Tagebuch der Elisabeth K.

Cresco, ergo sum! Ich wachse, also bin ich erst! Kein Mensch ist – – – er wird!

Aber die, die nicht wachsen können, ins Leben, ins Schicksal hinein?!? Die sind nicht.

Niemals, nicht eine Sekunde ihres verkrüppelten Lebens! Können wir werden, sein?!? Nur durch innere Erlebnisse. Aber man nimmt es uns übel – – –! »Schau die Berta an, wie glücklich sie ist – – –!«. Aber erstens schaue ich die Berta gar nicht an, und zweitens, falls ich sie ansähe, würde ich gar nicht sehen, daß sie glücklich ist; sondern das Gegenteil.


Ich habe Latein gelernt. Das sind die Folgen. Ich denke Dinge, die unanständig sind. Teilweise unverständlich. Und jedenfalls zu tief für unsereins. Solange wir die Grenze der allgemeinen Verlogenheit nicht überschreiten, können wir als geistreich gelten. Von da an aber als verrückt – –.


Ich sehe lauter Männer, die einschrumpfen.

Cresco, ergo sum!
Sie reden sich aus auf ihre wichtigeren Beschäftigungen im Leben. Es sind aber die unwichtigeren.

Weshalb fragt uns der Frauenarzt nie: »Ist Ihnen der Atem, die Ausdünstung Ihres Gatten vielleicht unsympathisch?!? Irritiert Sie vielleicht die Art und Weise, wie er sich des Morgens ankleidet, preziös oder schlampert, oder wie er des Abends die Kleider auf den Sessel legt, vorsichtig bedacht oder hingehaut?!?«


[127] Ein Hundskerl ist in mein Leben eingetreten, ein Hundskerl! Habe ich ihn gerufen?!? Nun also!


Mein Geliebter überbietet sich seitdem an Zärtlichkeiten.


Mein Gatte sagte eines Abends, daß, wenn der Hundskerl mit mir tanze, ich zu einer schwebenden Nymphe würde. Da spüre er es erst, wie sehr er selbst mich bedrücke. Seitdem tanze ich nie mehr mit dem Hundskerl. Ich achte »Erkenntnisse«! Sogar bei einem Gatten.


Der Hundskerl äußerte sich über mich, er fühle es, er könne mich zu jeder Stunde in Besitz nehmen. Mein Geliebter war empört darüber.

Ich aber nicht. Wir sind über alle diese Dinge nie empört, aber wir müssen uns so stellen, weil die Männer dumm sind – – –


Mein Gatte, mein Geliebter und der Hundskerl sind mir alle drei ziemlich unsympathisch. Ein jeder in seiner Art.


Wenn er mir die Krebse, die ich leidenschaftlich gern esse, so liebevoll zärtlich schält und herrichtet, daß ich nur das delikate Fleisch zu essen, auszuschlürfen brauche, dann habe ich ihn wirklich noch eine halbe Stunde nachher ernstlich und aufrichtig lieb – – –.


Der Hundskerl hat fabelhafte Spazierstöcke. Einen aus getigertem Bambus, gelbschwarz, [128] mit einem breiten Ringe aus Platin unterhalb der Krücke. Ich sagte zu ihm: »Ich hätte Ihnen diesen Geschmack nie zugetraut – – –«.


Mein Gatte schickte mich in ein Sanatorium, zu einem berühmten Nervenarzte. Es hat mir genützt. Ich habe einen neuen Idioten kennen gelernt.


Mein Gatte ist noch der Beste von allen. Also noch immer der Schlechteste – – –.


Ich saß, den Kopf gelehnt an die Schulter meines Geliebten. Da sagte ich: »Siehe, unsere Atem gehen in gleichem Takte, lang und tief. Wir können nichts dazu und nichts dagegen. Sie gehen in gleichem Takte. Also sind wir ausnahmsweise wirklich füreinander bestimmt – – –«.

Da dachte er: »Närrin« oder »Närrchen«. Aber er nahm sich nicht einmal die Mühe, irgend etwas Besonderes, Auffallendes, Denkwürdiges darin zu finden, es zu ergründen oder auch nur aufmerksam zu werden auf irgend etwas. Dadurch spielte er sich auf den reifen Menschen hinaus gegenüber einem unreifen. Während es doch gerade umgekehrt war. Er unterdrückte meine Naseweisheit –. Aber sie kam aus dem Gehirne!


Der Hundskerl hat mich in Besitz genommen.

Was weiß ich, wieso es kam?!? Bin ich Maupassant?!

Mein Gatte hat sich auf sein Ableben versichern lassen, damit ich, falls – – –. Er ist so nett.
Der Hundskerl hat meinen Geliebten erschossen.
[129] Mein Gatte sagt, ich stamme aus einer belasteten Familie.
Ich erwiderte: »Lenau und Novalis wahrscheinlich auch«.
Er sagte: »Das kommt von dieser Lektüre der Modernen – – –«.

Wir reisen ab. Von uns selbst weg?!? Wozu also?! Wie heißt der Ort, an dem wir wieder unser ganzes Sein ausbreiten werden wie die Ringelspielbesitzerin ihre Bude?!? Adieu – – –.

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Märchen des Lebens. Tagebuch der Elisabeth K.. Tagebuch der Elisabeth K.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D872-C