auf, befreit von den hemmenden und erdrückenden Fesseln, in die bis dahin ihr Leben geschlagen gewesen. Ihr eigenes Wesen erstand langsam, und die Gabe, die Gott in ihre Augen und Hände gelegt, entfaltete sich mehr und mehr unter der Leitung kundiger Lehrer. In dieser Zeit hatte Regula frohe Augen, wenn sie wieder einen Brief Alexandras in Händen hielt.

Nach zwei Jahren wagte Alexandra es, ihrer Mutter ein Bild zu schicken.

Es war aus ihrer Sehnsucht geboren, denn sie liebte ihre Heimat und trug ihr Bild tief eingebrannt im Herzen: das schöne alte Haus, stolz und ruhig inmitten des alten Gartens. Glyzinien greifen mit zärtlichen Ranken an seinen Mauern empor, bis zu den Fenstern des ersten Stockwerks, daß der Duft der süßen blauen Trauben alle Zimmer erfüllt . . . Im Garten steht eine Trauerweide, unter deren Zweigen ein Brünnlein plaudert. Man kann es erst erblicken, wenn man die langen, bis zur Erde reichenden Zweige zur Seite schiebt, aber den Klang des rieselnden Wassers hört man fast [81]überall im Garten – ach, Alexandra glaubte ihn zu hören, so oft sie an einem fremden Garten vorbeiging und in seine Tiefe starrte.

Das Rauschen des Brünnleins im Ohr, hatte sie ihr Bild gemalt. Und war dabei immer hoffnungsvoller geworden. Ihr Lehrer hatte die Arbeit gelobt; sie durfte es wagen, das Bild, rein als Kunstwerk gemessen, ihrer Mutter zu senden. Aber sie hoffte nicht nur, ihrer Mutter kritischer Forderung gerecht zu werden, ihr zu beweisen: sieh, ich hatte ein Recht, diesen Weg zu gehen. Sie hoffte auch: die Stimme der Sehnsucht töne so laut aus diesem Bilde der Heimat, daß es einen Widerhall wecke im Herzen der Mutter.

Zwei Wochen später hielt sie ihr Bild wieder in Händen: im Hintergrund das schöne alte Haus, davor der herrliche Garten in den sprühenden Farben des Sommers. Aber was war das? Im Vordergrund erhob sich – nicht von ihrer Hand gemalt – ein hohes Eisengitter, das sich mit festen, schwarzen Strichen zwischen den Garten und den Beschauer drängte, daß er sich nicht mehr inmitten der Herrlichkeit, sondern von ihr ausgeschlossen fand.

Das war die Antwort. – –

Die alte Madame hatte das Bild vor und nach seiner Uebermalung Regula gezeigt. Aber sie hätte es wohl gerne ungeschehen gemacht, [82]denn sie mußte es erleben, klein und gedemütigt vor ihrer Dienerin zu stehen.

Hochaufgerichtet stand Regula, als sie die Worte hervorstieß: „Gott wird Sie strafen, Madame. -... .-

Wenn Regula an diesen Augenblick zurückdachte, erfüllte sie noch immer ein süßes Gefühl der Genugtuung. Nicht, weil sie die alte Madame geschlagen, daß sie kein Wort der Erwiderung wußte, nein, weil es ihr vergönnt gewesen, einmal einzutreten für den Liebling ihres Herzens. Ihre drohenden Worte waren für sie gewesen wie ein Triumphgesang ihrer Liebe, die endlich aus dem Dunkel, wo sie tausend Qualen gelitten, hervorgebrochen gleich einer jauchzenden Flamme . . .

Freilich, was hatte es genützt! Ihre Worte verklangen wirkungslos. Die alte Madame ging ihren einsamen und abgekehrten Weg weiter wie alle Tage zuvor, saß Stunden um Stunden am Flügel oder über ihren Büchern. Von Alexandra sprach sie nicht.

Vor drei Jahren hatte es Regula wieder gewagt, den Namen Alexandra auszusprechen. Sie teilte der alten Madame mit, daß ihre Tochter sich verheiratet habe mit einem Maler, der ihr jahrelang als Freund zur Seite gestanden. Und ssie legte bei ihren Worten ein kleines Briefchen [83] auf das Buch, das aufgeschlagen vor ihrer Herrin lag. Alexandra hatte sie darum gebeten.

Aber Regula fand das Briefchen später im Papierkorb, in viele schmale Streifen zerschnitten. Es war deutlich erkennbar, daß der Brief nicht aus dem Umschlag herausgenommen worden.

Seither hatte Regula Alexandras Namen nicht mehr genannt. Sie sprach der alten Madame auch nicht von der Geburt des Kindes. „Die junge Frau hat mich zwar darum gebeten,“ sagte sie zu Dr. Römer, „aber ich tu's nicht. Ich kann es nicht tun. Denn wenn ich mir vorstell’, daß sie auch darauf kein gutes Wort sagt, dann ist mir, ich müßt’ ihr ins Gesicht schlagen, in das schöne, stolze . . . Gott verzeih mir die Sünd’, wenn's eine ist.“

Dr. Römer hatte zu ihren Worten geschwiegen . . . Hatte er der alten Madame wohl Heute von dem kleinen Enkel gesprochen? Und was war ihre Antwort gewesen? Dachte sie wohl, während sie unten herumwanderte, darüber nach, ob Alexandras schmale Zinsen und der zufällige Verkauf eines Bildes genügen, um –

Regula schrak plötzlich zusammen. Sie war nach Beendigung ihrer Arbeit nicht in ihr Zimmer und zu Bett gegangen, sondern hatte sich, wie schon oft, auf die oberste Treppe gesetzt. Es ließ sich hier so gut und ungestört nachdenken.

[84]

Aber nun war ihre Ruhe jäh gestört worden. Regula beugte sich über das Geländer. Da sah sie ihre Herrin, die bei ihren nächtlichen Wanderungen sonst nie die lange Flucht ihrer Zimmer verließ, die Treppe zum untern Stock hinuntersteigen. Regula verschlug es fast den Atem. Was wollte sie dort unten?

Aber schon nach wenigen Augenblicken kam die alte Madame wieder die Stufen herauf. Regula sah das wundervolle Haar unter der Ampel aufleuchten wie rotes Gold, sie hörte das Rauschen des schweren Seidenkleides, und sie hörte noch etwas tiefe, fast schmerzliche Atemzüge, und jetzt – großer Gott! einen Ton . .. war es ein Seufzen, ein Schluchzen gewesen?

Noch lange, nachdem die alte Madame in ihre Zimmer gegangen, saß Regula auf der Treppe, den Kopf ans Geländer gelehnt. Ihre gefalteten Hände lagen müde und bewegungslos im Schoß, aber ihre Gedanken waren wach und lebendig und bestürmten in heißen Worten sie, deren Schritte wieder und wieder durch die Stille heraufklangen.

Am folgenden Morgen erwartete Regula fiebernden Sinnes der Herrin Klingeln. Was würde sie sagen, was würde sie tun?

Aber die alte Madame sagte in ihrer gewohnten [85]kühlen Ruhe: „Ich werde nach dem Frühstück zu Bett gehen. Sorgen Sie dafür, daß möglichst wenig gelärmt wird.“

Regula sank vor der Türe auf den nächsten Stuhl. Sie empfand die Enttäuschung wie einen grausam bohrenden Schmerz. War denn das nächtliche Erleben ein Traum gewesen? Aber nein, nein. In ihrem Ohr klang noch der schmerzliche Seufzer, der in ihrem Herzen so frohe Hoffnungen wachgerufen.

Hätte doch Regula in ihrer Herrin Inneres schauen können, sie hätte nicht so trostlos geweint . . .

Ein Tag nach dem andern verstrich. Noch drei Nächte durchwanderte die alte Madame ihr stilles Haus. Dann kehrte sie zur großen Erleichterung ihrer Dienstboten zum vernünftigen Tageslauf zurück.

Als der Freitagnachmittag wiederkehrte, den Dr. Römer regelmäßig bei seiner alten Freundin zu verbringen pflegte, erschien statt seiner die Haushälterin mit einer höflichen Entschuldigung: er habe ganz plötzlich eine kleine Reise antreten müsssen.

Wie Regula ihrer Herrin die Nachricht übermittelte, überzog eine leise Wehmut ihr Gesicht, die sie keineswegs zu verbergen suchte. Ja, unter Regulas beobachtenden Blicken schien sich der schmerzliche Zug noch zu vertiefen, und die [86]Augen schauten nicht stolz und verweisend, sondern traurig und hilflos. Da überflutete Regulas Herz plötzlich eine Welle des Mitleids. Wieder ging sie unter Tränen an ihre Arbeit zurück, aber sie weinte nicht im Jammer um die junge Frau, sie weinte um ihre alte Madame, die ihr mit einem Male weitaus die unglücklichere und bemitleidenswertere der beiden zu sein schien. – –

Die Montagspost brachte ein eingeschriebenes Paket. Es hatte etwa den Umfang einer Schiefertafel, und es wog leicht, als es Regula in Empfang nahm, um es der alten Madame hinaufzubringen. Aber unterwegs studierte sie den Namen des Ahsenders, und da wurde das Paket plötzlich so schwer, daß es beinahe ihren Händen entglitt: es war der Name der jungen Frau, wohl von der Hand ihres Mannes geschrieben.

Vor Regulas Augen tanzten schwarze Punkte. Was ssstak in dem Paket? Woßhl wieder ein Bild? Und wenn ihm das gleiche Schicksal widerführe wie dem letzten, dem wunderschönen Bild der Heimat? Aber nein, dieses würde nicht zurückgehen, dieses nicht . . . Regula wußte selbst nicht, woher ihr die plötzliche starke Zuversicht kam.

Die alte Madame saß am Flügel. Aber sie spielte keine der heißen und wilden Melodien, [87]vor denen sich Regula fast fürchtete. Sie spielte eine leise und rührend schlichte Weise.

Regula hatte bisher noch nie gewagt, das Zimmer zu betreten, wenn die alte Madame musizierte. Aber die zarte Melodie erschien ihr wie ein Zuruf: es ist ein guter Augenblick, zögere nicht.

Auf den Zehenspitzen schlich sie ins Zimmer und legte das Paket auf den Flügel, dann trat sie ebenso leise den Rückweg an.

Eine Weile blieb sie lauschend an der Türe stehen. Die alte Madame spielte weiter, immer dieselben zarten, wiegenden Töne, als könne sie sich nicht an ihnen ersättigen. Dann brach sie ab, und Regula hörte sie ins Nebenzimmer gehen. Hatte sie das Paket mitgenommen?

Während die alte Madame am Abendessen saß, spähte Regula in den Salon. Das Paket lag noch, ungeöffnet, auf dem Flügel, aber an einer andern Stelle. Sie mußte es also in die Hand genommen und den Absender gelesen haben. Was würde nun weiter geschehen?

Regula mußte zu Bette gehen, ohne eine Antwort auf ihre Frage erhalten zu haben. Sie fühlte, wie sich die graue Hoffnungslosigkeit aufs neue in ihr Herz drängen wollte. Und sie wehrte ihr nicht. Sie war allzu müde.

Schwer sank sie in ihre Kissen und verfiel alsbald in einen Schlaf, der also lastend auf ihr [88]lag, daß sie, die sonst so Wachsame, nicht hörte, wie ein leiser Schritt an ihrer Kammer vorüberglitt. –

Als Regula die alte Madame verlassen, hatte sie gesehen, wie sie die Augen schloß, als wäre sie müde und schlafberein. Aber kaum war Regula aus dem Zimmer gegangen, so taten sich die schwarzen Augen wieder auf und blickten scharf und glänzend um sich.

Ein, zwei Stunden lag die alte Madame fast regungslos in ihren Kissen, nur ihre Augen wanderten ruhelos. Dann, als der Zeiger nahe an Mitternacht stand, erhob sie sich, kleidete sich an und ging mit sachten Schritten durch ihr Boudoir in den Salon.

Hier drehte sie die Lichter des Kronleuchters an, holte das Paket vom Flügel und setzte sich in einen niedern und tiefen Sessel.

Sie löste Knoten um Knoten. Anfänglich zitterten ihre Finger, aber ihr harter und geübter Wille überwand nach und nach die Aufregung. Sie wickelte die Schnur mit gleichmäßigen Bewegungen auf, strich das äußere dicke Packpapier glatt und legte die beiden schützenden Pappdeckel ebenso ruhig beiseite. Sie löste das lezte verhüllende Papier, warf einen Blick auf das Bild, und — einen Augenblick war ihr, ihr Herz höre auf zu schlagen. Die Hände fielen kraftlos hinab, der Kopf sank vornüber. Aber [89]nur einen Augenblick. Dann kehrte das Leben wieder, feuriger, leidenschaftlicher als je.

Ein fast jauchzender Laut kam über ihre Lippen, als sie das Bild in die Höhe hob. O dies Gesichtchen, das einer Blüte gleicht! Das flaumige Goldhaar, die Augen so tief, so geheimnisvoll in ihrem dunkeln Blau . . . Kennt sie nicht jeden Zug dieses Gesichtchens? Hat sie nicht einst seine leiseste Regung in sich aufgenommen und gekostet wie ein Wunder?

Heiß und jubelnd brach es von ihren Lippen: „Manja, Manja . . “

Aber ihre Stimme gzerriß plötzlich den Freudenschleier, der sie wie in eine Verzauberung versstrickk. Manja? ... Dies ist nicht Manja. Das zarte Bildchen in ihrem Schoß trägt ein Datum nur wenige Tage alt. Und Manja ist schon so lange tot. Wessen Bild hält sie in Händen?

Ach, sie weiß es, sie hat es immer gewußt. Ihr Enkel ist es, der hier vor ihr liegt. Ihr Enkel, der ihr Manjas holde Lieblichkeit wiederbringt. Ihr Enkel – ~ wie hat sie doch zu Dr. Römer gesagt? . . . Was geht er mich an!

Sie stand auf, hastig und erregt. Da flatterte ein Blatt, das sie bisher nicht beachtet, zu Boden, und als sie es aufhob, las sie die Worte: Arved, unser Kind. Elf Monate alt.

Die alte Madame wiederholte die Worte in ihren Gedanken wieder und wieder, während sie [90]in ihrem Salon auf und ab schritt. Zuerst blieb sie nur am ersten Worte hängen: Arved. Der Name war ihr fremd, aber er hatte einen hellen und tapfern Klang, der ihr wohlgefiel. Der kleine Enkel erstand ihr aus dem Wort, daß sie ihn leibhaftig vor sich zu sehen glaubte: geschmeidig und schlank, mit wohlgeformten Gliedern, von Luft und Sonne gebräunt.

Aber neben das Wort Arved drängten sich die nächsten: unser Kind. Wie schön und gut klang dies „unser“. Sie hatte einst gesagt: mein Kind. Aber Alexandra schrieb: unser Kind . . . So war ihre Ehe wohl glücklich. Sie liebte nicht nur das Kind, sie liebte auch seinen Vater . . .

Und plötzlich stürzten sich die Geister der Vergangenheit auf die einsame Frau, daß sie sich ihrer nicht mehr zu erwehren vermochte. Eine Anklage um die andere schleuderten sie ihr entgegen: du hast deinen Mann nicht geliebt, obwohl er nach dir hungerte und wie ein Bettler nach den Almosen haschte, die du ihm zuwarfst. Und hast das Kind nicht geliebt, das seine Züge trug . . . Du gingst und wärmtest dich an fremden Feuern, und dein eigenes Haus blieb in Kälte und Dunkel. Aber Gott wird dich strafen, Gott wird dich strafen! Wir ernten immer, was wir gesät haben . . .

Hätte Regula ihre alte Herrin jetzt gesehen, sie hätte wohl alle Scheu vergesssen und wäre zu [91]ihr getreten, um sie tröstlich zu umfangen. Aber Regula schlief, und die alte Madame mußte die Bitternis dieser Stunde allein durchkosten.

Und der Sturm der Anklagen in ihrem Innern ward immer wilder und betäubender. Alexandra . . . der Name war wie eine Geißel, unter deren Schlägen sie sich wand. Und dann schrie eine Stimme: das Kind, ihr Kind leidet Mangel!

Aber bei diesen Worten streckte die gequälte Frau die Hand aus, flehend, als spreche sie zu einem sichtbaren Feind. „Ich will gutmachen,“ murmelte sie, „ich will gutmachen, hier kann ich's noch.“

Da war ihr, sie höre ein Lachen, also höhnisch und teuflisch triumphierend, daß ihr der Herzschlag stockte.

Hilflos, mit hängenden Armen, blieb sie inmitten des Zimmers stehen. Und plötzlich blitzte ein Gedanke in ihr auf. Ja, das wollte sie tun! ~ Oben in einer der Kammern mußte der Koffer stehen mit all der Kinderwäsche, den Jäckchen und Kleidchen. Dies alles wollte sie Alexandra schicken für den kleinen Arved.

Die alte Madame entzündete eine Kerze und stieg zum Oberstock hinauf. Mit angehaltenem Atem schlich sie an den Mägdekammern vorbei, Sie fand bald die Kammer, darin der Koffer stand, in dem sie vor, ach, wie langen Jahren die Kindersächelchen untergebracht.

[92]

In fast freudiger Erwartung bückte sie sich, schlug den Deckel zurück – der Koffer war leer, ganz leer. Nur ein blaßblaues Seidenband lag darin, ja, und in der Mitte ein weißes Papier, darauf etwas geschrieben zu sein schien. Die alte Madame trat mit dem Blatt in der Hand neben die Kerze und las in ihrem zuckenden Licht: Ich habe alle Sachen in diesem Koffer an die junge Frau Alexandra Bergen geschickt, weil sie es nötig hatte und weil es ihr zukommt. Ich schreibe dies auf den Zettel hier, damit man weiß, wie es zugegangen ist und nicht auf jemand Verdacht hat. Ich habe es aber mit gutem Gewisssen getan. Im Oktober schickte ich den ersten Pack, im Juni den letzten. Regula Hartmann.

Die alte Madame schaute um sich. Hatte nicht wieder das gräßliche Lachen geklungen? Sie strich sich müde über die Stirne. Dann starrte sie wieder auf den Zettel in ihrer Hand. Regula Hartmann . . . wie oft hat s ie sich über die ungelenke Regula geärgert, wie oft über ihren seltsamen Traumglauben spöttisch gelächelt, wie hat sie so wenig Freundlichkeit und Teilnahme für sie gehabt, und nun – ~– Nun steht sie vor ihr in tiefster Scham, bettelarm neben ihr, der Reichen.

[93]

Am andern Morgen ertönte der alten Madame Klingel so spät, daß Regula ganz erlöst aufatmete. „Ich habe wahrhaft gedacht, es sei ihr etwas zugestoßen“, sagte sie zur Köchin. Aber die Josephin verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln und meinte wegwerfend: „Was wird der zustoßgen! Du wirst sehen, sie wird hundert Jahre alt. Je unnützer ein Mensch ist, desto länger lebt er.“

Regula schüttelte verweisend den Kopf, aber sie wußte keine Entgegnung, denn ein nützlicher Mensch, nein, das war die alte Madame wirklich nicht. Es sei denn –~

Regula konnte ihren Gedanken nicht zu Ende denken, denn ihre Herrin trat ihr, schon vollständig angekleidet, entgegen und sagte: „Regula, ich möchte Sie bitten, das Telegramm sofort aufzugeben.“

„Ja, Madame“, stammelte Regula.

Großer Gott, was war mit der alten Madame geschehen? Kann e i n e Nacht einen Menschen so verändern? Das Haar, das glühende Haar . . . es hatte allen Glanz verloren. Das Rot der Wangen war weggewischt, und die Augen lagen tief und brannten wie im Fieber.

Regula stand unbeweglich und starrte in ihrer Herrin Gesicht. Da wandte sich diese ab und sagte leise: „Lesen Sie, bitte, das Telegramm.“

Und Regula las: Frau Alexandra Bergen.

[94]

München. Hiltenbergstraße. Komme heim mit Kind zu Mutter. – –~

Regula wußte später nie, wie sie aus dem Zimmer gekommen. Mit einem Male fand sie sich auf der Straße, fast laufend, die Tränen rannen ihr über die Backen.

Sie ärgerte sich über den Postangestellten, der so gleichmütig die Worte abzählte und dann noch den Namen der alten Madame verlangte. Der dumme Mensch! Er konnte kein Gefühl haben. Sonst hätte er diesen Worten ein wenig ihre Bedeutung angesehen. Aber er glaubte wohl, es handle sich um eine ganz gewöhnliche Ferieneinladung.

Auf dem Nachhauseweg hätte Regula am liebsten alle Leute angeredet. Sie beneidete den kleinen Schuljungen, der, die Hände in den Hosentaschen, johlend einherzog. Sie hätte ihre Freude auch am liebsten hinausgesungen: nun wird es gut, nun wird es schön bei uns!

Sie rechnete aus, bis wann die beiden wohl eintreffen könnten, und dann ging sie in Alexandras Mädchenzimmer und stieß die Laden auf, daß sie klatschend an die Hausmauer schlugen. Hei, wie sie sich freute, Hier wieder Luft und Licht hereinzulassen, wieder Ordnung schaffen zu dürfen! Und dann galt es ja noch, das Kinderbett herunterzuholen und hundert liebe Vorbereitungen zu treffen.

[95]

Regula sang, und Regula sprang die Treppen auf und ab, flinker als die Kleine. Sie vergaß ihre Träume: die Wirklichkeit war ja so schön und wunderbarer als irgendein Traum. Sie schlich sich wieder und wieder an den Schreibtisch der Herrin, darauf das Bild des kleinen Arved stand, und lachte in glückseligem Stolz: gibt es ein zweites Kind wie dieses! O wie wird das Haus jung und froh werden, wenn sein Stimmlein durch die Räume klingt! – –

Der alten Madame wich Regula in diesen Tagen aus, wo sie nur konnte. Denn merkwürdig, so oft sie ihre Herrin erblickte, war ihr, ein kalter Wind drohe ihr Freudenlicht auszulöschen.

Zuerst empfand sie dieses Gefühl nur dumpf und konnte es leicht überwinden. Aber am dritten Tag ward es stärker und stärker, und als am vierten Tag immer noch keine Nachricht aus München eingetroffen, da wußte Regula, warum sie den Anblick der alten Madame fürchte.

Sie rang mit dieser Furcht, Heiß und verzweifelt, aber sie ließ sich nicht mehr überwinden.

Das Freudenlicht ward kleiner und kleiner und erlosch endlich ganz. Nein, es würde nicht gut, nicht schön bei ihnen werden . . . Hatte sie es nicht all diese Jahre oft genug empfunden und es sogar einmal in zornigem Entsetzen ausgesprochen, daß Gottes Strafe die Herrin treffen [96]werde? Es konnte ja nicht anders sein. Alle diese Jahre des Hasses . . .

Aber sie tat ihr leid, die alte Madame. Regula sah so deutlich, wie die Qual des Wartens sie verzehrte. Sie hörte sie ruhelos wandern von Zimmer zu Zimmer, stundenlang. Wohl nahm sie manchmal ein Buch zur Hand, aber Regula sah, daß sie kein Blatt umwendete, sondern mit allen Sinnen in die Ferne lauschte, lauschte . . .

Am Abend des sechsten Tages, als Regula ihre Herrin stumm bediente, ertönte die Hausglocke laut und heftig. Die beiden Frauen sahen sich an, und jede las die Gedanken der andern.

„Endlich“, flüsterte Regula.

„Ja, das Ende“, erwiderte ihre Herrin.

Die Kleine klopfte und übergab Regula ein Telegramm.

Die alte Madame setzte sich kerzengerade. Sie sah aus wie eine Tote, nur ihre Augen lebten.

„Lesen Sie, Regula“, befahl sie. „Lesen Sie es laut und deutlich.“

Und Regula las: „Arved Heute früh gestorben. Alexandra kann nicht kommen. Brief folgt. Dieter Bergen.“

[97]

Die Geschwister.

„Was wohl das Bethli dazu sagen wird?

Willst du's ihr noch heute berichten, Lukas?“

Frau Hermine schaute ihrem Mann erwartungsvoll und ein klein wenig schadenfroh ins Gesicht.

Dieser antwortete nicht. Er stand am Fenster, und sein Blick ging über die blühenden Geranien weg nach dem Münster, von dem man just die Pforte erblickte, darüber ein steinerner heiliger Martin seinen Mantel zerteilt, irgend einem unsichtbaren Beitler zulieb. Daß man diesen nicht sichtbarlich angebracht, war Frau Hermine ein stetes Aergernis. Am andern Turm, wo der heilige Georg mit fürchterlich langer Lanze dem Drachen zu Leibe rückt, hat man diesem doch auch ein artiges Höckerlein gebaut, darauf er mit aufgesperrtem Rachen kauert und sich durch und durch erstechen läßt. Und der arme heilige Martin muß von seinem Roß aus ins Leere hinunter den Mantel zerteilen! . . . Zwar hatte das Bethli einmal gemeint, es gingen genug Bettler unter ihm durch, aber sie, die Frau des Sigrist am Münster, gehört wahrlich nicht zu diesen. Und überhaupt, das Bethli mit seinen wunderlichen Gedanken . . , „Lukas!“

[98]

Frau Herminens Stimme klang diesmal Jo energisch, daß der Angerufene sich zu ihr wandte. „Ia, was ist's?“ sagte er versonnen, als kehrten seine Gedanken aus irgend einer Ferne zurück.

„Ich frage mich, was das Bethli zu deinem Entschluß sagen wird. Du kannst mir's glauben: die nimmt die Sache nicht auf wie ich. Ueberhaupt, sei du nur froh, daß ich so zufrieden bin damit. Manche Frau täte jezt jammern um den Verdienst und würde behaupten, sie komme mit der Pension nicht aus. Aber so bin ich nicht. Es ist mir ganz recht, daß du jetzt weggeht. Wir sind beide noch nicht so alt, daß wir nicht das Leben noch ein bißchen genießen könnten. Und ich hätte schon lange gerne vor der Stadt gewohnt, so recht im Grünen, weißt du, wie Schindlers. Ich muß doch einmal fragen, ob da draußen nicht eine Wohnung leer steht. Ach, Lukas, du kannst dir gar nicht denken, wie gerne ich aus dem dunkeln Kasten herausgehe!“

„Ist es denn hier dunkel?“ fragte Lukas Matzinger mit staunenden Augen. „Das habe ich noch nie bemerkt . . . Mir tut's bitter weh, weg zu müssen aus dem lieben alten Haus. Es ist nicht wie andere Häuser, Hermine . . . Ich meine immer, wenn Häuser reden könnten, dann wüßte dieses viel zu erzählen.“

„So, davon verstehe ich nichts. Aber daß es anders ist als andere Häuser, das weiß ich allerdings. [99]Ich glaube, in unserm ganzen Bekanntenkreis ist niemand, der sich noch mit dem elenden Petroleum behelfen muß, außer uns. Wenn ich dran denke, wie bei den andern die Stuben so hell und freundlich dreinsehen in dem schönen Gaslicht! Aber natürlich ihr zwei, das Bethli und du – – = halt, wohin willst du?“

„Eben zum Bethli. Ich muß die Sache mit ihr bereden; ich will nicht, daß sie ihr von anderer Seite zu Ohren kommt und ihr unnötig weh tut.“

Frau Hermine hatte ein spöttisches Funkeln in den Augen, als sie gereizt entgegnete: „Du tust gerade, als wäre deine Schwesster etwas ganz Apartiges, das man nur mit Samthandschuhen anfassen dürfe. Ich kann so ein Getue nicht ausstehen, und du mußt nur nicht meinen, daß du mich je dazu bringen wirst, mitzumachen.“

„Warum sprichst du nur so unfreundlich? .. . Das Bethli hat dir doch nie etwas zuleid getan, sollt’ ich meinen. Eher “

„Was eher ?“

„Ich wollt’ sagen: eher viel zulieb. Wenn ich denke, wie sie immer beim Puten hilft, und wie gut sie zu unserem Margritli ist.“

Frau Matingers Gesicht ward flammendrot. „Ich will dir etwas sagen, Lukas: mir zulieb hilft das Bethli nicht beim Putzen. Das tut sie aus Liebe zum alten Münster. Meinst, ich [100]wäre so blind, daß ich nicht gesehen hätte, wie sie rein vernarrt ist in die Bänke und Fenster und in die uralte Kaiserin, und ich glaube wahrhaftig noch in den Heiligen, der so grausam hat leiden müssen. Und wenn all die vielen Lichtlein brennen, dann macht sie akkurat ein Gesicht wie –“

Lukas Matinger hob abwehrend die Hand. „Sei still, Hermine, du mußt das Bethli nicht verspotten. Daß sie anders ist als du und deine Familie J soll das ein Fehler sein? Laß du mir das Bethli wie sie ist. Ich möcht' sie um kein Haar anders, und ich wollte nur, es hätte jedes von uns ein wenig von ihrer stillen und gütigen Art.“

Lukas Matzinger hatte bei den lezten Worten die Türklinke ergriffen. Mit kurzem Gruß verließ er das Zimmer und ging nun langsam und mit tastenden Händen durch den dunkeln Hausflur der Treppe zu. Aber ehe er diese erreicht hatte, ward die Stubentüre hastig aufgerissen, und eine junge Helle Stimme rief: „Vater, Vater, bleib doch da! Die Mutter sagt, sie Habe den Kaffee schon fertig, und sie hat mir Geld gegeben, um frische Wecken zu holen. Gelt, du bleibst da? Ich begleite dich nachher zur Tante Bethli.“

Lukas Matingers Herz tat ein paar rasche, frohe Schläge. Um die dünnen, glattrasierten Lippen spielte ein schalkhaftes Lächeln, denn er [101]wußte: drinnen in der Stube stand eine, der es leid tat, daß sie ihrer Zunge einmal wieder allzu freien Lauf gelassen. I h r e Abbitte war es, die ihm aus der Stimme seiner jungen Tochter entgegenklang. Lukas Matzinger aber gehörte nicht zu den Menschen, die in gekränkter Abwehr verharren, wenn ihnen ihr Widersacher nicht genau in der Weise entgegenkommt, wie sie es gerne gesehen. Er kehrte ohne Zögern um und nickte der Frau, die geschäftig den Kaffeetisch deckte, freundlich zu. Sie hatte noch immer hochrote Wangen und funkelnde Augen, aber der Spott darin war einem warmen, fast zärtlichen Ausdruck gewichen.

Das Margritli kam mit den frischen Wecken. Sie setzte sich an den Tisch, warf die langen lichtblonden Zöpfe rechts und links über die Schultern zurück und atmete etliche Male so recht aus Herzensgrund. Dann fing sie an zu berichten, was sie im Bäckerladen Lustiges erfahren, aber mit einem Mal brach sie ab und sagte vorwurfsvoll: „Ach was, ich erzähl’ nicht weiter, der Vater hört ja gar nicht zu.“

Lukas Maztinger schaute ein wenig schuldbewußt drein. Er griff über den Tisch nach des Margritlis Hand und strich begütigend und immer noch verträumt über die schmalen Finger. Dann sagte er plöglich: „Du Hast genau ihre Hände. Nicht in der Farbe, die ihren sind [102]weißer, aber sie sind auch sso weich und kühl. Die Mutter sagte immer: das Bethli hat so gute Hände.“

„Ach, von der Tante Bethli sprichst du! Ich wußte zuerst gar nicht, an wen du denkst.“

Frau Hermine dachte: ich habe es gleich gewußt, er scheint ja heute gar nicht von ihr loszukommen. Aber sie unterdrückte tapfer die eifersüchtige Regung und fagte spassend: „Weißt, Margritli, der Vater kennt halt die Tante Bethli viel länger als uns zwei. Dent doch, dich erst sechzehn und mich etwa zwanzig Jahre! Drum ist er, glaub’ ich, in Gedanken ebenso oft am Elftausendjungfernberg als bei uns zwei.“

Das Margritli lachte, dann sagte sie plötzlich in zärtlich bittendem Ton: „Vater, erzähl’ uns doch einmal von der Tante Bethli, wie sie noch klein war. Du hast mir's schon oft versprochen, und nun sitzen wir eben so gemütlich beisammen, da könntest du gerade anfangen.“

Sie bettelte nicht nur mit der Stimme, sondern noch viel beredter mit den Augen, die groß und tiefblau aus dem sonnverbrannten Gesichtlein schauten. Auch Frau Hermine begann zu bitten, denn es drängte sie, in ihres Mannes Erinnerung die unguten Worte, die ssie über seine Schwester geäußert, auszulöschen.

Lukas Magtinger schob die Kaffeetasse zur Seite und legte beide Arme auf den Tisch. [103]Dann fing er an, seinen Ehering zu drehen und betrachtete mit scheinbar tiefem Interesse die Linien der rechten Handfläche. Das Margritli wagte kaum zu atmen. So war es gut. Die äußern Zeichen bewiesen, daß der Vater in richtiger Erzählstimmung war. Und nun legte er die Fingerspizen aneinander und begann mit einem nach innen gekehrten Blick: „Das Bethli war immer ein Besonderes, sogar als es noch im Korbwagen lag. Wir vier Buben, die vor ihm darin gelegen, seien böse Schreier gewesen, hat die Mutter oft erzählt. Aber das Bethli schrie fast nie, sondern lag und schaute mit seinen großen, freundlichen Blauaugen ganz gelassen um sich. Manchmal war ein tiefes und holdes Fragen und Staunen in den Augen, daß mir großem Buben — ich war damals schon zehn Jahre alt – ein seltsam Gefühl übers Herz ging.

Als dann das Bethli gehen konnte und uns Buben auf die Gasse nachtrottete, schaute es nicht mehr so gelassen um sich wie in seinem Korbwagen. Es war gar ängstlichen Gemüts und fürchtete sich vor großen Buben, vor Hunden, vor Gänsen, vor Männern mit tiefen und rauhen Stimmen. Wir Brüder aber konnten uns über die Aengstlichkeit des kleinen Dings halbtot lachen, zumal die zwei jüngern. Der Matthis hielt sich mehr abseits; in mir aber regte sich hin und wieder ein Unbehagen und ein kleines [104]Reuegefühl, wenn ich die verstörten Augen der Kleinen sah oder ihr klägliches Weinen hörte. Und einmal bin ich denn gründlich aus meiner gedankenlosen Grausamkeit aufgesschrect worden und war von Stund an der Verteidiger und sorgliche Hüter des kleinen Bethli.

Die Mutter hatte uns, wie schon oft, auf den Gottesacker geschickt, um die Blumen auf Großvaters Grab zu begießen. Wir nahmen das damals vierjährige Bethli mit, samt seiner geliebten Puppe, die wir Buben ihrer Häßlichkeit wegen nicht ausstehen konnten. Zudem war sie so groß, daß ihre Füße immer im Straßenstaub schleisten und das Kind öfters über ihnen zu Fall kam.

An jenem Abend nun hatte das Bethli die Puppe auf Großvaters Grabhügel gesetzt, um besser zwischen den Gräberreihen auf und ab gehen zu können.

Ich betrachtete sie eine ganze Weile. Leise singend schritt sie, zierlich und leicht wie eine Bachstelze, durch die schmalen Weglein, irgend einem sie vergnügenden, eigensinnig festgehaltenen Plane folgend, von dem sie kein Dazwischentreten der andern abbringen konnte.

Und plötzlich packte mich ein dumpfer Aerger und zugleich ein quälendes Verlangen, des kleinen Bethli Freude zu zerstören. Nun hätte ich zwar, um dies zu erreichen, nur die Puppe [105]ergreifen und anscheinend mit ihr entfliehen müsssen; mit Weh- und Angstgeheul wäre mir das Bethli nachgestürzt. Aber ich verlangte nach etwas Außerordentlichem, das Kind zu ängstigen.

Noch stand ich unschlüssig und schaute über das weitgedehnte Feld der Gräber hin. Da sah ich in der Ferne zwischen dunklen Büschen eiwas Weißes schimmern, und mit einem Male sprang, wie eine böse, stechende Flamme, ein Gedanke in mir auf. Ich befahl dem Bethli, seine Puppe zu holen, rief den Brüdern und weihte sie flüsternd in meinen Plan ein. Sie nickten Zustimmung und grinssten vor Freude über den herrlichen Spaß, und keinem einzigen von uns kam ein Gedanke des Mitleids mit dem ahnungslosen kleinen Ding, das seine Puppe hinter uns her schleifte.

Wir näherten uns allmählich dem dunklen Gebüsch, darin der weiße Grabstein stand, den ich aus der Ferne erspähßht. Nun fing ich an, in geflüsterten Worten dem Bethli zu erzählen, daß sich da hinter den Büschen etwas Unheimliches, etwas ganz Fürchterliches befinde, dem es sich überhaupt nur unter unserm Schutz nähern könne. Das Bethli drängte sich an mich; ich sah, daß sein Gesichtchen ganz blaß war vor Furcht. Nun bogen wir um den letzten verhüllenden Busch, und -- vor uns stand das seltsame Grabmal. Mit grimmiger Freude wartete ich auf [106]des Bethli Angstgeheul. Aber das Kind bereitete uns eine schwere Enttäuschung. Es schrie nicht, es lief nicht weg; es beschaute sich den steinernen Sarkophag, unter dessen wie lose geschlossenem Deckel das Leichentuch hervorhing, mit harmlosem Erstaunen.

Ich war wütend. Noch einmal versuchte ich es, dem Bethli das Gruseln beizubringen. „Denk’ einmal, wie es wäre, wenn sich ganz, ganz langsam der Deckel heben würde und ein Toter herausgestiegen käme“, sagte ich mit dumpfer Stimme. Aber das Bethli lachte nur und meinte: „Nun wollen wir noch das Franzosengrab anschauen!“

Sie lief davon; wir andern gingen langsam hinter ihr drein.

Die Brüder verlachten mich ob des mißglückten Planes. Ich aber war voll eines finstern Trotzes, das böse Spiel dennoch zu gewinnen. Wieder gab ich flüsternde Befehle, und wieder fand ich selbstverständliche Zustimmung. Eine Weile standen wir neben der das Franzosengrab bewundernden Kleinen. Wir alle wußten, daß sie, wenn irgendeine Sache sie stark fesselte, ihre ganze Umgebung vergessen konnte. Darauf hatte ich meinen Plan gebaut . . .

Und lautlos entfernte sich einer nach dem andern, ich war der letzte. Als ich noch einmal zurückäugte, sah ich die Kleine unbeweglich nach [107]der Spitze des roten Sandsteinungetüms starren sie hatte unser Davonschleichen nicht bemerkt.

Unter den Büschen neben dem weißen Sarkophag erwarteten mich die Brüder. Ich war voller Triumph. So weit war die Sache gelungen. Nun hieß es, sich flugs verstecken, denn selbstverständlich würde sich das Bethli, aus seiner Versunkenheit aufgewacht, hieher wenden, uns zu suchen, zumal der Heimweg in dieser Richtung ging.

Wir hatten eine ganze Weile zusammengekauert am Boden gesessen; der Matthis fing schon an ungeduldig zu werden, da hörten wir des Bethli Stimmlein und bald darauf auch seine Schritte. Es schien zu laufen. Sonst hätten wir den Kies nicht so deutlich knirschen hören. Und nun klang die Stimme schon ganz in der Nähe. „Lukas!“ rief das Bethli. „Lukas!“ ... Warum rief sie keinem der andern, warum nur mir?

Ebenso rasch, wie zuvor die böse Flamme, stieg nun ein Ekel an mir und meinem Tun in mir hoch.

„Lukas!“ sang das Stimmlein, und die hurtigen Füße sprangen dicht an meinem Versteck vorbei. Aber, obwohl mir war, als trete jeder Schritt auf mein Herz, rührte ich mich nicht, denn – was würden die Brüder denken, wenn ich, der den ganzen Plan angezettelt, ihn im [108]letzten Augenblick umsstoßen würde? Zudem – es war ja alles gar nicht so schlimm. Das Bethli würde im nächsten Augenblick anfangen zu schreien, dann konnte ich ja gleich hervorkommen.

Ich wartete. Aber das Bethli schrie nicht. Wo war es denn überhaupt nur hingekommen? Das Laufen hatte doch aufgehört. Es mußte in unsrer nächsten Nähe am Grabmal stehen. Und wir hörten nichts, nichts, keine Bewegung, keinen Atemzug. Aber mit einem Male merkten wir, daß das Tageslicht der Dämmerung gewichen, und daß in den Bäumen über uns ein drohendes Rauschen anhob.

Da überkam uns selbst das Gruseln. Ich erhob mich sachte aus meiner gebückten Stellung, bedeutete den Brüdern ein gleiches zu tun und hielt Ausschau nach dem Bethli.

Und mir war, eine eisige Hand greife nach meinem Herzen und pressse es langsam, langsam zusammen. Zwei Schritte von dem Sarkophag entfernt, stand das Kind mit eng an die Brust gepreßten Händen. Unbeweglich, als wäre sie sselbst ein kleines Steinbild, stand sie und starrte mit verzerrtem Gesicht auf den Deckel des Sarges. Und als ich der Richtung ihres Blickes folgte, sah ich auch, was das arme, kleine Hirn wohl zu sehen glaubte: der Deckel hob sich langsam, langsam, das weiße Tuch geriet in Bewegung . . . Ich weiß nicht, wer von uns den gräßlichen [109]Schrei ausstieß, ich weiß nur, daß sich das Kind, als ich vorsprang, gegen mich wandte und in meine ausgestreckten Arme fiel.

Dann hörte ich des Matthis' bedächtige Stimme: „Es wird wohl tot sein. Aber daran bist du allein schuld, Lukas. Du hast es alles angestiftet!“

„Ja, ja, du bist schuld“, heulten die zwei Kleinen.. „Wir sagen's der Mutter.“

Ich konnte nicht reden, ich konnte nur lauschen. Denn alles in mir und um mich, das Herz und das wildklopfende Blut in den Adern, der Wind in den Zweigen und das Wasser des Brunnens – alles sang: du allein, du allein ...

Aber wie ich das Bethli in den Armen hochhob, hörte ich durch sein leichtes Kleidchen das Herz pochen. Leise und mühsam zwar, aber es pochte doch, es pochte. Das war mir für den Augenblick genug.

Als wir das ohnmächtige Kind nach Hause gebracht, schickte die Mutter den Matthis zum Arzt und ließ sich von den zwei Kleinen das ganze Erlebnis erzählen.

Ich stand daneben, und ich weiß, daß ich unverwandt in ihr Gesicht starrte und seine wechselnden Stimmungen las. Aber zuletzt konnte ich den Jammer darin nicht ertragen und kehrte mich stumm zur Wand. Was sie mir nun tun [110]wird? dachte ich, und ich malte mir die unsinnigsten Strafen aus: vielleicht wirst du in den Keller gesperrt, ein ganzes Jahr lang. Oder vielleicht tut man dich in eine Bessserungsanstalt, und du mußt mit einem grauen Sträflingsanzug herumlaufen. Oder ~

Mitten in meine Qual hinein fühlte ich eine Berührung, von der Tröstung und Heilung ausging, daß ich an den lieben Herrn Jesus denken mußte. Meine Mutter hatte mir übers Haar gestrichen, ganz sachte und weich, und als ich aufblickte, sah ich ihre Augen innig nah und traurig auf mir ruhen.

Das Beihli erwachte aus seiner Ohnmacht, als es gegen Mitternacht ging, und verfiel danach in einen guten, stärkenden Schlaf, aus dem es mit denselben klaren Augen und demselben zwitschernden Stimmlein aufwachte, wie alle Tage zuvor. Ich war in den frühen Morgenstunden, auf dem Stuhl sitzend, eingeschlummert. Aber beim ersten Ton der Kleinen fuhr ich empor, und als mir aus den Worten der Mutter klar geworden, daß die gräßlich drohende Gefahr vorüber sei, fing ich an zu weinen wie nie in meinem Leben zuvor oder nachher. Und es war mir dabei, als reiße der Tränenstrom, der mir nicht aus den Augen, sondern zutiefst aus dem Herzen zu brechen schien, viel Schweres und Lastendes mit, daß zuletzt nichts in mir blieb als [111]ein allmächtig großes Verlangen, gut zu machen und gut zu sein gegen Vater und Mutter, gegen die Armen und Verfolgten, gegen die Lehrer und meine Brüder, aber vor allem gegen das arme kleine Bethli. Ich fürchte aber, daß der Strom von guten Vorsätzen ein sehr schmales, bescheidenes Bächlein geworden ist. Einzig meinem Gelöbnis, des Schwessterleins Beschützer zu werden, bin ich treu geblieben.“

„Ja, weiß Gott!“ stimmte Frau Hermine bei. Das Margritli aber sagte streng: „Das war auch nötig, nachdem du so böse mit ihm gewesen. Ich hätte gar nicht gedacht –“

Sie brach ab, lachte erst etwas verlegen, dann mit einer plötzlich aufflackernden Freudigkeit, und sagte mit einem schönen und warmen Blick in des Vaters Gesicht: „Nein, eigentlich freut es mich, daß du auch einmal so böse warst. Denn nun denke ich, daß aus mir auch noch etwas Gutes und Rechtes werden kann . .. Aber nun mußt du uns noch etwas anderes erzählen, etwas Liebes und Feines.“

„Etwas Liebes und Feines“, wiederholte Lukas Matinger sinnend. „Ja, davon sollte ich eigentlich viel zu erzählen wissen. Aber ich brina’ es nicht gut über die Lippen. Siehst du, Kind, das Liebe und Feine muß ich im Herzen bewahren. Will ich es in Worte fassen, so finde ich entweder nicht die rechten dafür, oder aber [112]geht beim Besprechen das Zarte in die Brüche, daß ich mir nachher arm und beraubt vorkomme . . . Aber du Jsollst doch etwas Liebes und Feines zu hören bekommen, das das kleine Bethli angeht.

In einer stockdunklen Nacht ist's gewesen. Da ging ich mit ihr durch die Mönchsgasse. Weit und breit brannte keine Laterne, und der Himmel war dermaßen mit dicken Regenwolken verhangen, daß sie fast auf den Dächern zu lasten schienen. Plötzlich tauchte in der Finsternis vor uns ein Lichtlein auf, ein kleinwinziges, rotglühendes. Ich merkte bald, daß sich da ein Mann nähere, die brennende Zigarre im Mund. Das Bethli aber konnte sich das schwebende Lichtlein nicht erklären. Als der Mann an uns vorbeigegangen, blieb sie stehen und sagte mit einem nachdenklichen Stimmlein: „Du, Lukas, was trägt denn der Mann für ein Tröpflein Hell?“

Bei diesen lieblichen Worten hat mich etwas angerührt, das schmerzlich und schön zugleich war. Stärker als je zuvor fühlte ich, daß die Kinder über Brücken gehen, die also zart und luftig beschaffen sind, daß nur ihre leichten Füße sie betreten können. Wir mit unserm schweren Schreiten . . .“

Lukas Matzinger lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schloß die Augen. Das Margritli saß mit aufgestützten Armen und hatte ein sinnendes [113]Gesichtlein. Frau Hermine aber ward unruhig. Sie liebte derartig geheimnisvolle Stimmungen, die sie nur unklar als etwas Außerihrliegendes empfand, keineswegs. Es drängte sie mit einer raschen Frage, das Gedankengespinst der beiden andern zu zerreißen. „Hat das Bethli eigentlich nie eine Liebe gehabt, daß sie nicht geheiratet hat? Ich kann mir doch kaum denken, daß sie keiner gewollt hätte.“

Das Margritli betrachtete die Mutter mit unwilligem Erstaunen. Lukas Magtinger aber erwiderte langsam und lachte dazu sein schalkhaftes Lachen: „Daß du erst heute davon anfängst, Hermine! Auf deinen ersten Satz kann ich nur antworten: das ist des Bethli Sache. Auf den zweiten kann ich sagen, daß allerdings mehr als einer um sie geworben hat. Aber warum sie ihnen allen einen Korb gegeben, ist hinwicderum des Bethli Sache und geht keinen dritten etwas an . . . Es wird schon so recht sein, wie sie gehandelt hat.“

„Natürlich“, meinte Frau Hermine mit leisem Spott. „Hätte nun das Bethli einen Witwer mit zwölf Kindern geheiratet, so wäre dies das Rechte gewesen.“

„Gewiß“, entgegnete Lukas Matzinger unerschüttert. „Hätte sie den Witwer genommen, so hätte ich gewußt, daß sie eben so und nicht anders habe handeln müssen.“

[114]

Er stand auf. Aber als das Margritli eilig nach ihrem Hut laufen wollte, vertröstete er sie hen andermal. Er müsse allein sein bei diesem Gang.

Während Lukas Matinger die Treppe hinunterstieg, mußte er die Worte seiner Frau noch einmal bedenken. Er lächelte. Sie hatte ahnungslos sehr nahe an die Wahrheit gestreift. Allerdings waren es acht und nicht zwölf Kinder gewesen . . . Ach, noch heute ist er froh und dankbar, daß das Bethli nicht den Mut gefunden, diese Aufgabe zu übernehmen. Was wäre aus ihr, dem zarten und weichen Menschenkind, an der Seite des finster- und hartblickenden Schuhmachermeisters geworden? Und für den Bruder wäre sie dann sicherlich verloren gewesen, denn ihre hoch und Hell gelegene eigene Wohnung hätte sie ja verlasssen müssen, um in die dunkle Schusterwohnung zu ziehen. Und hier hätte sich wohl kein stilles Eckchen und keine ruhsame Plauderstunde für den Bruder gefunden . . . Nein, nein, es ist gut so, wie alles gekommen. Die Zinsen des kleinen Vermögens und das, was das Bethli mit ihren geschickten Fingern verdient, verschaffen ihr nicht nur ein Stück trocken Brot, sondern auch etwas Butter dazu, die freilich häufig genug nicht aufgestrichen wird, sondern [115]irgendeiner Armut dienen muß . . . Ein freundliches kleines Heim hat das Bethli, drin gute alte Möbel stehen. Und die Fenster sind voller Blumen, und das winzige Dachgärtlein grüßt zum Strom nieder mit wehenden Ranken und glühenden Nelken und Geranien. Und ob sie nun hier steht und sich an der weich und schön geschwungenen Bergeslinie freut, die hinter den Häusern ferne und Sehnsucht weckend emporwächst . . . ob sie drinnen im Wohnsstübchen, von köstlichen Stoffen umgeben, sitzt und sstickt oder in der winzigen Küche mit Rüben und Kohlköpfen hantiert, immer geht etwas unendlich Wohltuendes, geht Wärme und Klarheit von ihr aus. Muß nicht der verschrobenste und unaufrichtigste Mensch in ihrer Nähe aufrecht und wahren Sinnes werden?

Lukas Matzinger war, während all diese Gedanken durch seine Seele zogen, über den weiten Münsterplatz geschritten und in die Karthäuserstraße eingebogen. Aber als er den Elftausendjungfernberg hinuntersteigen wollte, packte ihn plötzlich eine Erinnerung, daß er wie in jähem Erschrecken stehen bleiben mußte. Er tat ein paar Schritte nach der Mauerbrüstung, die den Wandernden vor einem Sturz in die Tiefe schützt, und stand dort unbeweglich, die Augen in die blaue Ferne gerichtete. Ein Vorübergehender mochte glauben, daß ihn der weite [116]Blick über Strom und Hügel feßle, aber Lukas Magtinger sah ganz andere Dinge.

Eigentlich war das Museum schuld am Aufwachen seiner Erinnerung. Er hatte ein paar Leute hineingehen sehen, war ihnen in Gedanken gemächlich nachgefolgt und mit einem Male vor ein Bild gelangt, das da oben in einem der Korridore hing: ein feines, bartloses Iungmännergessicht unter breitkrempigem Hut. Und mit einem Schlag war die Gegenwart versunken gewesen. Jung und froh sah er sich an der Seite des eben erwachsenen Bethli unter dem Bilde stehen und Hörte sich sagen: „Diese Aehnlichkeit ist ja unglaublich) Man könnte meinen, der junge Bischoff habe dem Holbein Modell gestanden. Nun, er stammt ja allerdings aus einem uralten Geschlecht. Vielleicht ist's tatsächlich sein Ahnherr, der da hängt und in diesem Enkel auferstanden ist. Was meinst du, Bethli?“

Lachend hatte er sich zur Schwester gewandt. Aber schon nach wenigen Augenblicken war sein Auge betroffen und erschreckt zur Seite gewichen. Denn er, der gewohnt war, in des Bethli Zügen zu lesen wie in einem lieben und vertrauten Buch, er las aus ihrem emporgewandten Gesicht so deutlich, als hätten ihre warmen Lippen das Wort geformt: Liebster du . . .

Sachte schob er sie weiter, als könne er mit dem Bild an der Wand auch das Bild aus ihrem [117]Herzen verschwinden machen. Und während sie nun von Saal zu Saal gingen, ward sein Sinn schwerer und schwerer . . . Warum nur lag ihr Haus so nahe bei dem alten Herrenhof? Warum nur war die Gartenmauer so niedrig, daß des Bethli schlankes Hälslein sich nicht einmal zu recken brauchte, um hinüberzusehen? Und warum mußte just in diesem Sommer, da das Bethli ein Jungfräulein geworden und die lichten Zöpfe aufgesteckt hatte, der junge Alfred Bischoff seine Tante besuchen kommen? Und warum mußte er seine Abendzigarre immer in den Wegen rauchen, die am Gemüsegarten, den das Betihli betreute, entlangliefen?

Auf dem Nachhauseweg machte der junge Lukas seiner Schwester den Vorschlag, die Tante im Schwarzwald für etliche Wochen zu besuchen. Das Bethli hörte ihn still und mit gesenktem Kopf an. Aber als der Bruder ausgeredet hatte und auf eine Antwort wartend, am Törlein des Vorgärtchens stehen blieb, schaute sie ihm mit einem schönen und festen Blick ins Gesicht: „Wie du es erraten hast, Lukas, weiß ich nicht. Vielleicht hätte ich es dir bald einmal gesagt, denn ich habe ja nie ein Geheimnis vor dir gehobt. Und dies ist über mich gekommen wie ach, ich weiß nicht wie. Und Lukas — du mußt nicht darob zürnen, daß wir uns lieben.“

„Hat er dir von Liebe gesprochen? Wie durfte [118]er es wagen, mit dir ein Spiel zu treiben?“ Flammendrot und schweratmend stieß der junge Lukas die Worte hervor. Aber das Bethli legte eine beschwichtigende Hand auf seinen Arm.

„Du darfst nicht von Spiel reden . . . Ich wußte nicht, daß die Liebe also schwere Worte Hat. Meinst du, wir wüßten nicht beide, daß wir nie ein Paar werden können, daß zwischen unserer Liebe immer die Mauer steht? Ach, und sie wird höher und höher wachsen, daß wir uns nicht einmal sehen und sprechen können!“ Des Bethli Stimme schwankte. Aber nur einen Augenblick, dann sprach sie weiter: „Und dieses sollst du wissen, Lukas: meine traurige Liebe ist doch das Schönste, das ich je erlebt, und ich wollte sie um keine andere tauschen.“

„Kind, Kind,“ sagte der junge Lukas, „du weißt nicht, was du redest. Wenn du einmal ein frohes Liebesglück erfährst, wirst du anders denken.“

„Ich werde nie anders denken“, sagte das Bethli . ..

Lukas Maztinger schüttelte die alten Erinnerungen gewaltsam von sich ab. Er setzte seinen Weg fort und überlegte dabei die Worte, die dem Bethli die bösse Nachricht möglichst schonend beibringen sollten. Er wußte, daß sie seinen Beruf liebe, und daß der Anteil, den sie selbst daran [119]hatte, ihr keine Plage und kein Opfer, sondern eitel Freude bedeute.

Er traf die Schwester in ihrem Wohnstübchen, wie sie eben eine kunstvoll verschlungene Zeichnung auf eine Tischdecke übertrug. Sie nickte dem Bruder geschäftig zu und sagte: „Ich kann dir keine Hand geben, Lukas, sonst verschiebt sich das Papier. Aber in fünf Minuten bin ich fertig, und es freut mich, daß ich dir die Sache gleich zeigen kann. Es ist wieder ein Motiv, das ich unserm lieben Münster verdanke. Du siehst also: ich hole mir schon selbst meinen Dank für das bißchen Staubwischen.“

Lukas Maztyinger räusperte sich und setzte sich steif und unsicher auf einen Stuhl, der Schwester gegenüber. „Bethli,“ begann er, „könntest du diese Muster nicht auch während der Predigt aufzeichnen? Ich meine –

„Lukas!“ Fast hätte das Bethli vor Entsetzen die Zeichnung noch an der letzten Ecke verschoben. „Was denkst du nur? Das wäre ja ein Skandal, wenn ich während der Predigt mit Bleistift und Papier hantieren würde. Und wo bliebe dabei das Zuhören? Und überhaupt — es geht doch vor oder nach dem Nuten viel besser, wenn mir das Münster ganz allein gehört. Nein, wie du nur auf die sonderbare Idee kommst!“

Lukas Magyinger hustete. Es klang etwas gekünstelt, so daß sich das Beth!i aus ihrer [120]gebückten Stellung aufrichtete und ihn forschend betrachtete. Und nun entdeckte sie auch die seltsam feierliche und steife Haltung des Bruders.

Eine leise Unruhe kroch über ihr Herz. Sie zog die letzten Linien der Arbeit mit ein wenig zittrigen Fingern. Dann setzte sie sich und schaute den Bruder mit einem fragenden Lächeln an.

Lukas Mazinger aber schwieg und tat mit seinem Schweigen just das Gegenteil von dem, was er hatte tun wollen: er quälte die Schwester. Sie sah gleichham aus dem Schweigen einen dunkeln Schatten steigen, sah ihn sich ballen und langsam näherrücken .. . „So sprich doch, Lukas!“ bat das Bethli ganz verängstet. „Ist zu Hause etwa ein Unglück geschehen? Das Kind wird doch um Gotteswillen nicht –

„Nein, nein, nichts ist geschehen,“ wehrte Lukas Matinger, ,es ist nur ~ ich will mich auf den ersten Oktober pensionieren lassen.“

Im ersien Augenblick empfand das Bethli fast eine Erleichterung, aber dann begriff sie mit einem Male, was die Pensionierung des Bruders auch für sie bedeute . . . das Münster, ihr Münster . . . In ihrem Kopf begann ein Dröhnen, als sielen die großen Tore des Münsters mit einem einzigen ungeheuerlichen Schlag vor ihr ins Schloß.

„Du kannst ja noch alle Sonntage hinein“, sagte Lukas Matzinger. Das Bethli hörte seine [121]Stimme wie aus einer weiten Ferne, und doch war er neben sie getreten und strich ihr mit einer scheuen Gebärde über den Kopf. Sie fühlte das Zittern seiner Hand, hörte die Trauer in seiner Stimme = wie bitter mußte es für ihn sein, ihr diesen Kummer zu bereiten. Das Bethli griff nach der Hand des Bruders und legte einen Augenblick ihre weiche Wange dagegen. Dann gelang ihr sogar ein Lächeln, und sie sagte fast dieselben Worte, die der Bruder kurz zuvor seiner Frau geantwortet.

„Du wirst wissen, warum du den Schritt tun mußt, Lukas. So wird es denn auch das Rechte sein.“

Dieses Wort im Herzen, ging Lukas Matzinger nach Hause. Und wieder mußie er denken, was er schon oft gedacht: das tiefste und reinste Glück seines Lebens ging nicht von Frau Hermine aus, obwohl sie sich beide in Liebe zugetan waren, und ging nicht von dem Kinde aus, obwohl es ihm einen köstlichen Reichtum bedeutete ... über all diesem stand das unersschütterliche Vertrauen, das der Schwesster Herz mit dem seinen verband.

Das Bethli hatte nach des Bruders Weggang wie immer fleißig gearbeitet, hernach zu Nacht gegessen und ihre Pflanzen begossen. Dann setzte [122]sie sich müde und mit feiernden Händen in den behaglichen Korbstuhl, das Prunkstück der Gartenmöbel.

Der Tag war schwül gewesen, aber nun stieg vom Strome Kühlung und Labung auf.

Das Bethli hatte ein Gefühl, als fließe das gleitende Wasser leise und tröstlich, leise und tröstlich mitten durch ihren Körper, durch den hämmernden Kopf, durch das schwere Herz, durch die müden Füße . . . Wie schön war dies kühle, weiche Strömen, das alle Unrast löste und Empörung in Klarheit und Stille wandelte.

Nein, sie wollte nicht hadern. Hatte sie nicht viele Jahre all das Herrliche genießen können, ohne an die Stunde gebunden zu sein und ohne durch Flüstern oder Herumgehen fremder Menschen gestört zu werden? Nun mußte sie eben lernen, sich wie all die andern mit den kargen Sonntagsstunden zufrieden zu geben, mußte lernen, die gewaltige Sprache der toten und doch so beseelten Steine zu hören, auch ohne ganz allein mit ihnen zu sein.

Aber war es wirklich nur dies, was sie im Münster gesucht und gefunden: Sättigung ihrer starken Schönheitsfreude? Ach nein, noch ein anderes, ein viel tieferes Gefühl hatte sie ans Münster gebunden. Diese Arbeit, die ihr jede Woche Stunden raubte, und für die sie hartnäckig jegliche Vergütuna abschlug, sie war ihr [123]Dankopfer, war ihres Herzens geheimster und innerster Gottesdienst gewesen. Ihr hatte das Staubwischen keine öde, gedankenlose Beschäftigung, es hatte ihr eine ernsthafte, fast eine heilige Handlung bedeutet.

Und immer wieder hatten ihre Augen dabei eine neue Schönheit entdeckt: einen feingeschnitzten Mönchskopf, eine großblättrige Wunderblume, eine possierliche Tierfraze. Aber das liebste waren ihr doch die Scheiben, die im durchflutenden Sonnenschein so wundersam erblühten. Einmal hatte sie gehört, wie ein junger Student einem Genossen in gelehrten und hochtrabenden Worten die Verächilichkeit und Wertlosigkeit dieser allzu bunten Fenster kundgetan. Da hatte das LVethli erst erschrocken, aber allmählich voller Mitleid zugehört. Und dann schaute sie glücklich und dankbar zu den geschmähten Scheiben auf und freute sich, daß sie nicht nur den äußern Schein gewahre, sondern auch fühle, mit welcher Liebe und Inbrunst hier Farbe an Farbe gefügt worden, und wie der Künstler gleichsam seiner Dankbarkeit und Verehrung den heiligen Gestalten gegenüber in der brennenden Pracht ihrer Gewänder und ihrer Umrahmung Ausdruck gegeben . . . Wie wird sie diese Stunden im Münster vermissen! Wohl kann sie, wie der Lukas gesagt, auch in Zukunft noch Auge und Herz sättigen. Aber das andere, der stille Dienst, davon [124]sie nicht einmal dem Bruder gesprochen . . . Ach, es ist wohl eine kindische und törichte Vorstellung, aber sie kommt nicht von ihr los: ihr ist, Gott selbst entlassse sie aus dem Dienst in seinem Hause. Tut er es, weil er ssie nicht treu erfunden, oder — wie ein Blitz durchzuckte sie der Gedanke ~ iut er es, weil er ihr eine andere Arbeit zuweisen will?

Mitten in diese Antwort heischenden Gedanken tönte ein häßliches, beinahe tierisches Schreien. Das Bethli schrak zusammen, und ein abwehrender Zug trat auf ihr Gesicht. Ach, diese neuen Mietsleute, die seit vier Wochen neben ihr hausten, waren keine angenehmen Nachbarn. Zwar die Frau schien ordentlich zu sein, und ihre Arbeit wurde offenbar geschätzt. Beinahe den ganzen Tag rasselte die Nähmaschine, und es war ein stetes Kommen und Gehen von Menschen, die Arbeit brachten oder das Fertige wieder holten. Denn die Frau war ans Haus gebunden durch ihr unglückliches Kind, die Dorothe. Sie war an den Beinen gelähmt und dazu schwachen Geistes. Auch körperlich war sie verkürzt, denn obschon sie sechzehn Jahre zählte, hatte sie kaum die Größe einer Zehnjährigen. Doch war ihr Anblick nicht abstoßend: ein zartfarbiges und wohlgeformtes Gesicht, reiches dunkles Haar und große braune Augen, die allerdings meist matt und teilnahmslos ins Leere starrten und am deutlichsten verrieten, [125]daß der Dorothe Geisteslämpchen nur einen dürftigen Schein verbreite.

Die Muitter gab sich wenig mit dem Kinde ab. Es mangelte ihr an Zeit, vor allem auch an Güte, denn sie liebte das Mädchen nicht, das ihr eine stete Erinnerung und gleichsam eine Verkörperung ihrer kurzen, tiefunglücklichen Ehe war. Immerhin wartete sie seiner in gewissenhafter Pflichterfüllung.

Wenn das Bethli einmal zu den Nachbarsleuten ins Zimmer trat, leuchtete das matte Gesicht der Dorothe plötzlich auf. Sie begann eifrig zu erzählen: von der Puppe, die sie meist im Arm hielt, von den Spatzen, die zu ihr ans Fenster flögen, von den Kayen, die über die gegenüberliegenden Dächer stiegen.

Das Bethli hörte sie an mit ihrem gütigen Lächeln, warf ab und zu ein Wort dazwischen, brachte auch hin und wieder einen Fetzen bunten Seidenstoffs für die NVuppe; aber wenn sie das Zimmer verließ, atmete sie jedesmal auf, als habe sie eine Last niedergesett, und wenn ihr je unter die Arbeit hinein das Bild der dürftigen Kleinen aufsteigen wollte, wischte sie es schleunigst weg.

Seit einigen Tagen aber ging dieses Wegwischen nicht mehr so leicht. Wieder und wieder schauten plötzlich aus einer Ecke oder auch aus den Arabesken einer Arbeit die dunklen Augen [126]der Dorothe hervor. Und jedesmal überkam dabei das Bethli ein leises Schuldgefühl.

Sie wollte es beschwichtigen mit häufigeren Besuchen; sie schenkte dem Kinde bald ein Zopfband, bald ein Nastüchlein und nähte ihm gar ein lustiges Spielschürzchen. Sie brachte der Dorothe auch einmal einen Strauß Kapuziner. Aber als sie damit ins Zimmer trat und ihr das farbensprühende Blumenwunder entgegenstreckte, tat sie nicht wie sonst bei einer Gabe: sie stieß keine mißtönenden kleinen Freudenschreie aus. Hastig und tief ging ihr Atem, und dann stürzten ihr plötzlich die Tränen aus den Augen, und ein Schluchzen erschütterte das ganze schmächtige Körperchen.

Die Muiter kam herbei. So legte das Bethli die Blumen wortlos auf den Tisch und ging hinaus. Aber wie sie drüben in ihr Wohnzimmer trat, durch das die ganze Lust des Dachgärtchens hereinleuchtete, mußte sie sich abwenden in tiefster Herzensscham.

Seither waren zwei Tage vergangen, Tage voll stürmischer, widerstreitender Gedanken. Und nun war auch noch der Lukas gekommen mit seiner Hiobsbotschaft . . .

Das Bethli erhob sich fröstelnd aus seinem Korbstuhl. Dunkel und bedrängend stand die Nacht über den Giebeln. Nun war der Strom nicht mehr Labung und Kühlung. Er war Geheimnis, [127]war Unruhe, war ein quälendes Fragen: wohin, wohin?

Das Herz voll einer schmerzenden Traurigkeit, legte sich das Bethli zu Bett. Und dann tat sie, wie sie alle Abende ihres stillen Lebens getan: sie legte die Hände zusammen und legte sie gleichsjam mit dieser willig-ergebenen Gebärde in starke und gütig lenkende Hände.

Und als sie schlief, ging ihre Seele auf seltsamen Traumwegen:

Das Bethli öffnete das Hauptportal des Münsters und schritt langsam durch den Mittelgang.

Dämmerung füllte den Raum und wob eine fast unheimliche Stimmung. Noch nie zuvor hatte sich das Bethli im Münster gefürchtet – jetzt aber klangen ihr die eigenen Schritte hohl und fremd, und all die vertrauten Gegenstände hatten ein kaltes und feindseliges Gepräge.

Sie ging mit immer zögernderen Schritten. Am liebsten wäre sie umgekehrt, aber irgendeine Macht zwang sie weiter. Da sah sie plötzlich hinten im Chor eine Frauengestalt emporwachsen . . . Sie kam die Stufen herab . . . und nun schritt sie durch den Mittelgang auf das Bethli zu. Diese aber blieb stehen in einem Entsetzen, das zugleich tiefstes Enizücken war, denn die hohe und strahlende Frau, die sich ihr näherte, war keine andere als die Kaiserin Kunigunde.

[128]

So wie sie in den Scheiben über der Sankt Georgspforte abgebildet, kam sie einhergeschritten in schweren und schleppenden Gewändern. Der goldene Kronreif warf einen blitzenden Schein; weich und voll wellten die dunkelblonden Haare unter dem weißseidenen Kopftuch hervor. Aber dann sah das Beihli nur noch die Augen, die von himmlischer Bläue und Klarheit leuchteten und wie zwei Sterne im blassen Antlitz standen.

Und während sich die hohe Gestalt näherte, bemerkte das Bethli, daß sie auf dem Arm ein Kind trug. Der Zipfel ihres Mantels war um den schmalen Körper geschlungen, des Kindes Kopf lag an ihrer Schulter.

Seltsam! dachte das Bethli, das stimmt nun nicht mit dem Bild. Da trägt sie kein Kind, sondern mit dem Kaiser zusammen das Münster als kleinwinziges Kirchlein.

Zwei Schritte vor dem Bethli blieb die Kaiserin stehen und schlug den verhüllenden Mantel zurück. Da sah das Beihli, daß ssie das dürftige Nachbarskind, die Dorothe, in den Armen hielt.

„Nimm sie!“ sagte die Kaiserin und streckte dem Bethli das Kind entgegen. Und der Wohllaut ihrer Stimme wogte durch den Raum bis in die fernsten Winkel, daß das Bethli hingerissen lIauschen mußte, bis auch der leiseste Hauch verklungen. [129]„Nimm sie!“ wiederholte die Kaiserin, und nun war etwas in ihrer Stimme, daß das Bethli das Lauschen auf den herrlichen Nachklang vergaß und in ihr Antlitz schauen mußte. Es wollte ihr scheinen, der himmlischen Klarheit der Augen sei eine leise Trauer beigemischt.

„Nimm sie“, sagte die Kaiserin zum drittenmal und trat einen Schritt näher. Aber das Bethli fuhr zurück und streckte keine zugreifenden, ssondern abwehrende Hände aus: „Nein, nein, ich kann nicht!“ Und auch ihre Worte klangen bis in die fernsten Winkel, aber nicht in flutendem Wohlklang, sondern gleich einem erbärmlichen Gewingel.

Das Bethli entwich in einen Seitengang und bedeckte das Gessicht mit den Händen. Ihr war, die Augen der Kaiserin, die bei den abwehrenden Worten wie blaue Flammen aufgelodert, hätten sie geblendet. Nur zaghaft ließ sie endlich die Hände sinken.

Nein, ihre Augen waren nicht blind geworden. Das Bethli sah deutlich die Säulen, die dunkle Masse der Bänke, sie sah auch, daß die Dämmerunz noch tiefer gesunken war und das ganze Schiff der Kirche erfüllte. Nur im Chor schien ein seltsames Leuchten zu weben.

Die Kaiserin mitsamt dem Kinde war verschwunden. Aufatmend blickte das Bethli um sich.

[130]

Aber als ihre Augen sich zum Chor wandten, griff die Furcht aufs neue an ihr Herz. Ueber die Stufen herunter kamen Gestalten geschritten, langsam und feierlich, eine nach der andern. Das Bethli kannte sie wohl. Hatte sie nicht oft und oft zu ihnen aufgeschaut? Zuerst näherte sich ein Paar. Seite an Seite . . . Mose in leuchtendrotem Gewand, wit wehendem Bart; über der mächtigen Stirn schien das dichte Haupthaar wie in Flammen zu lodern. Das war er, der einst ins Dunkel geschritten, da Gott innen war, der einst 1n der Felskluft gestanden, verschatteten Auges, bis daß Gottes Herrlichkeit an ihm vorübergegangen und er ihr hintennach blicken durfte. Denn Gottes Angesicht zu sehen, hätte selbst seine Feuerseele nicht ertragen.

War dieses Mannes Leben nicht ein Leben für die andern, für sein halsstarrig Volk gewesen?

Sein königlicher Begleiter ließ die bräunlichen Finger über die Saiten der Harfe gleiten, und nun erklang seine Stimme: „Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, wo deine Ehre wohnet. Aber stehet dein Heiligtum nicht auch in eines Menschen Brust, und ist es nicht Gottesdienst, Hilfe zu bringen dem Dürftigen?“

[131]

Das rote Feuerkleid und das Grün und Violett der königlichen Gewänder ging unter in dem Dunkel, das wie eine dicke Wolke vor der Eingangspforte lagerte.

Und wieder wandelte ein Paar den Mittelgang herab . . . . Der eine trug im emporgerafften Mantel einen mächtigen Schlüssel, dem andern hing ein Schwert an der Seite. Sie schienen in eifrigem Gespräch begriffen, denn man hörte ihre murmelnden Stimmen schon aus der Ferne. Und nun erklangen auch deutliche Worte. Mit flammenden Augen rief Petrus: „Ach, daß meine Rede gleich einem Schlüssel die harten Herzen öffnen könnte!‘ Und Vaulus nickte mit schwerem Ernst: „Sie suchen nur das Ihre; darum hat sich ihr Herz verfinstert, daß es den köstlichen Weg der Liebe nicht mehr erkennen kann.“

Auf den Stufen zum Chor standen die vier Evangelisten. Ihre Blicke waren in sehnsüchtiger Erwartung zur Höhe gerichtet . . . Und plötzlich erklangen helle Posaunentöne; ein Jubel brach los wie von tausend Engelsstimmen; in die Dämmerung der Kirche aber flutete ein Glanz wie ein starkes Meer, und auf seinen Wogen kam Einer geschritten . . .

Das Bethli erwachte mit einem Schrei . .. .

Ihr Herz hämmerte in harten Schlägen, daß es das Rauschen des Stromes übertönte. Mit [132]brennenden, entsetzten Augen starrte sie in die Finsternis.

Da strich ein zarter Nachtwind durchs Fenster und kühlte ihr heißes Gesicht und beruhigte das wilde Pochen ihres Herzens. Das eintönige Lied der Wellen aber nahm sie gefangen und ließ sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf gleiten.

Lukas Magtinger stieg über die dunkle Treppe, die den ganzen Tag durch ein Lämpchen erleuchtet werden mußte, zur Wohnung seiner Schwester empor. Es war gerade eine Woche verflossen sseit seinem letzten Besuch. In der Zwischenzeit waren die beiden nie allein gewesen, nur ihre Gedanken hatten oft und oft zueinander gestrebt. Dabei hatte es Lukas Magtinger bedünken wollen, das Bethli trage nicht einen schweren Kummer, sondern irgendein fröhlich Geheimnis mit sich herum. So klopfte er denn mit erwartungsvollem Gesicht an der Türe ihres Zimmers.

Während er mit vorgeneigtem Kopf auf das Herein wartete, hörte er das Bethli sprechen und eine hohe, ein wenig krächzende Kinderstimme antworten.

Lukas Magyinger schüttelte verwundert den Kopf. Er klopfte stärker, und dieses Mal ward ihm Antwort.

[133]

„Wie schön, daß du kommst, Lukas!“ sagte das Bethli und streckte ihm beide Hände entgegen. „Sieh nur, wen ich mir da zur Hilfe geholt habe.“ Sie stockte und schien über die eigenen Worte nachzudenken. „Ja, zur Hilfe“, wiederholte sie dann mit seltsamer Betonung.

Lukas Matinger beugte sich zu der Dorothe nieder, die in einem niedern Sessel saß und ein wenig scheu und blöde zu ihm aufschaute. Aber als sie einem guten und warmen Blick begegnete, glitt ein Leuchten über das blasse Gesicht. „Sieh,“ sagte sie eifrig und deutete nach der offenen Türe zum Gärtchen, „dort sind viele schöne Blumen, und ein großes Wasser kann man sehen, und Vögel.“

Das Bethli griff nach einem der schmalen Kinderhändchen und streichelte es liebevoll und nachdenklich. Lukas Maginger, der sich neben die Schwester gesetzt, schaute ihr still und mit leiser Rührung ins Gesicht. Die Ahnung, die beim Anblick des Kindes in ihm aufgeblitzt, ward mehr und mehr zur starken Gewißheit. „Du gutes Bethli!“ sagte er leise und zärtlich.

Das Bethli schaute ihn ganz erschrocken an. „Ach, Lukas, sag nur das nicht. Wenn du wüßtest, wie schwer es mir gefallen! Ich muß dir alles erzählen, später dann . . . Aber nun sieh dir doch die Fingerchen einmal an! Sind sie nicht wunderbar fein und zierlich, wie kleine Heiligenhände? [134]Weißt du, was ich denke? Diese gelenken Fingerlein sollten doch wohl lernen können, eine Nadel zu führen. Und wer weiß: vielleicht kommt auch der arme kleine Geist dadurch in Bewegung und ein wenig ins Wachstum hinein.“

Lukas Matinger legte schweigend seine Hand über die schmalen Fingerchen und zugleich über die Hand, die seine Mutter eine gute genannt.


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TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Aus stillen Gassen : ELTeC Ausgabe. Aus stillen Gassen : ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-FD94-D