Gedruckt bei August Pries in Leipzig.[]Gritli [] Schlag dreiviertel sieben Uhr trat Gritli Brunnenmeister, eine bescheidene Hausnähterin,aus der Thür ihres Hauses in die klare Frische des Montagmorgens hinaus. Es war ein dunkles,weitläufiges Gebäude, das sie verließ, zum Junkernstift genannt und im ältesten Theil der Stadt Altachen gelegen. Vor Zeiten der Wintersitz eines adeligen Geschlechtes aus dem Gau, war es im Laufe der Jahrhunderte zum Miethshaus für ärmere Leute geworden, und Gritli hatte seit Jahren da eine kleine Wohnung inne, im hintern Bau, drei Treppen hoch.

Rein und kühl wehte der Dahinschreitenden die Frühluft durch die Gasse entgegen. In kristallener Bläue wölbte sich der Himmel über den hohen Häusern, und ein frohgeschäftiges Eilen zum Tagewerk in jeglicher Richtung, und ein munteres Grüßen unter den Vorübergehenden

Siegfried, Gritli-Wohlthäter.[2] ließ ordentlich spüren, wie jeder, an Leib und Seele ausgeruht, heute mit verjüngter Kraft an seine Pflichten ging. Das war aber auch gestern wieder ein Maisonntag gewesen nach der Menschen Sinn, und was irgend in Altachen sich rühren konnte, hatte sich draußen ergangen in der jungen Wunderfülle des ergrünten Geländes. So viele frohe Gesichter mochten die grauen Gassen wohl in langer Zeit nicht haben heimkehren sehen wie am Abend, da das Volk in singenden Schaaren wieder stadteinwärts zog. Dankbar waren die Guten zur Ruhe gegangen, ein Gefühl von Verpflichtung im Herzen, nach diesem vollkommenen Erdengenusse; aber auch der Böse selbst mochte sich des besseren Theils in seinem Wesen wieder einmal bewußt geworden sein, inmitten der überwältigenden Schönheit, mit der dieser Feiertag das Vaterland verklärt hatte.

Das Gritli schien ebenso neu belebt wie seine Mitbürger, als es in all' seiner Schüchternheit jetzt so hurtig und leichtfüßig zur Stadt hinaus glitt und dann längs den Gartenmauern und grünen Hecken die Landstraße dahin eilte, wo sich zu beiden Seiten alte und neuere Landsitze, unterbrochen von schattigen Obstgärten, ins Thal hinaus [3] zogen. Es trug sein immer gleiches Werktagskleid aus grauem Lüster, um den Hals ein blendend weißes, selbst gehäkeltes Spitzentüchlein,und seinen unbedeckten Scheitel schützte ein dünnstieliges Sonnenschirmchen, mit altmodisch braun karrierter Seide bezogen.Vor einem hohen, eisernen Gitterthore machte Gritli Halt. Zwischen stattlichen Sandsteinpfeilern stand das Portal da, mitten in einer hohen, steif verschnittenen Tuyahecke, und kündete mit seiner, noch der Napoleonszeit entstammenden Schmiedearbeit und Wappenzier ein ansehnliches Besitzthum an. Gritli zog behutsam die Glocke,eine dienstbare Person, die dort hinten die steinerne Vortreppe gekehrt hatte, kam heran und ließ die Nähterin mit vertraulichem Gruße ein. Es war eine gar seltsam vierschrötige Magd, und man wäre weniger erstaunt gewesen, sie um etliche Gärten weiter im Kuhstall des dortigen Milchbauern anzutreffen, als hinter diesem herrschaftlichen Gitterthore. Ein gutes Grinsen ging über ihr rothes Scheibengesicht, als sie Gritli die Hand drückte und ihm dienstfertig sein kleines Päckchen abnahm.

„Haben Sie guten Sonntag gehalten, Marei?“

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„Der Plagegeist ist wenigstens über Land gewesen!“ erwiderte die Magd. Aber Gritli wehrte ihr alsbald mit einem ängstlichen „bschtl“ und eilte, nichts weiteres dieser Art zu hören, durch den Garten voraus.

An den beiden Seiten des saubern Kiesweges,auf dem sie dem niedern, weißen Landhause mit den hellgrünen Läden zuschritten, blühten in leuchtenden Büscheln herrliche Aurikeln und Narzissen, und aus den jung-grünen Gebüschen und Baumkronen erschallte schmetternd der Gesang der Vögel. Bewundernd blieb Gritli einen Augenblick oben auf der Vortreppe stehen, sich noch einmal umzusehn in dem thauigen Silberglanz dieser Frühe und noch einen tiefen Zug zu nehmen von der würzigen Luft des weiten, wohlgepflegten Gartens, ehe es sich hinein begab, einen ganzen Tag an der Näharbeit zu sitzen.Aber ein barscher Laut der Ungeduld hinter seinem Rücken riß es aus seiner seligen Betrachtung, und als es zur Seite wich, schritt der Herr des Hauses, dem es im Wege gestanden hatte, unwirsch an ihm vorüber, die Treppe hinab. Fast war Gritli nicht im Stande, hörbar guten Morgen [5] zu wünschen, so war ihm der Schreck in die Kehle gefahren. Mit der gewohnten derben Jacke bekleidet, den grauen Kopf von einem verwitterten Strohhute bedeckt, ein Bündel Bast unterm Arm und die Baumscheere in der Hand, verschwand Herr Cornelius Rych im nächsten Augenblick hinter den Büschen.

Hatte die Magd ihren Gebieter den Plagegeist genannt, so war er für Gritli geradezu der schwarze Mann, und in den nahezu zwanzig Jahren, in denen es in dies Haus kam, hatte es noch nie die Schwelle ohne ein leises Grauen überschritten. Umso herzlicher tönte jetzt der Gruß der Haushälterin, der Jungfer Magdalene Biberach. Denn diese vielgeplagte gute Haut freute sich jeweilen die ganze Woche auf den einen,regelmäßigen Nähtag Gritli's, als auf die einzige Gelegenheit, sich einer theilnehmenden Seele auszuschütten und ein treu gemeintes Wort dagegen zu hören. Ja, Gritli's friedvolles, in sich stilles Wesen schien in die unbehaglichen Mauern dieses verödeten Wittwerhauses allwöchentlich herein,wie ein verirrter, freundlicher Sonnenstrahl.

„Daß ich es Ihnen nur gleich sage,“ begann Jungfer Magdalene, während sie den Kaffee [6] herbeitrug, „der Herr hat am Samstag befohlen,Sie mit Ihrer Näherei diesen Sommer über in den Keller auszuquartieren, in unser früheres Badezimmer; denn die obere Glaslaube brauche er für seine neuen Pflanzen.“

„Nun, ich werde auch dort Licht genug haben,“begütigte Gritli, ein paar Mal die Lider über seinen ruhigen, hellen Augen hebend und senkend,wie es seine Gewohnheit war, wenn es sich etwas zurechtlegte. Die Alte zuckte die Achseln. „Werden wohl hell genug haben müssen, mit dem vergitterten Fensterloch hoch oben, dazu noch nach hinten hinaus!“

Aber Gritli beruhigte sie. „Es geht doch auf den Garten, und wenn es jetzt auch vielleicht noch etwas kühl ist, später, bei der Sommerhitze,wird es da drunten nur um so köstlicher sein.“

„Ei ja freilich! Den Tod kann sich Einer holen!“ wehrte Jungfer Biberach ab. „Ich hab'es ihm vorgestellt, aber was ficht das den an!Was er im Kopf hat, bleibt stehn wie eine Mauer.“

Gritli wußte die Eifernde mit seinem Herausfinden der guten Seite an allen Dingen schließlich doch zu trösten und stieg dann in ungetrüb[7] ter Laune in sein neues Quartier hinab, wo es seine gewohnten Siebensachen bereits aufgestellt fand. Es richtete sich alsbald nach seinem Bedürfniß ein, und als es hiebei in der Ferne die gefürchtete Stimme des Herrn Cornelius hörte,wie er im Garten den Taglöhner belehrte und die Magd anschnauzte, da empfand es eine Geborgenheit hier unten, wie es sie in den oberen Räumen nie genossen hatte und war mit der Veründerung von Herzen zufrieden.

Still und flink glitt seine Nadel durch die Leinwand, und das leise Ziehen des Fadens und das zeitweilige Klingen der Scheere war lange das einzige Geräusch in dem einsamen, kühlen Gelaß.

Hm, nun war es doch von Herrn Rych nächstens durch sämmtliche Räume des Hauses gestoßen worden! Ehedem hatte ein sonniges Parterrezimmer als ständige Nähstube gedient. Das war, als noch die Schwester des Hausherrn lebte,das unvergessene Fräulein Charlotte, das mit seiner warmherzigen Fürsorglichkeit des Bruders gehässiges Wesen so viel wie möglich ausglich.Doch schon seit sechs Jahren war sie todt. Eines Tages im ersten Frühling starb diese gütige Seele nach kurzem Kränkeln plötzlich weg, und es be[8]durfte der ganzen Treue Gritli's und seiner seltenen Begriffe von Gewissenhaftigkeit und Dankespflicht, daß es seitdem immer noch hieher zurückkehrte. Denn allbereits waren sie nur noch ihrer drei, die vor dem unleidlichen Alten nicht die Flucht ergriffen. Etliche Dutzend Andere hatten in den sechs Jahren nach kurzer Zeit stets wieder Reißaus genommen. Bei Magdalene war es theils gleich starke Pietät für die Abgeschiedene,wie bei Gritli, was sie festhielt, theils schon eine dumpfe Resignation, als könnte es nicht mehr anders sein. Und ängstlich dankte sie dem Geschick, daß ihr in jener plumpen Bauernmagd Marei endlich eine Gehülfin erhalten blieb, die vermöge endloser Gutmüthigkeit das Unerträglichste ertrug.

Eine ruhelose, mißtrauische Geschäftigkeit trieb den Herrn von früh bis spät in allen Winkeln umher und hielt seine Umgebung auf die ungemüthlichste Weise in Athem. Seit seinem fünfzigsten Jahre, da Herr Cornelius Rych seine städtischen Ehrenämter abgegeben, befaßte er sich nur noch mit der Verwaltung seines, durch vielfache Erbschaften zu einem großen Vermögen aufgelaufenen Geldes und mit der Regierung von

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Haus und Garten. Aber er betrieb das ohne den mindesten Frohgenuß seiner begünstigten Lebensumstände. Seine peinliche, bis ins Geringfügigste nachrechnende Genauigkeit verhinderte ihn daran,und ließ ihn in keiner seiner Beschäftigungen den Reiz finden, der darin hätte liegen können.Seine Baumkultur, seine Blumenzucht mit ihren stillen Freuden und Ueberraschungen im Wechsel der Jahreszeiten, seine Liebhaberei, an dem alten Hause herumzubauen, indem er dabei die billigsten Caleulationen herausklügelte und zu verwirklichen wußte alles für Andere Gelegenheit zu Unterhaltung und angeregter Laune bot ihm, eines wie das andere, nur Anlaß sich zu ärgern.

Eben ging er murrend um jene Beete seltener Aurikeln und Narzissen herum, die vorhin Gritli's Auge und Herz so innig erfreut hatten, und deutete geringschätzig mit dem Finger darauf hin,als machte er der prangenden Pflanzung Vorwürfe. Ihm blühten diese zarten Gebilde keineswegs nach Wunsch. Vielmehr war seine Liebhabereitelkeit durch sie dies Jahr empfindlich verletzt. Standen sie doch volle anderthalb Wochen zu spät im Flor. Es waren neue Frei[10] landsorten, und seit dem Februar hatte er sich nun um ihr möglichst frühzeitiges Erblühen geplagt.

„Seht!“ rief er dem Gärtnerburschen zornig zu,„da sind sie nun endlich alle offen, die Sakermenter!Und in vier andern Gärten blühen sie seit sechs,in einem gar schon seit zehn Tagen! Nur wir bringen es nie zu den ersten! Ich bleibe dabei,daran ist der alte Nußbaum dort an der Ostseite schuld; der läßt Morgens die Sonne nicht früh genug herzu. Aber er trägt zu gut; ich mag ihn nicht umhauen. Das soll der Henker holen.daß immer eins dem andern im Wege stehen muß!“ Und mit dem Bastbündel fuchtelnd, drehte er den unschuldigen Blumen stracks den Rücken,um sich allsogleich an etwas Neuem zu erbosen.„Gschlugsch!“ hörte ihn Gritli zischen und heftig in die Hände klatschen, worauf endlich der Angstruf einer Amsel, den es schon längst mit Kummer angehört, verstummte, während sich gleich nachher der große, rothe Kater am Fenster vorüber ins Haus schlich.

Herrn Cornelius sangen auch die Vögel nicht zu Dank. Hätten sie lieber den guten Instinkt gehabt,in entfernteren Gärten zu nisten, statt vorzugsweise [11] just im Dickicht des seinigen. Denn da es keine Menschen lange um Herrn Rych aushielten, mußte ihm eine Schaar verschiedenfarbiger Katzen Gesellschaft leisten, und die stellten beständig den Vögeln nach. Die Vögel aber wollte er um ihrer Nützlichkeit willen doch auch nicht fressen lassen, und so war es ein ewiges Aufpassen und Hüten von Katzenvolk und Vogelstand, und von beiden erwuchs ihm auch nur wieder mehr Verdruß als Vergnügen.

Noch mehrere Male, während der Gestrenge draußen an seinen Rosenstöcken Bänder erneuerte und dürre Zweiglein ausschnitt, ertönte sein „Gsch“und sein Klatschen.

Derweil zog Gritli in seinem Verließchen friedlich seine Nädlinge durch das Leinen. Mit vollendeter Flickkunst wußte es den Webmustern der alten, damascirten Tischtücher fast unbemerkbar seine Stiche anzupassen. Zeitweise mußte es seine ganze Aufmerksamkeit dem schwierigen Erwägen der zweckdienstlichsten Stichart widmen,dann wieder flocht sich unvermerkt in die Ziergewinde des Leinwebers ein kleines Rankenwerk von Gritli's eigenen, lebendigen, guten Gedanken.

Ihm war nie einsam zu Muth, wenn es auch []noch so allein war. So dürftig es äußerlich um sein Leben bestellt sein mochte, im Innern ging ihm der Reichthum selten aus. Denn es besaß die warme Gemüthskraft, sich für das Viele, was es entbehren mußte, oder was die Andern in ihrer Trägheit des Herzens ihm zu bieten vergaßen, dadurch zu entschädigen, daß es das Wenige,was ihm erreichbar war oder im stillen Laufe seines Lebens Freundliches begegnete, mit umso größerer Innigkeit umfaßte. So war seinem Herzen zu dieser Stunde das Rauschen der Bäume draußen und der sanfte Duft, der von den blühenden Sträuchern in das Kellerloch herabwehte,Geschenk und Wohlthat, und mit Entzücken horchte es dem Locken der Finken und Meisen zu.Die Natur war seine köstlichste Freude, und ihr Offenstehen für Arm wie Reich gab seinem Gemüth Anlaß zu tiefer Dankbarkeit. Es genoß das Wandern durch die Schöpfung wie einen ewig sich erneuenden Rundgang durch ein herrliches Panorama, in welchem es mit kindlicher Glückseligkeit bald die Eisblumen und weihnachtlichen Schneelandschaften. bald die Frühlingswunder für das allerschönste von Allem hielt,worauf die sommerliche Pracht der Felder, und [13] die Feierlichkeit im hohen Schattendom des dunkeln Laubwaldes seinen Augen wieder so lange eine neue, höchste Entzückung brachte, bis es im Frieden goldiger Septemberherrlichkeit meinte, das sei doch dem einstigen Himmelsprangen wohl am nächsten verwandt. Sich den Himmel auszumalen aber bildete vollends seine Lieblingsbeschäftigung,mit der es sich für die Dürftigkeit seines vorläufigen Looses auf Erden entschädigte. Und hiezu stand ihm eine in seinem Stande seltene Hülfskraft zu Gebote.

Denn der stiefmütterlichen Fee, die einst an seiner Wiege gar zu emsig bemüht gewesen war,jene Falten ihres Gewandes zuzuhalten, in denen sie die Gaben irdischer Glücksgüter beisammen hielt, war ein anderes Geschenk entrollt und dem schlichten Menschenkinde in den Schoß gefallen:Phantasie. So verstand es hinfort, die armen,nackten Meilensteine seiner Erdenpilgerschaft mit freundlichen Flittern und Ranken zu umkränzen,solche von einem zum andern fortzuspinnen und dazwischen hinzuwallen als ein gottgesegnetes Genie der Liebe im Kleinen, das sich an hundert kostenlosen Genüssen erbaute, welche Andern ewig verschlossen blieben.

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Mit achtzehn Jahren hatte Gritli als Waise begonnen, seinen Unterhalt durch Nähen zu verdienen, und bei seinen sanften Sitten und der strengen Verlässigkeit in Arbeit wie Charakter schnell einen sichern Kundenkreis erlangt, der dann in regelmäßigem Umgang seine Wochen füllte. Doch war es ihm in den zwei Jahrzehnten DDD wesen, das beiseite zu legen, was es erübrigte,sondern es hatte lange Zeit hindurch seinen ganzen Verdienst freudig dazu hergegeben, seine einzige Schwester bei sich zu erhalten, die, an schweren Zufällen leidend, erwerbsunfähig war. Erst nach ihrem Tode, durch den es freilich auch des letzten Angehörigen beraubt worden, sah es langsam den Vohn seines Fleißes zu einem Häufchen anwachsen, und das bescheidene Sicherheitsgefühl darüber ward ein neuer, schöner Grundton in der friedvollen Harmonie seines Wesens. Wohl keiner seiner reichen Kunden konnte durch den größten eisernen Geldschrank voller Staatspapiere und Gültbriefe so beglückt sein, wie Gritli durch diesen kleinen Besitz, und wenn es alle paar Monate wieder ein Beutelein Erspartes zum Aufheben beisammen sah, abermals gnädig verschont [15] von Krankheit und Unvorhergesehenem, was dieses über die tägliche Nothdurft Hinausreichende hätte verzehren können, dann war Gritli so dankbar bewegt, daß ihm selbst der Gang damit zu dem bösen Herrn Rych nicht bitter vorkam. Denn niemand anders als der Schreckliche verwaltete ihm seine Ersparnisse. So war es seiner Zeit auf die gütige Verwendung des seligen Fräuleins Charlotte eingerichtet worden, und als einmal ein kleines Sümmchen beisammen lag, hätte Herr Cornelius selber die Sache nicht mehr aus der Hand gegeben, sondern betrieb die Verwaltung,weil sie seinem Wesen zusagte, sogar mit einer Art eifersüchtigen Interesses und rechenschaftfordernder Bevogtung bis auf den heutigen Tag.

„So schauen Sie doch nur einmal auf, Gritli,und nehmen einen Bissen!“ rief Jungfer Magdalene, als sie gegen zehn Uhr mit einem kleinen Imbiß wieder in dem Kerkerchen erschien und Gritli ganz versunken über seinem Damasttuche fand. „Da! ich habe gestern dem Herrn diese Pastetchen gebacken und Ihnen eins aufgehoben.“

Gritli erhob den Kopf und dehnte ein wenig seine gedrückte Brust.[]8*9

„Und nun lassen Sie auch hören, wo Sie gestern waren?“

„Ausgesonnt hab' ich mich, wie alle Leutel“lachte Gritli und nahm einen Schluck Wein.„Durch die Rebberge sind wir hinauf gestiegen und den ganzen Stadtwald entlang gegangen,bis zum Sennhof. Dort kehrten wir ein. Nachrücken geschleppt, um droben von der Lichtung aus den Sonnenuntergang zu betrachten. Ach,Jungfer Magdalene, wie Sie nur immer daheim bleiben mögen! So schön haben die Schneeberge lange nicht verglüht!“

Die Haushälterin nickte. „S'ist wahr! Aber sehn Sie, wenn ich mich einmal allein daheim weiß, wie gestern, dann wünsch' ich mir nichts Besseres, als in einem sonnigen Winkel still,sitzen und ungescholten über einem Buch ein wenig einzunicken. Wen haben Sie denn bei sich gehabt?“

„Meine Zimmernachbarinnen Tulliker.“

„O jehl“ spöttelte Magdalene, „daß Sie mit diesen beiden dürren Sektirerinnen spazieren gehn mögen!“

„Es hat sie halt gefreut, sich jemand anzu[17] schließen, und da wollt' ich es nicht abschlagen;es ist ja ein Wunder, wenn sie überhaupt einmal richtig ins Weite gehen.“

And die haben Sie in ein Wirthshaus hinein gebracht?“ zweifelte Jungfer Biberach. „Haben sie denn auch was getrunken? O, in diese zwei Gerippe hinein schütten mögen, bis sie zu hopsen angefangen. Aber Jesses! ich muß hinauf, mein Gemüse brennt an!“

Gritli lächelte vor sich hin. Es mußte schon ein braver Waadtländer gewesen sein, im Sennhof. Denn er hatte etwas Unerhörtes gezeitigt,und Gritli's Gedanken waren seitdem unablässig davon gefangen genommen.

Als die drei ältlichen Mädchen so miteinander die Herrlichkeit des Schneegebirges im Abendroth betrachtet und die Augen über das Vorland hinweg allerlei Reisen hatten thun lassen, zu fernen Seen und duftigen Höhenzügen, da äußerte die ältere der Jungfrauen Tulliker plötzlich den an ihr fast unfaßlichen Gedanken: sie drei Nachbarinnen könnten sich doch eigentlich am nächstkommenden Sonntag auch der ausgeschriebenen Vergnügungsfahrt an den Vierwaldstättersee und auf

Siegfried. GritliWohlthäter. 2 [18] das Rütli anschließen, an der so viele Bekannte aus der Stadt theilnähmen.

Zu anderer Zeit hätte Gritli sich ob solch einem Vorschlage baß entsetzt. Aber sei es, daß hier ein völlig unverhoffter, kühner Wurf seine mitreißende Wirkung that, sei es, daß auch Gritli's Blut von Wein und Wonne des Maientages lebendiger strömte, es hatte die Idee nicht nur ohne Schrecken angehört, sondern sie sogar nach einigem Staunen und Erwägen aufgegriffen und sich das Unerhörte einer solchen Betheiligung wahrhaftig gleichfalls zugetraut. Ja, noch mehr:selbst heute, da es in aller Nüchternheit des Werktages an seiner Arbeit saß, ließ es die Vorstellung nicht wieder fahren, daß es dieses unbeschreiblichen Glückes theilhaftig werden könnte. Denn aller Träume Erfüllung, alles jahrelangen Sehnens Gewährung schien ihm urplötzlich nahegerückt durch den kühnen Anstoß der weinseligen Nachbarin. Warum auch wagte Gritli bereits zu denken sollte es denn gar so eine Ueberhebung sein, wenn auch Seinesgleichen nach vielen Jahren bescheidenen Sparens einmal das Glück einer kleinen Reise genösse? Wenn das die ernsten Plätterinnen nebenan verantworteten,[29] dann durfte sicher auch das Nähgritli dabei sein!

Ach, sein Herz faßte es ja kaum, und die Phantasie, seine sonst immer flügge Phantasie ließ es plötzlich im Stiche. Es vermochte sich auf einmal gar keine Bilder mehr von dem zu machen,was seiner Göttliches harren würde. So lange Alles ein unerfüllbarer Traum geblieben war, hatte es sich deutlich die geheiligten Stätten des Vaterlandes vorstellen können: die Landschaft von Uri in ruhevoller Weihe, himmelhohe Berge, und in ihrem Schutze das Rütli, „das stille Gelände am See“. Jetzt, wo es Wahrheit werden sollte, daß es diese Orte beträte, jetzt vershwammen ihm die so oft im Geist erschauten Bilder zu einem unbestimmten und unfaßbaren Nebelglanz, vor dem es zum voraus überwältigt die Augen schloß.

Das gute Wesen hatte zu nähen aufgehört und stichelte einen Augenblick zerstreut mit der Nadel in das abgeblichene, gestickte Nähkissen. Es schwebte nur noch ein großes, bedenkliches Fragezeichen über dem leuchtenden Plan. Gritli mochte aber niemand davon reden; es hatte auch den Schwestern Tulliker gestern nur geantwortet, es sei ihm vor dem Samstag Abend un

22*[20]möglich, ihnen etwas Gewisses über sein Mitgehen zu sagen, und sie sollten sich vollständig unabhängig von seinem Anschluß auf ihre Reise vorbereiten.

Es handelte sich um die leidige Geldfrage.Denn ungeschickter als justeben hätte es sich in Jahr und Tag nie treffen können. Gerade vor wenigen Tagen hatte es wieder ein ordentliches zusammengespartes Sümmchen in seinen Schatz eingeliefert und nur einen ganz unbedeutenden Baarbetrag daheim behalten, eben recht bemessen für die laufenden Ausgaben der nächsten Zeit.Wenn es also die Reise mitmachen wollte, konnte es nur geschehen, falls es den rückständigen Lohn von fünf Tagen der letzten Woche und denjenigen von fünfen der eben angetretenen am nächsten Samstag hinzu bekam. Darüber hätte zu keiner andern Zeit ein Zweifel bestanden. Aber wie fatal es der Zufall nur fügen kann! Es hatte eine einzige Kundschaft, die ihm den Lohn unregelmäßig auszahlte und dies manchmal über Wochen hinweg vergaß. Das war die junge Frau Stadtschreiber Gebnauer im Hause zum Steinbock. Und während Gritli sonst fast jeden Tag anderswo nähte, gehörten in dieser und der vergangenen Woche zehn volle Tage gerade diesem [21] gleichen einen Hause. Das junge Ehepaar hatte sich ein hundertjähriges Winzerhüttchen im Gebnauer'schen Rebberge hinter der Stadt zu einer luftigen, kleinen Sommerwohnung ausbauen lassen, und die Frau wünschte es auf den nahe bevorstehenden Geburtstag ihres Mannes zu beziehen und mit einem Feste einzuweihen. Da hieß es nun über Hals und Kopf die Ausstattung an Tisch- und Bettwäsche vollenden, und die Frau Stadtschreiberin hatte von Gritli's Gefälligkeit verlangt, daß es alle andern Kunden so lange warten lasse, bis diese ausnahmsweise, eilige Arbeit erledigt sei. So war es denn vor vierzehn Tagen von Haus zu Haus gelaufen, bittend und entschuldigend, um so viele Tage frei zu bekommen,und hatte nur den Montag bei Herrn Rych bestehen lassen. Denn diesen, seit achtzehn Jahren nie verrückten Nähtag hätte es um keinen Preis anzutasten gewagt.

Noch viel weniger war daran zu denken, das,was es zur Reise benöthigte, von dem bereits an den Gestrengen ausgelieferten Gelde etwa wieder zurück zu fordern. Potz tausend jawohl! Der würde das arme Gritli mit seinen Rollaugen nicht übel durchbohrt haben! Wozu? Zu [22]einer kostspieligen Ausfahrt? Das hatte er bloß noch erleben wollen, daß jetzt bereits auch die Leute solchen Schlages ihre Sonntagslustbarkeit bis an den Vierwaldstättersee auszudehnen verlangten!

Gritli schauderte die Haut beim bloßen Drandenken.Aber ebenso unmöglich wäre es dem verschämten Jüngferchen gewesen, irgend jemand seine Verlegenheit anzuvertrauen. Gritli hatte zeitlebens Geldangelegenheiten mit äußerster Genauigkeit und Zartheit erledigt, jedesmal wie eine unerfreuliche, sein Gefühl ein wenig demüthigende Nothwendigkeit, von der man am besten möglichst wenig spricht. Auszuleihen und wieder zurück zu empfangen, oder gar je selber Geld zu entlehnen, das waren Dinge, die es floh und fürchtete, im richtigen Instinkt, daß sie, ob noch so viele Andere umher Derartiges ohne Anstoß trieben, seiner besondern Natur viel mehr Verletzendes bringen müßten, als sie ihm in irgend einer Lage zu nützen vermöchten.

Nein, nein! Gritli machte sich, wie um sich vom bloßen Aufzucken solcher Hülfsgedanken zu reinigen, jetzt mit verdoppelter Emsigkeit wieder ans Nähen.“

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Uebrigens wäre jetzt gar niemand mehr da gewesen von Jenen, die vordem liebevoll an seinem Wohl und Weh Antheil genommen hatten und denen es, wo es allein nicht fertig wurde, im Vertrauen ein Wort sagen, eine Bitte um Rath vortragen durfte. Einst hatte eine ganze Generation Frauen in seinem Arbeitskreise gelebt, die sämmtlich die Liebe besaßen, sich in die Verhältnisse und Lebensbedingungen der kleinen Leute um sie her hineinzudenken. Fräulein Charlotte Rych voran, dann die alte Frau Gebnauer, des Stadtschreibers Mutter,nicht zuletzt auch die liebliche Frau Oberrichter Degerfeld, die so früh hatte sterben müssen, aber Gritli in ihrem Knaben Paul auf Jahre noch ein inniges Bindeglied zum Hause zurückgelassen hatte.

War das nun bloß ungünstiger Zufall. oder war es ein Merkmal des neuen Geschlechtes überhaupt, daß sich für alle jene verschwundenen Sorglichen kein Ersatz mehr einstellte? Seltsam genug nahm sich der Widerspruch schon aus zwischen den Schlagwörtern, die aus den vielen Vereinen zur Besserung socialer Zustände durch die Luft schwirrten, und dem gleichzeitig doch unleugbaren Niedergang jener frühern gütigen Fürsorge von Person zu Person.[24]Freilich, Gritli gestand sich als Entschuldigung selber ein, daß die Arbeitsleute und Dienstboten von heutzutage ihrerseits auch danach seien,um es selbst den Wohlwollendsten schließlich zu verleiden. Aber persönlich litt es unter dieser kälter gewordenen Luft und vermißte auch besonders schmerzlich, daß in keinem seiner jetzigen Kundenhäuser mehr Kinder heranwuchsen. Wenn ehedem kleines Volk stundenlang mit Arbeit oder Spiel in seine gute Hut gegeben wurde, wie manches Fädchen der Anhänglichkeit spann sich da an! Gritli's schöne Geschichten fesselten jedes,und seine Kunst, Alles zum Frieden zu lenken,übte einen wohlthätigen Einfluß, wo immer es auf widerborstige kleine Köpfe einwirkte. Doch mit den Jahren waren seine Kleinen alle groß geworden, manche Verhältnisse hatten sich von Grund aus verschoben, und seit drei Jahren entbehrte Gritli auch die persönliche Nähe des letzten und theuersten seiner Pfleglinge, Paul Degerfeld's, mit dem es durch fünfzehn Jahre jeden Samstag und wie manchen Sonntag-Nachmittag zusammengekommen und in inniger Kameradschaft verwachsen war.

Diesem mutterlosen Knaben hatte es in den []7*20

Jahren, als er noch so unendlich viel fragte, mit geringem Wissen, aber viel richtigem Gefühl über hundert Dinge die ersten Aufschlüsse gegeben.Dann hatte es ihm seine Märchen und alle wahren Geschichten, die es wußte, so lange erzählt, bis Paul ihm über den Kopf wuchs und die Zeit begann, wo es mit seinen kleinen Eigenthümlichkeiten den Jungen zu allerlei Späßen und Nachahmungskünsten anzureizen begann und diese dann voll unendlicher Langmuth ertrug. Ja,es hatte sich Paul schließlich rückhaltlos zum Studienobjekt ergeben. Mein Gott! was hätte der Junge an dem simpeln, zaghaften, früh ältlichen Jungfernwesen Verfängliches zu entdecken gefunden! Er kannte bald alles, alles aus Gritli's uninteressantem Leben. Aber dem warmherzigen Burschen war das ein ganzes Reich, und die Bethätigung all' seiner Phantasterei und Zärtlichkeit ging auf sein Verhältniß zu Gritli über, das er „Sonnenschein“ taufte und in zahllosen Gedichten verherrlichte. Dieser Ehrenname aus dem Degerfeld'schen Hause war dem guten Wesen seitdem verblieben, und es wurde bis heute da und dort scherzhaft so genannt. Briefe waren jetzt die einzigen Lichtstrahlen, die aus jener Freundschaft [26]noch in sein vereinsamtes Dasein fielen. Denn Paul war seit drei Jahren auf der Universität und sein Vater aus der Stadt fortgezogen. Auch gab es schon immer längere Pausen zwischen den einzelnen Episteln. Aber Gritli begriff dies wohl.So ein junger Herr und Student! Wäre es nicht sein Paul gewesen, so hätte das treue Gedenken überhaupt nicht so lange vorgehalten! Wenn einmal gar zu lange kein neuer Brief eintraf, holte es die alten hervor und die sorgfältig aufgehobenen Gedichte und stillte an ihnen seine Sehnsucht nach dem fernen Freund.

Gritli fühlte sich auch in diesem Augenblick wieder ganz aufgeheitert durch die Gedanken an ihn. Wenngleich solche beglückende Umstände nie wiederkehren konnten, so hatte es doch Schönes genug erleben dürfen, das gestand es sich oft, und noch ging es ihm ja auch in dem weniger freundlich gewordenen Lebenskreise ganz gut. Es hatte seinem Gotte nur zu danken. Man konnte Schlimmeres sehen allenthalben in der Welt umher, als solche Vereinsamung.Ein leises Knistern, Rascheln und Schwirren weckte es aus seinem Sinnen auf.Oben, dem Sockel des Hauses entlang, wuchs [27] eine Laubhecke, von einem feinen Drahtgitter zusammengehalten, und ließ nur die Ausschnitte der Kellerfenster frei. An diesem vor den Katzen geschützten Ort entdeckte Gritli jetzt, gleich zunächst seinem Fenster dicht am Boden, ein schönes Vogelnest, aus dem eben vorsichtig ein Rothkehlchen entflatterte.Das Herz bebte Gritli vor glücklicher Erregung.Rasch und behutsam rückte es seinen Stuhl unter das Fenster und stellte sich einen Augenblick forschend darauf. Da erblickte es fünf strohgelbe Eier in dem Neste, mit braunen Tupfen aufs Zierlichste übersprengt. Ach, welch' eine holde Gesellschaft hatte es da unverhofft in seinem Verließ gefunden!Alsbald sah seine Phantasie das Werden und Gedeihen einer ganzen auszubrütenden Familie als Erlebniß dieses Sommers vor sich stehen, und damit hatte es auch schon die neuen Nachbarn mit seiner ganzen Liebe umschlossen. Indem Gritli,noch so auf dem Stuhle stehend, sich einen Augenblick der Vorstellung überließ, wie sich dies Schauspiel der heranwachsenden Vogelfamilie von einem der Nähtage zum andern lieblicher entwickeln mußte, und dabei zerstreut in die Wipfel der großen Kastanienbäume hinausschaute, erschien [28]vor dem Fenstergitter urplötzlich Herr Rych und sah die Arglose aus nächster Nähe da stehen und faullenzen.Ein pfiffiges Lächeln ging über das ungute alte Gesicht, grad' als hätte er nun endlich wunder was längst Erlauertes ertappt.

„Mich dünkt,“ sprach er boshaft, „Ihr werdet zu dem, was Ihr da thut, wohl noch Licht genug behalten!“ und ließ mit barschem Wink einen Pflanzenkübel, den der Gärtnerbursche hinter ihm daherschleppte, just mitten vor Gritli's Fenster hinsetzen. Der blattarme Oleanderbusch schien hier einen geschützten Standort bekommen zu sollen.

Dunkelroth übergossen war Gritli vom Stuhl herabgestiegen und nahm in unbeschreiblicher Aufregung seine unterbrochene Arbeit wieder auf.

„Es war doch ein böser, böser Mann, der Herr Rych!“ es vermochte kaum die Nadel einzufädeln, so war es verstört. Alle schlimmen Dinge, die es in diesem Hause schon erlebt hatte,tauchten vor seiner Seele auf, und es empfand trotz all' seiner Sanftmuth jetzt einen heiligen Zorn darüber, daß diesem Alten nie jemand ins Gesicht sagte, was für ein abscheulicher Cujon er sei! Solch' ungerechten Spott und solch' einen [29] häßlichen falschen Schein, wie er durch das unglückliche Zusammentreffen da entstanden war, verwand es nicht, und dennoch fühlte es auch nicht den Muth, sich bei dem Unhold nachträglich zu vertheidigen.

Mit zornigem Ruck zog es den endlich erwischten Faden durchs Nadelöhr, doch zum Nähen kam es nicht. Es stichelte mit unsichern Fingern nur an seiner Leinwand herum und traf kaum die Stelle, wo es hineinstechen wollte.Schließlich rollte ihm eine Thräne der Hülflosigkeit auf die Hand.

Was hatte Herr Rych sich vor Gritli's Augen nicht schon Alles erlaubt! Wenn es allein an den empörenden Streich dachte, den es am letzten Neujahrsmorgen machtlos hatte mitansehen müssen, einen Streich, so recht von Geiz und Bosheit ersonnen!

In Altachen bestand noch die Sitte, daß die Kinder, auch die aus bessern Bürgershäusern,am Vormittage des ersten Jahrestages in kleinen Schaaren in die Häuser gingen und einen uralten,mehrstimmigen Neujahrsspruch sangen, worauf sie mit Backwerk beschenkt und mit den Glückwünschen an ihre Eltern beauftragt wurden.

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Das war für die Kleinen ein Fest und spielte sich immer in der besten Manierlichkeit ab. Was that aber Herr Cornelius Rych, der sich an nichts Harmlosem freuen konnte und überdies in seiner Knickerigkeit seit Jahren ärgerte, daß Magdalene jedesmal für dieses Kinderpack einen besondern Vorrath Gebäck anfertigte, was that er dies Jahr,um die Kleinen ein für alle Mal los zu werden?

Er veranlaßte jedes dieser Trüppchen Kinder,ins Vorzimmer einzutreten, hieß sie warten und fuhr damit fort, bis eine ansehnliche Zahl beisammen war, die ihm die Altachener Jugend genügend zu vertreten schien. Und wie sie nun Alle gespannt und beklommen mit großen, erwartungsvollen Augen der Gabe harrten, die da kommen mochte, schloß er laut und beängstigend die Thüre mit Schlüssel und Riegel hinter ihnen ab. Dann holte er aus dem Ofen einen ungeheuern Hafen mit Kamillenthee und zwang jedes einzelne Kind, eine mächtig große Tasse voll von der lauwarmen Brühe ohne Zucker hinunterzutrinken, ehe es aus der verschlossenen Stube wieder entkam. Was hatten Gritli und Magdalene in ihrer machtlosen Empörung ausgestanden, nebenan in der Küche das Geheul und []die Angstrufe der Kleinen mit anzuhören, die nicht wußten, welchem Kindlifresser sie da plötzlich in die Hände gefallen seien und was alles er noch mit ihnen vorhabe!

Wenn Gritli jetzt daran zurückdachte und an manche andere Ränke, so hätte es fast das Herz gefaßt, dem reichen Bösewicht auf Grund der heutigen Beleidigung endlich seine Dienste zu kündigen.Allein der Gedanke an Magdalene, die dann vollends niemand mehr hatte, ließ es wieder davon abstehen. Denn die o, die fand nimmermehr den Muth, ein Gleiches zu thun. Dazu war sie schon zu mürbe und hatte längst die gebotenen Stunden versäumt, wo sie den Herrn zur Strafe für seine Bosheit kurzweg hätte stehen lassen sollen, ohne Bedienung, allein wie er war,im leeren Hause. Jetzt befürchtete Herr Rych nichts dergleichen mehr und ließ drum seine Lust am Kränken nach Belieben an ihnen allen aus.„Natürlich!“ sagte sich Gritli, „wie sollte er nicht?“Und eine Ahnung ging ihm auf, daß die Mißhandelten und Uebervortheilten sich selber mitschuldig machen an der großen Ungerechtigkeit der Welt, wenn sie durch Unterlassung oder [3]schwächliche Unzulänglichkeit der Gegenwehr einen Uebelthäter in seiner Schlechtigkeit bestärken und sicher machen. Denn auf diese Weise schlägt ihm sein Unrecht ja in der That zum Vortheil aus,und er fühlt sich ermuthigt, das Gleiche bei erster Gelegenheit aufs Neue zu versuchen.

Gedrückt und zerquält, beinah in seine Arbeit sich verkriechend, sehnte Gritli das Ende dieses Tages herbei und hob erst wieder ein wenig den Kopf, als endlich die Sonne von Westen über die Baumkronen zu ihm herabdrang und die nahe Feierabendstunde ankündigte.

Es schüttelte sich förmlich, als es diesmal das Gitterthor des Rych'schen Gartens wieder für eine Woche hinter sich hatte und schritt, noch wie von einer Last beschwert, von dannen.

Auf Weg und Stegen traf es Menschen, die sich nach des Tages Mühe in dem schönen Abend ergingen. Aus nahen Gärten tönte Musik, noch sangen die Amseln, man hörte kräftiges Kegelschieben und allerlei lustige Rufe. Da athmete Gritli mit einem Male tief auf. Warum ging es denn eigentlich so bedrückt einher? Was war geschehen? Einmal ein schlimmerer Tag zwischen manchen guten, ohne seine Schuld, war das nicht alles?

[33]

Wo es vorüberkam, ward ihm von Frauen und Herren ein freundlicher Gruß. Das that ihm wieder wohl in seinem bescheidenen Herzen, fast wie eine sichtbare Herstellung seiner verletzten Ehre.Wenn es auch nur das Nähgritli war, so durfte es sich doch in der Oeffentlichkeit geachtet sehen.Da raffte es sich denn auf und suchte den heutigen schlimmen Werktagsstaub von seiner Seele zu schütteln. Es drehte das Näschen nach dem Winde,der ihm so wonnigen Fliederduft entgegenbrachte,und schlug einen frischeren Schritt an. Das kleine Päckchen, das ihm Magdalene mitgegeben hatte,mit umzutauschenden Leinenbändern und Knöpfen,ließ es plötzlich unter seine schwarze Schürze gleiten, fast verschämt, als wollte es, da über sein eigenes Gemüth endlich die Feierabendstimmung kam, nun auch diejenige der Andern selbst nicht mit dem Anblick eines Arbeitsbündels mehr stören.

Im kühlen Baumschatten der Stadtpromenade nahm es noch ein Weilchen auf einer Ruhebank Platz und schaute stillathmend übers Land hinaus.Fern in einem schleierhaften Dunste zeichneten sich die Alpen, gerade wie man es in dieser Jahreszeit als Zeichen für lang andauerndes schönes Wetter gern sah. Da kamen Gritli's

Siegfried, GritliWohlthäter. 3 [34]Gedanken endlich wieder zu seinem großen Vorhaben zurück, und eine heftige Unruhe fuhr in seine Glieder, daß es sich erheben mußte und in seiner bangenden Vorfreude jetzt eilig der dämmerigen Stadt und seiner hochgelegenen Wohnung zus chritt.

„Weiß Trost! schon wieder gelbe Rüben und Hammelfleisch!“ dachte Gritli, als im Laufe des nächsten Vormittages der kräftige Geruch dieser zwei Gerichte aus der Gebnauer'schen Küche in alle Räume des Hauses drang.

Den Menschenkindern, die ihren Verdienst während der sechs Wochentage in verschiedenen Häusern suchen und jeden Mittag ihre Füße unter einen andern Tisch strecken müssen, spielt der Zufall manchmal mit der Kost wunderliche Streiche. Ein alter Schneider in Altachen der zu seiner Zeit, wie es damals noch ortsüblich war,zum Anfertigen von Knabenkleidern von Haus zu Haus auf Arbeit ging, erzählte oft genug von den schönen gelben Nebelbohnen, welche die Altachener Köchinnen besonders meisterlich in ihren Gemüsegärten zu ziehen, und auf dem richtigen Punkte, nach den ersten Nebelnächten abgenommen,zu kochen verstanden. Durchschnittlich jeden zweiten [35]Tag im Herbste habe er dieses Gemüse mit magerem Speck vorgesetzt erhalten; in einem gewissen Jahre aber, als diese Bohnen besonders gut geriethen, sei das durch drei Wochen ohne Unterbrechung an achtzehn Werktagen nacheinander vorgekommen.

Aehnliches hätte auch Gritli Brunnenmeister in all' seiner lauteren Wahrhaftigkeit von Rüben und Hammelfleisch betheuern können; doch blieb ihm heute wenig Muße, den vertrauten Duft zu beachten. Denn auf seinem Zuschneidetische hatte es Arbeit in einem Maße für die übrigen fünf Wochentage zugetheilt gefunden, daß der ganze Unverstand der jungen Frau Stadtschreiberin sich in diesem Leinwandberg ein Monument gesetzt zu haben schien, und das gute Wesen, das sich keine Einsprache zu erheben getraute, nicht wußte, wie es das alles auf den Samstag bewältigen sollte. Es lag dieser Zumuthung keineswegs Härte zu Grunde, oder die Absicht, unverhältnißmäßige Leistungen um den geringen Taglohn herauszupressen, sondern lediglich die grasgrüne, lieblose Gedanken- und Herzensträg-heit einer leichtfertigen Frau Parvenue.

Auf einer Schlittenpartie hatte sich der junge [368]Herr Gebnauer vor etlichen Jahren in die schönen braunen, nur ein wenig hart dreinblickenden Augen des Fräuleins Hedwig Bläuler verlugt,der einzigen Tochter eines Bauunternehmers, der ehedem Maurermeister gewesen, aber durch geschickte Spekulationen in der Zeit der Umgestaltung Altachens zu einem Vermögen gekommen war und nun breitspurig draußen residirte, eine halbe Stunde vor der Stadt, auf dem Landgut eines verarmten Patriziergeschlechts. Trotz der resoluten Vorstellungen seiner Mutter war der Stadtschreiber von den Fesseln nicht wieder losgekommen, in die ihn das frische und stattliche Mädchen geschlagen hatte, und es war der würdigen Herrin des Hauses „zum Steinbock“ ein rechter Kummer gewesen, zur Nachfolgerin in den patriarchalischen Besitz ein weibliches Wesen erwählt zu sehen, dem nach ihrer Ansicht für diese Stellung aller Untergrund einer richtigen Erziehung fehlte. Im Hause der Eltern Bläuler lebte man hoch erhobenen Kopfes in den Tag hinein, als wäre der Genuß des Lebens, zu dem man sich so gewaltsam mit den Ellbogen emporgebracht hatte, das einzige Erstrebenswerthe, während jene Treue im Kleinen dort etwas völlig Unbekanntes [37] blieb, die als Merkmal guter Bürgerart im „Steinbock“ von jeher Brauch gewesen war.

Aber nichts von alledem hatte der Sohn in den braunen Augen gelesen. Nun war der erste Rausch verflogen, und schon wechselten in der jungen Ehe Zeiten launenhafter Liebesbezeugungen mit solchen spöttischer Kälte und aufgeregter Unbefriedigtheit, wie die Wolken am Aprilhimmel. Ein Glück, daß die ehrenfeste Matrone hatte sterben können, ehe die neue Zeit in ihrem Hause Einzug gehalten. Als eine ihrer letzten freundlichen Thaten ließ sie noch die getäfelte Nähstube in lichter Farbe neu streichen, weil Gritli's Augen, wie sie sagte, allmälig die jahrelange feine Arbeit spüren müßten und daäher mit einer helleren Stube eine Nachhülfe brauchten. Darin war freilich ein anderes Wohnen als im Kellerloch bei Herrn Rych. Licht und Luft kamen durch stattliche Fenster herein, wenn sie gleich nur auf eine Hintergasse gingen. Aber auf was für eine trauliche! Es war die letzte am obern Ende der Stadt, und über die Nachbargiebel grüßten schon die grünen Wipfel der Stadtpromenade herein.

Alles aber, was da vom Nähplatz aus zu []B sehen war, Gass' auf und Gass' ab, kannte Gritli seit Jahren so genau, als wäre es hier zu Hause.Zumal ein einstöckiges Häuschen gegenüber war ihm lieb und vertraut. Das hätte ein steiles Hohlziegeldach mit absonderlichen Schloten und Wetterfahnen, zwischen denen ein Ausblick auf die bewaldeten Höhenzüge im Süden freiblieb und an hellen Abenden sogar ein paar ferne,höchste Schneegipfelchen sichtbar wurden. Eine freundliche, greise Appenzellerin hauste da, und es bot einen heitern Anblick, wie im Gegensatz zu dem grauen Gemäuer und verwitterten Dach ihres Wittwenhäuschens alles Uebrige in der sprichwörtlichen appenzellischen Reinlichkeit erglänzte.Wenn drüben die Fenster offen standen, konnte Gritli bis ganz in die Räume hinein die spiegelnde Sauberkeit bewundern, besonders in der tiefer gelegenen Schlafstube der Nachbarin, wo der großblumige Teppich immer gleich exakt zurecht gezupft dalag, der mächtige Ohrenlehnstuhl nie von seinem Platze verrückt schien, und an den Thüren der Wandschränke die vielen Scheibchen blitzblank herüber funkelten, wenn sie gegen Abend vom lustigen Widerschein der sonnenbeglänzten Nachbarsfenster getroffen wurden.[]

39

Jetzt aber schnitt Gritli emsig seine Kissenbezüge zurecht, einen um den andern, damit sie am Nachmittage von den Mägden genäht werden könnten. Die Uhr im Gange draußen schlug eben halb Zehn. Da kam endlich auch die Frau Stadtschreiberin zum Vorschein. Ihr dunkelblondes Haar war zwar noch nicht ordentlich aufgesteckt, als sie in die Nähstube trat, guten Morgen zu wünschen, aber in der reichbebänderten Morgenjacke stellte sie mit ihrer hohen Figur auf den ersten Anblick doch unleugbar etwas vor.

„Diese Woche, Gritli, muß also sämmtliches neue Bettzeug für das Rebhäuschen fertig werden!“schnäbelte sie. „Nicht wahr, Sie lassen mich nicht im Stiche?“ Dabei streichelte sie flüchtig mit der Hand über das glatte Leinwandbällchen, das so appetitlich aus seinen gelösten blauen Umschlagbändern quoll.

„Es wird wohl gehen,“ lispelte Gritli gehorsam, dachte aber dabei, wie so gar keinen Begriff diese junge Frau doch haben müsse von den einzelnen Arbeiten, die sie zutheile. Für leichte Dinge, die bloß recht groß aussahen, wie meterlange Nähte und Säume an Leintüchern, setzte sie manchmal einen ganzen Tag an; derweil be[40]wältigte Gritli Alles in ein paar Morgenstunden.Und umgekehrt nahm sie an, Knopflöcher, weil sie klein seien, mache man im Handumdrehen beim Dutzend.

„Was aber das Tischzeug anbelangt,“ verfügte die junge Herrin weiter, „so kann das aus dem Vorrath meiner Schwiegermutter im großen Schrank auf der Laube genommen werden. Für den Gebrauch draußen im Rebberg ist das alte Zeug ja eben recht!“

Durch Gritliss schmale Figur lief bei diesen Worten ein Beben, als hätte sein frommes Gemüth eine Blasphemie angehört.

„Suchen Sie mir gleich bis Mittag achtzehn Servietten von den besten heraus! So viel werden wir schon noch zusammenbringen!“ meinte die Frau Stadtschreiberin. „Dann will ich sehen,was für Tischtücher ich dazu finde. Es sind so vielerlei verschieden gemusterte unter dem altmodischen Haufen!“

Sie war, indem sie so redete, ans offene Fenster getreten, von der wehenden Kühle gelockt,die aus der schattigen Gasse hereinströmte, und während sie ihr rosig verschlafenes Gesicht in dem frischen Luftzug vollends wach badete, reckte [41] sie neugierig den Hals, um über die stille Häuserreihe in die morgendlich belebte Hauptstraße hinaus zu spähen.

„Seh' ich recht?“ rief sie plötzlich, „dort drüben geht ja schon Ida? Ida! Ida! guten Morgen!Komm' doch schnell herauf!“ Gleich darauf schallte an der Treppe eine laute Begrüßung und Frau Gebnauer's Entschuldigung, daß sie noch im Negligé stecke. Dann verklang das geräuschvolle Gespräch der beiden Damen hinter der zufallenden Thüre des Salons überm Gang.

Noch etliche Stück Bezüge schnitt Gritli zurecht, dann knabberte es, obwohl mutterseelenallein,mit der ganzen verschämten Andacht, mit der alle Hausnähterinnen essen, an dem bereitstehenden Frühstückchen. „Achtzehn gleiche Servietten von den besten?“ seufzte es dabei. Wo sollten die noch herkommen, nachdem seit zwei Jahren in den kostbaren Vorräthen so gottlos gehaust wurdel Hatte Gritli doch bald nach der alten Frau Gebnauer Tod, als die Gipser und Maler im Hause wirthschafteten, ganz tadellose Tischtüscher zum Zudecken von Schränken und Treppengeländern verwendet gefunden, und das feinste Weißzeug der Verstorbenen wurde jetzt, nachdem [42]es ohnehin in den mörderischen Alltagsgebrauch gegeben worden war, nur unachtsam von den eigenen Mägden gewaschen und geplättet. Die Aussteuer der jungen Frau dagegen mußte von den Jungfrauen Tulliker besorgt werden, unter der persönlichen Ueberwachung der Schwiegermutter Bläuler,die zu diesem wichtigen Behuf immer den ganzen betreffenden Tag hier im Hause zubrachte.Einmal, am Anfang, hatte Gritli sich ein Herz gefaßt und ihre altvertrauten Güter bescheiden vertheidigt, um ihnen Schonung zu erlangen. Aber die junge Frau war sichtlich der Meinung, der ganze Hausschatz, den sie angetroffen habe, sei nichts, womit man vor Freundinnen und Gevatterinnen Ehre einlegen könne, und blieb über der üppigen modernen Aussteuer, die sie selber gebracht hatte, mit den hochgestickten auffälligen Namenszügen und dem übertriebenen Ausputz,erbarmungslos blind für die stillere Köstlichkeit des Alten. Richtig fand denn Gritli von den Staatsservietten auch kein ganzes Dutzend mehr brauchbar vor; der Rest stellte eine ganze Anklageakte von Lieblosigkeit und Unverstand dar.Draußen war jetzt wieder umständlicher Abschied auf der Treppe, und eine Einladung der

[44]

Freundin Ida für Donnerstag Nachmittag wurde mit entzücktem Wortschwall angenommen. Heute um drei Uhr traf man sich ohnehin bei Agnes Wirth. „Also auf Wiedersehen denn! Adieu!Adieul!“

Eine flüchtige Minute erschien Frau Hedwig,nun ganz belebt, bei Gritli wieder. Die Serviettenfrage wurde mit einem Achselzucken erledigt. Die gelben Rüben und das Schaffleisch begannen zudringlicher über den langen Gang zu duften und mahnten die Hausfrau, daß auch noch in der Küche Nachschau zu halten sei. Trällernd war sie im nächsten Augenblicke der Nähstube für den heutigen Tag entschwunden.

So ein Dutzend junger Frauen, wie sie zur Zeit das Städtchen aufwies, alle wo nicht verwandt, so doch Schulgenossinnen oder Institutsfreundinnen, wußten sich in diesen ersten Ehejahren, besonders so lange einzelne noch keine Kinder zu hüten hatten, gar tapfer über die langen Nachmittage wegzuhelfen, in denen ihre lieben Männer im Geschäft oder Amte steckten. Heute war es ein Lesekränzchen, das sie zusammenführte,morgen nahmen sie an einem Verein Theil, in dem für Arme, übermorgen an einem, wo für [44] taubstumme Kinder gearbeitet wurde. Am vierten halfen sie Verdienstarbeit für bedürftige Frauen herrichten und ausgeben, oder die Verwaltungsgeschäfte einer Kostanstalt für auswärtige Schulkinder und Arbeiter besorgen, kurz, Anlaß sich zu belustigen oder zu bethätigen, fand sich jeden Tag in der regsamen Stadt. Und wenn Frau Hedwig Gebnauer's hohlem Köpfchen und trägem Wesen die Betheiligung an alledem nichts weiter als eine Gelegenheit bedeutete, dem Alleinsein mit der leeren eigenen Person zu entrinnen, so stellte diese Drohne in der That eine Ausnahme dar unter den bienenfleißigen Altachenerinnen, die mit ihren warmen Herzen, hellen Köpfen und rührigen Armen ein besonderes Ansehen im Lande genossen und der staatlichen Fürsorge auf allen geeigneten Gebieten als intelligente, wackere Hülfsschaar dienten. Die Tage, an denen man unvermeidlich mit angreifen mußte, waren der hübschen Stadtschreiberin auch insgeheim die unliebsten;die Lesetage behagten ihr gleichfalls nicht sonderlich; nach ihrem Sinne war eigentlich nur der Dienstag oder der Donnerstag. Die standen frei für jene Einladungen reiheum, bei denen man ausschließlich plauderte, prunkvolle Handarbeiten vor [45] den Genossinnen ausbreitete und einander die neuesten Fortschritte im Gebiete der Backkunst und eingemachten Früchte vorführte. Und während bei diesem betriebsamen Leben jede andere der Frauen und Fräulein sich die nöthigen Tage und Stunden für ihre häuslichen Pflichten freihielt, sah man Frau Hedwig sozusagen jeden Nachmittag auf solch' einem Zweckausgang. Was unterdessen daheim im Steinbock zu Stande kam, wo die Dienstboten sich selbst überlassen blieben, bedachte manche gute Hausfrau mit Kopfschütteln. Da mochte auch Gritli sich an diesen ersten Wochentagen abplagen, soviel es wollte, die beiden zu seiner Hülfe befohlenen Mägde machten sich das Flatterwesen ihrer Herrin nach Möglichkeit zu Nutze, erschienen spät und blieben faul.

So wurde es Donnerstag, ehe man sich's versah, und über dem verdoppelten eigenen Fleiß fand Gritli kaum je einen Augenblick Zeit, seinem großen Reiseplan ein wenig nachzuhängen. Heute hatte die Einladung der Freundin Ida die Hausfrau wieder entführt, der Berg von Arbeit, der aus dem kleinen Leinwandböllchen erstanden war,lag noch immer gleich hochgeschichtet da, und wieder überließen sich die Mägde, ihr Weißzeug im [46]Schooß, in dieser Nachmittagsstunde ganz ungescheut einem Schläfchen. Da empfand Gritli plötzlich bittere Sorge. Wie wollten die das alles bis zum Samstag bewältigen?

Muthlos ließ es einen Augenblick seine fleißigen Hände sinken. Hatte sich denn Alles wider sein Glück verschworen? So fahrig und gedankenlos wie in diesen Tagen, schien ihm, sei Frau Hedwig sonst doch nicht gewesen; solche Zumuthungen hatte sie noch nie gestellt. Und nun diese schlechte Hülfe!

Allein Gritli selber wollte zu dieser Stunde ein müdes Gefühl über die Augen schleichen Draußen lag die erste große Wärme über den Gassen und webte still und träumerisch herein.Die Fliegen summten schlaftrunken umher, setzten sich einem so schwer auf die Hände, aufs Gesicht.Dazu sang und schnurrte eintönig eine Kreissäge aus der Ferne, ab und zu holperte irgendwo schwerfällig ein Lastwagen vorüber, während drunten kaum ein Mensch ging und am Häuschen der Appenzellerin alle Läden zugestellt waren, sodaß selbst das vertraute Gegenüber mit geschlossenen Augen zu ruhen schien. Eine verherte Schläfrigkeit um und um.

[47]

Es brauchte Gritli's ganze Gewissenhaftigkeit,um nicht nachzugeben. „Wie,“ sagte es plötzlich,„du siehest den Splitter in deines Bruders Auge und gewahrst nicht den Balken in deinem eigenen?“ Gewaltsam rüttelte es sich empor, daß ihm die Scheere vom Schooß herabglitt und mit ihrem Rasseln die Schlafenden einen Augenblick aufschreckte. Aber erst der Duft des Vieruhrkaffees aus der Nachbarschaft vermochte die Faulenzerinnen munter zu machen. Und jetzt wußte Gritli mit Güte und bittendem Zuspruch von den Beiden für den Rest des Tages endlich ergiebigen Beistand zu erlangen und sie durch eine in der Verzweiflung ausgeheckte Wette auch zur Erledigung des Quantums zu verpflichten, das ihnen für die folgenden Tage noch zufiel.

Derweil im Steinbock so über Hals und Kopf gearbeitet wurde, saß Frau Gebnauer bei der Freundin Ida vor einer wunderschönen, dreistöckigen Mandeltorte, sprach fleißig den in Kirschwasser eingemachten Pfirsichen zu, und spann zwischen dem Löffeln und Beloben der Bewirthung D für Gritli verhieß. Dem munter schmausenden Frauenwolke war die Idee gekommen, zur Ein[48]weihung des Rebhäuschens eine kleine Aufführung auszudenken, und Frieda Braunholzer, die derlei vortrefflich machte, sollte sie in Verse bringen.Die Poetin hatte denn auch allsogleich, noch beim Kaffee, den Kuß der Muse verspürt und das Festspielchen so entworfen, daß sich Scenen aus der Vergangenheit und Gegenwart des ehrwürdigen Rebhäuschens abzuspielen hätten, Liebesscenen natürlich, wie eine ledige Dichterin es sich nicht anders denken kann. Zuerst: wie vor hundert Jahren geliebt worden sei. Darstellende: Ida und ihr Vetter. Das gab ein schäferhaftes Idyll aus der Zeit Marie Antoinettens. Wie eine Generation später die Herzen sich fanden und wie damals die Zeitläufte waren, dies vorzuführen.konnte höchst erwünschter Weise einem stillverschämten Liebespaar aus der Bekanntschaft übertragen werden, das schon längst nach einer derartigen Gelegenheit schmachtete, um endlich das große Wort unter sich zu tauschen. Ueberdies war zu diesem Bilde die reiche, im Steinbock vorhandene Garderobe aus dem Anfang des Jahrhunderts prächtig zu verwenden. Wie aber aus dem alten Winzerhäuschen ein wohnliches Nest für zwei Liebende von heutzutage geworden war,[49]und wie diese sich gesehnt hatten, mit ihrem jungen Glück aus dem Maschinenlärm der modernen Stadt und dem Rauch der Fabrikschlote zu entfliehen, hinaus an den reinen Busen der Natur, dies Bild mußte das Ganze krönen, und aus diesem Schlußtableau sollte der Hausherr selber mit der Hausfrau, die es zu spielen hatten, zuletzt heraustreten und die Zuschauer nunmehr als Gäste in das so besungene Haus geleiten.

Großer Jubel herrschte über diese herrliche Eingebung, und weil keine Zeit zu verlieren war,wenn das Einstudiren in der knappen Frist noch möglich werden sollte, so versprach die Dichterin,heute Nacht gleich die Sache zu Papier zu bringen und morgen auszuarbeiten, damit bis übermorgen Nachmittag die erste Leseprobe gehalten werden könne.

Frau Hedwig, entzückt, mit so viel Glanz ihr Häuschen zu beziehen, bot, damit nichts vorher unter die Leute komme, das Landgut ihrer Eltern zur Probe an, und es wurde festgesetzt, den Samstag Abend hindurch eifrig an der Sache zu bleiben. Dem Stadtschreiber jedoch, der sich von jeher nur mit Widerstreben zum Mitspielen in Hauskomödien herbeigelassen hatte, gedachte seine Frau

Siegfried, Gritli-Wohlthäter.[] 50 gar nichts von dem Vorhaben zu sagen, bis sie ihn am Samstag Abend ahnungslos mitten ins volle Unternehmen hinein rufen ließe, wo er dann angesichts so vieler Mühe, die man sich für das Festchen gab, nicht mehr anders könnte, als seinen Part zu übernehmen.

Lange nach der gewöhnlichen Feierabendstunde erst legte Gritli heute die Arbeit aus der Hand,und auf dem Heimwege zählte es aus dem Gedächtniß immerzu das beiseite Gebrachte wieder her und überschlug den Rest. Ein bischen mehr Zuversicht keimte nun doch wieder, daß die Aufgabe bis zum Wochenende zu bewältigen sei.Eine Hauptarbeit fiel noch auf morgen, aber immerhin!

Befriedigter als die vorigen Abende erstieg es seinen dritten Stock, wo am Ende eines langen,steinernen Ganges die drei letzten Thüren zu seinen Räumen führten.

„Guten Abend, Jungfer Gritli!“ wurde es angerufen, als es an der offenen Thüre der Plätterinnen vorüberhuschte. „Wie steht es denn bei Ihnen mit dem Sonntag? Noch immer nichts Gewisses?“

„Leider nicht!“ erwiderte es, „doch hoffe ich schon, es werde sich machen lassen.“

[51]

„Könnten wir nicht ein wenig den Tagesplan berathen, wenn Sie es nicht eilig haben?“ schlug die ältere Schwester Tulliker vor.

„Gleich lege ich ab!“ stimmte Gritli bei, „und komme dann mit Verlaub ein Augenblickchen herüber!“

Die Thüre zur Linken führte in seine geräumige Stube nach dem Hofe, gegenüber lag die winzige Küche und das Vorrathskämmerchen,beide mit dem Blick auf dunkle Nachbarsmauern.Hurtig sperrte es überall die Fenster auf, die Abendluft hereinzulassen, goß, solange die Dämmerhelle noch vorhielt, seine Blumen, und stellte sich dann bei den Schwestern ein.

Diese waren Gritli's einzige Wohnungsgenossinnen auf dem Gange, und da im ganzen Stockwerke keine Kinder wohnten, so viele deren sonst im Hause lebten, so herrschte in diesem Winkel des alten Baues eine fast klösterliche Stille, und die drei ledigen Nachbarinnen hausten da so ungestört wie in einem abgeschlossenen R grundverschiedenen Welten Wand an Wand! Bei Gritli warme Frömmigkeit und kindlicher Frohsinn innen und außen. Hier drüben harte, trockene Sektirerei, die

12*[50]bis in die Wohnung der Schwestern ihren Ausdruck fand. Die Mauern des Zimmers starrten in freudlos grauer Tünche, kaum da und dort mit einem eingerahmten Bibelspruche behängt, und außer an den tadellos weißgewaschenen Deckchen auf Kommode, Tisch und Sopha, war kaum irgendwo die sorgliche Hand weiblicher Insassen zu spüren. Es hätte ebensogut die erste beste Miethsstube eines Reisepredigers ihrer Sekte sein können.Den einzigen Stolz der Bewohnerinnen bildete ein polirtes Bücherbrett aus schwarzem Holz mit einer Reihe frommer Schriften drauf, und ein Photographiegestell, das Hanna, die Jüngere,sofort vorsorglich vom Tisch entfernte, als Gritli herantrat. In schwarz und silbernen Rähmchen,wie in kostspieligen Särgen, waren da zwei Köpfe verwahrt, die ebenso seltsam fanatisch als beschränkt in die Welt schauten. Das waren die beiden Männer, denen Lydia und Hanna Tulliker ihre Erweckung und das neue, geheiligte Leben verdankten, das mit seiner gesteigerten geistlichen Bethätigung Ersatz für die nichtigen Erdenfreuden bieten sollte. Obwohl von den zwei Schwestern auch wieder nur als dürre Pflichtsache behandelt, war es doch das, was sie brauchten.[53] wenn auch aus einem gänzlich unreligiösen Grunde. Denn es bot ihnen die Möglichkeit, sich an ihrem geringen Orte, den sie immer betonten,gleichwohl als etwas Besonderes zu fühlen. Und das war von jeher den Beiden brennendes Bedürfniß gewesen. Indem sie sich dieser erwählten Gemeinde angeschlossen hatten, waren sie mit einem Male innerhalb eines bestimmten Kreises zwei Beachtete geworden. Hier konnten sie sich vergleichen, auszeichnen, konnten Andern vorlaufen und solche,die in der Heiligung noch nicht gleich weit gediehen waren, nach sich ziehen, eines belobigenden Beifalls von oben gewiß. Und das thaten sie mit unverdrossenem Heilseifer, zugleich aber mit genau derselben befehlshaberischen Strenge,wie sie für sich selber das Frommsein betrieben.

Auch die schüchterne Nachbarin hatten sie in den ersten Jahren nach ihrer Erweckung zu gewinnen versucht. Doch an Gritli's warm und friedlich in sich beruhender Religiosität war nichts zu erschüttern, noch zu steigern gewesen. In seinem innig frommen und fröhlichen Gemüth hatte es sich reich genug gefühlt, um ohne Anschluß an eine besonders strenge und anspruchsvolle Genossenschaft jene Erhebung über den Staub [54] des irdischen Werktags zu finden, die es bedurfte.Die hoch herab gekommenen Erleuchtungen und Bekehrungsversuche beantwortete es mild und gütig, immer überzeugt, daß auch die Jungfrauen Tulliker, wie alle, die eifrig Gottes Wege suchen, es auf ihre Weise gewiß recht und aufrichtig im Sinne hätten. Mit seiner guten Stimme,die noch wärmer klang, sobald es zur Seltenheit einmal von seinen innerlichen Angelegenheiten sprach, hielt es ihren Anpreisungen standhaft den Frieden und die segensvolle Leitung entgegen,die es aus seiner eigenen, schlichten Religionsübung ziehe, und über sein Gesicht war dabei jedesmal ein so schönes Leuchten gekommen, halb sehnsüchtig noch, halb schon beseligt, daß die Einreden der Schwestern schließlich verstummten.Seitdem gedieh es mit seinem siegreichen Instinkt für das, was ihm gut und zukömmlich war, im erprobten Alten unangefochten weiter.

„Nun“? fraqgte Lydia, als sie alle drei mit Förmlichkeit um den Tisch herum saßen, „ich denke also, wir machen heute den Plan zu unsrer Fahrt genau zurecht. Ich war am Morgen am Bahnhofe und habe mir mit Hülfe des Stationsdieners aus den aufgeklebten, gelben Allerwelts[55] zetteln das Nöthige zusammengesucht. Der Vergnügungszug geht Morgens um vier Uhr hier ab, der letzte kommt Nachts gegen elf Uhr zurück Es ist freilich widerwärtig und betrübend, daß man so spät an einem Sonntage befürchten muß,betrunkene Mitmenschen zu sehen und gar mit ihnen im gleichen Wagen zu fahren. Aber wenn man so viel Geld ausgibt, muß man den Tag nach Möglichkeit strecken, und wir bringen so neunzehn Stunden heraus. Von Luzern können wir dann entweder gleich mit dem Dampfschiff weiterfahren oder einige Stunden dort verweilen,was mir das Bessere dünken will. Denn das berühmte Löwendenkmal ist da zu sehen, das ein Sinnbild der Schweizertreue bedeutet, und ferner das Diorama vom Rigi und Pilatus, auf welchem genau abgebildet sein soll, was auf den beiden Bergen zu sehen wäre. Somit spart man sich viel Geld, wenn man es besucht, weil man dann selber nicht mehr dorthinauf zu steigen oder gar zu fahren braucht.“

Gritli erklärte sich mit allem einverstanden,was die Nachbarinnen anordneten, doch des gemalten Rigi und Pilatus wegen begehre es nicht extra in Luzern zu bleiben. und das Löwen[56]denkmal, fügte es bescheiden hinzu, habe es aus Alabaster als Briefbeschwerer drüben.

„Auch müssen wir sehr zeitig aufstehen!“ fuhr Jungfer Lydia, allmählich in Vergnügungseifer gerathend, fort. „Ich will bei den Allerersten vor dem Zuge bereitstehen; denn ich will an einen Fensterplatz und Hanna mir gegenüber haben.Anders thue ich es nicht. Mag dann geschehen,was Gott gefällt. Man liest genug davon, was mit dem Reisen für unverhoffte Unfälle und Verbrechen vorkommen. Sie aber, Jungfer Gritli,springen schnell an ein nächstes Fenster und setzen sich da auch gleich fest, ohne Komplimente! Auf der Eisenbahn muß Jeder nur für sich selber sorgen!“

„He,“ meinte Gritli, dem solch ein Rennen ums beste Theil ein ungewohnter Gedanke war,„sollte ich dann nicht auch noch gerade zu einem Fenster gelangen, so würden mich die andern Leute gewiß schon hie und da einmal hinausschauen lassen, wenn etwas besonders Schönes zu sehen wäre.“

„Das glaub' ich nicht,“ entgegnete Lydia hastig,als ob sie ihrerseits derartige Ansinnen von vornherein ablehnen wollte. „Wie man es trifft, so [57] trifft man's! Drum rath' ich Ihnen beizeiten:wehren Sie sich! Leider führt uns nun aber das frühe Dampfschiff nur bis Brunnen und hält nicht am Rütli, sodaß wir uns einen Kahn bis dorthin bezahlen müssen.“

„Wird das recht kostspielig sein?“ fragte Gritli ängstlich. Doch als der dürre Reisemarschall, der sich danach schon erkundigt hatte, beruhigenden Aufschluß gab, gönnte es unverweilt seinen seligsten Vorstellungen freien Lauf, und seine Phantasie kam plötzlich wieder zu Kräften.

In einem Kahne sollte es fahren? In einem Kahn, wie die Urväter dort gethan, auf dem Urnersee! Wenn es nur diesen Namen nannte,durchzog ein Schauer des Geheiligten, Erhabenen sein Herz. Und dem Rütli zusteuern im Morgenwind, in der großen feierlichen Stille. durch eine hehre Welt voll Sonntagmorgenglanz, und an geweihter Stätte landen! Ein Bild ums andere breitete sich vor Gritli aus in unerhörter Herrlichkeit, bis es ganz verträumt dasaß, während die Tullikerinnen ganz nüchtern fortfuhren, an den materiellen Punkten ihres Vorhabens zu kleben.

Ihr ungeduldiges Fragen erst riß Gritli wieder [288] aus seinem Sinnen empor. Das Essen und Trinken schien ihnen großes Kopfzerbrechen zu machen.Mit Vorräthen wollten sie sich keinesfalls schleppen.Andrerseits komme freilich Leuten in ihrer Stellung unterwegs nur der bescheidenste Aufwand zu,meinten sie. Wie war da das Richtige zu treffen?Endlos redeten sie hin und her, und schließlich war deutlich zu merken, daß all' dies Erwägen in Wirklichkeit nur der Frage galt, wie sie sich möglichst gütlich thäten, ohne den Schein zu haben.

Gritli hätte gewünscht, daß dieses von ihm bisher noch nicht einmal bedachte leibliche Bedürfniß möglichst wenig Geld verschlänge. Für das Unentbehrliche mußte ja gesorgt werden, und an solch' einem Ausnahmstage war es auch, bei seiner gesunden Freude an allen guten Dingen dieser Welt, einverstanden, sich fröhlich etwas Besonderes zu qönnen. Aber das hätte es für seinen eigenen Bedarf am liebsten selber beschafft, mit aller Vorfreude daheim hergerichtet und dann in seinem Deckelkörbchen mitgeführt,in welchem es so oft in alter Zeit die Tageszehrung für Paul Degerfeld und sich auf ihre glücklichen Ausflüge mitgetragen hatte.

Es konnte sich nicht genug wundern, daß die [59] frommen Plätterinnen immer noch nicht aufhörten, aus dieser Nebensache ein solches Hauptanliegen zu machen. Wie wenig schien sich ihm das zu reimen mit dem sonstigen, weltverachtenden Wesen der Beiden!

Schließlich machte es der Sache dadurch ein Ende, daß es mit feinem Errathen den wahren Wünschen der zwei Selbstsüchtlerinnen entgegenkam und sich erbot, denjenigen Proviant in seinem eigenen Körbchen mit unterzubringen, den die Tullikerinnen für ihren ersten Imbiß im Zuge für nöthig hielten, das Weitere aber unterwegs nach Belieben zu halten bat.

„Fast könnte man die reichen Leute beneiden,“fügte es hinzu, „die an alle solchen Sorgen gar nicht zu denken brauchen, wenn sie reisen wollen.Da heißt es einfach fortgefahren, dahin, dorthin,und ein Hotel ist dann überall vorhanden, wenn der Hunger kommt. Ach! und vielleicht gar jedes Jahr solch' eine Reise zu erleben!“

Doch Jungfer Hanna schüttelte mißbilligend den Kopf. „Dafür ist es den Reichen auch nur eitle Lust,“ bemerkte sie spitzig, „und so aufgefaßt,verfehlt die schönste Reise ihren Zweck.“

„Du nimmst es mir von den Lippen,“ unter[]stützte sie die Aeltere. „Ich denke doch, Jungfer Gritli, wir ziehen mit andern Gedanken aus?Um leerer Zerstreuung oder Befriedigung der Neugier willen möcht' ich mich niemals an dieser Fahrt betheiligen. Einer wahrhaft erweckten Seele darf ein derartiges Erlebniß einzig eine besondere Art von Erbauung bedeuten, indem sie im Anschauen jedes neuen Gegenstandes, als eines noch nicht gekannten Schöpfungstheiles, Gottes Macht und Größe noch lauter preisen lernt.“

„Das schon, ich meine es gewiß auch nicht anders,“ beruhigte sie Gritli, von dem frommen Ueberfalle sich erholend.

Doch Jungfer Lydia war jetzt in ihr Element gerathen, und indem sie endlich aufhörte, mit ihren unbeschäftigten Fingern die gesteiften Fransen der Tischdecke zurecht zu strählen, hub sie im höheren Tone derer an, die gewohnt sind, zu Versammlungen zu reden. „Wenn schon im täglichen Leben und sichern, gewohnten Geleise von uns Menschen an den Tod und das Gericht gedacht werden soll, wie viel weniger möchte ich das einen Augenblick vergessen, wenn ich mich in Ungewohntes und Gefahr begebe! Der Eisenbahnzug kann verunglücken, noch ehe wir nur

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Luzern erreichen. So ein Dampfschiff ist schon untergegangen oder in die Luft geflogen am helllichten Tage. Wie! wenn ich dabei nun mitten aus eitlem Sinnen an irdische Lustbarkeit weggerissen würde? Nein, nein, das sei ferne, Jungfer Gritli! Da gestalte ich in meinen Gedanken unsere Reise so, daß, sollte uns etwas zustoßen,ich nur abberufen werden kann aus einer Veranstaltung, die ich zu meines inneren Menschen Förderung unternommen habe.“

Gritli verschluckte, was es dachte. Allerdings,das war nicht zu leugnen, spürte es in seinem Innern auch ein Theilchen rein weltlicher Vorfreude; doch die hielt es frohgemuth für berechtigt:so ein klein bischen Neugier auf allerlei unbestimmte Ueberraschungen, lustige Zufälle, freundliche Menschen, und was alles es sich nun einmal als erlaubte Bestandtheile des Reiseglückes vorstellte.Im Ganzen aber mußte seine Auffassung gewiß ziemlich nach Gottes Absichten sein, und was die Erbauung der Seele durch die Herrlichkeit der Schöpfung betraf, so war es sicher, neben den Nachbarinnen kecklich zu bestehen. Es hatte am letzten Sonntag genug staunen müssen, ja, sich zuletzt ganz erkältet gefühlt durch die Wahrnehmung,[]9**wie sich die Beiden vor dem Schauspiel jenes göttlichen Sonnenunterganges in der Waldlichtung so gar keines begeisterten Antheils, keiner wahren Gemüthsbewegung fähig gezeigt hatten.

Wie trocken und vorschriftsmäßig hatten sie einen Augenblick des Allmächtigen Werk gelobt,dann alsbald die Farben zu zählen begonnen, die sie zu unterscheiden vermochten, und sich schließlich rechthaberisch über die Ähnlichkeit einzelner Wolken mit bekannten Menschengesichtern gestritten. Und was für Antworten gaben sie, als Gritli am Nachmittag ein paar Mal seltene Kräuter und Moose gepflückt und ihnen vorgewiesen hatte! Nein, nein!Die besaßen gar kein Herz für die Natur! Gritli mochte lieber nicht länger Vorschriften über Dinge anhören, die doch des Einzelnen Herzenssache blieben. Drum suchte es jetzt mit Anstand die Berathung zu schließen, versprach, wenn Alles sich bei ihm ordne, wie es hoffe. am Sonntag so früh gerüstet dazustehen, als die Nachbarinnen nur irgend verlangten, und wünschte gute Nacht.

Aber seine Gedanken waren viel zu angeregt,als daß es sich gleich zur Ruhe begeben konnte.Auch tönte, als es in sein Zimmer trat, noch so viel munteres Geräusch herauf aus den vielen [68] offenen Fenstern, die von vier Seiten auf den Hof des Junkernstiftes sahen, daß es beschloß,0 wach zu sitzen. Es glaubte jetzt kühner an das Gelingen der Reise; das schrittweise Feststellen der Einzelheiten hatte ihm eine merkwürdige Zuversicht gebracht.

Sinnend schritt es durch die Stube, schaute eine Weile nach dem Stückchen Nachthimmel, das sternfunkelnd über den Dächern und Schloten sichtbar war, und dann eine Weile hinab in die verschiedenen erleuchteten Stuben der tieferen Stockwerke, wo Mütter am Flickzeug saßen, Männer ein Zeitungsblättchen lasen, und beim Buchbinder zu ebener Erde noch eifrig gearbeitet wurde. Der war immer im ganzen Hofe der Letzte, weil er so viel eilige Bestellungen bekam. Dazu sangen die Gesellen oft bis in die tiefe Nacht, und auch jetzt ertönten ihre Lieder.Da ließ Gritli das Fenster offen stehen, ging an sein Bücherbrett und holte die Schweizergeschichte herunter, seine liebe Schweizergeschichte, die ihm Paul Degerfeld mitsammt seinem zerlesenen alten Wilhelm Tell zum Andenken vermacht hatte, als er von Altachen abzog. Aus beiden Büchern [] 64 hatte er ihm durch Jahre an zahllosen Samstagnachmittagen erzählt. Nun wollte Gritli wieder einmal selber darin nachlesen und sich so recht vergegenwärtigen, wie alle die ruhmvollen Dinge der alten Zeit sich an den historischen Stätten zugetragen hatten, damit es diese am Sonntag vollkommen vorbereitet beträte.

Es suchte herum in den mürben Blättern mit dem großen Drucke, der ihm so erwünscht war,und begann dort zu lesen, wo die Erzählung der Zustände anhob, die das Zusammentreten der ersten Eidgenossen herbeigeführt haben: die fürstlichen Frevel an der uralten Freiheit des Landes,die Gewaltthaten der Vögte, das verhöhnte Manneswort der Vorväter. Es las, wie der Landvogt über Unterwalden, Beringer von Landenberg, dem greisen Landmann Heinrich an der Halden, weil er dessen Sohn nicht zu fassen bekam, die Augen ausstechen ließ; wie dem edeln Werner Stauffacher, als er vor seinem schönen Hause nahe bei Schwyz stand, der tyrannische Geßler frech zu sagen wagte: er wolle als Landvogt nicht, daß die Bauern ferner Häuser bauten ohne seinen Willen, und lebten, als wären sie noch die Herren im Lande.

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Schmerzlicher, je weiter es kam, emvörte sich Gritliss rechtliches Herz, und kaum mochte es erwarten, bis, Seite um Seite, diese schändlichen Gewaltthaten endlich zum Rütlibunde führten.Als es so weit gekommen war und auch dies beschrieben gefunden hatte, stand es auf und holte sich vom Bücherbrette noch den Tell. Daraus wollte es vollends vernehmen, wie Alles geschah.Es hörte jetzt nichts, sah nichts mehr von allem Wirklichen umher, wurde nicht gewahr, daß die Gesellen längst zu singen aufgehört hatten, daß sich zuweilen draußen ein Fenster schloß, ein Laden knarrte, es beachtete nicht, wie der späte Mond hereinzuleuchten begann. Es hatte sein heiliges Büchlein aufgeschlagen und schauerte, Alles miterlebend, und Thränen wollten ihm kommen, als Walther Fürst aus Uri klagt, wie man im eigenen Lande nur noch in verstohlener Nacht zusammenschleichen könne, Rath zu pflegen. Dann sprach es laut vor sich hinaus, damit es ihm recht eindrücklich werde, was Stauffacher redet, und legte voll inbrünstigen Eifers Nachdruck auf beinahe jedes Wort:

Unser ist durch tausendjährigen Besitz Der Boden und der fremde Herrenknecht Siegfried, Gritli-Wohlthäter.

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Soll kommen dürfen und uns Ketten schmieden;Uns Schmach anthun auf unsrer eignen Erde?Ist keine Hülfe gegen solchen Drang?

Nein! eine Grenze hat Tyrannenmacht.

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,Wenn unerträglich wird die Last greift er Hinauf getrosten Muthes in den Himmel

Und holt herunter seine ew'gen Rechte,

Die droben hangen umveräußerlich

Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.„Jal ja!“ schrie es in Gritli's Herzen. Und erhoben, feierlich, als schwöre es mit, sprach es zuletzt die Worte beim Sonnenaufgang:Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,

In keiner Noth uns trennen und Gesahr.

Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,

Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.

Wir wollen trauen auf den höchsten Gott

Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen!Gritli war so heilig ernst zu Muth, wie in einer Kirche, und als es nach langem, stummem Verweilen in dieser Sammlung die stützende Hand von der Stirne nahm, konnte es sich zuerst kaum erinnern, wo es war. Uhren schlugen irgend[67]woher. Es hatte sich bis in die tiefe Nacht verlesen. Und nur halb fand es sich wieder zurecht,ehe es auf sein Lager sank, erfüllt und schwer in Kopf und Herzen, als hätte es schon heute die größten Dinge erlebt.

Im Steinbock war am andern Tage gewitterhafte Stimmung. Als der Herr früh aus dem Hause ging, bekundete das Zuschlagen der Hausthüre, daß er im Zorne schied. Die verweinten Augen der jungen Frau aber und ihr gekränkter,eigensinniger Ausdruck verriethen auch ohne das Getuschel der Mägde, daß sie wieder die Ursache gewesen war. Besuch von auswärts, den es mit besonderem Aufwande zu bewirthen galt, wurde zu Mittag erwartet, und über der Vergeßlichkeit der Frau, die ihres Mannes Aufträge oft genug auszuführen versäumte, war wieder Aerger und Zank entstanden.

Wenn Gritli sich auch kein Urtheil über die Verhältnisse der Nebenmenschen erlaubte, so sah es doch in diesem Hauswesen deutlich: wie materieller Wohlstand allein nicht vermag, Behagen zu schaffen. Hier war nun alles vorhanden, was

5*[68]ein junges Paar äußerlich besitzen konnte, und doch hielt das weder die Frau zu Hause, noch gewährte es dem Manne auch nur einen traulichen Herd. Die vielen Schmausereien und leeren Wichtigkeiten waren sichtlich nur nöthig, um die innere Leere der Beiden auszufüllen. Den häufigsten Anlaß zu Verdrießlichkeiten gab Frau Gebnauers Art, mit den Leuten umzugehen. Heute hochfahrend aus Unsicherheit der Emporgekommenen, that sie morgen wieder vertraulich mit Dienstboten und Arbeitsleuten, aus lauter unbändiger Neugier, von jeglichem Stadtklatsch unterrichtet zu sein. Drum mochte sie auch Gritli mit seiner unverbrüchlichen Verschwiegenheit nicht so recht leiden. Von ihm erfuhr man keine Silbe aus andern Häusern, noch auch fanden je die Mägde mit Klagen über die Herrschaft Gehör.Seine Gewissenhaftigkeit ging so weit, daß, wo irgend seine Ohren unfreiwillige Zeugen häuslicher Unannehmlichkeiten wurden, es der Sache wenigstens mit festem Willen seine Aufmerksamkeit verschloß. Auch begriff es die Dinge, die in den Kundenhäusern zu Unfrieden führten, in der That nur halb, und entschuldigte das Meiste mit der Auffassung, daß bei den reichen Leuten,[69] wo so viel Umtrieb herrsche mit den großen Hauswesen, eben auch gar so viel Mühe und Aufregung erwachse, von denen man unter Seinesgleichen keinen Begriff habe.

Heute konnte das Treiben der Andern seinem Herzen vollends nichts anhaben. In ihm lebte seit dem gestrigen Abend ein neuer, froher Geist, und selbst der natürliche Rückschlag, den der nüchterne Tag auf nächtliche hohe Spannung bringt, vermochte nicht, seine Seele mit der dunkeln, entscheidenden Frage des Lohnempfanges aufs Neue zu martern. Es war ein Schwung in seine Stimmung gekommen, seine Phantasie war entzündet und hatte an diesem Morgen einen wahren Thatendrang in ihm entfacht. Verwunderlich! Gritli traute sich heute dreist etwas zu, es hatte Lust und spürte Kräfte, sich zu rühren. Und in seiner sinnenden Seele formte sich, während es sein Tagewerk bereitlegte, plötzzlich ein Gedanke: halb mystisch abergläubisch, halb schon des Erfolges gewiß. Wiel wenn es versuchte, den unbekannten Lenker der kleinen Glückszufälle und Mißgeschicke den sein frommes Gemüth sich scheute, für diesen Fall als Gott selber anzunehmen ein wenig zu beeinflussen?Wenn es sich heute heimlich eine unerhörte [70]Leistung vornähme und sie wirklich fertig brächte, würde das Geschick dadurch nicht gleichsam anstandshalber verpflichtet, die entsprechende Gegenleistung zu gewähren?

Vor ihm lagen die sämmtlichen fertig genähten Bett- und Kissenbezüge, je zum Dutzend zusammengelegt, und harrten noch, mit Knöpfen besetzt zu werden. An manche gehörten deren nur vier Stück, an viele sechs und acht. Da regte sich in Gritli der gottversucherische Vorsatz: diese bis zum Schlage der Feierabendstunde sammt und sonders angenäht zu haben. Es war zwar eine Tollheit! In jedem andern Falle würde es, und würde die fleißigste Rivalin zwei Tage daran gesessen haben.

Gritli schielte nach dem Tisch hinüber, wo die schönen Perlmutterknöpfe, auf großen Bogen funkelnden Silberkartons festgeheftet, bereit lagen und in der freundlichen Morgenhelle ihre zarten Regenbogenfarben ausspielten. Es schaute sie an wie ein Feldherr am Morgen vor der Schlacht seine Soldaten, und sein Blick schien zu fragen: wagen wir's miteinander? Eine fast frevelhafte Kühnheit zuckte durch sein Herz. Die That war beschlossen.

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Rasch rückte Gritli die sämmtlichen Bogen nahe zur Hand, dann deckte es einen Leinwandabschnitt darüber. Es wollte, ohne je über Tag zu zählen, wie weit es vorrücke, nur immer Bezug um Bezug besetzen, die einzelnen Knöpfe blindlings unter der Hülle herausgreifend. So würde es jedes Schwankens zwischen Furcht und Hoffen enthoben, unbeirrt seine ganze Aufmerksamkeit nur dem höchsten Fleiße zuwenden. Wurde so das Unglaubliche wirklich vollbracht, dann war seine Sache gewonnen und der Lohn morgen Abend in seiner Hand. Es war dessen jetzt ganz gewiß.

All' die süßen Düfte von dem, was den langen Morgen hindurch in der Küche des Steinbocks gebraten und gebacken wurde, zogen unbeachtet an Gritli vorüber; den Trubel des Besuches über die Mittagszeit bemerkte es kaum, es nähte.Das zusammengescharrte, halbkalte Essen, das ihm heute verspätet ins Nähzimmer gestellt worden war,hatte es hastig verzehrt, und als ihm am späteren Nachmittage, nachdem es im Hause wieder ruhig geworden, die Köchin ein Stück herrlicher Torte herübertrug und ein Glas Wein, hatte Gritli selbst diese guten Dinge nur wie im Halbtraume [15] genossen. Es nähte, nähte immerzu, in äußerster Anspannung.

Es war fünf Uhr geworden. Noch lag da ein Dutzend Bezüge, und dort eines.

Es ging auf sechs Uhr; noch immer blieb viel übrig. Halb sieben! es fehlte noch erklecklich.Wie Gritli's Nadel flog, war hexenhaft. Seine Finger hatten eine Sicherheit erlangt, mit jedem Stich ins Loch des Knopfes zu treffen, ohne langes Suchen, eine Geschicklichkeit, die Fäden unten sausend umzuwickeln, die Enden zu vernähen, seine Scheere flog in die Hand, flog wieder weg, so drauf und drauf, daß es manchmal selber lächeln mußte. „Der Mensch kann doch viel, wenn es gilt!“

Jetzt konnten nicht mehr viele Knöpfe da sein; Gritli war es schon vorhin gewesen, als rühre es an den letzten schweren Kartonbogen, und als seien die andern alle schon leer. Mit den Augen getraute es sich längst nicht mehr hinüberzuschweifen, es griff nur immer Stück um Stück heraus. Ganz dem Schicksal hingegeben. wollte es harren, wie es beim Schlage Sieben bestünde.

Nun rann die letzte Stunde dahin. Schon kam der Schatten des hohen Schlotes von drüben [73] bei der Appenzellerin, und legte in den grellen Schein der Abendsonne auf dem weißgefegten Fußboden eine dunkle Bahn. Da hörte Gritli schlagen. Hörte? Nein, es hatte nichts gehört.Mit hastigem Griffe suchte es nach dem nächsten Knopf; an dem Kissen da in seiner Hand fehlten allein noch zwei, und der Himmel wußte, ob das schon der letzte Bezug war. Es fand seinen Knopf,spürte noch einen weitern da schlägt es auch vom Kirchthurm Sieben; der helle Ton zuvor war von der Uhr des neuen Schulhauses gekommen. Gritli reißt den anderen Knopf hervor,näht auch diesen fest. Da tönt der Glockenschlag vom Rathhausthurm. Diese Uhr ist immer die letzte der Stadt. Der Knopf sitzt. Gritli faßt noch einmal unter die Leinwand, findet nichts.Es sucht, versichert sich. Nichts, wohin es auch greifen mag: kein Bezug, kein Knopf, nur der blanke Tisch und die leeren Kartonbogen.

Da wagt es die Leinwand zu lüften und hinzublicken. In der That, es ist fertig! Mit aufgeregten Händen zählt es seine Kissenbezüge,Deckbetthüllen, betastet abermals sämmtliche Bogen, ob sie auch wirklich geleert sind? Alles stimmt. Es hatte das Unglaubliche vollbracht.

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Was für morgen an Arbeit übrig blieb, war nicht der Rede werth.

Mit einem tiefen Athemzuge lehnte es sich in den Stuhl zurück; die Hände glitten in seinen Schoß, lind strich die Abendluft herein und kühlte ihm die Stirne. Da schloß es die Augen. So unbeschreiblich wohl ward ihm zu Muth, nur fühlte es sich ein wenig wirbelig im Kopfe. Es mochte gar nichts denken, gar nichts sehen, nur so dasitzen, seinen himmlischen Jubel im Herzen,und wiederum überwallende Dankgefühle. Ja,hätte dieses gelungene Tagewerk nicht insgeheim einen schlauen Druck auf die Entscheidungen des Himmels dargestellt, so hätte Gritli am liebsten ein Dankgebetlein von den Lippen fließen lassen.

Wie leichten Schrittes es heute um die Stadt nach Hause ging! Wie frei und muthig es sich in dem prangenden Abend fühlte! Alle Müdigkeit verflog. Ueber ihm breitete sich der reinste Himmel, nur am fernen Horizonte schwebten ein paar Schönwetterwölklein. Die Schwalben, nach denen Gritli spähte, flogen unermeßlich hoch, und die Berge erschienen dem Auge fern; so stimmten zu seiner Wonne die Witterungszeichen aller

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Enden gleich verheißungsvoll überein. Schon schienen auch die andern Menschen sich am Vorgefühle des nahenden Sonntags zu erfreuen;denn im Vorübergehen hörte es da und dort auf den dichtbesetzten Bänken der Promenade Pläne machen und vom sicheren Wetter reden.

„Ach wäre es morgen um diese Zeit und Alles gewiß!“ wünschte Gritli im Stillen. Was konnte es nur thun, den Abend zu verkürzen? Gab es nichts, die guten Geister noch stärker zu beschwören?Es hätte Kraft in sich gespürt, sogleich ein Weiteres zu unternehmen, wenn ihm nur etwas ordentlich Kühnes eingefallen wäre.

Grübelnd schritt es heimwärts.

Da, als es die hallende Steintreppe des Junkernstiftes hinanstieg, stand die Gelegenheit zu einer neuen That plötzlich vor seinen Augen. Überm Gang da vorn, jener kleine Raum, sein Kämmerchen oder Kellerchen! Das war bis unter die Decke angefüllt mit so viel fabulösen Dingen, daß Gritli sich seit langer Zeit kaum mehr darin zu helfen wußte. Denn mit den Jahren hatte sich ein wahres Lager angesammelt von all' jenem hundertfältigen Krimskrams, von dem sich alte Mädchen niemals trennen [76] können. Hier standen, lagen, hingen, übereinander und ineinander gepfropft und geschichtet:Kistchen, Schachteln, Körbchen und Brettchen ohne Zahl, meist an Gritli geschenktes Packmaterial,das mit seinen aufgeklebten Adressen, Poststempeln und Daten von allen erdenklichen Liebesbeweisen erzählte, die um die Jahreswende getauscht worden waren, während mehrere Reihen von Flaschen und Medikamentenkrügen für Gritli theils Erinnerungszeichen an empfangene Gutthaten bildeten, theils ein Register der Krankheiten darstellten, welche in den verschiedenen Kundenfamilien daraus kurirt worden waren. Daneben lagerten gestickte Beutel, henkellose Wandtaschen, Stoffreste aller Moden, alte seidene Schirme, gesprungene Einmachgläser; ferner abgetrennte Passementerien von Kleidern und Mänteln aus verschollenen Jahrgängen, nach Farbe und Art in verschiedene Schachteln gesondert und mit Pfeffer gegen die Motten gesichert, hart gewordene Gummiverschlüsse von wer mochte errathen welchen Gefäßen,kurz alles, was nur irgend auf Gritli's Wegen als zu schade zum Wegwerfen erkannt worden war.

Und diesen unübersehbaren Wust hatte es geduldig jedes Jahr zweimal hervorgezogen, aus[77]gestäubt und aufs Neue eingeräumt, immer wieder im Gedanken, der Tag könnte kommen, an dem man darüber froh sei. Seitdem es jedoch kaum noch gelingen wollte, etwas Neues unterzubringen,und seit die Mäuse in einem sorglich verwahrten Capotehut des seligen Fräulein Charlotte Rych ihr Nest gemacht und die sammtenen Stiefmütterchen gefressen hatten, war für Gritli doch die Nothwendigkeit unverkennbar geworden, wenigstens das Fragwürdigste auszuscheiden.

Wie! wenn es dies nie übers Herz Gebrachte heute unternähme? Solch eine blanke Säuberung mußte gleichsam die letzte staubige Werktäglichkeit aus seiner Existenz schaffen, und auf morgen einen solchen Inbegriff samstäglicher Ordnung ergeben,daß Gritli in seinen irdischen Räumen wie in seinem Herzen gleich würdig vorbereitet wäre, das Glück zu empfangen.

Also hub auf dem stillen Gange zu der ungewohnten Stunde ein geheimnißvolles Rumoren an. Körbe voll unbeschreiblichen Durcheinanders wurden lautlos die Treppen hinabgetragen und auf dem großen Abfallhaufen im Hofwinkel geopfert.

Darauf begann ein Fegen und Waschen bis in alle Nacht hinein, daß trotz der rücksichtsvollen

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Geräuschlosigkeit, deren das gute Wesen sich befleißigte, wenigstens der feuchte Geruch zum Verräther ward, und die Jungfrauen Tulliker von der nächtlichen Anwandlung ihrer Nachbarin in Kenntniß setzte.

Um Mitternacht schaute Gritli nach vollbrachter That noch einmal nach dem Wetter, überzeugt,daß:Was der Sonntag gern will han,Zeigt der Freitag Abend an.

Wieder fand es Alles aufs Beste stehend und die Sterne treulich funkelnd im klarsten Nachthimmel. Nun konnte Alles gelingen! Die Reihe war jetzt am Schicksal! Denn das Seinige fühlte Gritli gethan.

Der letzte Tag brach an, und auch der neigte sich zum Abend, weil alle irdische Zeit ihr Ende erreicht. Frau Gebnauer war bald nach Tisch ausgegangen, ohne etwas für Gritli zu hinterlassen. Darum war es getrost; sie mußte demnach zeitig heimkehren.

Vor vier Uhr that es seinen letzten Stich.Dann begann es auf dem großen Zuschneidetische [79] die sämmtliche, glücklich bewältigte Ausstattung des Rebhäuschens zu einer stolzen Schaustellung herzurichten. Auf der Gasse drunten erschienen zu dieser Stunde vor den Thüren die Mägde,begannen zu kehren, Scharreisen und Schwellen rein zu waschen, die Klinken und Messingschilder der Hausthüren blank zu putzen, und auch im Steinbock herrschte ein emsiges Klappern und Scheuern.

„Ein Dutzend große, ein Dutzend mittlere,zweimal sechs von den kleinen, alle mit rothen Bändchen!“ zählte Gritli, und legte Bündel neben Bündel. Die Deckbettbezüge bekamen blaue.„Zwei, vier, sechs gröbere; zwei, vier, sechs feinere Unterleintücher!“ es suchte wieder entsprechenden Bänderschmuck. Das schimmerte und prangte auf dem Tische, als würde eine Braut im Hause ausstaffirt. Gritli war so frohbewegt, so siegesgewiß. Was brauchte es noch zu zweifeln, bei dieser Samstäglichkeit ringsum, in der jeder Mensch,wohin es sah und hörte, mit der alten Woche Abrechnung hielt, um für den Sonntag und eine neue freie Bahn zu machen? Und wenn auch an jedem andern Samstage die Frau Stadtschreiberin hätte vergessen können, ein Gleiches zu thun, so [2] war das heute unmöglich, angesichts dieser ungeheuern Arbeit, die nach ihrem Wunsche fertig gestellt dalag und redete.

Munter wickelte Gritli jetzt Bänderreste, Litzen und Faden auf, steckte die Leinwandschnitzel zu Bündelchen zusammen und schaute dazwischen wieder ein wenig hinaus.

Vor dem Hause der Appenzellerin lag die Gasse bereits so rein gekehrt wie ein Stubenboden, und an den Pfosten der Hausthüre gelehnt, stand nach der uralten Appenzeller Sitte, welche die Nachbarin auch in Altachen beibehalten hatte, der schöne Staatsbesen. Der mußte nach beendeter Samstagsreinigung bis zum Sonntag Abend da stehen als ein Symbol, daß zu dieser Stunde der Staub des Werktags ausgekehrt sei, und der Wanderer, ehe er über die Schwelle trete, ihn gleichfalls abstreifen möge, um würdig an den festtäglichen Herd zu treten.

Als Alles fertig lag, ergötzte sich Gritli von seinem Fensterplatz aus, dem bläulichen Rauch zuzusehen, der, von keinem Windhauche bewegt,still dem Kamin drüben entstieg und im abendlichen Sonnenglanz der Höhe zerging, dann den Schwalbenschaaren, wie sie mit ihrem muntern [81]Grigri bald kürzere Bogen über der Gasse zogen,bald um benachbarte Giebel kreisten und zuletzt wieder hinaus segelten in die goldige Weite.Hinter den Dächern lockten die Baumwipfel der Stadtpromenade, durch die Lücke gesehen, zeichneten sich auf der reinen Ferne die Waldhöhen in violettem Duft, und von seinen Alpengipfelchen erspähte Gritli schon einen ersten rosigen Schimmer.

Ein heftiger Ruck an der Hausglocke schreckte es auf, und eine Stimme war zu hören, die von Frau Gebnauer einen Auftrag bestellte. Sie lasse wissen, daß sie bei dem schönen Wetter gleich draußen bei ihren Eltern bleibe, dem Herrn Stadtschreiber aber, wenn er heimkomme, sei zu sagen,daß man ihn ebenfalls dort zum Nachtessen erwarte.

„Werd's bestellen!“ antwortete die Magd und wünschte gute Nacht. Die Hausthüre fiel ins Schloß. Am Nähtisch droben aber sank ein Kopf tief auf die Brust, und bittere Thränen rannen unaufhaltsam nieder.

Siegfried, Gritli-Wohlthäter.

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Als die Sonntagsglocken Gritli weckten, waren die Nachbarinnen längst in aller Stille davongegangen. Es hatte sich vorgenommen, aufzustehen und ihnen bei der Abreise behülflich zu sein, aber der Schlaf war barmherziger mit ihm gewesen als die Menschen, in deren Hand die Macht über sein Geschick gelegen, und hatte es die schmerzliche frühe Stunde verschlafen lassen.

Der gestern gemeldete Verzicht, dem Gritli nicht viel Erklärendes beigefügt, war von den Tullikerinnen mit merkwürdiger Gelassenheit aufgenommen worden, sodaß es sich theils wundern mußte,theils froh darüber war, und mit absichtlicher Eile nur gleich wieder das Haus verlassen hatte.Den Gang nach dem Grobe seiner Schwester,wohin es in der guten Jahreszeit jeden Samstag Abend frische Blumen trug, benützte es dazu,sich mit dem gefallenen Loose nach Kräften abzufinden, und soweit wenigstens war das gelungen, daß es heute beim Erwachen einen leidlichen Frieden in seiner Seele fand. Es drehte sich noch ein paarmal in den Kissen um, die Wohlthat auszukosten, daß heute doch keine Stunde drängte, und als es bald darauf in seiner winzigen Küche das Frühstück verzehrte, hell an[83] gestrahlt vom reinsten Sonnenhimmel, der über die Dächer des schwärzlichen Hintergäßchens hereinlugte, da breitete sich in seinem Innern weit und mächtig ein Bedürfniß aus, der bittern Enttäuschung nicht mehr weiter zu gedenken.Es löffelte seinen Kaffee, ein wenig gedankenlos vor sich hinstarrend, fischte ohne Eile die hineingeworfenen Brotbrocken, wenn es sie sorglich und genugsam in dem duftenden Getränke untergetaucht hatte, aber während es, diesem Behagen hingegeben, dasaß, begann doch seine Phantasie wieder zu wandern und gerieth dorthin, von wo es sie abzuhalten wünschte. Zwischen den glänzenden, regenbogenfarbigen Kringeln, mit denen die Morgensonne den braunen Milchtopf umspielte und die Gritli bewundernd verfolgte,tauchten hartnäckig Bilder auf. Das bewegte Getränk in der Tasse machte Wellen, die Bröckchen wurden zu Schiffen, durch die offene Thüre strich lieblich der frische Hauch des Morgenwindes herein. und vom Hofe, wo aller Werklärm schwieg,schallte Lachen und Plaudern von Kinderstimmen, alles so sehnsüchtig lockend, daß es das Menschenherz wie mit übergewalt hinauszog aus allen Mauern ins Freie, in die Weite, in die Sonne,32*[] 84 und Gritli sich plötzlich nicht mehr zu helfen wußte. Ein hülfloser Grimm überwallte mit einemmale sein Bemühen, den gestern erkämpften Seelenfrieden zu bewahren.

War denn an ihm auch gar nichts gelegen?Durfte jeder, dem es das Seine redlich leistete,ihm gegenüber die Gegenleistung nach Belieben vergessen? Der Bissen blieb ihm im Munde stecken, und durch zwei dicke Thränen starrte es hinaus in das strahlende Blau.

Warum fuhr es jetzt nicht auch gleich den Anderen ins weite, prangende Land? War es vergessen von Gottes Liebe, es allein, hier in seinem alten Gemäuer, weil es allzulange schon sich demüthig in alles schickte, was durch kalte Herzen an ihm gesündigt wurde, weil es still blieb, wo Andere murrten?

Leise zitternd zeichnete es mit dem nassen Löffel eine Linie vor sich hin auf die Tischplatte,und immer wieder die gleiche. Es empfand eine große Herzensnoth. Ein Rechnen und Rechten,das ihm sonst fremd gewesen, hatte angehoben in dem traurig gewordenen Gemüthe und versuchte die alte, heitere Ergebung zu tödten. Draußen girrten die Tauben, kreisten trillernd die

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Vögel, und schwärmte und summte es von Bienen um das Blumenbrett.

Da erhob sich Gritli plötzlich und schob mit entschlossenem Ruck seinen Stuhl hinter sich.Fernher war das Glockengeläute des Frühgottesdienstes an sein Ohr gedrungen, wie Mahnung und Verheißung. Und ein Gefühl, als sei es auf einem großen Unrecht betreten worden, hatte Gritli's Herz erfaßt. Verwirrt und beschämt räumte es das Geschirr beiseite und machte sich daran, vor der eigenen Kirchgangszeit Küche und Stube in Ordnung zu bringen. Nach einer Weile tönte durch die stille Wohnung ein andächtiges Singen, merkwürdig fest und hell von Gritli's sonst so dünner Stimme. Es waren Verse aus dem Lied: „Befiehl Du Deine Wege,“durch das seine Seele schon aus mancher Betrübniß gehoben worden war. Dazu gingen Gritliss sanfte Schritte hin und her, Staubsäulchen quirlten am sonnigen Fenster, bald breitete sich eine frisch gewaschene Decke über das wohl geschüttelte Bett, und jedes Ding lag an seinem Platze. Vor neun Uhr, als das zweite Glockenzeichen herüberklang, verließ Gritli, mit seinem Besten angethan, das Junkernstift.

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Es wurde ein heißer Tag, und bis es gegen Mittag nach Hause zurückkehrte, lag so drückende Schwüle über den Gassen, daß es sich entschloß,den Nachmittag im kühlen Hause zu verbringen und die große Stille auf seinem Stockwerke beschaulich zu genießen. Gritli war jetzt guter Dinge. Zu Tisch legte es sich sogar auf sein Gemüse die besten Bratwürstchen, die in Altachen gemacht wurden, und deren es auf dem Heimwege vier Stück bei dem berühmten alten Metzger in der Rathhausgasse geholt hatte, zwei für Mittag und zwei zum Abend.

Zwar hätte es sich eigentlich heute nicht selber zu verköstigen gehabt. Denn es bestand in Altachen ein Brauch, wonach die Hausnähterinnen, wenn sie in einer Woche mehr als die Hälfte der Arbeitstage im gleichen Hause beschäftigt gewesen waren, am darauffolgenden Sonntag auch da zum Mittagstische geladen wurden, und Gritli genoß diese Freundlichkeit, wenn die Bedingungen je zutrafen, überall mit dankbarer Vergnüglichkeit.Aber von solchen altväterischen Verwöhnungen wußte die junge Frau Gebnauer natürlich nichts,und ihre Mägde, die darüber froh waren, hüteten sich wohl, durch Mahnen ihre Sonntagsarbeit [87] um das Abspülen eines Tellers und eines Bestecks zu vermehren. Darum gönnte sich Gritli heute aus dem eigenen Beutelchen die kleine Schmauserei.

Früh am Nachmittage zog es sich, einen rosigen Schimmer der Sättigung auf den schmalen Wangen und aufgelegt zu allem Guten, in seine trauliche Stube zurück.

Als seine Schwester ehemals in diesem Raume krank lag, beschloß Gritli, ihn auf eigene Kosten tapezieren zu lassen, mit einem hellen,blumigen Papier. Nun herrschte warmes Behagen darin, und wie bei den Nachbarinnen Alles unpersönlich war, freudlos, und ohne Anklang ans warme Leben, so verkündete hier jede Wand den anmuthigen Sinn eines guten Menschenkindes. Ueberall Beziehungen zu geliebten und verehrten Menschen, sorglich bewahrte Geschenke aller Art, jedes ein Dokument der Schätzung und Zuneigung, die Gritli schon genossen. Von den Bildnissen seiner paar theuren Verstorbenen auf der Kommode, einigen ererbten alten Schweizerlandschaften in farbigem Druck an den Wänden,und den getrockneten Sträußchen in den kleinen Vasen, welche von glücklichen Tagen draußen in Feld und Wald erzählten, war alles gleich liebe[808] voll in Stand gehalten, bis zu dem großen,bunten Fleckenteppich, der Gritli's Stolz und Staatsstück bildete. Den hatte es vor Jahren aus geschenkten Tuchresten eigenhändig verfertigt,nach seiner eigenen Idee. In der Mitte das Schweizerwappen, mit rothem Kreuz in weißem Feld, umgeben von einem grünen Läppchenkreise,der den Kranz vorstellte. Weil sich von rothem Tuch nicht genügend zusammenfand, hatte es sich allerdings genöthigt gesehen, die heraldischen Farben umzukehren; indessen schien ihm dies unwesentlich, sobald es nur überhaupt gelang, das heimathliche Roth und Weiß heraus zu bringen.

Mit den glänzend gebohnten Möbeln und der Reihe gut gepflegter Blumenstöcke war diese Hofstube in ihrer reinlichen Helle und bescheidenen Fülle für Gritli der Inbegriff des Besten, was es sich als irdische Wohnstätte für seine Person zu wünschen traute. Hier baute es sich in Stunden sonntäglicher Sammlung singend, betend, oder vor sich hinträumend, ein Reich auf, das nicht von dieser Welt war. In dieser trauten Enge genoß es eine beschauliche Poesie, um die es die Anspruchsvollsten hätten beneiden können. Denn da hatte es seine Bücher und unterhielt, seitdem es []J

3 ihren Inhalt genügend kannte, mit denen, die sie geschrieben, wie mit lebendigen Vertrauten,stillbeglückt eine intime Bekanntschaft und Freundschaft, mochten sie in Wirklichkeit vielleicht längst gestorben sein. Es glaubte jedes Einzelnen Herz,sein Denken und Fühlen ganz und gar zu kennen.Was mußte der geschaut, jener erlebt und gedacht, mit der Menschheit in Freud' und Leid empfunden haben, daß er das schreiben konnte,was Gritli da so wohl that, innig an sein Herz rührte, oder ihm wenigstens anmuthig die Zeit vertrieb!Hier auch ergötzte es sich an dem bescheidenen illustrirten Wochenblättchen, das es sich hielt, und brachte es mit seiner gläubigen Ehrerbietung fertig,sich selbst aus der unglaublichen Oede und seichten Nichtsnutzigkeit der gebotenen illustratorischen Bettelkost fürs Volk etwas zu holen, ja, in den dummen Bildern, die so verheißende Titel trugen,wie: „Ueberwunden“, „Geheimniß“, „Bettlerstolz“,„Glück und Glas, wie bald bricht das“, „Des Künstlers Traum“, „Der Mutter Lied“, „Heute roth, morgen todt“ und dergleichen mehr, wirklich ungefähr zu sehen, was sie darzustellen beanspruchten. Aus den Künstlernamen aber, die [90]Gritli darunter las, hatte es sich mit den Jahren,wenn sie immer wiederkehrten, eine Schaar auserlesener Wundermenschen zusammengedacht, deren leibliches Wesen und Leben es sich gar nicht vorzustellen vermochte. Wer begnadet war, solche Kunstwerke zu ersinnen, mußte seiner Meinung nach nothwendig von gänzlich anderer Materie sein, konnte nimmermehr schlechtweg essen und trinken wie Seinesgleichen, sondern würde wohl im fernen, großen Deutschland irgendwo ein halbwegs entrücktes Dasein führen.

So hatte Gritli auch heute zuerst ein Weilchen in seinem „Hausfreund für die Feierstunden“gelesen, und nun eine alte Holzkassette herabgeholt, deren Inhalt wieder einmal auszuräumen.Das kunstreich eingelegte Köfferchen war Gritli als Erbstück von Fräulein Charlotte Rych zugefallen, und auf dem Grunde lag noch wohl verwahrt der Zettel, auf dem von ihrer Hand verzeichnet stand, was nach ihrem Tode der treuen Nähterin zu gehören habe. Das Papier mit den lieben Schriftzügen vor Augen, saß Gritli in Gedanken versunken.

Wie anspruchslos hatte Fräulein Charlotte gelebt, nur still und unermüdlich für Andere []wirkend! Und welch' ein reiches, ungewöhnliches Testament war vorgefunden worden nach ihrem Tode! Stets eingedenk, daß wir keine Stunde wissen, wenn wir abgerufen werden, hatte sie rechtzeitig in gesunden Tagen für alle Bedürftigen um sie her gesorgt, und zwar in der unvergleichlichen Weise, daß jedes von denen, die in ihrer Hut gestanden hatten, sich auch weiter von ihrer sorgenden Güte umgeben fühlte. Auch Gritli war nicht nur mit einem schönen Nothpfennige bedacht gewesen, sondern eben auch mit der Zuweisung von solchen Sachen, die, aus dem persönlichen Gebrauche der geliebten Gönnerin stammend, ihm über ihren Tod hinaus ein Stück ihrer selbst zur Geleitschaft gaben.Indem es dies pietätvoll überdachte, pries es die Begüterten um der einen Freude willen wahrhaft glücklich: daß sie die Anderen glücklich machen konnten.

„Doch!“ stieg ihm plötzlich auf, „war das nicht auch dem Aermeren möglich, wenn er sich ein bischen was erübrigt und keine Angehörigen zu versorgen hatte? Stand es ihm dann nicht offen, im Kleinen ähnlich Gutes zu stiften?“ Ein warmer Strahl durchzuckte Gritli's Herz. Sein

[92]

Geldchen bei Herrn Rych wie lag das plötzlich in einem neuen, wundersamen Lichte da! Wenn Gritli nicht krank, unfähig zum Verdienen, in seinen alten Tagen dies Ersparte selbst aufzehren mußte, dann konnte es ja ein Gleiches thun! Es mußte es thun, so sagte es sich, da Gott ihm diese unverhoffte Einsicht sandte. Es wurde ihm ganz sonderbar zu Muthe, demüthig vor dem jäh entdeckten Reichthum.

Wie es ihn wohl vertheilen würde? Dem da dieses. Jenem jenes. Es griff nach einem Stift und zog ein Endchen Papier hervor. Erst phantasirend, dann mit ernstlich erwogenen Zahlen begann es zu kritzeln, seine Habseligkeiten im Zimmer zu zählen, zu notiren, und schließlich entwarf es mit Feder und Tinte wirklich eine Art von Testament.Es überlas mit einer Empfindung, als thäte es Alles im Traume, das was es geschrieben, begann von Neuem zu rechnen, änderte, stellte nochmals um, und fuhr so fort, immer ernstlicher, bis ihm nach wohl zwei Stunden schien, so wäre es gut.Und nun war Gritli auch fest entschlossen, das Entworfene gültig zu machen.

Tief athmete es auf und faltete nachdenklich den Bogen zusammen. Die Augen thaäten ihm [93] weh. Ein Fensterflügel, der überm Hof in gleicher Höhe offen stand, hatte all' die Zeit den Widerschein der Sonne blendend über Gritlis Tisch geworfen, und von dem vielen Denken in der nachmittäglichen Schwüle fühlte es sich jetzt ganz müde. Es hätte ein wenig schlummern mögen.Dort stand ein bequemerer Stuhl. Dahin setzte es sich.

Es faltete die Hände im Schooß und schloß die Augen. Draußen schlug es fünf Uhr.

Da nickte es ein.

Und ihm war im leise anhebenden Traum,als sähe es von ferne Fräulein Charlotte Rych,die ihm winkte. Ueberrascht und zaghaft versuchte es sich ihr zu nähern. Aber sie war erhöht, wie dem ebenen Boden entrückt, und harrte mild lächelnd seiner. Sie sprach keine Worte. Dennoch vernahm Gritli jetzt ein beglückendes Zustimmen zu seiner eben entworfenen That, und als sei auch es nun gestorben, ihren Willkommgruß an seligem Ort. Andächtig wagte es ihr näher zu treten auf der ansteigenden Bahn. und bald wurde ihm erkennbar, daß es zum Rand einer Wiese gelangte.Die war übersät mit tausend Blumen. Berge voll ewigen Schnees ragten auf hinter dem pran[94] genden Plane. Zu Füßen ruhte weithin ein dunkler See. Wie es weiter schritt, gewahrte es herrliche Männer, die standen in Reihen von hier bis dort hinten, alle in alter Heldentracht. Das waren Schweizer Helden! Silberbärtige Greise,starke Männer, und hohe Jünglinge in lichtem Haar. Mit gütigen, schützenden Blicken sahen sie alle Gritli an und traten zur Seite, wo immer es schritt. Und ein Feuer sah es lohen, dort, wo auf der eben noch sonnigen Wiese ganz hinten nächtiges Dunkel webte. Davon glühten im Widerschein die Stämme uralter Bäume, und der Fuß himmelanstrebender Felsen. Und ein weihevolles Murmeln, gleich Schwüren, ging durch das verborgene Gelände, begleitet vom leisen Wellenschlage der Fluth.

Da wollte Gritli den Athem anhalten, dem Heiligen zu lauschen.

Aber ein Schreck durchschütterte seinen Leib.Es war aufgefahren in seinem Stuhle und hatte die Augen geöffnet. Schmerzhaft mußte es sie erst wieder einen Augenblick schließen; denn die rothe Abendsonne schien ihm gerade ins Gesicht.

Was aber war der furchtbare Schlag gewesen oder der Sturz, der es geweckt? Und dann der [95]Schrei? Jetzt gellte er wieder, verzweifelt. Noch ganz traumverwirrt, sprang Gritli ans Fenster und blinzelte hinaus. Ein Entsetzenslaut erstickte ihm in der Kehle, und seine Sinne wurden jählings wach. „Halte dich! halte dich, Gusti! ich kommel“ stieß es hervor, denn gegenüber im dritten Stockwerk hing, das Fensterkreuz umklammernd und mit den Beinen über der grausigen Tiefe nach einem Anhalt suchend, der achtjährige Knabe einer Nachbarin, während auf dem Steinpflaster des Hofes zerschellte Töpfe, Pflanzen, und Trümmer eines hinab gestürzten Blumenbrettes verkündeten, was geschehen war. Gritli stürzte in Sprüngen aus der Stube, Traum und schauderhafte Wirklichkeit in seinem Kopfe vollends entwirrend, über Treppen und Gänge jener Wohnung zu. Alles todtenstill im weiten Bau. Noch waren nirgends die Hausgenossen heimgekehrt.

Mit bebenden Händen stieß es die Thüre auf:

Gott sei's gedankt! noch krampften sich dort die Arme ums Holz. „Halte fest!“ schrie Gritli wieder, „ich bin da!“ Jetzt stand es beim Fenster und bog sich hinaus. Hoffnung, Angst, Hülfeflehen zu Gott jagten durch seine Seele. Besaß es die Kräfte, diesen schon schweren, jungen Körper [] 96 so hoch heraufzuziehen? Es versuchte mit beiden Händen zuzugreifen, aber so ging es nicht; Gritli selber verlor auf diese Weise den Halt. Sich am Fensterstock sichernd mit dem einen Arm, griff es abermals hinab, um Gusti mit dem andern allein zu heben. Unbeschreibliche Augenblicke folgten.Die Last hing so tief! Doch jetzt gelang es dem höher gezogenen Knaben, sich fester am Fenster zu halten und selbst mitzuhelfen. Noch einige dumpfe Sekunden und Gritli zog ihn wirklich herein. Unter Thränen schloß es den Jungen in die Arme.

Wie das Schreckliche hatte geschehen können,war von Gusti bald gestanden. Vom gemeinsamen Spaziergange heimkehrend, grade vorhin erst, war die Mutter nochmals aus dem Hause gegangen, über der Gasse etwas zu holen. Inzwischen hatte der Knabe sich ans Fenster gesetzt.Da war ein prächtiger Trauermantel herangeflattert und ließ sich auf einem der Geraniumstöcke draußen nieder. Gusti hatte sein Gärnchen herbei geholt, das er kaum eben in die Ecke gestellt,und war auf den Stuhl gestiegen. Doch der Trauermantel flog auf. Er gaukelte wieder ein Weilchen um die Blumen und schwebte dann []höher. Gusti sah ihm nach; nun setzte sich der Schmetterling aufs Neue hin, gleich nebenan, auf die obere Kante des Fensterladens. Da war der Junge auf den Sims getreten und hätte sich hinausgebeugt. Den einen Arm um den Fensterstock, in der andern Hand das Netz, war er aber bei der entscheidenden Bewegung auf das Blumenbrett gerathen, wie das unter ihm schwand,wie es zerschellte und was weiter, das wagte der todtbleiche Bursche nicht mehr zu denken.

Gritli rüttelte ihn auf: „Gusti!“ stieß es hervor, „das müssen wir deiner Mutter ersparen!“Der Knabe schaute erwartungsvoll auf. „Du sagst ihr, daß du wegen des Schmetterlings auf das Brett kamst, und daß es deshalb hinab fiel, aber das Andere nicht, hörst du? Danke Gott, daß er dich gerettet hat und bewahre es als Geheimniß, als unser Geheimniß! Versprich!“Der Junge nickte, und alsbald eilte Gritli von dannen, aus dem Bereiche zu kommen, ehe die Nachbarin erschien.

Hochaufathmend lief es die öden Gänge zurück,durch die es vor wenigen Minuten hergerannt war,des Entsetzlichsten gewärtig; mit zitternden Füßen glitt es treppab, ungesehen, und stieg wieder trepp

Siegfried, GritliWohlthäter.[]*auf. Droben angelangt aber, sank es in der dämmernden Stube an seinem Stuhl auf die Kniee.

Welch eine Gnade hatte ihm sein Gott beschieden! Ein Leben zu retten war ihm bestimmt gewesen! Als welche beabsichtigte Fügung offenbarte sich da plötzlich Gritli's frommem Sinne die Verhinderung, seinem Vergnügen nachzureisen,die es in seiner menschlichen Kurzsichtigkeit vorschnell mit eiteln Thränen beweint hatte. Das Gesicht in die Hände vergraben, blieb es lange so zusammengesunken. Und langsam fühlte es Seele und Körper in dieser inbrünstigen Sammlung sich erholen.

Fröhliches Schwatzen und Lachen heimkehrender Nachbarn aus den offenen Fenstern drüben machte der Stille ein Ende. Da erhob sich die Knieende, erquickt und verklärt.

Auf dem Tische lagen noch die Papiere herum und stand die offene Kassette. Mit freudigem Blicke griff Gritli nach dem aufgesetzten Testament und barg es in die Tasche seines Werktagkleides.Der Notar mußte es morgen gültig machen. Das eben Erlebte bedeutete Gritli auch hiefür einen Fingerzeig von oben. Dann räumte es die übrigen Sachen zusammen, während das letzte Zwielicht []die friedliche Stube erfüllte und vom Hofe das laute Durcheinander von Stimmen heraufdrang,die mit Gusti's Mutter die ungeschickte Zerstörung des Blumenbrettes beklagten.

Ohne hinab zu sehen, holte Gritli sein Lämpchen herbei, heiter entschlossen, nach dem Abendbrot noch wach zu bleiben, bis die Tullikerinnen heimkehrten. Es fürchtete jetzt ihre glücklichen Erzählungen nicht mehr. Was Trägheit des Herzens ihm zugefügt hatte, war in dieser Abendstunde in lauter Gutthat verwandelt, und die lieblose Kälte der Welt entkräftet an dem Alles überwindenden Sonnenstrahl eines warmen Gemüths. [] Ein Wohlthäter. [] Der Finkengrund ist eines der vielen Hinterthälchen, die einen lautern Bach ins Bernecker Flußgebiet hinabschicken. Saftige Matten und kräftiges Ackerland die runde Erhöhung des Finkenbühls inmitten bilden die Thalsohle,sanft ansteigende Halden, von Buchen- und Tannenwald gekrönt, seine Seiten. Nach Norden und nach Süden führt eine Straße über die Hügelrücken in die Welt hinaus, ein lichtes Band,das dies kleine Einzelne mit dem großen Gesammten draußen verbindet. Das Haupthäuflein der saubern Häuser steht im Thalgrunde beisammen, zahlreiche Gehöfte liegen an den Hängen, halb versteckt im Schatten mächtiger Nußbaume.So niedrig nun die Hügelrücken ringsum sind,so vermögen sie doch den freien Ausblick auf die weite Herrlichkeit zu verhindern, die jenseits ausgebreitet liegt, und die zu genießen den anderen Menschen draußen jeden Morgen ohne Mühe neu [104]gegönnt ist. Das Gewässer selbst findet seinen Ausweg aus dem Thale nur, indem es sich durch einen engen Waldgraben zwängt.

Sobald jedoch die Finkengrundbauern eine Viertelstunde bergan steigen, erschauen sie weithin Seen mit fruchtbaren Ufern und schöne Flußläufe mit ihrem bewegten Leben: hier eine rauchende Stadt, dort ins Grün gestreute Dörfer ohne Zahl,überall Zusammenhang und Wechselwirkung.Und dieser Mannigfaltigkeit so nahe, stecken sie selber lebenslang dadrunten in der Abgeschiedenheit ihrer grünen Mulde, darauf beschränkt, Tag für Tag an die paar immergleichen, schnell überzählbaren, längst in- und auswendig bekannten Dinge hinzustarren.

Auf diesen engumschlossenen Charakter ihrer Heimath mag es wohl zurückzuführen sein, daß an den Menschen dieses Thales ein Trieb auffällt,zu erweitern, zu bereichern, zu ergänzen, ja, daß von Alters her unter ihnen ein Zug verbreitet ist, der sie von dem urnüchternen Volke des übrigen Kantons unterscheidet, sozusagen ein Sonntagszug. Es wandelt nämlich zuweilen plötzlich einen von ihnen das phantastische Bedürfniß an, irgend etwas gänzlich Außerordentliches zu ersinnen und [105] in den ahnungslosen Alltag hinein zu schleudern.Nicht allein possirliche Aufschneidereien, wie sie an Samstag-Abenden und stillen Sonntagen reichlich an ihren Wirthstischen umgehen, sondern Ideen und Thaten, die Keiner dem hinterwäldlerischen Völklein zutrauen würde.

Schon vor genau hundert Jahren hatte ein Rudolf Eschberger eine Flugmaschine mit ledernen Segeln, und außerdem, lange vor dem Mannheimer Förster Drais, eine Vorfahrin der späteren Draisine erfunden, vom Bedürfnisse gedrängt, das Fortbewegungsvermögen der Menschheit zu erweitern. Noch standen die Modelle davon im Schulmuseum der nahen Stadt Berneck aufbewahrt.Samuel Spechti sodann, der Großonkel des jetzigen Sägemüllers, erdachte eine drehbare Brücke und ging, obwohl bereits ein Dreißiger, mit diesem und ein paar andern Einfällen muthig in die Welt hinaus, sie zu verwirklichen. In der That stand seine Brücke fern im Ungarlande ausgeführt,lange angestaunt als die einzige ihrer Art. und Spechti war, nachdem er noch eine ganze Reihe anderer merkwürdiger Neuerungen auf verschiedenen Gebieten gefunden hatte, als reicher Greis unlängst [106] zu Wien verstorben, dem heimathlichen Finkengrund ein Vermächtniß zum Bau eines neuen Schulhauses hinterlassend.

Neben diesen großen waren zu jeder Zeit etliche kleinere Phantasiemänner einhergegangen, deren einer etwa eine sinnreiche Spieluhr, ein anderer eine schnelle Hinrichtungsart für Südamerika, oder ein nagelneues System zur Vermehrung der heimischen Gemeindefinanzen ersonnen hatte. In der Gegenwart aber galt als meistbewunderter Thalgenosse der Gottlieb Steiner, der Ende der sechziger Jahre nach Schweden ausgewandert war,um in den dortigen günstigen Waldverhältnissen eine eigenartige Holzindustrie zu unternehmen,und es richtig damit zu einem großen Vermögen gebracht hatte. In seiner Jugend hatte er als armes Waisenbüblein in Berneck Besen verkauft,war dort von einigen Familien als begabtes Kind erkannt und auf die Bezirksschule gebracht worden,worauf er später so glänzend seinen Weg machte.

Aus den gleichen landschaftlichen Bedingungen aber, die bei einzelnen Finkengrundleuten diesen schöpferischen Unternehmungstrieb herausbilden,läßt sich wohl auch eine andere Seite ihres Wesens,eine Werktagsseite, erklären: die resignirte Ver[107] bohrtheit der Daheimbleibenden in ihren angewiesenen Lebenskreis. Treibt doch Jeder da sein Bauerngewerbe oder sein Handwerk so vehement,als gäbe es nur dieses und weiter nichts im Veben,dabei mit fleißigen Seitenblicken aufpassend, wie die Andern es an ihrem Theile halten. Und man muß zugeben, daß bei diesem Hinüber- und Herüberspähen noch zwei ehrenwerthe Eigenschaften den Maßstab der öffentlichen Werthschätzung in der abgelegenen Thalgemeinschaft bilden: die Tüchtigkeit des Einzelnen in Haus und Gemeinde, und die lautere Herkunft seines kleinern oder größern Wohlstandes. Diese letztere, unter Bauern so merkwürdig tugendhafte Anforderung mag freilich nur daraus zu erklären sein, daß es auf dem abgezirkelten Raume des Finkengrundes eben zu keiner Zeit etwas Ersprießliches zu spekuliren gegeben hat.So war es denn natürlich, daß der reichste Mann dieses Thales, der Jakob Haberist auf dem schönen Hofe „Zum Tanner“, zwar als Nummer Eins gezählt wurde, was strengen Fleiß und Zusammenhalten des Ererbten und Erworbenen betraf, daß er aber in der allgemeinen Achtung hinter dem letzten Strohdachbäuerlein [108] zurückstehen mußte, weil seinem Reichthum so mancherlei wirkliche und noch viel mehr vermuthete Unsauberkeit anklebte.

An der Sonnenhalde, von halber Höhe des Berghanges, sah sein Besitzthum behäbig hingelagert aus tiefem Baumschatten hernieder. Ein stattliches Wohnhaus mit weißem Gemäuer,grünen Läden und einem französischen Doppeldache, das weit vorspringend, an der Frontseite einen schützenden Rundbogen wölbte. Dahinter ein Nebenhaus, weite Scheunen, Speicher und wetterbraune Schuppen, zwischen dunkeln Nuß-baumkronen aufragend; zuoberst am Hang, wie eine Schutzmauer, die Wand der alten Tannen,die dem Grundstück wohl ursprünglich den Namen gegeben. Es war so recht das Bild eines Hofes,auf dem jedes Schweizerbauern Auge mit Wohlgefallen ruhen mußte.

Doch zu der Unbeliebtheit, die dem Besitzer sein Geldschmutz zugezogen hatte, kam auch noch die Abneigung der Bauern gegen seine Eigenschaft als „Mehrbesserer“. So nennen sie, halb spöttisch,halb respektvoll, dortzulande Einen, der nach dem Absitzen der ländlichen Schule noch höhere Lehranstalten besucht hat und nun für das Empfinden [109] seiner mindergebildeten Dorfgenossen den stummen Anspruch mit sich herumträgt, vortheilhaft von ihnen verschieden zu sein. Jakob Haberist aber war mehrere Jahre in die Bernecker Bezirksschule gegangen, und zwar gemeinsam mit Gottlieb Steiner,weshalb er sich auch gern als dessen besten Jugendfreund ausgab und Jedem das eingerahmte Bild zeigte, das er von dem bewunderten Schulkameraden besaß. Von Berneck weg hatte Jakob gar noch ein landwirthschaftliches Institut aufgesucht, und so galt er nicht mehr für echt, ob er gleich nach der Rückkehr in den Finkengrund die Hand an den Pflug gelegt hatte, wie jeder Andere, und gleich ihnen seitdem im Thale säte, düngte und mähte bis auf den heutigen Tag. Ihm hing für die scharfen Augen der Finkengründler von jener Zeit her ein fremder Zug an. Das war sein bewunderndes Schielen nach den Herrenleuten. Der unverfälschte Bauer, der jahraus jahrein in Unwetter und Sonnenbrand seine harte Arbeit thut,kommt über eine heimliche Geringschätzung des Herrenwesens nie hinweg. Was in der Stadt getrieben wird, erscheint ihm nicht als richtiges Arbeiten, und umsoweniger, je weiter eine Thätigkeit sich von körperlicher Anstrengung entfernt.

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Deshalb erscheint ihm verdächtig, wer in seinem Stande diese Meinung nicht theilt. Und nun sahen die Dorfgenossen Jakob Haberist bei allen Versammlungen und Festen, zu denen er als Gemeinderath vom Finkengrund eingeladen wurde,fast demüthig nach der Ehre geizen, von den Bernecker Herren angeredet und ein wenig wie Ihresgleichen behandelt zu werden. Drum hängten sie ihm eins an, wo sie konnten, und an Anlaß ließ er es nicht fehlen.

Ledig geblieben aus lauter Kniffligkeit, jetzt nahe an Sechzig, hauste er auf dem stattlichen väterlichen Besitzthum mit zwei andern unverheiratheten Geschwistern und einer allgemein gefürchteten alten Magd, Namens Käther, und je nach den letzten Erzählungen der schlecht gehaltenen Unterdienstboten schwankte das öffentliche Urtheil immer wieder darüber, wer von diesen Vieren droben an der Berghalde sich am verbissensten abschinde und welcher im Grunde der Geizigste sei.

Es war an einem grauen Oktoberabend, als am Brunnen vor des Gemeindeammanns Haus im Dorfe drunten das neueste Müsterlein von Jakob Haberist's Stärke im Sparen ruchbar [111]wurde. Fritz Gyger, der Wirthssohn, führte sein Pferd zum Tränken her, mit dem er eben den Bernecker Arzt zur Stadt zurückgebracht hatte.

„Wem fehlt's im Dorfe, daß der Doktor da war?“ fragte ihn der Ammann, der sich auf der andern Seite des Troges die Hände wusch.

„Des Haberist's Schwester, die Vrene, hat sich heut' Nachmittag die Hüfte ausgefallen.“

Der Ammann zog die Hände aus dem Wasser und schlenkerte sie ab. „Was Du nicht sagst? ich habe sie doch noch gesehen, wie sie Zwiebelkränze unterm Dache des Speichers aufhängte, kurz nach dem Dreiuhrläuten. Ich kam mit einem Fuder Rüben dort vorüber.“

„Ich auch! Wir fuhren ein Stück weit hinter Euerm Wagen her,“ bestätigte eine Nachbarin.Und eine weitere und noch drei, vier, die vor den Häusern gestanden hatten, traten herzu, die Neuigkeit zu hören.

„Grade nachher muß es auch geschehen sein,“erzählte Fritz. „Sie fiel von der Leiter und blieb so elend liegen, daß der Jakob herunter berichtete,ich müsse nach Berneck fahren, den Doktor zu holen.“[112]„Den Doktor für die Vrene? Und gar mit einem fremden Fuhrwerk?“

Der Wirthssohn lachte. „Das scheint Euch kaum zu glauben von Haberist, nicht wahr? Doch grade heute hatte er kein Pferd daheim. Der Bruder David war sammt den Knechten ins Holz gefahren.“

„So recht! Gut getroffen! Das gönn' ich ihm!“rief es durcheinander.

„Nun, immerhin Respekt!“ wandte der Ammann ein. „Ich hätt' ihm so viel Fürsorge gar nicht zugetraut.“

Aber der junge Mensch winkte ab. „Nur Geduld, es kommt schon anders! Als wir auf den Tanner kamen, fing der Jakob den Doktor vor der Hausthüre ab und erzählte ihm des Langen und Breiten, wie die Sache sich zugetragen habe.Er jedenfalls sei nicht schuld, daß die Vrene selber noch auf alle Leitern hinaufsteige. Indessen traue sie nun einmal keinem Menschen, und wahr sei es ja, Jeder wisse es, wie schlecht die Dienstleute einem heutzutage zur Sache sähen.Jetzt möge aber der Herr Doktor nur so gut sein und der Schwester das Bein, oder wo es fehle, geschwind wieder einrichten. Mit dem Donners

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er habe sagen wollen mit dem Bettliegen hinterher werde es noch Arbeitsversäumniß und Schaden genug geben.

„Der Doktor warf so den Kopf herum Ihr kennt ihn ja, wie er thut, wenn ihm der Zorn aufsteigt, und ging hinein. Kannst mitkommen, sagte er zu mir, hist ja ein geschulter Samariter; vielleicht brauch' ich dich. Bei dieser Aufforderung warf Haberist einen Blick auf mich,als wäre wunder was von mir zu befürchten,und prüfte mein Habit, vom Kittel die Hosen abwärts bis zu den Schuhen, als wollte er fragen, ob man am Ende einem wie dem Fritz die unerwünschte Hülfeleistung gar bezahlen müsse?“„Den hast du gut errathen!“ warf der Amtmann ein; „aber weiter!“

„Der Doktor fand die Sache schlimm, nachdem er sich eine Weile an der Vrene zu schaffen gemacht hatte. Mit dem bloßen Einrichten, sagte er alsbald, sei es auf keinen Fall gethan, wie der Jakob glaube. Doch fuhr er noch fort, zu untersuchen. Allein schon dieser Bescheid brachte den Alten ganz aus dem Häuschen. Er begann hinter des Doktors Rücken wie besessen in der Stube auf

Siegfried, Gritli-Wohlthäter. 2 [] 114 und ab zu laufen, blinzelnd und horchend, was es wohl noch weiter absetzen werde. Ewig lange ging das weiter mit Drücken, Klopfen und Fragen,wo es schmerze. Der Doktor macht es genau.Ihr wißt, den reut keine Mühe. Als er sich endlich wieder umwandte, faßte er Haberist scharf ins Auge. Wenn die Vrene überhaupt nocheinmal zum Gehen gelangen solle, sagte er, so erheische der Fall eine wochenlange Behandlung;denn das Hüftgelenk sei verletzt. Wie lange der Jakob die Schwester aber auch nachher noch liegen lassen müsse, das könne man jetzt noch gar nicht absehen.“

Um den Brunnen, wo die Zubhörerschaft sich stattlich gemehrt hatte, tönte nur mäßiges Mitleid aus den Reden, desto mangelhafter verhüllt die Schadenfreude über Jakobs Pech. Und Fritz,durch das neugierige Publikum angestachelt, ließ sein Pferd, das sich satt getrunken, durch einen Knaben in den Stall zurückbringen, um weiter zu erzählen.„Des Jakobs Nase hättet Ihr da sehen müssen!“ fuhr er fort. „Wie einen Spieß richtete er sie zu Boden und kratzte sich hinter den Ohren. Was konnte er thun? Er verschwand vor [] 115 Schrecken in die Nebenstube. Dort hörte man ihn Stühle rücken. Dann kam er wieder heraus,blieb stehen, fuhr sich uber den Kopf und nahm schließlich den Doktor beiseite. Hehe‘ begann er,so leise, daß ich es nicht hören sollte, aber ich verstand trotzdem jedes Wort, und die Schwester desgleichen, hehe, wißt Ihr was, Herr Doktorl Machet es halt mit der Vrene lieber nicht gar so präzis! Alt ist sie nun doch schon! Ich schätze so im Zweiundsechzigsten. Also wozu noch so eine theure Sache? Flicket sie soweit, daß sie noch ein wenig um's Haus herum humpeln kann und der Wirthschaft nachsehen. Mehr brauche ich nicht mehr von ihr!‘ Jetzt aber der Doktor! ‚Zum Donnerwetter jawohl! schrie er den Alten an, ‚das werdet Ihr mich wohl so machen lassen, wie ich es für nöthig finde, Herr Haberist! Vor allem Wasser her! Und Eis holen lassen im Wirthshaus drunten! Einen Armkorb voll“ Dann verlangte er saubere alte Leintücher, hieß die Hexe, die Käther, hereinkommen und unter seinen Augen ihre Hände waschen, bevor sie mit anfassen durfte. Allein erst, als er über den Jakob hinweg selber in die Schränke hineingriff und ohne Federlesen herauszerrte, was ihm tauglich schien,[116]bekam er zusammen, was er brauchte. Dann ging es an die Vrene. Gewaschen wurde die nun,eingerichtet und bandagirt, hiezu Leinenzeug kurzweg in Streifen gerissen, Verbandwatte und Gaze verbraucht, haufenweise, daß den drei Geizhälsen im Bett und davor ob solcher Verschwendung die Zungen heraushingen!“

Ein wahrer Jubel erschallte um den Brunnen.Nur einige Weiber zeigten Mitgefühl für die Schädigung des Leinenschrankes. Der Amtmann verlangte zu Ende zu hören.

„In der Nebenstube schrieb dann der Doktor noch eine Menge Dinge auf, die in der Apotheke in Berneck zu holen waren und trichterte der Käther ein, wie sie bis morgen die Verbundene zu besorgen habe. Jakob hatte sich derweil gedrückt. Auch ich ging nun hinaus, allgemach einzuspannen, da traf ich den Alten bei unserem Fuhrwerk und gewahrte, daß er sich an des Doktors Decke, die auf dem Sitze lag, etwas zu schaffen machte.

Drinnen waren sie auch fertig geworden, wir wollten abfahren, da ruft der Doktor, wie er die Decke über die Kniee breiten will: ‚was Teufels liegt denn da?‘ und zieht einen mächtigen [117]Schinken draus hervor. ‚Schinken? Meister Haberist! und zwei Flaschen von Eurem alten Kirschwasser? Was soll das bedeuten? Jakob will etwas stottern. Aber schon macht der Doktor ein ganz lustiges Gesicht. ‚Soso? sagte er pfiffig, Ihr schämt Euch also doch ein wenig? Und nun möchtet Ihr mir wohl den Mund stopfen, he?Ist aber nicht meine Gewohnheit, mir ihn stopfen zu lassen! Hingegen nehm' ich das Wäärlein gleichwohl mit Dank; denn im Spital drunten hab' ich immer ein paar arme Teufel, denen ein solcher Bissen zwischenhinein, oder ein kräftiges Schlücklein wohl thut! Und jetzt gute Nacht!Morgen nach Tisch seh' ich wieder nach der Vrene.“Damit setzte er sich neben den Schinken, ich rief Hüh, und Haberist und seine lange Nase blieben dahinten.“ Bis die Nacht sich über den Finkengrund senkte, war diese Geschichte vom Brunnen aus in alle Häuser gedrungen und bot, mit den zahllosen früher bekannt gewordenen Geizstückchen vom Tanner, die nun alle wieder behaglich aufgewärmt wurden, für diesen Abend und die nächste Zeit dem ganzen Dorfe einen unerschöpflichen Unterhaltungsstoff. Und überall galt als ausgemacht:[118]daß einen wie Jakob sicherlich zuletzt der Teufel hole.Haberist saß um die gleiche Stunde maßleidig in der großen Wohnstube seines Hauses auf der Ofenbank, das Nachtessen vor sich auf dem eichenen Tische und den Bruder David gegenüber. Ein elendes Lichtstümpfchen beleuchtete die beiden hageren Köpfe und ließ in David ein minderwerthiges Abbild des Jakob erkennen. Die gleiche dünne, lange Nase ragte über den Rand der Kaffeeschüssel herein, wenn diese an den großen,fast lippenlosen Mund geführt wurde; aber die Pfiffigkeit des Ausdruckes und die unstete Lebhaftigkeit des Blickes, die an Jakob auffielen,fehlten dem jüngeren Bruder.

Beim trüben Kerzenschein war Jakob übrigens in seinem Element. Da konnte er die Augen ruhen lassen. Am Tageslicht hingegen erinnerte er immer an einen lichtscheuen Nachtvogel, weil er unter seinen röthlich-blonden Wimpern hervor nur zwinkernd und blinzelnd einem Menschen ins Gesicht zu schauen vermochte. Dabei ließ er bloß ein geiziges Streifchen von etwas unbestimmt Hellem sehen, von dem man nicht Zeit hatte, zu unterscheiden, ob es das Weiße war oder der [] 119 gelblich-braune Augapfel. Auch von seinem Haare hätte niemand zu sagen gewußt, ob es eigentlich je blond, oder roth, oder immer so unbestimmt grau gewesen sei wie jetzt. Denn jung hatte Jakob in seinem Leben nie ausgesehen. Dazu sein Gang,stets als ob er die Beine sparen wollte, und sein vorsichtiges Wesen, er fluchte nie, er flüchelte höchstens, kurz, alles von einer so schlauen Halbfärbigkeit, daß er dadurch auch wieder an einen jener Schmetterlinge gemahnte, die der Baumrinde gleichsehen, auf der sie sich aufhalten,und diese Unscheinbarkeit geschickt benützen, sich,wo es ihnen dient, übersehen zu lassen.Schweigsam stillte jeder der Brüder seinen Hunger. Allein Jakob war bald satt. Ihm hatte der Aerger dieses Abends ganz den Appetit verschlagen. Einmal peinigte ihn das Bewußtsein,daß er sich eine Blöße gegeben, mit deren Ausplaudern die Zeugen seinen Ruf abscheulich schädigen könnten, und dann wurmte ihn andauernd der Kostenpunkt, der aus dem Unfall der Schwester erwuchs, und die Erkenntniß, daß für ihre ausfallende Thätigkeit jetzt ein zweiter weiblicher Dienstbote ins Haus genommen werden müsse.Er legte den Löffel hin und blies das Licht aus.

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Der Bruder mochte die Einfahrt für seinen Rest im Dunkeln finden.

Durch den dünnen Nebel, der draußen lag,warf der Mond ein schwaches Dämmerlicht in die Stube. Aus der Küche nebenan, wo heute an Vrene's Statt die böse Käther den Vorsitz führte, vernahm man gedämpft das Löffeln und Räuspern der essenden Dienstleute.

„Ach ja“ seufzte Jakob und lehnte sich gegen den Ofen zurück.

„Ja, eben,“ unterstützte David dienstfertig den Bruder.Dann wurde es still. Nur auf der Ofenbank war während einiger Augenblicke noch ein schleichendes Geräusch zu hören, von unregelmäßigen,angestrengten Athemstößen begleitet, das dem David einen wohlbekannten heimlichen Vorgang verrieth.Da die beiden Brüder immer gesondert von den übrigen Hausgenossen in der Stube speisten,wußte Jakob, wie aus Allem, so auch daraus seine Vortheilchen zu ziehen. Vorab konnte man hier barfuß bei Tische sitzen, ohne daß es jemand sah, und sobald gegessen war, wieder dunkel machen,wie eben jetzt, wobei nicht nur Licht gespart wurde,[121] sondern, was seine Person betraf, auch noch etwas anderes, was er in der Finsterniß doch gänzlich nutzlos durchgesessen häütte. Wozu dem Schneider öfter Geld zu verdienen geben, als unvermeidlich nöthig war? Vor Erkältung brauchte man sich am warmen Ofen ja auch nicht zu fürchten!

Draußen standen sie jetzt vom Tische auf.Doch zugleich erhob sich ein sonderbares Murren,das Geschirr wurde mit absichtlichem, zornigem Lärm beiseite geschoben, und unter lautem Geschelte, bei dem sogar deutlich die Stimme des sonst allezeit gelassenen Oberknechtes Hans betheiligt war, gingen die Dienstboten an ihre letzten Verrichtungen auseinander.

„Was ist denn los?“ fragte Jakob und DDDD

Allein kaum hatte dieser die Thüre ein Spältchen weit geöffnet, als Käther schon wie eine Furie, schwarz umrissen auf dem leuchtenden Grund, die Schwelle besetzte und ihn wieder in die finstere Stube zurückdrängte.

„Was soll los sein, Ihr Donners Topfgucker?Das Essen war ihnen nicht recht! Mag der Henker für das Gesinde von heutzutag kochen!Hinten und vorne nichts nutz sein und nichts haben,[122]als den Strohhalm, der ihnen noch anhängt vom Bettelnest, aus dem sie kommen, aber alles für nichts achten und die Mäuler aufreißen, wie Bauernsöhne mit hunderttausend Franken!“

Die Männer im dunkeln Ofenwinkel verhielten sich mäuschenstill.„Habt Ihr etwa einen Einwand, he?“ schrie sie. „Nur heraus damit! Ich kann ja gehen.Meinetwegen morgen schon! Seht dann zu, wie Ihr selber kocht, Ihr Göhle, ohne Unsereinen, der sich schindet und verviertheilt, Eure Sache beisammenzuhalten.“

Als sich auch jetzt noch Keiner muckste, schlug sie die Thüre wieder zu. Die drinnen hielten kluge Stille, bis die Erboste nach einer Viertelstunde endlich die Treppe hinauf in ihre Kammer polterte. Dann rührte sich David vorsichtig. „Ich mein' schon, Bruder, es könnte bald an der Zeit sein, daß du die spüren ließest, wer hier doch noch Meister seil Es heißt wohl, je älter die Geiß, desto härter das Horn. aber die stößt jetzt zu grob! Und wenn die Vrene nun nicht mehr draußen ist, ihr ein wenig draufzuklopfen, so laufen uns die Dienstboten am Ende [123]davon und verschreien den Hof, daß du kein Bein mehr herkriegst.“

Da blähte sich Jakob auf: „Wann Zeit zum Schweigen ist und wann zum Reden, das hab'ich noch nicht im Sinne, mir weisen zu lassen!“Aber er war so überzeugt wie David, daß es endlich genug sei. Denn ihnen selber gab es Käther längst womöglich noch schlechter als den Dienstboten. Auf diese mußte sie immerhin noch einige Rücksicht nehmen, wenn sie brauchbar waren; beim Meister und seinen Geschwistern war das nicht nöthig; die blieben. Drum bekamen sie thatsächlich kaum noch satt zu essen, von der Zubereitung gar nicht zu reden.

Seit ihrem fünfzehnten Jahre im Hause bedienstet, hatte Käther in dieser Schule des Geizes mehr gelernt, als der Herrschaft lieb war. Denn mit einer congenialen Begabung durchschaute sie rasch jeden Kniff der Dreie und überbot sie längst. Sie wußte alles und jedes von jedem unter ihnen seit vierzig Jahren, jede Falschheit.jede unsaubere Machenschaft, mochte sie von den Geschwistern gemeinsam gegen die Welt, oder von einem gegen das andere gerichtet gewesen sein.Dadurch hielt sie sie ganz in der Hand. In den [124]letzten Jahren war allmählich die Oberherrschaft auf dem Tanner vollständig in ihre Gewalt gerathen, und Vrene selbst, die am längsten Widerstand geleistet hatte, duckte sich jetzt unter die Regentschaft dieses, ihr über den Kopf gewachsenen Zerrbildes ihrer eigenen Laster, wenn auch mit giftigen Worten und Blicken.

Zweimal schon hatte Jakob den allmächtigen Hausteufel abzuschütteln versucht. Die ewigen Drohungen Käther's, sie laufe davon, kannte er doch als leere Worte. Nie hatte sie jemand daraufhin bleiben heißen; trotzdem war sie noch da. Warum, das konnte man sich denken.Denn daß so Eine sich nicht für das Interesse ihrer Herrschaft dermaßen abrackerte, sondern im Geheimen auf die dereinst, so oder so, zu ergatternde Erbschaft spekulirte, das durchschauten die Geschwister mit verwandtem Instinkt. An Lebenszähigkeit aber fühlte sich Käther ihnen weit überlegen, da alle drei seit dem Fünfzigsten schon kränkelten.Daher war Jakob mit seinen beiden Kündigungsversuchen übel genug angekommen. Das erste Mal lautete die Antwort kurz und frech, sie gehe nicht. Das zweite Mal schaffte Käther zum

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Schein ihre Habseligkeiten am Abend wirklich fort.Aber als nichts erfolgte, dies aufzuhalten, stand sie am andern Morgen wieder in der Stube und erklärte Jakob höhnisch, er solle nur nicht glauben,sie lasse sich verjagen. Und mit vielsagenden Blicken und Gebärden gab sie ihm zu bedenken.ob es nicht rathsamer wäre, sie dazubehalten?Seitdem waren wieder ein paar Jahre verflossen. Immer grausamer lastete die knöcherne Faust dieser Person auf dem Hause. Immer elender mußten die alternden drei Geschwister leben, immer teufelhafter zwang sie sie zu knausern.Sie sott jetzt jeden Montag den Bedarf an Kartoffeln für die ganze Woche in Vorrath und warf dann die kalten Knollen bloß vor jeder Mahlzeit wieder einen Augenblick in heißes Wasser.Der Schmutz im Hause nahm so überhand, daß es selbst den Männern darob grauste. Denn nicht nur war ihr jeder Putzlumpen zu schade zum brauchen, sondern was etwa die Geschwister, wenn es nicht mehr anders ging, an neuen Besen und Bürsten vom Bernecker Markte heimbrachten oder von Hausirern kauften, das beseitigte und verschloß sie sofort, wie ein boshafter Affe, der seinem Herrn die Siebensachen versteckt. Dann scheuerte sie mit [126] dem längst von den Borsten entblößten Querholze des alten Strupfers Küche und Stiege weiter, bis er ihr morsch vom Stiele brach. Verdorbene und verschimmelte Mundvorräthe fanden sich allenthalben, die sie im guten Zustande niemand gegönnt.So fehlte seit geraumer Zeit nur der letzte Tropfen, damit das Maß überlief. Und jetzt war Jakob entschlossen, den heutigen Auftritt endlich auszunützen. Es ging dann Alles in Einem hin, die Veränderungen, die Vrene's Gebrechen brachte, und das Hollahmachen mit Käther's Regiment. Waren neue Zustände auf dem Tanner unvermeidlich, so sollte wenigstens ein Vortheil dabei herausspringen. Allerlei schlaue Gedanken keimten in Jakob's sparwütigem Gehirn, und auf eine neue halbe Stunde waltete in der finstern Stube tiefe Stille. Dann glaubte der Meister das Richtige zu haben.

„Was meinst'?“ fragte er David leise, „des Strohflechters Meili thäte uns die nicht die Arheit von Zweien?“Der Angeredete, der sich wegen des Bruders zurückweisender Antwort von vorhin die ganze Zeit über regungslos verhalten hatte, rührte sich ein [127] wenig und rieb, um besser nachdenken zu können,mit seiner groben Hand an der Tischkante auf und nieder. „Meiner Seel',“ stimmte er dann bei, „das wäre so eine! Ducken mußte die sich wenigstens ihr Leben langl Daheim Hunger,bei der Base Prügel, und seit sie dient, die strengsten Plätze! Dabei jung und gesund!“

„Eben das, eben das!“ sagte Jakob schmunzelnd.„Man erlebt es beim Hans, wie gut man mit solchen fährt, die sich von jung auf den Hafer an den Krippenwänden haben zusammenschlecken müssen. Wenn man die Meili auf Wiediker's Feld draußen arbeiten sieht oder ums Haus herum hantiren, so möchte man sagen, eine werkhaftere gäbe es nicht. Wegen der fetten Kost aber wird sie sich wohl nicht besinnen, dort wegzugehen,und mit dem Lohn könnte man ein Uebriges thun, sobald wir die Käther dagegen los sind.“

Nach einigen weiteren, immer nur murmelnd geführten Verhandlungen, wurden die Brüder einig, daß Meili alsobald vorsichtig auf Umwegen angefragt werden solle, dann ungesäumt die Alte, so oder so, ihren Abschied erhalte, und daß,selbst wenn die Vrene es längere Zeit treiben sollte mit Doktern und Bettliegen, das Haus[128] wesen bis zum Beginne des Winters auch mit der einen Frauensperson vollkommen wieder ins Geleise kommen könne.

Die Uhr an der Wand schlug Zehn. So spät legte man sich im Tanner selten schlafen. David suchte nach Streichhölzern und zündete das Lichtstümpfchen wieder an, um zu Bett zu gehen. Aber Jakob erinnerte ihn, daß sie an Vrene's Stelle noch die Runde ums Haus zu machen hätten,die sonst von der Schwester streng und mißtrauisch besorgt wurde. Statt also, wie gewohnt, noch sitzen zu bleiben, bis der Voranleuchtende ihm in genügendem Abstande erschien, um dann im schützenden Halbdunkel nachzufolgen, schlüpfte Jakob heute brummend nochmals in die Hosen,steckte das Licht in eine Laterne und verließ mit David die Stube.

Der Spätherbst bescheerte diesmal frühen Schnee,die bäuerliche Arbeit draußen nahm ein schnelles Ende, und so, vorzeitig in den engen Bereich des Gehöftes verwiesen, empfand man im Tanner die Prüfungen der nächsten Zeit doppelt schwer.Jeder Tag, den der Oktober und November grauen ließen, brachte einen neuen Doktorbesuch auf die Rechnung und der Vrene doch keine Besserung.

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Sie lag immer gleich hülflos da. Aber ungeduldig und gehässig durch diesen gehemmten Zustand,hetzte sie um so ruheloser die Brüder umher,stellte jeden, der ihr zu Gesicht kam, über alle Vorgänge im Hause zur Rede, und focht vom Bett aus, so gut sie es leisten konnte, den heißen Vertreibungskampf gegen die alte Peinigerin mit,die gegen die Gültigkeit der erfolgten dritten Kündigung noch einmal Alles anstrengte. Diesmal umsonst. Denn am fünfzehnten November sah man die Käther in der That von dannen ziehen. Aber wie anders zuletzt, als man sich das vorgestellt! Wenn ein reicher Bauer dem Sohne den Hof übergeben habe und mit seiner persönlichen Habe in den Nebenbau ziehe, so könne der Auszug auch nicht anders aussehen,meinte Jakob ingrimmig, kniff aber wohlweislich die Lippen zusammen, bis das Raubfuder unterm Abhang in das Sträßchen bog und die Todfeindin außer Hörweite kam. Dann aber zischte und stampfte er, ganz entgegen seiner sonstigen sanften und glatten Art, so lange im Hause herum, als müsse er sich für jedes Möbelstück, jede Elle Leinwand, jeden Fünfliberthaler einzeln quitt wüthen, auf welche die Alte ein Siegfried, Gritli-Wohlthäter. 9 [130]Anrecht erhoben und hartnäckig verfochten, bis sie sie ihm wirklich entwunden hatte. Da war ihr kein Jakob, kein David, keine Vrene Meister geworden. Stundenlange Auftritte an deren Bett hatten immer mit Käther's Sieg geendet;denn jetzt erst zeigte sie sich ihren Lehrmeistern in ihrer ganzen Größe. Die pfiffigst verabredeten Ausflüchte und Ableugnungen der Geschwister machte sie mit noch viel schlauer aufgehobenen Gegenbeweisen oder im scharfen Gedächtniß bewahrten Versprechungen Punkt für Punkt zunichte. Hundert schmutzige Ränke zog sie triumphirend aus dem Dunkel der Verjährung ans Licht und hielt sie ihnen mit allen Einzelheiten so schreckhaft lebendig wieder entgegen, als wären sie von gestern. Dann drohte sie mit Oeffentlichkeit und Gericht, kurz, führte ihren Krieg so überlegen, daß sie das, was man ihr nicht Zeit ließ,beim Tode der Herrschaft zu erben, jetzt einfach bei deren Lebzeiten schon aus dem Hause mit fortschleppte. Und während die Geprellten an ihrer verschneiten Halde sich noch wochenlang in ohnmächtigem Grimm verzehrten, schwelgten die Finkengrundbauern am Wirthstische und die Weiber in den warmen Stuben im herrlichsten neuen Lästerstoff,[131] den die wider Willen zur Ruhe gesetzte Käther ihnen rachsüchtig spendete.

Nun erfuhr man häusliche Intimitäten die Menge. So: daß der Meister sowohl wie seine Schwester nur auf erbärmlichen Strohsäcken schliefen, mit groben Leintüchern drüber und ungenügender Zudecke, und daß sie sich, ob Stein und Bein gefroren war, lieber mit den Kleidern niederlegten, als je in einer Schlafkammer Feuer gönnten;daß aber im Tanner eine Oberstube vorhanden DDDstünden und prächtige Möbel, Hartholz und polirt,das Gediegenste und Kostbarste, was in ganz Berneck zu kaufen gewesen sei. Das habe der Jakob trotz aller Gesichter der Andern angeschafft und die Stube dazu streichen lassen, hellgrau und glänzend übers ganze Holzgetäfel, damit man denn doch sehe, wo man sich befinde, wenn etwa Einer käme, an dem ihm besonders gelegen wäre. Auch verrieth die Käther, trotzdem sie so lange als Vierte dabei betheiligt gewesen war, allerlei von den geheimen Künsten, mit denen es die Haberist's zu Stande brachten, sich nach außen verhältnißmäßig so selten auf der ganzen Gemeinheit ihres Geizes ertappen zu lassen. Denn keines von q*[153] ihnen war ganz schamlos; im Gegentheil, auch sie darin echte Finkengrundleute, daß sie, soweit es ihnen noch möglich war, immer darauf bedacht blieben, vor Dritten den Schein honetter Gesinnung zu wahren. Ja, selbst unter einander beherrschte sie, wie Käther schilderte, das Bedürfniß, irgend einen Grund, eine Art Beschönigung dafür zu finden, wenn es sie juckte, einen recht krassen Geizstreich auszuführen, und dabei hätten sie mit der Zeit gelernt, einander schweigend zu errathen und sich gegenseitig zu unverfänglichen Ausreden und Darstellungen ihrer Manöver behülflich zu sein. Wenn Jakob zum Beispiel einen Besuch bewirthe oder ein Bäuerlein, das den Zins gebracht,so pflege Vrene horchend vor der Thüre zu stehen,und sobald drinnen der Pfropfen zum zweiten Mal aus der Flasche gezogen werde, erscheine sie, sage,sie werde wohl abtragen müssen, und während Jakob, als überhöre er, was sie gesagt, den Gast schnell in ein lebhaftes Gespräch verwickle, habe sie schon hast du nicht gesehen! Flasche und Gläser beiseite geräumt.

Auch von ihrem Ruhesitz aus ließ Käther nicht ab, weiter zu schnüffeln, was im Tanner geschehe.An jeden Knecht von dort und an jede Hausirerin,[154] die sie von der Halde kommen sah, machte sie sich heran, um womöglich etwas zu vernehmen, was sie wieder unter die Leute bringen könnte, und wenn ihr Einer etwas Brauchbares zutrug, so leuchtete sie vor Bosheit.

Der Vrene ging es von Tag zu Tag schlechter.Ihr abgearbeiteter Körper hielt das wochenlange,regungslose Bettliegen nicht aus. Hatte sie schon bei gesunden Tagen ein Gesicht gehabt, daß die Leute spotteten, sie könne eine Geiß zwischen die Hörner küssen, so lag sie jetzt vollends so dürr wie eine Hexe auf ihrem Lager, hörte aber trotzdem nicht auf, mit den Brüdern zu zanken bis zum letzten Augenblick. Am Barbaratage, bei einem grausigen Hudelwetter, wurde sie begraben.

Ueber den Tanner kam nun eine große Stille;denn es waren auf einmal ihrer nur noch wenige und lauter ruhige Menschen auf dem verschneiten Hofe. Im Winter behielt man gewöhnlich nur einen Knecht und nahm erst im Frühjahr wieder mehr Leute. Diesmal hatte man dem Hans eine Hülfe dabehalten, weil David an einem bösen Husten laborirte, und Jakob, sobald die Kälte kam, sich ängstlich im Hause hielt, seit ihn vor [134] einigen Jahren in dieser Uebergangszeit der Rheumatismus angefallen hatte.

Dem Hans getraute er sich ja auch bereits manches zu überlassen. Ein braver, armer Teufel,der vom Wechseln wahrscheinlich nie viel Gutes verspürt hatte, hielt dieser Knecht nun schon acht Jahre bei ihm aus und ertrug als eine Philosophennatur mit Gelassenheit alles, was die verschiedenen sonderbaren Köpfe dieses Hauses ersinnen mochten. Sogar mit der Käther war er leidlich ausgekommen. Er behauptete, die Arbeit als einzige Quelle wahrer Befriedigung für den Menschen erkannt zu haben, und stellte darum mit seinen Leistungen sogar die Brüder Haberist zufrieden, wenn sie ihn das auch vorsichtigerweise nicht merken ließen.

In Küche und Haus aber waltete nun das Strohflechtermeili, das in Bezug auf das Wechseln just entgegengesetzt zu denken schien. Denn das Mädchen war schnell bereit gewesen, auf Jakob's Zureden hin seinen vorigen, harten Dienst und die schlechte Versorgung aufzugeben und auf dem Tanner sein Glück zu versuchen.

Das sei freilich ein Wechsel vom Regen in die Traufe, prophezeihten ihr die Leute, aber Meili

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E war jung und glaubte nun einmal noch zuversichtlich, daß jede Veränderung eines Lebenszustandes mindestens die Möglichkeit zu besseren Zeiten in sich trage. Und wirklich! es gewann je länger je mehr den Anschein, als ob sie diesmal Recht behalten sollte. Denn jetzt trafen,was so selten geschieht, die richtige Person und die richtigen Umstände zusammen, ein Wunder zu bewirken.Tüchtig in Haus und Stall, mit Allem zufrieden und darin ein zweiter Hans, überdies gewohnt, mit dem knappsten Verbrauch ausreichend zu kochen, that diese Magd zu Jakob's Erstaunen,kaum war sie ein paar Tage eingewöhnt, all'das als selbstverständlich, was er ihr mit Ach und Krach mühselig erst beizubringen gedacht hatte.Eine kurze Zeit hindurch hielt er es trotzdem für angebracht, sich ihr als Meister eindrücklich zu machen, und riß zu diesem Behuf irgend einen Vorwand vom Zaune, sie zu schelten und zu kuranzen. Aber damit hörte er bald auf. Denn Meili erzitterte vor keinem Meister. Die schaute Jakob bloß lachend oder erstaunt ins Gesicht,mit ihren hellen Augen, die Jeden durch und durch wärmten, und gab ihm, den sie ohnehin [175]4 nur als närrischen Kauz auffaßte, die nächstliegende Antwort, die ihn schlug. Kam er ihr aber mit knickerigen Vorschlägen, so erwiderte sie höchstens:„Ach was, Herr Haberist, man muß nicht so erpicht thun; wenn man es im Leben nur machen kann, sollte man fröhlich sein!“ und that ruhig vor seinen Augen so, wie sie es für recht hielt.Dann brümmelte er vor sich hin und ließ sie gewähren. Und es kam immer besser und besser.Die Brüder wußten nicht, wie ihnen geschah, daß das nun so friedsam weiterging. Keine Käther lauerte, keine Vrene schimpfte, die Knechte thaten ruhig und zufrieden ihre Arbeit, und in Küche und Kammer schallte Meili's heller Gesang. Dabei herrschte eine Sauberkeit, wie sie der Tanner seit Jahrzehnten nicht gekannt. Meili konnte im Gegensatz zu Käther gar nie genug Besen und Bürsten bekommen, sodaß nun Jakob seinerseits anfing, die neuen vorräthigen zu verstecken. Aber eines Tages hatte sie ihn auch dabei betroffen,wie sie ihn überall erwischte, und ihm zur Strafe solange einen schönen, neuen Stubenwischer abgeschwatzt, bis er ihr denselben mit den Worten vor die Füße warf: „Da! wenn du ihn doch schon gesehen hast.“ Ließ er sich's einfallen, trotz dieser guten

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Versorgung ab und zu noch eine seiner knauserigen,mißtrauischen Zänkereien zu versuchen, so setzte es statt des erwarteten Thränenregens bei Meili, jetzt das prachtvollste Donnerwetter für ihn ab, halb in ermahnender Güte, halb in gerechtem Zorn, daß den alten Krauter Scham und Entzücken peinigten.

Nach solchen Erlebnissen setzte er sich dann nachdenklich in eine Ecke oder stand, als hätte ihn ein Brett an den Kopf getroffen, eine ganze Weile auf demselben Fleck und murmelte: „Jaja,hehe, die hat mich wieder schön abgekanzelt.“Aber er zürnte ihr nicht, das war das Verhexte,gar nicht! beinah das Gegentheil! Und so verging wieder eine Woche, und wieder eine. Der tiefe Winter war gekommen, mit den kürzesten Tagen und den längsten Abenden, wo der Mensch häuslicher ist und wärmebedürftiger als sonst.Und Jakob Haberist war auch ein Mensch. Wenn er jetzt Meili ansah, ward ihm ganz kurios zu Muthe; er zählte sich bereits ihre Tugenden her.Sparsam war sie, unermüdlich fleißig war sie, an alles dachte sie, alles konnte sie, immer lustig war sie, so zutraulich war sie, alles war sie,das Tausendsgeschöpf! Und er kratzte sich nach einer alten Gewohnheit am Kopfe.

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„Hm, heirathen? Jetzt noch?“ Eine unbedingt vertrauenswürdige Person mußte er ja haben für sein Haus, da die Schwester todt war und David anhaltend und so sonderbar kränkelte. Eine abschlägige Antwort aber war von Meili nicht zu befürchten, wenn nur er Willens wäre, meinte Jakob. Wer es zeitlebens so schlecht gehabt hatte,wie die, konnte sich gar nicht erst besinnen, ob sie auf dem Tanner Frau werden wolle.

Des Abends pflegte Meili meist die Strümpfe der beiden Haberiste zu stopfen oder das Weißzeug zu flicken, und verlangte eines Tages dazu eine bessere Lampe, als die in der Küche war.Das bot Jakob einen erwünschten Vorwand, das Mädchen in der Stube am Tische arbeiten zu heißen. So profitirte er selber vom Lichte mit und war der aufkeimenden Eifersucht enthoben,von seiner finstern Ofenecke aus einsam zuhören zu müssen, wie die Knechte draußen mit der muntern Genossin ihre Späße trieben.

Aber die Qual war nicht geringer. die nun in der Stube drin für ihn anhob. Denn in seinem Innern kam Jakob um keinen Schritt weiter, je länger er auch über den großen Handel nachdachte.Eben weil es für ihn ein Handel blieb. Sein [139]Verstand ließ nicht ab, ihm vorzurechnen, wie sträflich und lächerlich es wäre, einen so unerhörten Streich wie diese späte Heirath zu begehen,wenn dabei nicht zehn gegen eins der größere Gewinn noch auf seine Seite falle; und das stand ihm keineswegs fest. Ja, wenn er die jungen,die guten Mannesjahre nicht verpaßt hätte, in denen man Zeit vor sich sah, das Gute vom Heirathen wenigstens noch lange zu nützen! Aber jetzt hehe, sich noch so was Geldfressendes wie eine Ehefrau aufzuhalsen, die alle Rechte, allen Antheil,alles Mitregieren beanspruchte, um dann am Ende doch als der bloße Narr seiner verspäteten Anwandlungen dazustehen!

Allein im traulichen Lampenschein ihm gegenüber saß das frische Geschöpf, statt des mürrischen Schweigens, das er sonst mit Dapid erlebte, tönte von ihrem heitern Munde allerlei Geplauder,und wenn er ein Stündchen las, so gab ihm schon die bloße Gegenwart Meili's, ihr stilles Athmen und Hantiren, eine vordem nie gekannte Ahnung, wie behaglich der Menschen Häuslichkeit sein könne.

So flog das Zünglein seiner schnöden Vortheilswage jeden Tag und jeden Abend hinüber [140]und herüber, ohne je auf der Heirathsseite mit erwünschter Deutlichkeit das Uebergewicht zu zeigen,und dieses Schwanken trieb Jakob zuletzt um,daß er nirgends mehr Ruhe fand.

David sah ihn von seiner Stube aus in der nächsten Zeit manchmal bei milden Mittagen lange draußen unter dem Dache an der Hauswand stehen, die Hände in den Hosentaschen, und mit offenem Munde in die Höhe starren, als wollte er Eiszapfen zählen, die an der Dachrinne hingen. Dann schritt er tiefsinnig gegen die Hausthüre, kehrte aber wieder um und blinzelte abermals lange in den Wintertag hinaus.

Dem alten Menschen schlichen jetzt andere Gedanken im Kopfe herum, da der Geiz ihm nicht zulassen wollte, seinem Leben die lockende Wendung zum Guten zu gönnen. Er mißtraute plötzlich grimmig den beiden Knechten, besonders aber dem Hans. Denn er sah, daß dieser dem Mädchen in einer Weise freiwillig in die Hand arbeitete, wie er es weder der Käther noch der Vrene je gethan; in der Küche aber war statt des bisherigen lauten, unbefangenen Draufloslachens jetzt meist nur so ein verdächtiges Gelispel zu hören. Jakob mißtraute sogar dem David, so [141] hinfällig der arme Tropf schon aussah, weil ihm Meili täglich ungeheißen Brustthee gegen seinen hartnäckigen Husten kochte und allerlei Mittel gegen seine Schwäche versuchte. Er belauerte das begehrte Wesen auf jedem seiner Gänge in Stall und Speicher, aller bisherigen Angst vor Erkältung zum Trotz, ja, er scheute auf einmal den weiten Weg zur Kirche nicht mehr, um Meili selbst in der Predigt nicht aus den Augen zu lassen. Und doch war das Pfarrdorf, zu dem der Finkengrund gehörte, über eine halbe Stunde vom Tanner entfernt. Es war ein höllischer Zustand.

Aber auch die stärkste Regung unterlag bei Jakob zuletzt der empordrängenden Berechnung.Und so beschäftigte selbst hier, wo ein Anderer der blinden Leidenschaft verfallen wäre, seinen Geist bald heftiger als alles Uebrige nur noch der Schaden, der ihm aus seinen Gelüsten erwachsen konnte, und er fing an, mit sich selber eindringliche Warngespräche zu halten.

Kamen solche unsaubere Geschichten von Höfen,wo keine Frau war, nicht regelmäßig ans Licht?Er erinnerte sich an die und jene. Da wollte dann so eine Person den Schuldigen tüchtig [] 142 schröpfen, weil er reich war, und erlangte sie nicht alles, was sie begehrte, so war sie womöglich schamlos genug, die Sache selber hintenherum an die große Glocke zu bringen. Oh! Ohl Ueberdies wußte er sich zur Zeit schon genügend im boshaften Gerede durch die unversöhnliche Käther.Denn es hätte sich keiner, dem sich im Laufe dieses Winters Gelegenheit dazu geboten, die Genugthuung versagt, Jakob von ihren Geschichtlein ein und anderes anzudeuten und sich an seinem schweren Aerger zu weiden. Nun noch etwas Derartiges dazu und um sein Ansehen würde es unwiederbringlich geschehen sein!Also zu Boden mit den verwünschten Versuchungen!Das war indessen leichter beschlossen als vollbracht. Denn das Mädchen stand und ging, regierte und lachte weiter im Hause herum, wie bisher, schien von allem nichts zu ahnen und machte dem Meister nur immer noch wärmer.

So mußte schließlich ein Anstoß von außen zur Nachhilfe ersonnen werden, um den sündlichen Zustand zu überwinden, und am wirksamsten dachte sich Jakob eine täglich neue, mit den leiblichen Augen zu sehende Vergegenwärtigung [143] der Gefahr, die seinem schwachen Fleische drohte.

Was er nur Geheimnißvolles treiben mochte,daß er sich jetzt stundenlang in die leere Stube neben derjenigen David's einschloß? Höchstens ein leises Rumoren vernahm Meili in der Küche,oder ein Geräusch, als rutschte der Meister auf dem Boden herum, und ganze Tage hinterher blieb die Stube dann abgeschlossen und trug Jakob den Schlüssel bei sich in der Tasche.

Eines Abends im Februar, als der Doktor im Schlitten angefahren kam, den David zu besuchen, war der Fahrweg zum Hofe herauf so mangelhaft beschneit, daß er schon unten auf der Straße aussteigen mußte. Ungehört näherte er sich dem Hause, und da ungewohnter Weise in der bewußten Stube Licht brannte, that er einen Blick durch den undicht verschlossenen Laden. Da entdeckte er den Meister am Boden sitzend, ganz versunken in den Anblick eines kleinen Parkes, den er aus Kinderspielfiguren, Bäumchen und Thieren vor sich aufgestellt hatte.

Das sei der Paradiesgarten, erfuhr er von David, der seinerseits das geheime Treiben längst durch das Schlüsselloch beobachtet hatte, und sei einer

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Weihnachtskrippe entnommen, die Jakob als Schulpfleger dies Jahr in Verwahrung bekommen habe.Den stelle er in der letzten Zeit häufig dadrüben auf, mit Adam und Eva unter einem Baume,was den Sündenfall vorstelle. Dann setze er sich davor hin und verharre lange in dem Anblicke.Und zwar thue er dies, wie David wisse, um sich sündhafte Gedanken aus dem Kopfe zu schlagen.„Denn“ fügte der Kranke hinzu, „unsere Meili wär' ihm die Ebenrechte. Allein, sich herbeizulassen ist sie zu brav, und zum Heirathen bringt es der Jakob nicht, weil ihn das Theilen reut.“

Die unbeständigen letzten Wintermonate brachte Meister Haberist vollständig im Hause zu,mied aber jetzt den Ofensitz, so oft des Abends Meili in der Stube nähte. Er opferte an solchen Tagen lieber ein zweites Licht und machte sich bis zum Schlafengehen mit irgendwelcher Verrichtung zu schaffen. In einer andern leerstehenden Stube zu ebener Erde hatte er sich eine Art Werkstätte eingerichtet, in der er durch eigenhändiges Ausbessern der landwirthschaftlichen Geräthe den Schmied und den Wagner zu sparen, und so einigermaßen wett zu machen suchte, was er aus Sorge um sein Befinden an der übrigen Winterarbeit ver[145]säumte. An einer Werkbank beim Fenster schärfte er da Tag um Tag unter großem Stöhnen Pflugschare, drechselte und hobelte neue Radspeichen und Schlittenbügel zum Ersatz für schadhaft gewordene, machte den Mistgabeln neue Stiele und ersetzte den Rechen die fehlenden Zähne. Dazwischen spähte er zur Unterhaltung ins Thälchen hinab, was etwa vorgehe. Wenn die Nußbäume draußen winterkahl standen, deren weithinragendes Laubdach im Sommer den Blick begrenzte,so übersah man vom Tanner aus frei die ganze Thalmitte, vom runden Hügel des Finkenbühls zunächst drunten, bis hinüber zu den Dorfhäusern und der Landstraße. Außerdem verbrachte Jakob einen Teil der Zeit mit Schreibereien für die Gemeinde. So zuwider ihm diese Arbeit war, weil sie nichts eintrug und die besten Stunden in Anspruch nahm, so wenig mochte er sie gleichwohl ablehnen. Denn im Festhalten kleiner freiwilliger Aemtchen erkannte er das unfehlbare Mittel, vor dem Volke eine geachtete Stellung zu behaupten. wie er auch nur deshalb bei verschiedenen Bezirksgesellschaften Mitglied war und seufzend die Beiträge zahlte. damit seine Bekanntschaft und häufige Berührung mit den Herren von Berneck

Siegfried, Gritli-Wohlthäter. 109 []ihm im Finkengrunde den Nimbus des überall herangezogenen Matadoren verleihen sollte.

In der That galt er bei den Bauern, so schlecht sie im Uebrigen von ihm denken und reden mochten, doch allgemein für einen, der es wenigstens hinter den Ohren hatte. Einem solchen aber durfte man ruhig so viel als möglich von den gemeindlichen Verwaltungsgeschäften anvertrauen;und mit dem perfiden Komplimente seiner besonderen Befähigung wurde ihm denn auch alljährlich die Last wieder aufgehalst.

Eines Abends im Anfange des Märzmonats,als draußen Thal und Halden vom Nachwinter noch einmal dicht verschneit und die Nußbäume silbern bereift waren, raspelte Haberist bei hereinbrechender Dämmerung noch emsig ein Wagenscheit mit einer Glasscherbe glatt, da bellte draußen der Hund und zog rasselnd die Kette unter dem Dache hin, nach der Richtung des Fahrweges zu.Jakob schob die Augengläser, die er zu seinem Verdruß jetzt schon bei jeder genaueren Arbeit nöthig hatte, die Nase abwärts und spähte darüber hinaus. Ein Herr in einem Pelzmantel stieg [147]gegen das Haus heran. Der war wohl auf den unrichtigen Weg gerathen? Doch der Fremde schritt, den Hund begütigend, ortskundig um die Ecke des Gartens zur Thüre her und klopfte kräftig mit dem eisernen Klopfer an.

„Donnerli, Donnerli, was mag der wollen?“murmelte Haberist und ließ sich von der Neugier treiben, selber zu öffnen.

„Ei schau, der Meister in Person!“ rief ihm der Ankömmling munter entgegen, „grüß dich Gott, Jakob, alter Kamerad! Ich glaube gar,du mußt erst näher zusehen, wer das sein möchte.“

„Der Gottlieb Steiner! jetzt mein' ich doch,ich sehe recht,“ antwortete Haberist, fast ehrerbietig,und wies dem so nobel Gekleideten den Weg.„Wie kommst du nur daher im tiefen Winter,aus deinem fernen Schweden?“

Der Andere legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Das erzähl' ich dir, wenn wir auf deiner Ofenbank sitzen. Und etwa einen Tropfen heimathlichen Apfelmostes wirst du mir dabei auch vorzusetzen haben?“

„Auf die Ofenbank willst du? da hinein?Ist mir aber doch gar nicht recht,“ wehrte Haberist ab. „Einen Augenblick meinetwegen, Gottlieb,

10*[148]einen Augenblick, dann gehen wir aber zusammen hinauf. Meilil“ rief er sodann ins Haus, drängte den Gast in die Stube und flüsterte der herbeieilenden Magd zu, daß sie schleunigst mit dem Schlüssel da die verschlossene Stube droben aufschließen, ein tüchtiges Feuer besorgen, die Betten und Sitzmöbel präsentabel machen und ihn rufen solle, sobald es anfange, warm zu werden.„Nimm Platz, nimm Platz,“ bat er Steiner,„ich hole schnell etwas zu trinken! Mit einem bewundernden Blick streifte er dabei den abgelegten Pelzmantel und verschwand, erschien aber sogleich wieder und stellte zwei geschliffene Gläser und eine blanke Karaffe auf den Tisch, die sonst in Jahr und Tag nicht zum Vorschein kamen.„Also Most, nicht wahr?“ betonte Steiner.Aber Jakob protestirte. „Behüt' mich Gott, ja wohl, dir werd' ich bloßen Most vorsetzen! Von meinem alten Yvorne sollst du einen Schluck versuchen!“ Allein der Andere bestand darauf,Most zu bekommen, und dieses billigen Ausweges froh, trotzdem ihn die Freudenstunde in aufrichtig freigebige Laune versetzte, holte Jakob gern genug aus dem besten Fasse. Inzwischen war auch der kranke David erschienen und trug seinerseits eine [149] blinkende Messinglampe herbei. Feierlich und mit einer Behutsamkeit, als brächte er den heiligen Gral zur Stelle, pflanzte er sie vor Steiner hin.Die hatte aber auch vor dieser Extragelegenheit noch niemals gebrannt, sondern war ebenfalls ein Stück, ausschließlich um besessen und eingeschlossen zu werden, wie alle die andern kostspieligen Dinge droben in der Stube.

Bald roch es denn auch, des mangelhaft getränkten Dochtes wegen, so festlich nach Petroleum,daß Jakob gewiß war, der reiche Aufwand könne dem Gaste nicht entgehen. David aber mußte darob so heftig husten, daß er sich wieder in seine Stube zurückzog, die ehemalige Stube Vrene's nebenan, in der er jetzt seine Tage verbrachte.Es ging zusehends bergab mit ihm, und der Doktor machte vor Jakob kein Hehl daraus,daß der Bruder den Sommer kaum erleben werde.Nachdem Haberist diese Neuigkeit und der Schwester Tod dem Heimgekehrten schnell als Erstes erzählt, kam er auf seine Frage zurück,was denn den Schweden so unverhofft in die Gegend bringe?

„Dableiben thu' ich, Freundchen“, erwiderte [150]dieser seelenvbergnügt, „dableiben, daheim, für immer!“Jakob sah ihn groß an. Also mußte der jetzt Geld ohne Ende haben! Die einfache goldene Nadel, die er in des Gastes Halsbinde entdeckte,erschien ihm schon wie eine Andeutung unerhörter Reichthümer.„Meinen Theil Arbeit erachte ich als gethan,“erklärte Steiner. „Ich gehöre nicht zu jenen Eseln, die nie genug bekommen können und mit dem Genießen dessen, was sie sich erworben haben,so lange warten, bis ihnen der Arzt neun Zehntel davon brauchen hilft. Es bot sich mir eine Gelegenheit, mein Geschäft befriedigend zu verkaufen;ich habe deinen Jahrgang, bin also meine glockengeschlagenen sechzig Jahre alt, da sagte ich mir,dürfe ich aufhören und schloß den Handel ab.Ueberdies ließ die Gesundheit meiner Frau in dem rauhen Klima seit letzter Zeit zu wünschen übrig.“

„Wo fehlt es deiner Frau?“

„Nun, schlimm ist es gottlob noch nicht. Nur mußte etwas geschehen; denn es sitzt auf der Lunge. Ein Sommer, an einem unserer Höhenkurorte zugebracht, kann nach dem Ausspruche des Arztes das Uebel heben.“

[151]

„Hm, hm! so so und Alles ist verkauft!“nickte Jakob vor sich hin. „Da wirst du schwer genug heimzubringen gehabt haben?“

„Ich bin zufrieden,“ sagte Steiner. „Ich suche mir jetzt mit Muße in Berneck ein Haus; denn ganz da draußen bei Euch, weißt du, hielte ich es doch nicht mehr aus. Auch leben noch so viele gute Kameraden aus unserer Bezirksschulzeit in der Stadt, sind da in Amt und Geschäften zu alten Tagen gekommen und haben mich herzlich willkommen geheißen, daß es mir zu Muth ist,als käme ich ganz in die alte Zeit zurück. Ich mache mir denn auch gleich die Freude und übergebe ihnen von meinem Erworbenen einen Theil für ihre gemeinnützigen Zwecke.“

UÜbergeben? Für ihre gemeinnützigen Zwecke?“rief Haberist. „Was du sagst! Das mag mir ein Brocken sein?“„Eine halbe Million,“ vertraute ihm Steiner an.

Jakob fiel beinah' vom Stuhl. „Eine halbe Million?“ schrie er. „Und das bei Lebzeiten?Bist du nicht bei Trost oder bist du ein zehnfacher Millionär?“.„Gradaus ein einfacher,“ antwortete Steiner schlicht. „Aber mir geht damit ein Traum in [] 152 Erfüllung. Durch Jahre hat mir die Aussicht auf eine solche dereinstige Stiftung die Mühen meines Geschäftslebens versüßt. Du weißt ja, was die Bernecker in meiner Jugend an mir gethan haben. Ihnen danke ich es, daß ich etwas Ordentliches lernen und werden konnte. Damals grub sich mir als Höchstes der Wunsch in die Seele, es soweit zu bringen, daß ich selber einmal Andern auch wieder so wohlzuthun vermöchte, wie man mir armem Landbüblein gethan hat. Und nun ließ das Glück mich dieses Ziel erreichen.“

Haberist saß mit offenem Munde da. „Ja aber warum willst du denn das Geld schon jetzt hergeben?“

„Aha, du meinst, ich könnte es ebensogut erst durch ein Testament vermachen? Gewiß! Aber ich möchte mich lieber noch selber mitfreuen an dem, was die Bernecker damit im Bezirke wieder Gutes wirken. Ich sehe ja jene wohlwollende Fürsorge, die ich ehedem selbst genossen habe, im heutigen Berneck aufs Schönste weitergepflegt und ausgebildet. Die mannigfachen Wohlfahrtseinrichtungen scheinen mir musterhaft; Herz und Kopf spricht daraus, wohin ich schaue. Da freut es mich doppelt, das Meinige beitragen zu können.[153]Mit dem Rest meines Vermögens aber lebe ich sammt meiner Frau, solange wir's treiben, hierzulande noch im Ueberfluß. Denn Kinder sind uns keine geschenkt, und wir selber sind einfach geblieben.“

„Und nach Euerm Tode?“ wollte Haberist auch noch wissen.

„Nach unserem Tode? Dann bekommt der Finkengrund das Seine! Am zehnten dieses Monats aber, auf den Tag, da ich vor fünfzig Jahren in Berneck zur Schule kam, laß' ich die Uebergabe der ersten Hälfte erfolgen. Wir selber sind bis dahin schon im Süden und bleiben dort bis zur wärmeren Jahreszeit. So entrinnen wir auch dem ersten Aufsehen und Dank“

Haberist war hin und her gerutscht und stand jetzt auf. Ihm fuhren Gedanken im Kopfe herum wie aufgescheuchte Wespen. „Eine Million bloß,und davon eine solche Schenkung? Wetter! Wetter!wie sollte man so was begreifen?“ Doch bald blinzelte er schlau vor sich hin. Der geheime Faden schien ihm gefunden. „Klug! ganz klug,Steiner's Rechnung! Dem war es darum zu thun, sich das Nest hübsch warm zu machen, in das er sich zu setzen vorhatte, und da lag der sichere Profit an persönlichem Wohlbehagen und [] 154 öffentlichem Ansehen bei dieser Stiftung ja auf der Hand! Aber wie fein er die Dinge anzustellen verstand, der alte Freund! Ja, ja, der hatte die Welt studirt, der“ Meili unterbrach des Meisters Betrachtungen, indem sie unter der Thüre meldete, daß es droben anfange, warm zu werden.

„Recht so, recht so, nun gehen wir hinauf!“sagte Jakob und lud seinen Gast ein, ihm zu folgen. Dieser, in der Hoffnung, dadurch dem Petroleumdunst zu entgehen, willigte ein, seinen guten Ofensitz zu verlassen. Aber er fand sich schlimm enttäuscht, als er sich in ein kaltes Möbelmagazin auf ein unbequemes, nagelneues Polstersopha versetzt sah, und die gleiche schöne Qualmspenderin wieder vor die Nase gesetzt bekam.Jakob ließ es sich auf diese unerhörten Enthüllungen hin nun durchaus nicht nehmen, doch eine Flasche von dem alten Yvorne heraufzuholen, und wenn Steiner auch noch jetzt dem Freunde nicht erlaubte, sie zu entkorken, so war der Sieg der Bewunderung über den Geiz in Jakob's Seele doch glänzend dargethan.

„Ja, ja, Gottlieb, du verstehst es, dich wohl [2] zu betten,“ fing er zuthulich an und gedachte dem Andern die Bestätigung herauszulocken, daß er seinem wahren Beweggrunde auf die Spur gekommen sei. „Die werden dir scherwenzeln in der Stadt, wenn du wiederkommst! Das wird ein Leben sein! Freilich schön, hehe, wenn man's vermag, sich so in Gunst zu setzen!“

Aber Steiner zeigte sich nicht angenehm berührt von dieser Auffassung. „Ei,“ gab er zurück, „wenn du diese Seite der Sache so hoch anschlägst, warum verschaffst du dir denn nicht die Gunst der Welt?Schenke du auch! Du mußt das doch so gut wie ich oder noch besser vermögen!“

„Ja ja jetzt wollen wir aber lieber aufhören!“ wehrte Haberist erschrocken ab. Er griff ganz ängstlich an seinem polirten Stuhle herum,schenkte schnell Most ein, trotzdem beide Gläser noch fast voll standen, und versuchte auf alle Weise abzuschweifen.

Doch Steiner ließ nicht mehr los. Er schob das Getränke beiseite und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Potz Himmel! man sollte doch meinen, ich schöͤsse wunder wie daneben. Die Schwester hast du schon beerbt, den Dapid, sagst du ja selber, werdest du bald genug ebenfalls

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überleben, und was im Tanner etwa beisammenliegt, das weiß man doch! Also?“

Jakob ward lederfahl. „Ja ernstlich, Steiner,ernstlich, laß mich zufrieden! Ich weiß gar nicht,was antworten, wenn du solch' ein Aufhebens machst. Du hast doch, so lange du uns kennst,gesehen, wie wir mit unsrer Arbeit zusammenhalten mußten, was wir von Vaterszeit her übernommen haben, und wenn man dabei auch in guten Jahren ein Weniges beiseite bringen konnte,ja mein Gott! so muß man das für die alten Tage rechnen. Die Krankheitszeiten stellen sich früh genug bei uns ein!“

Steiner lachte ihn aus und klopfte sich vielsagend auf die Hosentasche. „O Schläuling! wenn du nur einsehen wolltest, wie du mit deinem Heimlichthun und Verleugnen dir den unrechten Finger verbindest! Was hat man denn davon,seine Geldhaufen gut verwaäahrt zu wissen? Ich habe die Welt gesehen und das Leben ein paar Jahrzehnte lang aufmerksam betrachtet und weiß jetzt, so gewiß als du und ich Zwei sind, daß zu viel Geld das gottverfluchteste Hinderniß ist, glücklich zu sein.“ Jakob räusperte sich; allein Steiner ließ sich nicht unterbrechen. „Es ist so!“ sagte er.[157]„Je mehr der Mensch zusammenbringt, desto blinder wird er für das, was er sich damit wahrhaft Gutes verschaffen könnte. Denn nun setzt sich Jeder ängstlich auf dies Allzuviele, der eine aus mißverstandener Gewissenhaftigkeit, der andere aus purer, schmutziger Freude am Geld. Beide müssen es hüten, verwalten, tausenderlei Verpflichtungen und Betteleien in Erwägung ziehen, und was mir das Aergste scheint: Jahr und Tag das ekelhafte Schauspiel ertragen, daß kein Mensch sich so gegen sie zeigt, wie er es ohne ihr Geld thäte.Sogar die Wohlgesinnten unterlassen ihnen gegenüber manche Freundlichkeit, die sie Andern unbedenklich erweisen würden, aus lauter Scheu vor dem beleidigenden Mißtrauen, das allen Allzureichen in Folge ihrer beständigen gemeinen Erfahrungen naheliegt.“

Haberist verhielt sich regungslos; er starrte nur mit dummem Blinzeln sein Mostglas an,was Steiner verrieth, wie unbequem er dem Heimlichfetten redete. Das reizte ihn vollends,Jakob's hartes Fell weiter zu gerben.

„Es ist ja auch Keinem ganz wohl,“ behauptete er, „der spürt, daß er zuviel Geld besitzt.Zwar sucht Jeder dies Unbehagen zu verbergen [15] und sich selber darüber zu täuschen; deswegen ist es aber doch so! Denn oben, wo er sich gerne geachtet sehen möchte, läßt man ihn fühlen, daß er angesichts seiner bevorzugten Umstände mehr thun könnte, als er thut. Und unten grinst ihm ohnehin von allen Gesichtern die Zumuthung entgegen, es sollte ihm bei seinen Mitteln einfallen,nachzuhelfen. Diese Mittell überall und immer seine Mittel, die jeder beliebige Kerl schweigend oder laut in Betracht zu ziehen sich erlaubt. Ist das ein Leben? Darum sieh: eine Handbewegung und man ist von alldem befreit!“

Haberist blickte auf.

„Hier!“ bedeutete ihm Steiner, „die Handbewegung heißt: geben! Geben, so viel als man überhaupt entbehren kann.“

„Ja, hehe, du sprichst eben von deinem besonderen Fall!“ versuchte nun Jakob doch einzuwenden, dem es immer weniger geheuer wurde,je überzeugender auf seine eigenen Verhältnisse paßte, was der Freund redete.

Aber Steiner winkte ab. „Was ich sage, gilt für alle Reichen. Ob mit einer Million oder mit fünfzigen, ob ledig oder verheirathet. Wer vom Gelde nicht lassen kann, der hält dem Glück die

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Thüre verriegelt. Hat Einer Kinder, so ist es das Natürliche, daß er seinen Ueberfluß denen gibt.Da mir keine bescheert sind, ist mir die alte Heimath das Nächste.“„Den Kindern geben, sagst du den Kindern?“rief Haberist und schüttelte den Kopf. „Hab' immer von meinem Vater sagen hören, das thue gar nie gut, wenn man ihnen zu früh hinauszahle. Selber wehren und strecken sollten sie sich, wie die Alten es auch gemußt!“

„So? hat er gesagt? Und das schwätzest du nach? Schau, das sind auch noch solche veraltete Härten hierzulande! Mag seine Richtigkeit haben,wenn die Jungen Leichtsinn zeigen oder Arbeitsscheu. Sind sie aber wohlgerathen und haben aus ihrem Leben etwas Rechtes gemacht, so sollte der Alte sich weiß Gott freuen, wenn sein Erworbenes ihn in den Stand setzt, den Kindern noch bei ihren guten Jahren die gemeinen Sorgen des Lebens aus dem Wege zu räumen. Ist das nicht das einzig Natürliche gegenüber seinem eigenen Fleisch und Blut?“

Haberist zog die Achseln in die Höhe. Was für Ansichten! Welche Hiebe auf alles, was er zeitlebens in solchen Fragen gedacht und gethan hatte![160]„Oder kennst du etwas Erbärmlicheres,“ fragte ihn Steiner, „als einen alten Kerl, der auf seinen Säcken sitzt und zusieht, wie sein Nachwuchs sich behilft und plagt, bis der rohe Zufall seines früheren oder späteren Todes austheilt, was er vorenthält? Ist das etwa ein angenehmes Bewußtsein, daß so und so Viele sich auf unser Ende freuen? Pfui Teufel! Solche Stellung zum Gelde ist nur ein schamloses Geständniß von Dummheit! Versetze dich dagegen an meine Stelle. Ich darf jetzt wenigstens jedem anständigen Menschen ins Gesicht schauen, ohne den heillosen Hintergedanken: was erwartet der von dir? Uebrigens“ Steiner erhob sich und machte eine Bewequng des Frierens „nimm es mir nicht übel, aber hier zieht es mir schon die ganze Zeit gottserbärmlich an den Rücken; es muß irgendwo eine Scheibe zerbrochen sein! Und überhaupt welche Zeit ist denn? Die Uhr an der Wand hier scheint nicht zu gehen, sie zeigt erst halb Zwei.“

„Nein! hehe, gehen thut die heute nicht,“ gab Haberist zu, „ich benütze eben im Winter dieses Zimmer nicht jeden Tag.“ Er nöthigte Steiner jetzt auch nicht mehr allzu dringlich zum Bleiben,als dieser hinzufügte, er dürfe sein Gefährt nicht [161]bis in die finstere Nacht im Wirthshaus unten warten lassen. Denn Jakob sah nicht ab, wie die Fortsetzung dieses Gespräches noch für ihn ausfallen mochte. Dagegen ließ er sich von dem alten Freunde versprechen, daß er nach der Rückkehr im Frühjahr, und bevor er abermals mit seiner Frau zur Sommerkur verreise, auf dem Tanner wieder einkehren wolle, und rief darauf den Hans herbei, daß er den Herrn mit einer Laterne zum „Bären“ hinab geleite.

Ein Stachel saß in Jakob Haberist's Fleisch seit diesem Abend.

„Was mit dem Meister nur los ist?“ fragten die Knechte in den folgenden Tagen. Man hätte glauben können, die weiße Märzensonne treibe ihn plötzlich heraus, die den kalten Dunstkreis endlich durchbrochen hatte, daß er jetzt überall stand oder um die Ecke kam, wo man ihn nicht vermuthete, und aller Enden etwas zu kommandiren fand. Er wies ihnen Arbeiten an, die bereits gethan waren, fragte nach Sachen, die ihm vor der Nase lagen und von selbst Antwort gaben;es war, als redete er, so oft er auf jemand

Siegfried, Gritli-Wohlthäter. 11 [162]stieß, wie ein auf Heimlichkeiten Ertappter das erste, beste Zeug daher, bloß um zu reden. Dazwischen traf Meili ihn drinnen wieder Zahlen auf die Schreibtafel notirend, die er eilig mit dem Aermel auswischte, sobald sie eintrat oder David heranhustete.

Am nächsten Sonntag war eine gemeindliche Angelegenheit zu ordnen, und Haberist mußte ins Dorf hinab. Trotz der eingetretenen Wärme zog er zu diesem Gange noch ängstlich zwei Röcke übereinander an; denn im Schulhause, wo die Sitzungen stattfanden, war es ihm nie warm genug. Nach Erledigung der Amtsgeschäfte aber fürchtete er heute von den andern Gemeinderäthen zu einem Glase Wein in den Bären mitgeführt zu werden, und dort traf man meist eine überheizte Stube. Seit dem Herbst war Jakob um die unnöthige Ausgabe dieses Morgentrunkes immer glücklich herumgekommen, zuerst durch Vrene's Tod, dann durch die Rücksicht auf seine Gesundheit entschuldigt; jetzt aber mußte er sich seinen Kollegen wieder einmal anschließen, so große Ueberwindung ihn das kostete.

Im Wirthshause ärgerte er sich ja immer,auch wenn es ihm gelang, die längste Sitzung [1633] mit einem einzigen, oder höchstens anderthalb Schöppchen zu bestehen. Denn ihn wurmte auch dasjenige Geld, welches die Andern verthaten, und wenn er etwa gar einen, der ihm zinspflichtig war, eine Cigarre rauchen sah, während er, der Geldherr, höchstens einmal ein schlechtes Pfeifchen stopfte, so kam er vollends um sein Behagen.„So, so? eben, eben, das sollte man vermögenl“pflegte er dann zu sagen und dem Großthuer bedeutungsvoll auf sein Stummelchen zu blinzeln.

Die Nöthigung zum Mitgehen blieb denn heute auch nicht aus, und Jakob betrat an der Seite des Gemeindeammannes die Wirthsstube, als eben der alte Briefträger vom Finkengrund den Gästen mit aufgeregter Wichtigkeit die Sonntagsnummer des Bernecker Tageblattes vorwies. Die enthielt die öffentliche Bekanntmachung der Schenkung Gottlieb Steiner's.

„Was? Was ist los?“ tönte es von allen Tischen. „Eine halbe Million gestiftet?“

„Ihr hört es ja!“ rief der Briefträger.

„Eine halbe Million? den Berneckern? Und uns?“ forschte der Ammann.

„Dem Finkengrund später!“ „Ruhe! Still!Hört doch zu!“*1

[164]

Die Gemeinderäthe, die Wirthsleute, die Gäste,alles drängte sich heran, und Meister Haberist sah sich, er wußte nicht wie, auf einmal hinter einem Tisch auf der Wandbank zwischen den aufgeregten Menschen eingekeilt. Einer wurde geheißen, laut vorzulesen, was in der Zeitung stand,und gespannt lauschte Alles der erstaunlichen Mittheilung. Eine Weile hatte die Vorlesung schon gedauert, als ein Anderer, der den Jakob in seiner Ecke beobachtet hatte, dem Lesenden etwas ins Ohr raunte, worauf dieser mit arglistigem Lächeln begann, das Weitere nach der Richtung hin vorzutragen, wo Haberist saß. Doch war der Zuhörerkreis viel zu sehr von dem, was er erfuhr,im Banne gehalten, als daß die immer deutlichere Betonung nach jener Seite hin vorerst mehr Wirkung hervorrief, als ein vereinzeltes Lachen oder ein aufreizendes Hüsteln. Nach und nach jedoch begriffen immer mehrere, wo der Spaß hinaus wollte, und eine muthwillige Laune steckte die ganze Gesellschaft an.

Das großartige Kapital so schloß die Schenkungsanzeige sei der Gesellschaft für gemeinnützige Unternehmungen im Bezirk Berneck zu völlig freier Verfügung überlassen worden. Den [166]einzigen Wunsch habe der hochherzige Spender beigefügt: daß jederzeit die Bedürfnisse seiner Heimathgemeinde Finkengrund, die er erst bei seinem Tode mit einem eigenen Kapital ausstatten könne, von den Herren zu Berneck besonders berücksichtigt werden möchten.

„Hoch! Hoch! Steiner hoch!“ riefen Alle, als der Vorleser geendet hatte, und jubelnd wurde auf das Wohl des großmüthigen Heimgekehrten getrunken.„Ja, Leute,“ sprach der Ammann mit erhobenem Glase, „daran erkennen wir, daß unser trefflicher Gemeindegenosse ein echter Schweizer geblieben ist, daß er den Einzelnen nur schätzt nach dem,was er für die Gesammtheit thut.“

„Ganz richtig!“ stimmte der Gemeindeschreiber ein und winkte der Wirthin, daß sie ihm den zu Hause acht Kinder zur Suppe herbeisehnten, den Schoppen zum dritten Male fülle. „Ganz richtig! und sehet, ihr Mannen, wenn es jeder,der es vermöchte, so machen wollte wie unser Steiner, in jeder Gemeinde, durchs ganze Land,dann wäre die soziale Frage mit einem Schlage gelöst, und die ganze Welt könnte bei uns in die Lehre gehen!“[166]„Bravo, Gemeindeschreiber, bravol“ schrien alle diejenigen, die sich nicht im genannten Falle wußten, und nun ließen sie das Vaterland hochleben, und aufs Neue wurde begeistert mit den Gläsern angestoßen.

Bis hieher hatte auch Jakob mitgethan, das heißt, er hatte so viel als möglich den holzfarbenen Schmetterling gespielt, aber so oft es wieder unumgänglich geboten schien, mit angestoßen, genickt und gezwinkert, als freute auch er sich mächtig über die Generosität seines lieben Jugendfreundes.

Allein nun begannen die Reden auf einmal anzüglich zu werden.„Es sei ja nicht so weit bis zum Nächsten, der es auch könnte, wenn er nur wollte.“ spöttelte als erster der Schmied-Uli, der alte Neidhammel,der Schulter an Schulter neben Jakob saß dabei aber unverfänglich nach der entgegengesetzten Seite schaute und dorthinaus redete. Einige fingen sogleich verständnißinnig an zu lachen.Jakob machte sich noch holzfarbiger und stellte sich übelhörig; doch bald flogen Redensarten ohne Ende über den Tisch.

„Da müßte man freilich mit den Fingern auch [67] auswãrts zu zählen verstehen, und Etliche könntens halt nur einwärts!“

„Es sei eben nicht Jeder von Giebenach!“

„Oder von Gebikon!“

„Lieber von Rapsigen!“

„Oder von Jemehrjelieberigen!“

Und auf jeden dieser abgebrauchten Witze wurde das Gelächter allgemeiner. Trotzdem gelang es Jakob immer noch, sich durch angestrengtes Gespräch mit seinem anderen Nebenmanne unbetheiligt zu erhalten. Aber aus der Bank zu entkommen vermochte er nicht; absichtlich hatte man ihn noch solider eingeklemmt.

Da rief ihn irgend jemand aus dem Hintergrunde direkt an: „Was meint denn Ihr dazu,Herr Haberist?“

„Ja der!“ warf alsbald höhnisch ein Anderer ein, ein etwas verkommener Finkengründler, der seit langem in der Stadt als Schneidergeselle arbeitete und in dieser Vormittagsstunde schon merklich zu viel getrunken hatte.

„Bscht! halt du dein Maul, Schneider!“ fielen dem nun doch etliche Bauern ins Wort.

„Ich bin ein freier Schweizer und rede wie ich will!“ schrie der ruppige Kumpan zurück.[168]Dann zeigte er geradeaus mit dem Finger auf Jakob. „Das weiß doch Jeder, daß der Herr Gemeinderath da nichts geben kann, wenn er nicht einmal vermag, die Milch zu trinken, wie sie die Kuh giebt. Jede Nacht schöpft er ja den Rahm davon weg und trägt ihn heimlich ins Butterfaß! Hähä!“Manche lachten jetzt laut, Einige drohten.

„Was?“ wandte sich der Schneider gegen diese,„lacht Ihr Euch nicht selber den Buckel voll über die Geschichtlein, die Euch sein altes Liebchen, die Käther, erzählt? Und jetzt thut Ihr so?O Jakobli!“ lallte er, „wenn du wissen willst,wie sie von dir reden, wenn du nicht da sitzest,so laß nur einmal von Thür zu Thür fragen,was es von dir heißt! Vom ersten Hause bis nach Berneck hinein wirst du von jedem Kinde den Bescheid hören: daß den reichen Geizhals auf dem Tanner noch der Teufel hole!“

Jetzt wurde der freche Geselle unter wirrem Lärm an die Luft gesetzt. Aber geschehen blieb geschehen. Alle hatten es gehört, und Jeder freute sich unbändig, wenn auch die Besseren nicht unterließen, über den unverschämten Lumpen zu schimpfen. Jakob's feiner Spürnase entging die wahre [169]Stimmung nicht. Er erhob sich ohne ein Wort,und begehrte hinter dem Tische hervorgelassen zu werden.

Im nächsten Augenblick sah man ihn draußen auf der Straße gehen.

Zu Hause angelangt, warf er, der sonst so ängstlich seine Kleider schonte, die beiden Röcke auf die Fensterbank, als wollte er mit diesen Hüllen auch alles in den Winkel schmeißen, was er darin erlebt hatte, und zog sich sofort in die Schlafstube zurück. Ihm war vollständig übel vor Zorn.So also stand er angeschrieben? Derart hatte die Satanskäther ihn aufgemalt, daß in der Stunde,da das ganze Thal von Stolz und Lob über den einen Reichen aus dem Finkengrunde hallte, eine ganze Wirthsstube voll Gäste mit ihm, dem andern Reichsten, wie mit einem fratzenhaften Gegenbilde den boshaftesten Jux zu treiben sich herausnahmen! Hatte nicht der Bärenwirth selbst und der Ammann, die beide sonst den schuldigen Respekt vor ihm noch nie vergessen, in der Schänke drauhen mit einander über das Vorgefallene gelacht,daß sie sich die Seiten halten mußten? Jakob hatte das beim Verlassen des Hauses just entdeckt,als Fritz Gyger unverhofft jene Thür aufgestoßen.

[170]

Meili rief den heimgekehrten Meister zum Mittagessen. Aber er vermochte kaum einen Bissen hinunter zu bringen. Eine unbeschreibliche Verwirrung marterte ihn. Zu den Gedanken, die ihn seit Steiner's Besuch ohnehin umtrieben, wie eine Henne, die nicht weiß, wohin ein Ei legen, nun auch noch dieser Fauststoß von außen! Er mußte ungestört die schreckliche Lage überdenken können;am Besten eingeschlossen, in der oberen Stube.Darum schickte er gleich nach Tische Meili fort,ihre Eltern zu besuchen, und gab den Knechten freien Sonntag; der Bruder David lag zu Bette.

Tiefe Stille herrschte nun im Hause. Droben aber ging Jakob mit erregten Schritten auf und ab, so gut es die vielen Ecken der Möbel zuließen,und starrte auf den Boden. Einmal ums andere strich er sich über den Kopf, wie einer, dem über Nacht Haus und Hof im Blitzstrahl abbrannte.„Jakob Haberist im Tanner das allgemeine Gespött? Sein Traum, sein Ehrgeiz, seine Schwäche waren von je gewesen: um seines Geldes willen sich weit und breit bewundert zu sehen, und nun diese Entdeckung des schmachvollsten Gegentheils! Dieser Ruf im Lande, daß ihn seines Geizes wegen noch der Teufel holen werde!“

[171]

Keine lebenswerthe Stunde mehr sah er vor sich, bevor er nicht einen Gegenstreich geführt hätte,der die neidische Welt zwang, beschämt zu erklären,wie schwer sie sich geirrt. Hatte die Küther ihn zum höllenwürdigen Geizhalse gestempelt, so mußte eine unerhörte Widerlegung ihm den Triumph verschaffen, öffentlich im ganzen Kantone das Gegentheil verkündet zu hören. Koste es jetzt, was es wolle.

Er nahm schonend auf dem Sopha Platz, auf dem am vorigen Montag Gottlieb Steiner gesessen hatte. Des Freundes Ideen, die ihm schon die ganze Woche seine Ruhe raubten, begannen für ihn die Bedeutung von Offenbarungen anzunehmen.Den Eindruck jenes Besuches war er keine Stunde mehr losgeworden, er hatte Tag um Tag dem Gehörten nachsinnen müssen; allein ohne Ergebniß. Denn seine Natur wehrte sich mit unerschöpflichen Spitzfindigkeiten gegen die Befolgung solcher freigebiger Theorien. Einmal fühlte er Verpflichtungen gegen die Mitmenschen, wie Steiner sie dozirte, durchaus nicht, und dann blieb ihm, all' der angehörten Weisheit zum Trotz, das Geld im Kasten nach wie vor tausendmal lieber,als der Anblick der segensreichsten Wirkungen, wenn es verschenkt war.

[172]

Zu dieser Stunde lag die Sache plötzlich anders.Auf das schreckliche Erlebniß vom Morgen hin war er zu jedem Opfer entschlossen, um seinen heißbegehrten Ruhm zu erzwingen, und so vermochte er seine starren Geldideen endlich doch in die neuen Weiten hinausspazieren zu lassen, von denen des Freundes Hand ihm die Schranken weggezogen hatte.

Eine Stunde später war Jakob nach schwerem Gedankenkampfe überzeugt, daß zur Erreichung seines Zieles nichts anderes übrig bleibe, als das Steiner'sche Rezept einer Schenkung bei Lebzeiten nachzuahmen und zu überbieten. Eine noch erstaunlichere Bombe mußte in die Welt geschleudert werden! eine noch viel erstaunlichere! Das war es! Die stampfte dann mit einem Schlage das schändliche Gerede in Grund und Boden hinein.

Er erhob sich vom Sopha, blieb aber wieder stehen. Der Aerger, die Kränkung zerfraßen seine Seele noch immer derart, daß er sich die Rache,den vernichtenden Schlag ins Gesicht der frechen Lacher gar nicht grell genug vorstellen konnte, der Lacher, und der Erfinder jener abscheulichen Redensart, an die er gar nicht mehr denken durfte,wenn er nicht wieder um alle ruhige Überlegung [173] kommen sollte. Und ruhige Ueberlegung brauchte er. Denn nun hieß es rechnen. Sobald Jakob übrigens Zahlen dachte, wurde er, selbst aus der größten Erregung heraus, bald ruhig. So auch jetzt.Er schlurfte durch die Stube, bewegte zählend die dünnen Lippen und strich, wie um das Spintisiren anzuregen, immerfort mit der einen Hand über die andere hin, dicht vor den Augen. Manchmal rechnete er auch mit aufgehobenen Fingern in der Luft.

Geld, Hypotheken-Guthaben, zinstragende Liegenschaften und den Hof zusammengerechnet, stand er noch um eine Kleinigkeit reicher da als Steiner.David, der einzige, auf den er Bedacht zu nehmen hatte, war am Auslöschen, und für sich allein brauchte er wenig. Des Könnens wegen, hehe,vermochte er also, wenn es ihm nur beliebte, den Steiner noch gut zu übertrumpfen!

Und da er einmal den ungeheuern Gedanken zu fassen vermochte, Geld auszugeben, so erwachte,so spät es war, auch in ihm noch der phantastische Geist der Finkengründler.

Er stellte eine bestimmte Summe auf und begann mit dieser seine Luftschlösser zu bauen.Steiner hatte eine halbe Million gegeben, der

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Mehrbetrag seiner eigenen Schenkung mußte also mindestens weitere Fünfzigtausend aufweisen. Doch nach einigem Besinnen kam es ihm vor, das sei als Zahl nicht rund, nicht überwältigend genug.Er blieb einige Zeit vor der Wanduhr stehen, die noch immer halb zwei Uhr zeigte, und rechnete.Dann sagte er: sechsmalhunderttausend.

Damit war ein unabsehbarer Spielraum zum Ausgestalten seines Triumphes geschaffen. Er verließ die Oberstube erst, als er die heimkehrenden Dienstboten nach dem Meister fragen hörte, und seine Stimmung war jetzt so verwandelt,daß, wenn ihm einer der Hallunken von heute Morgen begegnet wäre, er ihn mit überlegener Verachtung betrachtet haben würde.

Von da ab gewannen die Phantasieen von Tag zu Tag bestimmtere Umrisse. Als Art der Stiftung konnte für Haberist von vornherein nur eine solche in Frage kommen, die eine laute und andauernde Lobpreisung seiner Munificenz darstellte. Bis zum April war er soweit im Klaren, daß es ein Bau werden mußte. Der konnte glücklicher Einfall! auf den Finkenbühl gestellt werden, gerade dort unten hin, wo er ihn, so lange er lebte, jede Stunde vor Augen behielt. Irgend ein Anstalts[175] gebäude! Recht groß und weitläufigl! Was darin geschah, welcherlei Zwecken es diente, ob der Versorgung von Alten oder Kindern, von Kranken nein, nur keine Kranken! oder von Armen,Verwahrlosten, jugendlichen Thunichtguten, das war vorläufig Nebensache. Hauptsache blieb: ein Bauwerk, vor dem die Leute die Mäuler offenstehen ließen, so oft sie es erblickten, mitten im grünen Thal. So schlich denn Jakob bei hereinbrechendem Dunkel allabendlich ein wenig auf dem Hügel umher und maß verstohlen das Terrain ab, in die Länge, in die Breite. Tagsüber ersann er anhand der gewonnenen Anhaltspunkte dem Zukunftsgebäude die genauere Form. Das Ergebniß ließ ihn schmunzeln. Wenn er es in einen Mittelbau und zwei schräg angesetzte Flügel gliederte, konnte die Hauptfront fünfundzwanzig Meter bekommen, jeder Flügel zwanzig; der offene Hof mußte gegen das Dorf hin schauen, dann übersah jeder, der das Thal durchschritt, die ganze,zusammengerechnete Größe auf einmal!

Eines Tages fiel Jakob ein Ausspruch des Gemeindeammannes wieder ein, den dieser vor mehreren Jahren einmal in einer Schulsitzung gethan hatte, und damit war die Ungewißheit über die

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Bestimmung des Gebäudes zu Ende. „Derjenige könnte Herrgott im Bezirke heißen,“ hatte der Ammann gesagt, „der es bei der Regierung zu Stande brächte, daß einmal eine Erziehungsanstalt für die vielen begabten Kinder der armen Landbevölkerung im Umkreise gegründet würde.“

Also damit konnte Jakob mitten ins Ziel treffen! Und „Herrgott im Bezirk!“ Wie ihm das nur nicht gleich eingefallen war!

Inzwischen brachte die Zeitung unaufhörlich Notizen über die Art und Weise, wie die Berneck er das Steiner'sche Kapital verwendeten, und Jakob fraß diese Nachrichten förmlich in sich hinein. Er erfuhr, daß die längst nöthig gewesene Vergrößerung des städtischen Krankenhauses jetzt vorgenommen werden könne; dann, daß eine herrliche Hochalp in Unterwalden auf vorläufig fünfzehn Jahre gepachtet worden sei und dort eine Sommerstation für erholungsbedürftige Kinder erstehe.Die Schulbibliothek durfte auf die doppelte, die Volksbibliothek auf die vierfache Bändezahl bereichert werden. Und nie fehlte am Schluß dieser Berichte ein neues Wort des Dankes und der allgemeinen Verehrung für den Geber, was Haberist am meisten dran aufregte und zur möglichst [177]eiligen Förderung seiner eigenen Pläne anspornte.Sein Bau wurde also ein Erziehungshaus für Landkinder, deren Eltern Erleichterung und Unterstützung bedurften. Diese Bestimmung war auch ganz nach Jakob's Geschmack. In einer solchen Anstalt konnte er doch nach Herzenslust ein bischen mitregieren und mitzüchtigen. Kinder, die durfte er noch nach seinem Kopfe zwingen, die mußten thun, wie er wollte, kurzweg, sonst bläute er es ihnen sicherlich ein. Aber nur begabte Kinder wollte er haben, meinetwegen ungezogene, ja selbst solche, die schon ein bischen verwahrlost waren, nur keine dummen! Etwas werden mußte aus ihnen, etwas lernen, etwas leisten mußten siel Man sollte sagen, wenn sie dann ins Leben hinausgingen: „Tausendsappermost!Seht, das ist halt wieder Einer aus Haberist's Anstalt auf dem Finkenbühl! Jaja, der Haberist,das ist ein Mann, das ist ein Wohlthäter im Lande, der und der Steinerl!“

Mitten im emsigen Ausgestalten der einzelnen Bestimmungen wurde Jakob durch David's Tod überrascht. Der arme Bruder, der vom Leben so lange nur die Mühen gekannt, nur schinden

Siegfried, Gritli-Wohlthäter. 12 [] 178 und sparen geholfen hatte, war gerade aufgebraucht gewesen, als mit der Veränderung des weiblichen Regimentes im Hause endlich bessere Zeiten anbrachen.

Käther benützte das Begräbniß, um ungefährdet wieder einmal auf dem Tanner herumzuschnuppern und hinterher ein paar neue Bosheiten auszustreuen, Meili aber, die sich vom Mitleid mit dem pflegebedürftigen Meistersbruder hatte bewegen lassen, solange zu schweigen, eröffnete Jakob jetzt: daß sie und der Hans seit Lichtmeß einig seien, und daß ein alter, gebrechlich gewordener Vetter ihnen inzwischen angetragen habe, sein Anwesen zu führen. Meister Haberist möge sie also beide auf Jakobi in Frieden ziehen lassen.„Ein schöner Dreck mitten in der Milchl“ dachte Haberist. So waren die Zweie also miteinander bereits im Reinen gewesen, als er selber noch an Meili gedacht, und alle seine peinlichen Ueberwindungsnöthe hatte er ganz umsonst durchgefochten!

Indessen ließ er mit keinem Blick seinen Aerger sehen, noch sagte er dem Mädchen ein gereiztes Wort. Seine Gewohnheit war, vorn sachte zu [179]thun, wenn er auch hinten die Faust nicht auseinander brachte. Dann wurde wenigstens die Stimmung gegen ihn nicht verdorben, wo die Sache schon verloren war.

Aber je länger er die bevorstehende Veränderung überdachte, desto verwünschter sah er sich in der Tinte, und wie viele „Himmel! Himmell“ ihm hinter der geschlossenen Thüre entfuhren, wußten nur die Wände.

Den Hof allein zu führen, wenn Hans und Meili gingen, ganz einsam im Hause sitzen zu bleiben und mit so und so vielen neuen Gesichtern, die ihm in alle Winkel schielten, von vorn anzufangen, das nein das lud er sich nicht mehr aufl Nach einigen gestörten Nächten wußte er andern Rath. Er wollte lieber den Hof verpachten, eine Weile zusehen, wie es ging, und wenn es sich nach Wunsch machte, ihn verkaufen. Dann würde er in die Anstalt hinunterziehen und dort inmitten der Bewohlthateten ein hochgeehrtes Dasein führen, als Stifter, Erbauer, Geldzahler,Ehrengast, Respektsperson, ja als oberster Wille und sozusagen Regent.

Unter diesem neuen Gesichtspunkte zog er alle ausgeheckten Paragraphen in bbermoalige [180]Erwägung und formulirte sie nun so, wie es ihm D Vom frühen Morgen bis zum späten Abend wurde aufs Genaueste eine Hausordnung festgestellt, und von den sieben Thürmchen, die zu diesem Zwecke, wie auch zur Erhöhung des äußeren Glanzes, dem Gebäude vom Gründer aufgesetzt waren, sollten Glockenzeichen zu aller und jeder Verrichtung erschallen. Zum Aufstehen, zur Andacht, zum Frühstück, zum Unterricht, zur Erholungsstunde, zum Heimrufen von der Feldarbeit, zum Alarm bei drohender Feuersgefahr, zum Schlafengehen. Kurz, es stand zuletzt ein so bewegtes und klangreiches Betriebswesen entworfen, daß nicht nur die Insassen des zukünftigen Finkenbühlhauses den ganzen Tag in Athem erhalten blieben, sondern auch die boshafte Bewohnerschaft des Thales den Ruhm des großartigen Stifters hinlänglich um die Ohren geläutet bekam.

Eine wahre Wonne bereitete Jakob das Ersinnen besonderer Strafen für die verschiedenen denkbaren Vergehen der Zöglinge. Vom bloßen Verweis, Nasenstüber, einfachen Klaps, oder Streich mit dem Lineal auf die Finger, bis zu den verschärftesten Züchtigungen, Peinigungen, combinirten [] 181 Arresten und Hungerkuren. Für Vergeuden zum Beispiel das Empfindlichste! Im Felde mit dem ersten besten Heugabelstiel so viel aufgemessen,als der Sünder abwartete, im Hause, wo er nicht entfliehen konnte, mit dem Haselstock statutengemäß vorgeschriebene Portionen.

Je mehr sich sodann Jakob beim Lesen der immer noch fortdauernden Zeitungsmeldungen aus Berneck über das freie Schalten und Walten der dortigen Herren mit der halben Million aufregte, desto ängstlicher wurde er darauf bedacht,in seinem Falle die Verwendung des Geldes bis ins Kleinste peinlich genau vorherzubestimmen.Er machte deshalb zu den ohnehin schon endlos ausgeklügelten Finanzvorschriften immer noch neue Zusätze, bis schließlich auf vielen Kanzleibogen, wie er sie sonst für seine gemeindlichen Schriftstücke benützte, eine umfangreiche Stiftungsurkunde zusammengeschrieben lag. Da hetzte ihn ein letzter Zeitungsartikel, seine Bombe zu werfen.

In diesem Aufsatze erschien übersichtlich zusammengestellt, was nunmehr Alles durch die Hochherzigkeit Gottlieb Steiner's hatte geschaffen werden können, und das Gesammte wurde ein unvergängliches Denkmal edeln Bürgersinnes ge[182] nannt. Daran schloß sich eine Betrachtung der Persönlichkeit des weltgewanderten Mannes, und es war gezeigt, wie Eigenart und Lebensgang ihn eng mit andern Söhnen seines entlegenen Heimaththälchens verknüpften, die schon früher die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen und die Verehrung ihrer Mitbürger gewonnen hätten.Herr Samuel Spechti und etliche Weitere standen mit Namen aufgeführt, des erfinderischen Eschberger war gedacht, dessen Ideen, von Späteren ausgestaltet und verwirklicht, dem Verkehr seitdem ungeahnte neue Mittel geliefert hätten, und zum Schluß wurde die Ueberzeugung ausgesprochen,daß aus diesem eigenthümlich veranlagten, thatfreudigen, und hauptsächlich für die Interessen der Gemeinschaft mit so ungewöhnlich einsichtigem Sinne ausgestatteten Völklein sicherlich auch in der Zukunft wieder Männer hervortreten würden,die, wie Steiner, die alte Ehre ihres Thales erneuerten und dem Bernecker Bezirk, ja, dem ganzen Kantone zur Ehre gereichten.

Das ließ Jakob nicht mehr ruhen.

Zwei Tage danach, am Freitag, lief beim Vorstand der Gesellschaft für gemeinnützige Zwecke ein vielfach versiegeltes Schreiben ein, in welchem

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Herr Jakob Haberist auf dem „Tanner“ im Finkengrunde die Schenkung des so und so großen Grundstückes Finkenbühl anzeigte, Erbauung und Betrieb einer in den wesentlichsten Zügen beschriebenen Erziehungsanstalt auf ebendiesem Grundstücke wünschte, und zu diesem Zweck ein Kapital von rund sechsmalhunderttausend Franken zur Verfügung stellte.

Wer sich beglückter die Hände rieb, ob der Stadtpräsident von Berneck, der jene schönen Schlußworte über die Steiner'sche Stiftung in die Zeitung geschrieben hatte und nun seine Hoffnung so uüberraschend schnell und großartig erfüllt sah, oder Jakob, als er am Samstag Morgen urbi et orbi die ungeheure Neuigkeit verkündigt erblickte, war schwer zu sagen. Endlich, endlich schwarz auf weiß jene erträumten Worte seinem Namen zuerkannt: hochsinnig! menschenfreundlich! ja,nun stand sogar da: „splendid!“

Den ganzen Samstag ging er herum, als wäre Feiertag, und ließ das Tagblatt auf allen Tischen liegen, in der Hoffnung, Hans oder Meili würden hineinsehen. Aber die hatten, da Haberist nirgends mit angriff, heute keine Zeit dazu, und ins Dorf hinab kam zufällig auch Keines, die Kunde [184] von der unglaublichen That des Meisters dort aufzufangen. Am Nachmittag schwankte Jakob,ob er nicht unter irgendeinem Vorwande selber hinunter gehen wollte. Doch weit dankbarer noch,rechnete er sich aus, müsse das Einheimsen der Bewunderung morgen ausfallen, wenn der Sonntag den Leuten völlige Muße zum Schwaätzen und Wirthshauslaufen lasse und er unverhofft unter den beim Weine Versammelten erscheine. Darum geduldete er sich, erst dann seinen Triumph zu holen und aus ihrer Beschämung und Verdutztheit so recht Rache zu trinken für die in derselben Stube erlittene Unbill.

Mit warmer Maienpracht ging der Sonntagmorgen über dem Thälchen auf. Von den waldigen Bergrücken im Osten fielen tiefe, köstliche Schatten in die thauigen Halden herab und auf die friedlichen Höfe, von denen silberner Herdrauch still in die klare Luft emporstieg, die weite, feiertägliche Geruhsamkeit anmuthig belebend. Jakob saß auf der Bank vor dem Hause unter den aufgrünenden Nußbäumen, als die Kirchenglocken fernherüber zu klingen begannen, und etwas wie Beschaulichkeit, wenigstens auf seine Weise, wollte bei ihm einkehren, während er seine Augen so um [185]und um gehen ließ. Unter ihm prangte jungfräuülich der blumige Rücken des Finkenbühls inmitten des tiefgrünen Grundes. Wenn nun über Jahr und Tag dadrauf der weiße Bau erglänzte, von seinen Thürmchen die blanken Blechhüte weithin glitzerten, und die hellen Glöcklein ihre wichtigen Zeichen gaben, wenn statt des verspotteten Geizhalses, der bisher da oben gesessen, ein als reicher Stifter berühmter Jakob Haberist dort unten umher wandelte und die Hüte ordentlich von allen Köpfen flogen, wo immer er sich zeigte, mußte das ein Leben sein!

Der Hund unterbrach mit Knurren und Bellen die Visionen seines Herrn. Von unten tönten Schritte. Jakob reckte sich und spähte aus seinem Baumschatten auf die sonnige Straße hinab.Herren, zwei, drei, fünf, sechs, bogen eben in seinen Fahrweg ein und stiegen gegen das Haus heran.Jakob fuhr ein freudiger Schreck durch den Leib.Den Hintersten hatte er erkannt: es war der Stadtpräsident von Berneck, der auch den ersten Posten bei der beschenkten Gesellschaft bekleidete. Also wohl eine Danksagungs-Deputation?

„Still, Barryl Kusch! Hans, sperr' mir den Hund in die Scheune!“[]ä 34 Der Meister lief hinter dem Knechte her.„Schaff' mit Meili ein halb Dutzend Stühle von droben herunter! Flink damit in die untere Stube!Donnerli, Donnerli, ihrer so Viele haben ja droben nicht Platzl Und auch den polirten Tisch, Hans,den schönen Tisch!“

Eine Viertelstunde später tagte im Tanner eine Sitzung, wie der Hof etwas so Ehrenvolles noch nicht gesehen. In den gleichen alten Wänden,die jahrzehntelang nur die schmutzigen Würgereien und Ränke ausgepichter Geizhälse mitangehört hatten, eine feierliche Dankerstattung, dargebracht von einer ansehnlichen Gruppe ernsthafter und festtäglich gekleideter Männer, das war ein Vorgang,von dem Jakob mit gierigen Augen und Ohren jede Minute, jede Sekunde berauscht genoß, den aber die horchenden Dienstboten vor den offenen Fenstern draußen noch kaum dem Sinne nach zu fassen vermochten. Hörten sie mit gesundem Verstande? War ihr Meister ein Narr geworden, oder wurden diese sechs Herren zum Narren gehalten? Viele Hunderttausende hatten also die Geschwister Haberist besessen und sich dabei zu Gerippen geschunden? Und diese Reichthümer verschenkte der Jakob jetzt?“

Nachdem verschiedene Reden gehalten worden [187]waren, erschien der Meister mit geröthetem Gesicht in der Küche, rief nach Meili, die sich flink wie der Wind von den Horchenden wegstahl, und hieß sie Wein auftragen, von seiner nobeln Sorte und im besten Glasgeschirr, dazu Schinken, Käse und Brot. Bald ging er selber um den Tisch herum,einzuschenken, zur stillen Belustigung der beobachtenden Gäste den Daumen behutsam ganz oben am Flaschenhalse, wie alle allzu Sparsamen thun,die das Verlorengehen eines Tröpfleins erbeben machen würde. Den Bernecker Herren schmeckte der Trunk gewaltig, und nach dem weiten Morgenspaziergange, den sie bereits hinter sich hatten,sprachen sie auch dem Imbiß so kräftig zu, daß nach dem Anstoßen auf das beiderseitige Wohl das Gespräch auf eine Weile stockte.

Bei Jakob aber trat plötzlich ein seltsamer Rückschlag ein. Mitten in der höchsten Genugthuung packte ihn eine Angst, als habe er in schlafwandelndem Zustand etwas verheißen,wofür ihn diese schwarzen Männer da zu dieser Stunde und an diesem Tische nun beim Worte nähmen, das aber von so ungeheuern Folgen sei,daß er sie gar nicht zu tragen vermöge. Der Anstaltspalast, den er noch eben vorhin in der [188] einsamen Morgenstille so freudig im Geiste bestaunt hatte, wuchs zu schreckhaften Riesendimensionen an,und er, Jakob Haberist, mußte sie bezahlen! Seine ganze Kleinlichkeit kehrte zurück, jagte ihm blitzartig tausend Befürchtungen und Zweifel durch den Kopf.Er entgegnete auf die freundlichen Anreden, die zwischen dem Essen heraus nun wieder begannen,auf einmal ganz sonderbar kleinlaut, und als der Präsident ihn in aller Arglosigkeit nach der ungefähren Größe des in Aussicht genommenen Gebäudes fragte, antwortete er mißtrauisch und empfindlich: „ach so, hehe, Ihr habt wohl gar schon den Architekten mitgebracht?“

Aber das diskrete Abbrechen der Kommissionsherren und ihre respektvoll abwartende Haltung,als sie ihn mit der näheren Auskunft so zurückhalten sahen, gaben ihm nach und nach seine Sicherheit wieder zurück. Er ging neuerdings um den Tisch, die Gläser voll zu schenken, und über dem vielen Bescheidtrinken machte sich sachte die Wirkung des ungewohnten vormittäglichen Weingenusses bei ihm bemerkbar. Seine Stimmung schlug wieder zum Guten um, und er begehrte die Wonnen der denkwürdigen Gelegenheit nunmehr bis zum Grunde auszukosten. Also begann er auf einmal [189]selber den Schleier von den Geheimnissen seiner Stiftungsurkunde wegzuziehen und holte, im Bedürfniß, sich auch um seiner Erfindungskünste und organisatorischen Fähigkeiten willen bewundern zu lassen, den ganzen Papierstoß herbei. Allein damit glitt der erste Schatten über den Festglanz.Denn gleich die erste Eröffnung, daß der Stifter persönlich in die Anstalt zu ziehen gedenke, erzeugte bei den Herren von Berneck ein verwunderliches Schweigen, und je weiter Jakob fortfuhr, von seinen Paragraphen vorzulesen, umso unbegreiflicher blieb der erwartete Beifall aus. Als er aber gar den Passus vortrug, wonach er selber sich bei der Leitung der Anstalt nützlich zu machen bereit sei,und dem Direktor oder Hausvater wolle wachen helfen, daß Alles genau nach seinem, des Stifters,Sinn durchgeführt werde, da unterbrach ihn der Präsident. „Mein werther Herr Haberist,“ warf er ein, „ich glaube, über die Statuten werden wir am Ersprießlichsten im Laufe der kommenden Woche in einer besonderen Sitzung berathen, wenn es Ihnen recht ist. Der heutige Tag hingegen soll ausschließlich der Freude und unserem Dank für Ihre Hochherzigkeit gelten. Wir haben uns daher erlaubt, in Ihrem weithin renommirten Wirths[]18*V hause zum Bären im Dorf drunten ein kleines Mittagsmahl zu bestellen und möchten Sie dazu jetzt freundlich in unsere Mitte bitten.“

„Hehe, eigentlich wäre hier schon für meinen Mittagstisch gesorgt,“ versuchte der Ueberraschte entgegenzuhalten und kratzte sich verdutzt hinterm Ohr. Aber der Präsident ließ dies nicht als Grund zu einer Absage gelten, sondern bat, von den übrigen Herren verbindlich unterstützt, entschieden um die Ehre, und so schritt Meister Haberist,nachdem er seinen besten Rock hervorgesucht und über den Arm gelegt hatte, halb beglückt, halb widerwillig, bald in der stattlichen Eskorte der Stadtherren von seinem Hofe nieder.

Wenn er nur gewußt hätte, wie das mit diesem Mittagessen im Bären zu verstehen sei?Aber die Herren ließen ihm keine Zeit zum Grübeln.Der Finkenbühl, den man betrat, erweckte als Bauplatz Bewunderung, und Jakob's Idee einer erweiterten Hufeisenform für das Gebäude wurde vortrefflich befunden. Das that ihm so wohl, und nicht weniger das respektvolle Fragen nach den übrigen Grundstücken und Lehengütchen, die zum Tanner gehörten, daß er trotz aller vorsichtigen Hintergedanken den Bitten nicht widerstand, die [191]Zeit bis zu Tische mit der Besichtigung dieses Gesammtbesitzes auszufüllen. Wenn auch im Einzelnen zuerst immer zögernd, erklärte er doch voll befriedigter Eitelkeit den Herren zuletzt alles,was sie zu wissen wünschten, und weidete sich am Anblick ihres verstohlenen Nickens, das mit unverkennbarer Deutlichkeit sagte: „potz Tausend ja,dieser Haberist, der hat's!“

Je mehr man sich indessen der Thalmitte und der Essenszeit näherte, desto stärker kam in dem güterreichen Herrn Ehrengast das Mißbehagen über die unklare Situation wieder obenauf. Und als man aus dem letzten Feldwege auf die Landstraße hinaustrat, von wo es direkt dem Wirthshause zuging, da hielt es ihn nicht länger. Er blieb mit demjenigen der Herren, der ihm am längsten bekannt und am wenigsten einschüchternd war, etwas zurück, nahm ihn am Aermel und fragte lispelnd: „Nicht wahr, Herr Vorstand, hehe, was jetzt kommt, geht aber nicht aus dem geschenkten Geld?“ Der Gefragte sah ihn groß an,dann gab er ihm lachend die heilige Versicherung,daß davon gar nie die Frage gewesen sei, worauf Jakob, wie verwandelt, an der Spitze des hungrigen Trüppleins tapfer dem Gastmahle zusteuerte.

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„Saure Wochen, frohe Feste“ diesmal ging es umgekehrt. Denn die Sitzungen, die auf diesen Sonntag hin fast Tag um Tag in Berneck sich folgten, brachten dem phantasievollen Paragraphenmanne ebensoviele kalte Güsse, als sie für die Kommissionsherren zu harten Geduldsproben wurden. Der glorreiche Stifter, im Wahne, nun ebenso glorreich befehlen zu können,und von kindischer Ungeduld verzehrt, seinen Ruhm in Stein erstehen zu sehen, stellte unsinnige Forderungen. Ohne Säumen wollte er auf dem Finkenbühl die Erdarbeiten beginnen lassen,wenngleich zu den Fundamenten noch kein Strich gezeichnet war. Weil er selber seinen Palast fertig im Kopfe trug, glaubte er, könnten die Herren auch die Pläne dazu über Nacht beschaffen. Unter allen Umständen aber beharrte er auf der Bedingung, daß der Rohbau in diesem Sommer noch erstehen und im Herbste der Tannenbaum auf dem Dachstuhl prangen müsse. Die Herren beriethen sich mit dem Stadtarchitekten, ob das denkbar sei. Wenn man sich schnell auf einen der Entwürfe einige, zu denen innerhalb einer [] 193 Woche wenigstens Skizzen und annähernde Berechnungen versprochen wurden, wenn ferner der ganze Bau in Ziegelstein aufgeführt und alle Beschleunigungsmittel in Anspruch genommen werden dürften, dann ja, lautete der Bescheid.Man hielt sich, bei dieser knappen Frist, für die Eintheilung möglichst an vorhandene, bewährte Vorbilder, berücksichtigte nach Vermessung des Terrains immerhin Haberist's Idee einer dreitheiligen Gliederung und erreichte so auch in der That von ihm mit merkwürdig wenigen Einwänden die Zustimmung zu demjenigen Projekte,welches die Kommission als das beste bezeichnete.Weil Haberist von Architektur nichts verstand,gefiel ihm jeder der Entwürfe; denn auf jedem bot die ausgedehnte Gebäulichkeit einen gleich imposanten Anblick dar. Was für ihn aber doch den Ausschlag gab, war der Umstand, daß auf dem gewählten Plane drei Thürme beibehalten waren, während die andern Gestaltungen von seinen gewünschten sieben Stück nur noch den Hauptthurm in der Mitte aufwiesen. Zu diesen dreien dachte er die vier übrigen während der Bauzeit dann schon wieder hinzu zu schmuggeln.Aber nun war erst die Hälfte der großen Siegfried, Gritli-Wohlthäter. 18

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Sache eingefädelt. Denn über die Bedingungen,unter denen die ganze Stiftung von den Bernecker Herren überhaupt erst angetreten und der Betrieb der Anstalt übernommen werden konnte,gelang es in dieser Zeit um keinen Schritt weiter zu kommen. Mit der größten Zuvorkommenheit hatten die Herren alles geprüft, was an Wünschen und Weisungen in Haberist's Urkunde stand, jedoch alsbald gesehen, daß das lauter unbrauchbares Tüpfelwerk sei. Noch ließen sie sich indessen selbst von mancherlei offenkundigen Schäbigkeiten und Bosheiten darin nicht verstimmen; die Schenkung als Ganzes schien ihnen gleichwohl hohen Respekt zu verdienen, und ein bischen Narrheit war man ja in allem gewohnt, was dieser Finkengründler Herrenbauer that.

Der Präsident eröffnete also in höflicher Form dem verehrten Herrn Stifter, daß seine Aufzeichnungen leider zur Grundlage der künftigen Hausgesetze nicht dienen könnten, und daß eine persönliche Mitdirektion, wie sie in den vorliegenden Akten gewünscht werde, schon grundsätzlich unzulässig sei. Vielmehr müsse, bevor die Gesellschaft sich zur Uebernahme eines Institutes dieser Art bereit erklären könne, Alles klar, und zwar aus[195]schließlich nach dessen inneren Bedürfnissen angeordnet und statutenmäßig festgestellt werden,und sei dies einmal, beiden Theilen zur Befriedigung, geschehen und unterzeichnet, so laufe die Sache nach diesen Bestimmungen wie nach festen Gesetzen, und der Stifter könne alsdann so wenig mehr nach persönlichem Willen regieren, wie ein Monarch in einem konstitutionellen Staate.

Aber damit kam man bei Jakob schön an.„So? Er gründete die Anstalt, er bezahlte sie aus seinem Gelde, er sicherte den Betrieb, dann dachte man ihm das Weitere hübsch aus den Händen zu winden, und er durfte zuschauen, wie es Andern in seiner Schöpfung zu schalten beliebte? Er sollte wohl gar noch mitgehorchen,wenn er hinein zöge? Jawohll hehe!“

Also unternahm er mit seiner ganzen Schlauheit, und vorerst auch noch mit seiner bescheidenen Glätte, die Vertheidigung seiner Forderungen.Hartnäckig wich er um keines Haares Breite von den wesentlichsten Paragraphen zurück, versuchte bloß durch andere Fassung von Nebensachen den Schein der Nachgiebigkeit zu erwecken und ließ die Herren stundenlang Zeit verlieren. Vergeblich suchten sie ihm klar zu machen, wie sehr er [] 198 durch die sonderbaren Klauseln seine Wohlthat entwerthe. Seine Repliken wurden höchstens bissig, und es entwischten ihm etliche seiner altgewohnten, mißtrauischen und verletzenden Unterstellungen. So nahmen die Verhandlungen allmälig den widerlichen Charakter von Zänkereien an, und es kam ein Punkt, auf dem die Herren plötzlich genug davon hatten und sich ernstlich fragten, ob die Stiftung nicht rundweg zurückzuweisen sei. Für den Augenblick jedenfalls verlangten sie eine Unterbrechung der Zusammenkünfte. Es wurde Herrn Haberist eine Andeutung gemacht, welche ernste Möglichkeit jetzt berathen werde. und man überließ ihn eine Weile sich selber.

Doch der Stadtpräsident flickte die Sache wieder.Ein lebenskluger, überschauender Kopf, voll echten Wohlwollens, das ihn jedes Ding erst von allen Seiten betrachten ließ, ehe er es verwarf, überdies durch seine mannigfachen öffentlichen Geschäfte gewohnt, mit allerlei seltsamen Käuzen fertig zu werden, mahnte er seine erbosten Kollegen an das schöne Wort Gottfried Keller's: daß doch jedes Unwesen noch mit einem goldenen Bändchen an die Menschlichkeit gebunden sei. So auch hier. Und wenn sie diesem Haberist selber nichts Besseres mehr [197]zutrauten, so liege es doch in ihrer Hand, aus dem Wust der Beweggründe und Absichten dieses absonderlichen Wohlthäters ihrerseits mit Ausdauer das goldene Bändchen zu weben. So brächten sie das alte, schöne Wunder zustande: daß manchmal die krasseste menschliche Thorheit, die gar keiner reinen Absicht fähig ist, wider Willen dennoch einen reinen und guten Zweck fördert. Das wirkte,und im Ausblick auf die ungeheure Wohlthat,die sie den kleinen Märtyrern ländlicher Armuth eroberten, willigten die Herren in die Fortsetzung der Arbeit.

Aber nun kam auch Meister Jakob vollständig verwandelt zurück. Die Angst vor der entsetzlichen Schmach, mit seiner Anstalt heimgeschickt zu werden, hatte ihn in diesen Tagen der Ungewißheit bis zur Unterwürfigkeit mürbe gemacht. Noch ehe der Präsident ihm die beschlossene Bedingung mittheilte: daß die Kommission nunmehr volle Freiheit verlange, die Statuten nach ihrer eigenen Erfahrung aufzustellen, bat er selber darum. Das Gewünschte geschah, und Jakob erwies sich in der Genehmigung des Ganzen jetzt ebenso gefügig,wie er zuvor in jedem einzelnen Punkte halsstarrig geblieben war. Heilfroh, daß die Sache [198] nur soweit sei, kehrte er von der letzten Sitzung heim, und der Bau konnte endlich beginnen.Das gab ein Leben im Thal! Man kannte den stillen Finkengrund kaum wieder. Ganze Schaaren von sonngebräunten, hageren Italienern parlirten am Tage und sangen am Abend fremdländisches Zeug, wo bisher kaum je ein anderer Laut,als der Dialekt der Bernecker Gegend ertönt war.Da so selten gebaut wurde, hatte man am Orte selber nur für die Erdarbeiten eine Anzahl Leute gefunden, Maurer dagegen fast keine. Bei der vorgeschriebenen äußersten Eile hatte der Architekt es auch für unmöglich erklärt, die paar kleinen,mangelhaft eingerichteten Finkengründler Handwerker, die nur wenige Gesellen beschäftigen konnten,mit großen Lieferungen zu betrauen. Hiedurch entstand statt des Rühmens und Preisens über den großen Verdienst, den Haberist ursprünglich ins Thal zu bringen gerechnet hatte, und der allein schon einen mächtigen Umschlag der Stimmung zu seinen Gunsten hätte bewirken sollen, von Anfang an eitel unzufriedenes Gebrumm. Die fremde Bande trug nur Unruhe in das gewohnte, geordnete Leben, erwies sich als so sparsam und bedürfnißlos, daß nicht einmal mit ihrer Beköstigung

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Namhaftes zu verdienen war, und da der Bauführer überdies noch eine Baracke aufschlagen ließ,so fiel bei einer großen Zahl selbst die Miethe für Schlafstellen weg, auf die zum mindesten die Leute im Dorfe gerechnet hatten.Angesichts dieser Umstände beschlossen jene Gemeindegenossen, die im Falle waren, Fuhrdienste zu übernehmen, dem Haberist den Tribut auf eine andere Art abzuknöpfen, und schlugen in mannhafter Einigkeit das, was ihnen anderswo entging, bei ihren Fuhrlöhnen drauf. Denn diese Arbeit wußten sie sich gesichert. Haberist durfte nicht wagen, auch hiezu Hülfe von auswärts zu holen. Darum so und so viel für den Tag, und so und so manches Mal fuhren sie! Davon ließ Keiner einen Batzen ab. Jakob versuchte in eigener Person, jedem Einzelnen vorzustellen, daß diese Ansätze nicht annehmbar seien. Aber er sprach zu unerbittlichen Verschworenen. „Das füngt gut anl!“ rechnete er sich aus. „Fuhren braucht man vom ersten bis zum letzten Tage, und jede Fuhre so und so viel zu theuer!“ Er bestürmte den Bauführer, daß dieser mit seiner fachmännischen Autorität die Uebervortheilung unterdrücke.„Erlauben Sie, daß ich die Kerle sammt und [200] sonders zum Teufel schicke und in Berneck einen ständigen Fuhrdienst nach festem Vertrag einrichte?“ fragte der kategorisch. Aber da fiel dem Geprellten die Gefährdung seines Hauptzweckes schwer auf die Seele. Er würgte den schwarzen Aerger hinunter, fand eine ausweichende Antwort und ließ das Unumgängliche zahlen.

So fing es an, so ging es weiter. Wie mit den Fuhrlöhnen, so mit dem Sand, mit dem Kalk.Die Gemeinde besaß die Gruben und wollte von dem Bau auch das Ihrige profitiren. „Gottlob,“seufzte Jakob, „daß wenigstens nur die Bernecker Ziegel brennen!“ Denn diese berücksichtigten in nobler Weise das gute Werk, während die Finkengründler bei Allem nur den reichen Haberist im Auge behielten.

Von dem Zeitpunkt an, da sich die Fundamentmauern über den Erdboden erhoben, begannen an jedem Sonntage Landleute und Spaziergänger aus der Stadt in Menge sich auf dem Finkenbühl einzufinden und das Entstehen des merkwürdigen Gebäudes zu verfolgen. Von den Plänen erzählte man sich unglaubliche Dinge. Kam der Stifter selber an solch einem Sonntag gegen Abend ins Wirthshaus, wo jetzt stets Stuben und Laube,[201]Kegelbahn und Gartenplätzchen von Berneckern mit Weib und Kind, und von hemdärmeligen Bauern in fröhlichem Gemisch besetzt waren, so konnte er sich an der allgemeinen Aufmerksamkeit laben, die sich ihm sogleich zuwandte. Die Finkengründler bezeichneten ihn den von auswärts Gekommenen als eben Den, diese betrachteten ihn mit Interesse, zogen ungesäumt die Hüte, machten wohl gar Platz, wenn er zu schwanken schien, wohin er sich setzen sollte, und ließen ihn, je nachdem er ihnen schon bekannt oder noch unbekannt war,laute oder schüchternere Worte der Anerkennung und der Bewunderung hören. Je aufregender die Werktage, desto erquickender wurden für Jakob nun diese sonntäglichen Angelpartieen nach dem Lobe der fremden Besucher. Denn von seinen Gemeindegenossen bekam er hartnäckig kein einziges gradheraus gesprochenes Wort zu hören. Nur seine Schuldenbäuerlein hatten nicht verfehlt, an die Entdeckung, wie reich er sei, die dringliche Bitte um Herabsetzung ihrer hohen Zinsen zu knüpfen. Das hartnäckige Schweigen der Andern aber wunderte ihn nicht. Er war sicher, daß sie sich alle im Stillen geschlagen fühlten und ihre starre Bewunderung bloß bockig unterdrückten.[] 202 Das war nun einmal hierzulande so die Art.Man that sich nur ja den Gefallen nicht. Er kannte das. Er war selber Einer von ihnen.

Allein ganz so verhielt es sich doch nicht. Vielmehr wartete Jeder am Orte mißtrauisch das Ende des unerhörten Abenteuers ab. Jahrzehnte lang hatte man sozusagen den Geizteufel in Person auf dem Giebel des Tanners thronen und seinen Schwanz über das Dach herabhängen sehen,und nun sollte man an eine plötzliche Sinneswandlung Jakob's glauben? Der Kuckuck mochte wissen, was dahinter steckte, und ob nicht zum Schluß irgend ein schlauer Haken hervorschauen würde. Vorschnell ist ohnehin nicht Bauernart;die Finkengründler vollends hielten aufs Schweigen, bis jegliche Sache ihre Zeit erlebte. Daß dessenungeachtet der Eine und Andere sich bereits heimlich beeilt hatte, eines oder gar zwei seiner Kinder bei den Herren in Berneck zur Aufnahme in die zukünftige Erziehungsanstalt vormerken zu lassen, davon sagten sie freilich auch nichts.[] 203 Zu Jakobi fand auf dem Tanner der große Wechsel statt. Ein junges Paar aus einer Nachbargemeinde zog in das Nebenhaus auf und übernahm den Betrieb der Landwirthschaft in Pacht.Meili und Hans begannen frohgemuth an der gegenüberliegenden Berghalde, auf zwanzig Minuten Entfernung, ihren Hausstand. Bei Jakob führte die Wirthschaft eine ältere Person aus dem Dorfe, die ehemals in der Stadt gedient, dann bei einem Unfall ein Bein verloren hatte, und sich seitdem ärmlich mit Aushelfen durchbrachte.

Auf diese Weise stand dem Bauherrn fortan sein ganzer Tag zur Verfügung. Denn auch seine Aemtchen hatte Jakob, sobald er die Bewilligung der Gemeinde zum Bauen in den Händen gehalten, unter dem Vorwande niedergelegt, für die nächste Zeit allzusehr in Anspruch genommen zu sein.

Von früh bis spät stöberte er jetzt zwischen den wachsenden Mauern herum, guckte jedem Mörtelbuben in seinen Rückenkübel, ob er auch genug aufgeladen habe, steckte die Nase überall hinzu,wo abgeladene Ziegel gezählt wurden, und kam kaum zu Athem, wenn mehrere Fuhren gleichzeitig anlangten. Er gerieth außer sich, wenn trotz aller [204] pfiffigen Verhinderungsversuche die einheimischen Arbeiter, sobald sie ihn nicht in der Nähe glaubten, mit dem Anstecken eines Pfeifchens die Zeit versäumten, und entdeckte er eine weggelegte Maurerkelle, so ließ es ihm keine Ruhe, bis er den dazu gehörigen Maurer ausfindig gemacht und dem Grunde seiner Entfernung nachgespürt hatte.Von Woche zu Woche ward Jakob dies ohnmächtige Anschauen des hundertfältigen, unvermeidlichen Unfuges sämmtlicher Bauhandwerker ein ärgeres Martyrium. Denn wenn er auch die erstaunliche Summe zu schenken vermocht hatte, so war deswegen in seinem Wesen doch nicht die geringste Aenderung eingetreten, und ihm blieb nach wie vor kein Tüpfelchen zu gering, als daß er nicht das Bedürfniß gefühlt hätte, daran eine Verschwendung zu verhüten oder ein Vortheilchen zu erlisten.Durch sein aufsässiges Wesen wurden indessen nicht nur die Arbeiter nachgerade verdrießlich,sondern auch Paliere und Bauführer begannen zu murren und klagten beim Architekten, wie unleidlich sie dadurch aufgehalten würden. Aber auch diesen Herrn hatte Haberist mit seinen ewigen Einfällen und Anliegen, die jedesmal neue Berech[205] nungen fertig gezeichneter Theile nöthig machten,bereits um alle gute Laune gebracht. Und so besprach der Architekt seinerseits sich wieder mit den Herren der Kommission.

Man berieth hin und her. Ließ man Haberist so draufloswirthschaften, so gab das zuletzt eine Abrechnung, welche die vereinbarte Bausumme weit überstieg und zu bedenklichen neuen Streitigkeiten führen konnte. Andererseits sah man ein,wie tief das Dreinreden diesem seltsamen Bauherrn nun einmal Bedürfniß sei, und wie das Gewährenlassen das einzige Mittel bilde, ihn dauernd gutgestimmt und opferwillig zu erhalten. Das aber schien für alle Fälle rathsam. Denn Angesichts der Größe, die die Anstalt bekam, erschien die Schenkung nur gerade eben ausreichend. Viermalhunderttausend blieben als Betriebskapital am Zins stehen, mit dem Rest mußten Gebäude und Einrichtung bestritten werden. Außerdem gab der Architekt zu, daß Haberist's Anordnungen nie etwas Wesentliches am Bauplane veränderten, sondern lediglich Nebensachen, vermeintliche Verschönerungen und dergleichen, beträfen. Und so beschloß man, den Stifter ausdrücklich auf die Tragweite seines vielen Eingreifens aufmerksam zu machen,[]

200 dann aber, wenn er trotzdem fortfahre, ihn seine Schrullen eben bezahlen zu lassen. Man bat ihn zu einer besondern Zusammenkunft, damit diese Warnung seinem Gedächtnisse möglichst eindrücklich bleibe, und setzte ihm in freundlicher Weise auseinander, wie alle Abänderungen, so glücklich sie auch sein mögen, einen Bau immer um wesentliche Posten vertheuern. Er müsse sich daher, wenn er auf seinen nachträglichen Wünschen bestehe, auf nachzuleistende Beträge gefaßt machen, deren Höhe die Kommission im Voraus gar nicht angeben könne, für die sie sich aber hiemit rechtzeitig jeder Verantwortung entschlage. Allein Jakob hielt seine Einfälle für so bedeutende Verbesserungen, und im Kostenpunkt im Gegentheil für viel günstiger als die ersten Entwürfe, bestand so fest darauf,daß man ihm doch wenigstens im äußeren Ausgestalten einigermaßen seinen eigenen Geschmack zu haben erlaube, nachdem er das Innere der Anstalt gänzlich den Ansprüchen der Herren gemäß machen lasse, daß diese fühlten, ohne ernste Unannehmlichkeiten sei ihm nicht beizukommen.Sie ertheilten also dem Architekten, und dieser dem Bauführer die Weisung, Herrn Haberist's Wünsche in Gottes Namen auszuführen, soweit [207]es irgend mit den Bedingungen eines soliden und präsentablen Bauwerkes vereinbar sei.

Mit hoher Befriedigung fühlte Jakob das viel bereitwilligere Entgegenkommen des Personals bald heraus und führte es auf einen gebührenden Rüffel zurück, den die dünkelhaften Techniker ohne Zweifel nach jener Sitzung von oben erhalten hätten.Er machte deßhalb mit diesen Leuten hinfür wenig Umstände, verfügte heute dies, morgen das und lernte dabei ordentlich die Befehlsmanier des Architekten selber. Die Chicanirten gönnten sich die allervortrefflichste Rache. Sie führten ohne Einwand aus, was immer Haberist anordnen mochte, und freuten sich diebisch auf sein Gesicht,wenn es einst ans Bezahlen aller dieser kostspieligen Tändeleien gehen würde. Er ruhte natürlich nicht, bis er den drei auf dem Plane stehenden Thürmchen seine übrigen vier glücklich wieder beigesellt hatte, und meinte diese Bereicherung leicht dadurch auszugleichen, daß er die Kamine und Abzugrohre im ganzen Bau für viel zu großartig erklärte und enger und billiger zu halten vorschlug. Die Gewissenhaftigkeit der Bauleute verbot glücklicherweise die Befolgung dieses Ansinnens, aber die Thürmchen wurden angeflickt.

[208]

Viere prangten nun an den Ecken des Gebäudes,eines in der Mitte, und zwei an den äußeren Winkeln, hinten nach dem Tanner zu. In dieser Willfährigkeit hielt das Personal aus bis zum Tage des Aufrichtfestes, das in der That noch im Oktober stattfinden konnte. Denn sobald die Anlage so weit gediehen gewesen war, daß auf vielen Punkten gleichzeitig gemauert werden konnte, hatte der Architekt ganze Schaaren Italiener nachrücken lassen. Es hatte gewimmelt wie in einem Ameisenhaufen, ein außerordentlich günstiger Sommer war zu Hülfe gekommen, und die Besucher konnten nicht genug staunen, mit welchen Riesenschritten es vorwärts ging. Zuletzt war das gewaltige Balkengewirr des Dachstuhles in fünf Tagen über das ganze Gebäude aufgestellt worden, und an einem Samstag, wie üblich, setzte man den buntbebänderten Tannenbaum auf den Firstbalken.Von dem Haufen bunter Taschentücher, die das Bureau des Bauführers in der Baracke am Morgen einem Schnittwaarenmagazin ähnlich gemacht hatten, flatterten so viele an den Aesten droben,als irgend anzubringen gewesen waren, ganz zuoberst die seidenen Staatstücher, die die Paliere beanspruchen durften, weißgründig, mit den [] 209 zweiundzwanzig Kantonswappen in lauten Farben draufgedruckt, aber von etwas dünnlicher Qualität; denn Herr Haberist hatte die Auswahl selber getroffen. „Ach, welche Menge, welche Menge,zuz! zh“ war ihm entfahren, als er die ellenlange Liste der Arbeiter erblickte, deren Jedem sein Tuch,sein Trunk, sein Stück Braten mit Salat und seine Cigarre zukam. „Giovanni, Giuseppe, Ernesto, Ettore nichts als solche Tschinggelemori!“hatte er ärgerlich ausgerufen, mit dem Spottnamen,den die Einheimischen den schwarzen Kerlen gaben.

Gegen Abend fand die Feier statt, bei schönster Herbstsonne, die schräg hereinstrahlend, den mächtigen rothen Ziegelpalast wie Feuer erglühen und das neue Gebälk in Gold- und Silberschein flimmern ließ. Eine beträchtliche Menschenmenge umstand den Platz. Der Zimmermeister sprach den hergebrachten Spruch, ließ wie üblich den Bauherrn leben und nannte ihn mit weithinschallender Stimme zu wiederholten Malen einen edeln Mann.Leider hatte Haberist seine Augen gesenkt, um diese himmlische Seligkeit über sich ergehen zu lassen,und dabei versäumt, sich zu überzeugen, ob in das nachfolgende Hochgeschrei nun endlich auch seine Finkengründler mit eingestimmt hätten. Aber

Siegfried, Gritli-Wohlthäter. 14 [210]es war nicht anders möglich, tröstete er sich nachher; von den Arbeitern allein hätte es nicht so mächtig tönen können. Auch der Architekt, auch die Bernecker Herren hatten ihr Hoch bekommen, es folgte ein feierliches Händedrücken, dann ging es im Zuge zum „Bären“, wo für die Arbeiter theils an Tischen und Bänken in der Kegelbahn, theils im Tanzsaal und in den Wirthsstuben gedeckt war, während die Herren mit den ersten Angestellten ihr Mahl in einer besonderen Oberstube abhielten. Viel wurde getrunken, viel wurde geredet und angestoßen, Jakob fühlte sich wie ein Kaiser Napoleon inmitten seiner Feldmarschälle, Generale und Hauptleute und zechte tapfer mit, da es doch der Architekt aus der Baurechnung zahlen mußte. Allein bald ging es ihm wie dem Löwen, der Blut geleckt hat. Die Lobsprüche genügten ihm nimmer, die der Eine und Andere ihm freiwillig spendete, sondern er begehrte mehr und mehr und immer noch saftigere Komplimente zu hören, zu welchem Zweck er mit feinen Ueberleitungen zu wiederholten Malen seine Mithülfe am Bau zur Sprache brachte, sow ie sein Geschick, hier zu sparen und dort dafür zuzusetzen.Aber hier stimmte niemand ein, und das nahm er [211]fürchterlich übel. Er trank in seinen Zorn hinein,darauf wandte er sich kurzweg an Diese und Jene,daß sie bezeugen sollten, was er vorhin gesagt hatte,und gerieth über ihre ausweichenden Antworten in immer größere Gereiztheit. Vergeblich suchte man das Gespräch abzulenken. Haberist kam mit der streitsüchtigen Störrigkeit des Angetrunkenen erst recht auf sein Thema zurück und inquirirte zuletzt Einen nach dem Andern in so zudringlicher Weise, daß den Herren von Berneck schließlich gar keine andere Wahl mehr blieb, als selbst auf die Gefahr hin, die fröhliche Zecherei in eine bitterböse Auseinandersetzung umschlagen zu sehen dem zornig Rechenschaft Fordernden mit dem wahren Sachverhalte zu antworten.

Die eingelaufenen Abrechnungen für den Rohbau enthielten nämlich solche erschreckende Mehrbeträge, daß die Kommission diese saure Angelegenheit dem Stifter nur tröpfchenweise, mit aller Vorsicht und Geschicklichkeit, in den nächsten Wochen hatte beibringen wollen. Jeßtzt ertrotzte er die Eröffnung auf einen Schlag. Ja noch mehr: es mußte ihm zugleich gesagt werden, daß nach der unheimlichen Logik der Bauwissenschaft, von der er keine Ahnung gehabt, eben dieser, durch sein [212]Eingreifen so viel komplizierter gewordene Rohbau nun auch für die innere Ausgestaltung weit größere Kosten nach sich ziehen werde, und man durfte ihn nicht im Unklaren darüber lassen, daß alles in allem vielleicht ein siebentes Hunderttausend bei dem Bau draufgehen könnte.

„Was?“ fuhr da Haberist auf, „ein siebentes Hunderttausend?“ Er verlangte die einzelnen Kosten zu wissen, an denen seine simpeln Wünsche schuld sein sollten. Man bewies ihm, daß der einzige Meter, um den er den Hauptthurm weiter hatte heraustreten lassen, als auf dem Plane stand,auf die große Höhe allein so und so viele tausend Franken mehr ausmache, bewies ihm hier, bewies ihm dort ein paar Tausend mehr und zeigte, wie solches scheinbar Vereinzelte, von allen Ecken und Enden zusammenlaufend, am Ende ungeheure Summen ausmache.

Käsebleich hatte Jakob die Zahlen verfolgt und ihre Unanfechtbarkeit begriffen. Ihn rührte beinahe der Schlag.Und derlei Bauerei ins Blaue trieb man, ohne ihn nur zu fragen, ob er es bezahle? Das Personal mußte in das obere Festzimmer zusammenberufen werden. Den ersten Bauführer [213] bezichtigte er mit bebenden Lippen der wissentlichen Hallunkerei. Die Paliere nannte er die unsauberen Handlanger der empörenden Mißwirthschaft. Aber leise, ganz leise, und als diese Leute nun gewaltig zu lärmen begannen, machte Jakob so lange, bscht!“„bscht!“, bis mit Hülfe der Herren Alle auf seinen Flüsterton eingingen und die Revolte den singenden und trinkenden Arbeitern in den andern Räumen glücklich verheimlicht werden konnte.

Der Architekt machte sich zum Vertreter seiner Leute und zwang Haberist, endlich zu glauben,daß ein Bau keine Gelegenheit zum Bethätigen von allerlei Liebhabereien darbiete, sondern, einmal in Ausführung begriffen, einem bergab gelassenen Wagen gleiche, den keine Hand mehr aufhalten könne, bis er zum Ziele sei. Die Angeschuldigten ihrerseits brachten ihre Klagen nun vor den versammelten Kommissionsherren auch in ungescheuter Deutlichkeit vor und vertheidigten sich mit allem Vorsprung der Fachleute, deren Argumenten der Laie nicht beikommt. Haberist saß schließlich da wie versteinert und wußte kein Wort mehr zu erwidern.

Und nun nahmen die Herren die Gelegenheit klüglich wahr, aus dieser verwirrten und für ihn [214] vernichtenden Situation alles Nöthige gleich auf einen Zug zu fischen, und knüpften an die geschehene erste Eröffnung frischweg die zweite, daß auch für den Betrieb der Anstalt die Schenkung nicht auszureichen drohe. Denn die Ueberzeugung hatte sich ihnen je länger, desto deutlicher aufgedrängt, daß im Verhältniß zu der Größe des Gebäudes und der Anzahl der Zöglinge, die Jakob wünschte, das zur Verfügung bleibende Kapital eine zu knappe Grundlage bilde. Aber sie wollten angesichts vom Haberist's tröstlichem Reichthum mit dieser zweiten Mehrforderung ruhig warten, bis spätere Zeiten den geeigneten Augenblick dazu brächten. Jetzt jedoch, da der Stifter in seinem beginnenden Rausche dem einzigen, den er sich in seinem Leben angetrunken, Menschen und Dinge so giftig herausforderte,mochte das Gesammte nur gleich als furchtbare Bombe auf einmal platzen.

Jakob hielt die Herren, als sie ihm auch noch damit kamen, kurzerhand für Narren. Und da er sie fest bleiben sah, fing er an, in Ausdrücken zu ihnen zu reden, daß endlich auch sie in Harnisch geriethen, die Dinge sich bösartig zuspitzten und ein ungeheurer Skandal den Abend zubeschließen drohte.

[215]

Eine wirre, wüste Stunde folgte, in der man nur mit Mühe, was vorging, den unberufenen Ohren draußen noch weiter entzog. Dann aber stellte das Ergebniß einen vollkommenen Sieg des hellen und im richtigen Augenblicke zupackenden Bürgerverstandes über die enge Bauernschlauheit dar.

Meister Haberist bewilligte insgesammt und endgültig achtmalhunderttausend Franken. Des Schweigens der beleidigten Angestellten versicherte er sich durch reiche Zulagen zum Geschenke des Richtfestes und ließ sie erst nach förmlichem Gelöbniß wieder zu den Andern hinaus. Auf die persönliche Ueberwachung des Baues leistete er auf Verlangen des Architekten von Stund' ab Verzicht; denn einzig so, erklärte dieser, könne er volle Verantwortlichkeit für seine Leute übernehmen. Dagegen werde er in Zukunft an jedem Samstag selber Herrn Haberist zu einer Inspektion begleiten.

Spät in der Nacht, als der Held des Festes längst den Heimweg genommen hatte, saßen die Herren noch immer im Bären beisammen und besprachen den glücklichen Ausgang des überstandenen Straußes. Wegen etwelcher Schalkheit, die mit[216]untergelaufen war, machten sie sich keine Gewissensbisse. Daß die Angestellten des Architekten vielleicht sogar mit dessen schweigendem Einverständnisse den unausstehlichen Befehlshaber manchmal absichtlich gezwickt hatten, war ihnen nicht entgangen, aber nach den angehörten Beschwerden konnten sie selbst nicht anders, als es ihm ein bischen gönnen. Für alles, was nach ihrer Ansicht unnöthig gewesen war, stand immerhin der Gegenwerth nach Haberist's Geschmack in Stein und Holz da, und schließlich schien ihnen der Umstand, daß er es zu zahlen vermochte, die beste Absolution.

Nicht ebenso schnell dagegen fand Meister Haberist seine Ruhe.

Wie ein Zerprügelter war er um zehn Uhr die Halde hinauf nach seinem Tanner gewankt; als es zwei Uhr früh schlug, saß er noch immer im Bette wach. Der Herbstwind brauste um die Fenster, in Jakob's Kopfe brummten durcheinander Schmerzen vom Weingenuß, Wuth und Entsetzen. Während er die Stirn in beiden Händen hielt, kam es ihm auf Augenblicke vor,er müsse geschlafen haben, erwache soeben und habe das Schreckliche nur geträumt. Aber dann [217] würgte es ihn so deutlich im Halse, und ein paar welke Blätter flogen so hörbar gegen die Scheiben,daß er erkannte, wie wirklich das Elend sei.

Er legte sich ein neues Mal hin. Aber dann war es viel schlimmer. Achtmalhunderttausend,achtmalhunderttausend, die Zahlen wurden im Liegen viel zu rund. Bunte Bänder und die seidenen Tücher mit den zweiundzwanzig Wäppchen flirrten heftig vor seinen geschlossenen Augen,Hochrufe schienen ihm von überall aus der Stube entgegenzugellen, wo Kopf an Kopf die Menge der Neugierigen sich bis an sein Bett drängte und Alle mit hochgereckten Köpfen und offenen Mäulern einer Rede zuhorchten, die er doch nicht verstand.Dann schob sich plötzlich durch das nebelhafte,festliche Gequirl und Getön das bitterernste Gesicht des Bernecker Stadtpräsidenten, hinter ihm die schrecklichen, rothen Köpfe der Bauführer und Paliere, und alle schrieen auf ihn ein, und gesprochen und geschrieben war überall die Zahl:achtmalhunderttausend, achtmalhunderttausend.

Stöhnend machte sich Jakob klar, daß diese Riesensumme kein Traumgebilde sei, sondern unwiderruflich für seine Finkenbühlstiftung gelte.Gott mochte wissen, wie er in dem heillosen [218]Durcheinander von Schreck, Drohungen, Zureden und qualvollem Drange nach Rettung seines Ruhmes dazu gekommen war, sie zuzusagen. Dann aber tönte sänftigend in seinem wirren Kopfe auch wieder, was er zum Schlusse vernommen hatte:daß jetzt endgültig alles reichlich gesichert sei und seinem Namen ein Ehrenstein gesetzt, mit dem sich wohl im ganzen Schweizerlande in ähnlichen ländlichen Verhältnissen kein zweiter messen könne.Und endlich fiel der Hartgepeinigte in schweren Schlaf.

Andern Morgens saß er wohl eine Stunde vor seinem Frühstück und berührte es kaum.Nebenan in der Schlafstube stöckelte die Haushälterin mit ihrem Holzbein umher, schüttelte das Bett. verwundert, daß der Meister heute so spät aufgestanden, und schwatzte aus dem Fenster mit den Pächtersleuten, wie groß doch gestern die Menge der Menschen, und wie schön des Zimmermanns Spruch gewesen sei. Jakob sah und hörte von Allem nichts. Auf seiner langen Nase und seinen übernächtigen Augen lag echter Weltschmerz.

Wohin war er nun gekommen? Er fuhr sich über die grauen Haare hin und her und starrte [219]in den Kaffee. Kaltgestellt von Anfang an mit allem, was ihm persönlich an seiner Stiftung behagt hätte: mit der Hausordnung, mit dem Ueberwachen, mit seinen zuchtmeisterlichen Phantasien, von denen er sich so viel Genugthuung versprochen! Ach, wenn er zu jener Zeit, als er noch seine pädagogischen Vorschriften ausheckte,nur des Briefträgers Hänschen hatte davonhüpfen sehen, nachdem es im Tanner die Zeitung abgegeben, so hatte er schon geschmunzelt, wie sich's auf dessen straffem Hintertheilchen einmal in der Anstalt gut klopfen werde. Und nun kein Recht,auch nur mit einer Silbe dort unten dreinzureden!War es da nicht klüger, überhaupt nicht mit hineinzuziehen, sondern hieroben zu bleiben?

So war es, wenn Jakob sich Alles zurückrief,mit Enttäuschungen weitergegangen bis zu dem schrecklichen gestrigen Abend. Nicht einmal an der Verwunderung Steiner's hatte er sich weiden können,wie er sicher gerechnet; denn der Freund und überbotene Rivale war nach der Frühlingskur seiner Frau gar nicht nach Berneck zurückgekehrt, sondern gleich zum Sommeraufenthalte fortgeblieben. Er hatte Jakob nur vorläufig schriftlich seine hohe Freude über die prachtvolle Ueberraschung aus[220]gedrückt, alles Uebrige auf die mündliche Aussprache im Spätherbst vertagend.

Ganz elend wurde es Jakob über dieser Rückschau. Er ließ die halbausgetrunkene Tasse stehen und ging ins Freie, jedoch hinten hinaus, wo ihn niemand sah. So schlecht hatte ihm das Frühstück in seinem Leben nicht geschmeckt.

Und es schmeckte ihm auch am folgenden Morgen nicht viel besser. Denn was sollte er mit seinem Montag anfangen, da er plötzlich nicht mehr auf den Bau hinuntergehen durfte? Bei der Haushälterin war schlau vorgebaut worden, indem er ihr gleich gestern seinen Entschluß eröffnet hatte, sich von morgen ab den Aerger nicht mehr anzuthun, den ein umsichtiger Mann bei den Arbeitsleuten von heutzutage auf einem Bauplatze erlebe. Diejenigen sollten ihm jetzt verantwortlich sein, die er dafür bezahle. Ihm sei seine Ruhe zu lieb.

Aber konnte er seine Gedanken verhindern,gleichwohl auf dem Bühl drunten umherzuirren?Bald stand er hinter einem Dahlienbusch, die Uhr in der Hand und kontrollirte, ob die Frühstückspause nicht zu lange daure, bald suchte er von verschiedenen Punkten aus zu zählen, wie viele Fuhren Dachziegel und Schindeln dort standen.

[221]

Denn heute wurden die Latten auf den Dachstuhl genagelt und morgen fing man an zu decken.Aber es war nicht möglich, irgend etwas Genaues festzustellen, und als Jakob dies ohnmächtige Späheramt eine Stunde lang betrieben hatte, setzte er sich auf die Hausbank und ließ die zur Unthätigkeit verurtheilten Hände traurig herabhängen.

„Meinetwegen!“ murmelte er schließlich resignirt. „Das da drunten habt Ihr mir verbieten können, ja, und auch Jenes, und das Dritte, ich will nicht mehr daran denken. Aber den Hauptzweck habe ich doch erreicht. Der ist heute gesicherter als jel Noch ein paar Tage Geduld bis wir neuerdings beim Notar gewesen sind, dann steht es mit Keulenschlägen in Eure Schädel geschrieben,wer Jakob Haberist im Tanner seil“

Er stand auf. Diese eine unantastbare Gewißheit entschädigte ihn für Alles.

Und am Samstag kam sie wirklich, die neue,große Kunde, im Tagblatt. Mit glänzenden Worten war ausgeführt, wie man bei dieser Nachricht landauf, landab mit Verehrung auf den schlichten Bauersmann blicken werde, der abermals Hunderttausende seinen Landsleuten hochherzig hingebe,um ein segensreiches Werk vollends fest zu be[222]gründen, und wie der Name Jakob Haberist hinfort wohl der gepriesenste unter den vielen gepriesenen des Finkengrundes sein werde.

Das Ruhmesblatt in der Hand, lief der Heros des Thales von einer Stube in die andere, hüstelnd,blinzelnd, alle möglichen Töne von sich gebend,legte die Zeitung zusammen, schob sie in die Tasche,holte sie alsbald wieder hervor und las gewisse Stellen von Neuem. Dann steckte er das Papier sorgsam gefaltet wiederum ein, und durchlebte so den ganzen Samstag in einem ununterbrochenen Siegesrausch. Seine arme Einbeinige ließ er die stolze Apotheose lesen und war entzückt, daß sie vor lauter Ueberwältigung kein einziges deutliches Wort über die Lippen brachte. Dem Pächter schickte er die Zeitung nach Feierabend hinüber,im Dorfe mußte die Neuigkeit ohnehin schon von Mund zu Munde gehen und die Zähesten überwältigen. „Nicht wahr, hehe“ grinste Jakob beim Zubettegehen, „Ihr Spötter und Verleumder,Ihr Aufpässeler und Krittler, jetzt endlich bekennt Ihr Euch doch wohl geschlagen?“

[223]

Eine feine graue Nebeldecke verhüllte in der Sonntagsfrühe den Himmel und webte still über die herbstlichen Halden. Der Meister war schon früh im Freien und schritt in glücklicher Aufregung unter dem weit vorspringenden Dache des Hauses auf und ab. Hemdärmelig, ihm war heute so warm von innen heraus, und nichts konnte ihn mehr reuen, als ein frisches, wohlgestärktes Hemd am Sonntagmorgen gleich mit einem Rocke zu zerknittern. Rings um ihn herrschte tiefe Feiertagsruhe. Die Pächtersleute waren zur Kirche gegangen; nur ihre Hühner ließen hinter der Scheune hervor ein verlorenes Gackern hören, und von den leicht verfärbten Blättern der alten Nußbäume tropfte langsam der schmelzende Reif hernieder. Schlau-behaglich rieb sich Jakob die Hände.Heute! Heute holte er sich seinen Triumph, so oder so; denn wenn je die Gemeindegenossen ihm auch noch jetzt das Wort nicht gönnten, aus lauter Beschämung darüber, daß sie ihn so schmählich verkannt hatten, so wollte er selber den Bann lösen und sie sprechen machen.

Er war zum Rande des Abhanges gelangt und schaute vergnüglich hinab. Das Eindecken des Daches mit den rothen Ziegeln war in dieser

[224]

Woche fertig geworden, auf den Thürmchen saßen die lustigen Blechhüte, Knöpfe und Windfahnen und machten den erhofften Spektakel. Durch diese Bedachung hatte das Ganze erst sein Ansehen bekommen, und der Anstaltspalast stand ungefähr da, wie er in alle Zukunft von dem grünen Bühl in den Finkengrund hinausschauen würde.Wenn nur das Wetter sich aufhelltel Dann mußte das eine Wallfahrt geben heut Nachmittag,wie noch keine gewesen war.

Und die Sonne wurde zusehends des Nebels Herr. Die feuchten Gräser und die zarten Astern im Tannergarten fingen an, in jenem verschleierten Silberglanze zu leuchten, den die ersten durchbrechenden Strahlen spenden. Ueber dem Waldrücken jenseits zeigten sich zögernd Flecken blauen Himmels, und bis nach Tisch die Klänge der Glocken, die zur Kinderlehre riefen, mit einem kräftigen Gutwetterwindchen herüberdrangen, hatte sich aus dem grauen Flor ein leuchtender Herbsttag enthüllt.Jakob saß auf der Bank am Abhange, von der aus man den Finkenbühl und einen großen Theil des Thales vor Augen hatte, auch alles übersah, was auf dem unterhalb vorbeiführenden

[225]

Sträßchen vor sich ging, und unbemerkt erlauschen konnte, was gesprochen wurde. Denn von unten ward, wer auf dieser Bank saß, nicht beachtet,weil der Wanderer hier bei der Wegbiegung plötzlich aus der vollen Sonne in den tiefen Baumschatten gerieth und in dem jähen Wechsel den dunklen Abhang nicht bespähte. Aus diesem Grunde war das schon der auserwählte Platz der seligen Vrene gewesen, die sich die Sonntagnachmittage gern damit vertrieb, hier oben aufzufangen, was sich die ahnungslosen Spaziergänger drunten erzählten.

Es fing für Jakob denn auch gleich verheißend an, indem schon die ersten Vorüberschreitenden erwähnten, daß der nächste Fahrweg dort vorn zum Hofe des reichen Haberist führe. „Des reichen Haberist! hm! hm!“ Doch ging ihm, da sie rüstig weiterschritten, leider verloren, was sie Schönes an die Nennung seines Namens knüpften.Bald folgten ihrer mehr und mehr. Es wurde lebendig drunten am Bühl. Bis gegen drei Uhr strömte es schon trüppchenweise von der Dorffseite her, und auf dem Sträßchen auch nahm es immer zu mit Neugierigen aus der Stadt, mit Landleuten aus den Nachbardörfern und Bauernfami

Siegfried, GritliWohlthäter. 15 [226] lien von den Halden, die sammt und sonders dem Bauplatze zusteuerten.

„Potz Blitz, seht die Thürme an!“ „Schau nur das lange Dach!“ „Hoh! was ist das für ein Mordsgebäude,“ rief es durcheinander, so oft eine neue Gesellschaft des mächtigen Baues ansichtig wurde.

„Das stünde jetzt recht gut auf seinem Hügel,“meinte ein dicker Bernecker und hielt seine Schritte an, „wenn nur die verrückten Kröpfe nicht wären! Was thun denn die Wärzchen an allen Ecken?“ „Ei freilich,“ stimmte ihm ein Anderer bei, der sich die Stirne trocknete, „aber der alte Narr soll jeden Tag etwas Neues ausgetüpfelt haben. Sie seien am Bau ja fast des Teufels geworden ob seinen Mucken. Mir hat's ein Zimmermann erzählt.“

„So so, ein Zimmermann? Hehe, welcher kann das sein?“ fragte sich Jakob ingrimmig. Doch schon unterhielt sich ein neuer Trupp, einen Augenblick im Schatten rastend, über seine Person. „Millionär?“ „Natürlich!“ tönte es herauf. „Doch darum ist es nicht weniger räthselhaft, was diesen schäbigen Krauter hat bewegen können, so riesenmäßig herzuschenken. Man müßte doch nachher [227]im Wirthshaus ein bischen die Bauern ausholen!“„Bst! Donnerwetter!“ warnte Einer. „Hier in der Nähe muß er ja wohnen, und immerhin Respekt, daß er so was errichtet!“

Jakob bog sich ganz zurück, damit ihn keiner von diesen dummen Schwätzern erblicken könne.Die waren doch nur neidisch! Aber es blieben nicht die Letzten, die sich ähnlich äußerten, und allmälig berührte den Horchenden das Anhören derartiger Reden so peinlich, daß er beschloß, sich angenehmere Eindrücke zu erzwingen, indem er die Vorübergehenden begrüßte.

„Ein wenig über Land?“ rief er daher hinab,sobald wieder ein Schäärlein um die Ecke bog,ältere Bauersmänner mit stattlichen Weibern, und junges Volk, gefolgt von sonntäglich starr gestriegelten Kindern. Die Angerufenen, wie Alle noch ein wenig sonnenblind, hielten die Hände über die Augen und schauten in die grüngelbe Dämmerung hinauf, von wo der Ruf gekommen war.„Freilich, freilich! dem Dorf zul“ lautete ihre Antwort, „und Ihr rastet da oben im Schatten? Habt leicht das Bessere gewählt!“ Damit

15*[228] setzten sie ohne Weiteres ihren Weg fort und blinzelten einander zu: „Das war erl“

„Wünsche gute Unterhaltung!“ fügten die Nächsten, die er ebenso beehrte, den gleichen, leeren Redensarten hinzu, höchstens daß Einer, der von ihm irgendwie abhängig war, ein Wort über die hexenhafte Schnelligkeit des Bauens dadrunten und über das günstige Wetter sagte, oder daß ein paar Weiber und Kinder im Weiterschreiten noch einmal den Kopf drehten, ihn recht anzuglotzen. Aber stehen blieb Keiner, ihm ein richtiges Wort der Anerkennung zu gönnen. Es war, als könnte das Völklein jeweilen nicht schnell genug zwischen den überhängenden Schlehdornbüschen des Erdeinschnittes verschwinden, in den das Sträßchen sich verlor.

„Dem Dorfe zu?“ jawohl! Alle kamen sie ja dort drunten wieder zum Vorschein, stracks über die grüne Erdwelle auf die Anstalt losmarschirend.

So ging es fort, bis Jakob auf seiner Bank schwer enttäuscht und verstimmt zu werden begann. Ganz schwarz krabbelte es bereits um den rothen Koloß. Die Einen gemächlich umherschreitend zwischen Gemäuer und Bretterstößen,

[229]

Andere lebhaft mit Händen und Stöcken zeigend,die Dritten im Gras oder auf Balken lagernd und das Ganze bestaunend.

Aber er konnte sich doch nicht selber mitten unter diese Menge hinabbegeben, um zu hören,was sie sagten!

Also berief er frischweg den nächsten Bekannten,der des Weges kam, zu sich herauf. Es war der Sagerbalz, Bauer auf einem der benachbarten Anwesen, ein rechter Finkengründler, der sich Alles besah, ohne viel zu reden, Alles wußte, ohne etwas davon merken zu lassen, und mit Haberist seit Jahren im Gemeinderath saß. Die Hände auf dem Rücken, über dem grobleinenen Hemd eine piolett geblümte Sonntagsweste, kam der geruhsam den Wegrand entlang geschritten, seine Pfeife rauchend, und es sah mehr aus, als wolle er nur ein wenig von weitem dem Geläufe der vielen Menschen zusehen, als daß ihn genügendes Interesse selber dort hinab triebe.

„Magst dich nicht ein bischen zu mir herauf setzen?“ fragte Haberist hinunter.

„Hätte just nichts zu versäumen,“ gab der Angerufene zurück und leistete Folge, ohne Eile,auf dem kurzen Wege zum Hause und von da [230]zur Bank sich noch nach allem Möglichen umsehend, und dann erst noch umständlich sein Pfeifchen ausklopfend, bevor er, zum zweiten Mal aufgefordert, neben Haberist Platz nahm.

„Gut, gelt, so im Schatten?“ hob Jakob an,als sein Gast kein Bedürfniß zeigte, ein Gespräch zu beginnen.

„Ja, heuer behalten die Nußbäume das Laub wieder lange, wie jedesmal, wenn sie schlecht getragen haben. Wird bei dir auch nicht wichtig gewesen sein mit der Nusserei?“

„Zum Oel, das ich brauche, hat's gereicht,“ sagte Jakob und schaute den Sagerbalz schiefüber an.

Doch der schwieg aufs Neue.

„Manchen Salat brauch' ich ja nimmer anzumachen. Den nächstjährigen kann ich, wenn ich will, da drunten essen.“

Balz zog mit heftiger Anstrengung an der wieder angezündeten Pfeife und nickte.

„Bis zum Ersten des Heumonats muß meine Anstalt bezogen werden, das hab' ich den Herren zur Bedingung gemacht.“

„Hab's gehört, hab's gehört,“ versetzte Balz,„wie bist du denn inzwischen mit deinem Pächter zufrieden?“[231]„Hab' nichts Besonderes zu klagen, pass' ihm aber auch nicht extra auf! Es ist bis jetzt noch so zugegangen mit wichtigen Geschäften und Anliegen, daß ich der Landwirthschaft nicht viel hab'nachsehen können. Du wirst ja begreifen?“

Aber nichts verfing bei dem hartnäckigen Nachbar. Er ließ die geschicktesten Anbohrungen immer wieder nebenaus gleiten. Schließlich saßen beide abermals stumm da, und jeder schaute auf seine Seite in die Landschaft hinaus. Da wurde Jakob ungehalten. Dieser Mann mußte und mußte ihm Rede stehen! Den ließ er nicht los! Denn der wußte Bescheid, und wenn er vom Sagerbalz das Geständniß hatte, wie die Welt sich bekehrt, dann besaß er seinen Triumph so gut als im Namen des ganzen Thales.

Also jetzt mußte es sein! Jakob warf lauernd einen seiner weißen Blinzelblicke nach dem verstockten Schweiger, und da er entdeckte, daß dessen X immer nach dem Finkenbühl glitten, fuhr er gerade drauflos. „Du schaust dorthinunter, nicht wahr? So rück' jetzt einmal heraus, Nachbar,was sagen denn die Leute eigentlich zu dem, was ich mache?“[232]Der Gefragte blies eine große Rauchwolke vor sich hin und blickte nicht vom Fleck. „Was werden sie sagen?“

„Nun ja,“ rief Jakob ungeduldig, „ich meine halt so! Ich komme doch. schon lang nimmer unter die Leute, du hingegen lebst mit ihnen und weißt, was sie reden!“ Sein Herz begann zu klopfen, und an seiner hageren Gestalt war Alles gespannte Erwartung.

„Willst es wirklich wissen?“ fragte Balz und ließ einen spöttischen Blick über den Harrenden gleiten.

„Jal sag es!“ ...

„Dann aber nichts für ungut! Sie sagen,deswegen hole dich der Teufel doch!“ [] []ðᷣ


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TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Gritli: ELTeC Ausgabe. Gritli: ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-FD6B-D